Unter dem Auge Gottes - Jerome Charyn - E-Book

Unter dem Auge Gottes E-Book

Jerome Charyn

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Beschreibung

Good news: Isaac Sidel ist wieder da! Seit 1974 steigt der Cop aus der Bronx umso höher, je krimineller und mörderischer er agiert und je besser er als Mensch ist. Er ist inzwischen Vizepräsident der Vereinigten Staaten und muss dennoch New York City vor dem Zugriff gieriger Politicos beschützen: mit Hilfe von Verbindungen, die tief in die Geschichte der jüdischen Mafia zurückreichen – und auch wenn er dazu raus muss aus dem Big Apple und dem mythischen Hotel Ansonia. Ausgerechnet nach Texas. Jerome Charyn »ist einer unserer wagemutigsten und interessantesten Schriftsteller«, weiß die New York Times schon lange. In seinem breiten Œuvre nehmen die Sidel-Romane einen wichtigen Platz ein und gehören zu den Großereignissen der zeitgenössischen Literatur. Sie sind harte Kriminalliteratur, urbane Mythomanien, metropole Visionen, realistische Alpträume und bewusstseinsverändernde Literatur.   »Unter dem Auge Gottes« wurde ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimi Preis (International) und ist auf der KrimiZEIT-Jahresbestenliste 2013 vertreten.

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Über das Buch Good news: Isaac Sidel ist wieder da! Seit 1974 steigt der Cop aus der Bronx umso höher, je krimineller und mörderischer er agiert und je besser er als Mensch ist. Er ist inzwischen Vizepräsident der Vereinigten Staaten und muss dennoch New York City vor dem Zugriff gieriger Politicos beschützen: mit Hilfe von Verbindungen, die tief in die Geschichte der jüdischen Mafia zurückreichen – und auch wenn er dazu raus muss aus dem Big Apple und dem mythischen Hotel Ansonia. Ausgerechnet nach Texas.

Jerome Charyn „ist einer unserer wagemutigsten und interessantesten Schriftsteller“, weiß dieNew York Timesschon lange. In seinem breiten Œuvre nehmen die Sidel-Romane einen wichtigen Platz ein und gehören zu den Großereignissen der zeitgenössischen Literatur. Sie sind harte Kriminalliteratur, urbane Mythomanien, metropole Visionen, realistische Alpträume und bewusstseinsverändernde Literatur.

Über den AutorJerome Charyn lebt und arbeitet in Paris und New York als Romancier, Comic-Szenarist, Sachbuch-Autor, Tischtennis-Crack und Film- und Genrehistoriker. Sein Werk umfasst weit über 50 Bücher der verschiedensten Art. Mit seiner Figur Isaac Sidel ist er einer der wichtigsten ästhetischen und intellektuellen Innovatoren der Kriminalliteratur und damit auch der Gegenwartsliteratur. Charyn erhielt den Rosenthal Award der American Academy of Arts and Letters und zahlreiche weitere internationale Preise.

Penser Pulp

Herausgegeben von Thomas Wörtche

JeromeCharyn

Unter demAugeGottes

Ein Isaac Sidel Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Jürgen Bürger

diaphanes

Inhalt

Teil Eins
Teil Zwei
Teil Drei
Teil Vier
Teil Fünf
Teil Sechs
Teil Sieben
Nachwort von Thomas Wörtche

Hieraus ergibt sich, dass ohne eine einschränkende Macht der Zustand der Menschen ein solcher sei, wie er zuvor beschrieben wurde, nämlich ein Krieg aller gegen alle. […] Was auch nur mit dem Krieg aller gegen alle verbunden ist, das findet sich auch bei den Menschen, die ihre Sicherheit einzig auf ihren Verstand und auf ihre körperlichen Kräfte gründen müssen. Da findet sich aber auch kein Fleiß (Industria), weil kein Vorteil davon zu erwarten ist; es gibt keinen Ackerbau, keine Schifffahrt, keine bequemen Wohnungen, keine Werkzeuge höherer Art, keine Länderkenntnis, keine Zeitrechnung, keine Künste, keine gesellschaftlichen Verbindungen; statt alles dessen ein tausendfaches Elend; Furcht, gemordet zu werden, stündliche Gefahr, ein einsames, kümmerliches, rohes und kurz währendes Leben.

Thomas Hobbes,Leviathan, 1651

TeilEins

1

Siege bedeuteten Isaac Sidel wenig. Er hasste Wahlkämpfe mit dem ganzen Pomp und Tamtam, den erbitterten Schlachten. Ohne seinen Secret Service-Mann fuhr er rauf in die Bronx. Er stellte sich gern auf eine Anhöhe und blickte hinunter auf die von Brandbomben gezeichneten Straßen. All die Trostlosigkeit und Verwüstung schien ihn gütig zu stimmen. Big Guy brauchte eine ordentliche Prise Chaos. Das Weideland mit seinen entkernten Gebäuden besaß eine eigentümliche Schönheit, vergleichbar vielleicht mit einem Diorama aus Backsteinzähnen.

Er stand allein im Claremont Park, und was er sah, weckte seine Neugier. Landvermesser und Pioniere der Army hatten mit ihren Stativen und magischen Messinstrumenten einen anderen Hügel erklommen. Hier ging es nicht um zivile Belange. Ein Militärpolizist bewachte die Ausrüstung.

Big Guy wanderte zu den Pionieren hinüber. Sie salutierten.

„Hallo, Mr. President.“

„Mein Gott“, erwiderte Isaac, „ich komme nicht in Frage als euer nächster Oberbefehlshaber. Ihr seht hier die unwichtigere Hälfte des Doppelpacks vor euch.“

Der leitende Offizier lächelte ihn an. Sein ganzes Auftreten hatte nichts Bedrohliches, seine Augen wanderten nicht wild hin und her.

„Für uns sind Sie trotzdem der Präsident“, sagte er.

„Aber was macht Ihr eigentlich hier? Die Bronx ist wohl kaum ein Spielplatz.“

„Ist so was wie ’ne Übung, Sir. Meine Pioniere müssen sich auf jedes Gelände einstellen können.“

Er zückte eine Genehmigung, ausgestellt vom NYPD. Trotzdem beunruhigte es Isaac – die Kavallerie marschierte in den Claremont Park ein. Aber er wollte diese Pioniere nicht weiter belästigen. Sie setzten ihre Arbeit fort.

„Machen Sie’s gut, Mayor Sidel.“

Er konnte nicht einfach so verschwinden, ohne einen kleinen Ansturm von Autogrammjägern auszulösen. Also setzte er seinen „Sidel“ auf kleine Stücke Pappe und Schirme von Baseballkappen. Eine Frau streichelte seinen Ärmel.

„Wir wollen nicht Michael“, raunte sie ihm zu. „Wir wollen dich.“

Isaac stahl sich aus dem Park, während die Pioniere von ihrer Anhöhe aus weiter die Süd-Bronx vermaßen. Seine Fans grüßten ihn von Feuerleitern auf der anderen Straßenseite. Gegen den ganzen Trubel im Umfeld der Präsidentschaftswahl konnte Isaac kaum etwas machen.

Es war bekannt als das Massaker von ’88. Die Demokraten droschen auf die Republikaner ein und schlugen sie vernichtend. Der amtierende Präsident Calder Cottonwood schaffte es nicht mal, seinen eigenen Bundesstaat zu holen. Beim selben Erdrutsch verlor er Arizona. Doch die Demokratische Partei war zerfressen von Verbitterung. Bei Meinungsumfragen rasten die Werte ihres Bannerträgers J. Michael Storm, Baseball-Zar und gewählter Präsident, rapide in den Keller. Er war ein schamloser Casanova. Nach der Wahl war eine seiner Mätressen aufgetaucht und verlangte Schweigegeld von den Demokraten. Die Partei würde sich dumm und dusselig zahlen müssen.

Das war aber noch nicht das Schlimmste. Die Partei musste auch J. Michaels krumme Grundstücksgeschäfte sowie die Scheinfirmen vertuschen, die er zusammen mit seiner alkoholsüchtigen Ehefrau Clarice gegründet hatte. Er konnte von Glück reden, dass er einen Vize wie Sidel hatte, einen ehemaligen Commissioner, der stets mit einer Glock in der Hose durch die Gegend rannte und selbst noch auf Wahlkampftour Verbrecher dingfest machte.

Ohne Sidel hätte die Partei die Wahlen niemals gewinnen können. Er war erheblich populärer als ein amtierender Präsident oder ein Baseball-Zar. Eigentlich hätte er als Bürgermeister zurücktreten müssen, aber die Einwohner New Yorks wollten von Isaac bis zu dem Tag regiert werden, an dem er nach DC abschwirrte. Michael war mit seinem Übergangsteam ins Waldorf gezogen. Isaac stahl J. Michael aber selbst dann noch die Schau, wenn er mit seinem alltäglichen Blödsinn mal wieder ordentlich auf die Pauke gehauen hatte. Und deshalb mussten die Demokraten Isaac aus Manhattan rausholen.

Der Chefstratege der Partei und ehemalige Kampfflieger in ’Nam, Tim Seligman, beschloss, Isaac mit irgendeiner verrückten Donquichotterie auf Reisen zu schicken. Er durfte sich über jedes Thema unter der Sonne die Lunge aus dem Hals schreien, solange er nur nicht J. Michael Storm erwähnte. Als Geschenk des Democratic National Committee bekam er zu diesem Zweck auch einen eigenen Tourbus. Und Tim Seligman begleitete ihn als Babysitter. Sie flogen nach Dallas, wo Isaac seine Rundreise durch Texas beginnen sollte. Er war der Gotteskrieger der Demokraten. Jedoch durfte er nicht zusammen mit Marianna Storm reisen, Michaels zwölfjähriger Tochter, die in der Öffentlichkeit als Kleine First Lady bekannt war. Das Stimmvolk hatte sich während des Wahlkampfs in sie verliebt. Aber sie ging nicht mit ihrem Vater auf Tour. Sie war stets an Isaacs Seite. Big Guy brauchte eine „Gefährtin“. Marianna hatte mit ihm in der Grace Mansion kampiert, weil sie ihre Mutter und ihren Vater nicht ertragen konnte, und sie hatte Walnusskekse für Isaac und seine Leute gebacken. Und jetzt verbannte Seligman sie aus Isaacs Bus, und Isaac ging auf Tim los und drohte, als Gotteskrieger der Demokraten abzudanken, wenn er die Kleine First Lady nicht bekam. Tim aber musste sich um den scharfen Beschuss im Anschluss an den Wahlkampf kümmern. Die Demokraten besaßen ein Foto von Calder, wie er in den Rose Garden des Weißen Hauses pinkelte, und sie drohten mit Veröffentlichung, sollte der republikanische Parteiapparat weiter auf Michaels Mätressen herumreiten.

„Isaac, da draußen tobt ein Krieg“, sagte Tim. „Es hagelt förmlich Bomben. Wollen Sie dieses kleine Mädchen vernichten?“

„Indem sie bei mir sitzt?“

„Die Republikaner brüten eine ziemlich groß aufgeblasene Geschichte aus. Und wie können wir dagegen vorgehen? Falls Marianna nicht verschwindet, werden die Ihnen vorwerfen, Sie hätten einen Lolitakomplex.“

„Wie jetzt, welche Lolita denn?“

„Isaac, so was nennt man Verleumdung. Die sprechen laut von Pädophilie.“

Der zukünftige Vizepräsident stürzte sich auf Tim und brachte damit den ganzen Bus ins Schwanken. Der Secret Service musste sie trennen. Martin Boyle, Chef der für Isaac abkommandierten Einheit, gebürtig aus Oklahoma und einsachtundachtzig groß, musste Big Guy anflehen.

„Sir, versprechen Sie mir, sich wie ein anständiger Mensch zu benehmen, wenn ich Sie jetzt loslasse?“

„Nein, nicht bevor ich Tim abgemurkst hab.“

„Dann werde ich Sie hier bis in alle Ewigkeit festhalten.“

„Perfekt. Dann muss ich nicht nach Texas.“

„Und anschließend haben wir Präsident Cottonwood an der Backe“, sagte Tim. „Er steckt hinter der Schmutzkampagne. Wir haben Calders Privatleben unter die Lupe genommen. Wir haben uns seine Astrologin geschnappt.“

„Calder hat eine Astrologin? Er ist ja genau wie der verschissene Adolf Hitler.“

„Er kann keinen einzigen Schritt ohne sie machen. Jetzt ist er völlig außer sich.“

„Wie heißt sie?“ Isaac musste das einfach fragen.

„Markham, Mrs. Amanda Markham.“

„Und wie, bitte schön, habt ihr sie euch geschnappt, Timmy, häh? Der Präsident muss doch versucht haben, diese Amanda unter Einsatz seines Lebens zu beschützen.“

„Sie ist einfach gegangen.“

„Wie? Aus freien Stücken? Da ist doch was faul. Sie kommt in unser Camp und bietet uns ihre Dienste an, und Sie wittern nichts? Was ist los mit Ihnen? Calder ist völlig durchgeknallt, also leiht er uns seine Lieblingsspionin aus?“

„Isaac, wir sind ja nicht blöd. Wir haben sie natürlich überprüft. Wir besitzen Aufnahmen von ihr zusammen mit dem Präsidenten.“

Big Guy war nicht begeistert. „Ihr habt Wanzen im Weißen Haus versteckt? Boyle, hast du das gehört?“

„Nein“, erwiderte Isaacs Secret Service-Mann. „Es ist mir nicht erlaubt, Sir, Ihren Unterhaltungen zuzuhören. Ich bin einzig und allein hier, um Ihr Leben zu schützen.“

„Ich glaub’s einfach nicht. Nichts ergibt einen Sinn… Und was habt ihr aus diesen Aufzeichnungen erfahren, Timmy Boy?“

„’Ne Menge. Zum Beispiel Calders Winkelzug von wegen Pädophilie. Er hat Fotos manipuliert und gefälscht. Fotos von Ihnen und Marianna. Und genau das war dann der Punkt, an dem Mrs. Markham aufzumucken begann.“

„Wieso?“

„Es hat sie angewidert. Sie ist ein großer Fan von Ihnen. Der Präsident ist dahinter gekommen und hat ihr daraufhin die Nase gebrochen. Und da ist sie dann gegangen.“

„Wo steckt diese Mata Hari jetzt?“

„Hier im Bus. Und sie ist nicht Mata Hari.“

„Sie ist eingestiegen, und Sie haben mir nichts davon erzählt?“

„Ich wollte, dass Amanda Sie analysiert, ohne dass Sie von ihr wissen.

Sie ist Astrologin, und sie ist die Beste. Sie arbeitet momentan an Ihrem Horoskop. Sie kann uns helfen, einen Plan für unsere Zukunft auszuhecken… Ihre Zukunft und die der Partei.“

„Hol Sie der Teufel“, fauchte Isaac. „Sie stehlen mir Marianna und halsen mir eine beschissene Himmelsguckerin auf.“

„Wer ist eine Himmelsguckerin?“

Isaac musste den Hals recken, andernfalls hätte er die Quelle dieses schrillen Aufschreis nicht entdecken können. Eine pummelige Frau mit verbundener Nase hockte im hinteren Teil des Busses. Bis zu diesem Moment war sie nicht in sein Gesichtsfeld vorgedrungen. Aber er hätte sie bemerken sollen. Schließlich war er früher der Commish gewesen.

„Sidel, haben Sie Halsweh, oder was?“

Er blinzelte die fette Hexe an. „Wie haben Sie das erraten?“

„Stiere haben viel Scherereien mit dem Hals…“

„Leidet Calder auch darunter?“

„Ich spreche nie über meine anderen Kunden“, sagte sie.

„Aber Sie haben mit Tim über Marianna gesprochen, und er hat sie mir weggenommen.“

„Das ist etwas anderes. Das Kind war in Gefahr, und Sie ebenfalls, Sidel. Ich bin so was wie Ihre Überlebensausrüstung.“

„Das bezweifle ich. Sie waren Calders Hellseherin… bis er Ihnen die Nase gebrochen hat.“

„Aber ich konnte ihn nicht retten. Niemand kann das.“

„Warum? Stand der Mond zum Zeitpunkt seiner Geburt in der Jungfrau? Und das hat seine Launenhaftigkeit geprägt?“

„Sie nehmen mich auf den Arm, Sidel.“

„Ja, Ma’am. Marianna ist der einzige Mond, den ich jemals brauchen werde.“

* * *

Merlin hatte er allein wegen Marianna ins Leben gerufen. Sie konnte nicht arbeiten, solange sie sich in der Nähe ihrer Mom und ihres Dads und ihres ständigen Kleinkrieges befand. Sie schmollte wie eine Diva, und Isaac musste etwas unternehmen. Er brachte sie rauf ins Ödland der Bronx. Sie boykottierten Robert Moses’ Cross Bronx Expressway, der Wohngebiet um Wohngebiet zugrunde gerichtet hatte, indem er rücksichtslos durch die gewachsenen Strukturen der Bronx schnitt und sie Stück für Stück zerstörte. Isaac konnte zwar den Bezirk nicht retten, jedoch einige seiner Kinder. Und so gründete er Merlin, eine Schule jenseits der Schule, wo die aufgewecktesten Kids einer feuerzerbombten Bronx sich mit den besten kleinen Genies Manhattans direkt im Wohnsitz des Bürgermeisters treffen konnten. Und Isaac hatte Marianna rekrutiert – um sein eigenes Leben genauso zu bereichern wie das der missratenen Jungs und Mädchen der Bronx. Zunächst verbrachte sie lediglich mehr Zeit bei ihm in der Gracie Mansion. Sie bügelte die Hemden von Big Guy, übernahm in der Küche das Regiment und buk Walnusskekse. Ohne sie hätte er niemals überlebt. Außerdem hatte er Mitleid mit Marianna, die solch miserable Eltern hatte.

Und jetzt war er mit dieser Hexe, Mrs. Markham, mitten im tiefsten Texas. Er hatte seine Glock und seinen sechsten Sinn. Nicht so ganz nachvollziehen konnte er jedoch, warum Timmy sich bei ihm in einem gelben Wahlkampfbus befand und nicht zu J. Michael zurückgekehrt war, der keinen Schritt machen konnte, ohne zu straucheln.

„Michael braucht Sie, Tim.“

„Dem ist sowieso nicht mehr zu helfen“, konterte der Stratege. „Mein einziger Trost ist, dass Calder schneller untergegangen ist als er. Das ist ein Novum in der amerikanischen Politik. Ein Präsidentschaftsrennen, bei dem beide Kandidaten auch nicht das winzigste Scheißfeuer entfachen könnten. Falls Sie sich in irgendeinen Skandal verstricken, verschwindet Michael einfach mitsamt dem Waldorf. Deshalb konnte ich nicht zulassen, dass Calder Ihnen einen Lolitakomplex anhängt. Ich musste mir einfach Marianna schnappen.“

Sie waren in San Antonio eingetroffen, wo Tim eine Pressekonferenz in der alten Viehzüchter-Bar im MengerHotel schräg gegenüber vom Alamo angesetzt hatte. Die Demokraten wollten aus Isaac einen Davy Crockett machen, ihm seine Manhattan-Haut abziehen. Aber Isaac dachte nicht daran, sein Naturell zu verleugnen, einen verlorenen Sohn von San Antonio zu spielen. Er würde auch nicht wie andere Politiker Cowboystiefel tragen, zu Reitturnieren gehen oder in einen Spucknapf aus massivem Gold spucken. Er sprach über das Elend der Schulen in den Innenstädten der 1980er Jahre, über die elfjährigen Pistoleros, die für Drogenbosse arbeiteten und rivalisierende Banden in Fetzen schossen, weil sie nicht öffentlich vor Gericht gestellt werden konnten.

„Ich mag keine Koks-Könige, die sich hinter den Röcken von Kindern verstecken.“

„Was mögen Sie denn dann?“, fragte einer der Journalisten. „Wir sind hier in Crockett-Land. Würden Sie uns mit Gesetzen zur Reglementierung des Waffenbesitzes Knüppel zwischen die Beine werfen?“

„Ja, vielleicht“, antwortete Isaac, „wenn ich dadurch elfjährige Mörder los würde.“

„Wir sind hier nicht in Brooklyn. Unsere Kinder spielen nicht mit Waffen, Sir. Sie würden von uns links und rechts was auf die Ohren kriegen.“

Die fette Hexe rempelte Isaac an. „Machen Sie’s kurz“, raunte sie.

„Mein Gott, Mrs. Markham. Sind Sie jetzt mein Stabschef?“

„Der Mond steht genau zwischen zwei Häusern. Das ist gefährlich. Sie befinden sich auf dem Scheitelpunkt von etwas, was mir ganz und gar nicht gefällt. Machen Sie sich so schnell wie möglich vom Acker.“

„Was? Vor dem Alamo davonlaufen? Wir sind hier in Texas, Liebes.“

„Behandeln Sie mich nicht so herablassend“, fauchte Mrs. Markham und rammte Isaac ihren Ellbogen ins Kreuz… als in der Menge ein Verrückter mit einer Knarre auftauchte. Der Bewaffnete hatte Martin Boyle und seine Secret Service-Männer mit runtergelassenen Hosen erwischt. Sie hatten die MengerBar nach möglichen Spinnern abgegrast und waren völlig überrumpelt worden. Der Bewaffnete war schwer zu entdecken gewesen. Er war gekleidet wie ein Soldat, trug einen silbernen Adler auf der Schulter. Aber er hatte eine dicke schwere Zunge, und seine Augen waren blutunterlaufen. Der Mund saß ihm schief im Gesicht, fast als hätte ihn jemand dort aufgenäht.

„Ich bin das Auge Gottes“, brüllte der Bewaffnete, während er einen silbernen Colt mit dem längsten Lauf umklammerte, den Isaac je gesehen hatte. Big Guy konnte seine Glock nicht ziehen. Er hätte damit im Menger ein Pandämonium entfacht, womöglich ein Blutbad angerichtet. Stattdessen schob er sich schützend vor Mrs. Markham und ein kleines Mädchen, das wegen eines Autogramms zu ihm gekommen war, stieß die zwei aus der direkten Schusslinie und stürzte sich auf den Bewaffneten, der seinen Abzug ein einziges Mal betätigte und Isaac mit einem Streifschuss unter dem Arm erwischte. Die Kronleuchter klingelten wie ein himmlisches Glockenspiel. Aber warum, warum nur dachte Isaac genau in dem Moment, kurz bevor er stürzte, an diese Army-Pioniere auf dem Hügel in der Bronx? Es musste ein unheilvolles Zeichen sein.

„Citizen am Boden, Citizen am Boden“, trällerten die Secret Service-Männer in ihre Knopfmikros. „Citizen“ war Isaacs interner Codename beim Service. Sie hatten den Schützen bereits ergriffen; vier von ihnen, darunter auch Boyle, lagen auf Isaac. Boyles Wangen waren mit Isaacs Blut bedeckt.

„Boyle“, flüsterte Isaac, „kannst du vielleicht mal gottverdammt von mir runter? Ich krieg keine Luft.“

Und dann fiel er in Ohnmacht.

2

Er wachte in einem Krankenzimmer im Brooke Army Medical Center auf, das anscheinend für Generäle bestimmt gewesen sein musste. Es war größer als Isaacs Schlafzimmer in der Gracie Mansion. Schläuche waren mit seinem Arm verbunden, in seiner Nase steckte ein Stöpsel, der ihn mit Sauerstoff versorgte. Das Krankenhaus war Teil von Fort Sam Houston. Isaac hatte schon als kleiner Junge von Fort Sam gelesen. Genau hier waren Geronimo und seine Apachen-Generäle früher als Kriegsgefangene gehalten worden…

Er schloss die Augen, und als er wieder aufwachte, waren sowohl die Schläuche als auch der Nasenstöpsel verschwunden. Ärzte und Krankenschwestern waren gekommen und gegangen. Alle trugen Uniform. Boyle stand an seinem Bett.

„Es hätte nicht passieren dürfen, Mr. President.“

„Boyle, muss ich es dir noch mal sagen? Ich bin von niemandem der Präsident. Ich werde Michaels Vizepräsident sein, sofern ich solange noch lebe.“

„Jawohl, Mr. President. Aber das hätte nicht passieren dürfen. Wir waren nachlässig. Das ist unentschuldbar.“

„Was ist mit dem Schützen? Ist er verletzt?“

„Nein, Sir. Es geht ihm gut. Er ist ins Krankenhaus gebracht worden, ist in Haft.“

„Hast du gesehen, wie gottverdammt riesig sein Colt war? Woher hat er nur so eine Kanone?“

„Das ist ein Theaterrequisit, Sir. Er hat’s bei einem Rodeo stibitzt.“

„Wie heißt er, Boyle?“

„Billy Bob Archer. Er ist ein Koreakrieg-Veteran.“

„Korea? Er sieht aus wie ein Baby. Ich hätte geschworen, selbst für Vietnam wäre er noch zu jung“. „Das liegt an der Uniform, Sir. Die hat sein Alter kaschiert. Er geht hart auf die sechzig zu, und er hat eine ganze Akte voll psychischer Probleme.“

„Wird man ihn wegen irgendwas anklagen, Boyle?“

„Sehr wahrscheinlich, Sir. Aber ich kann mich nicht mit örtlichen Polizeiangelegenheiten befassen.“

Tim Seligman kam ins Zimmer, eine gewaltige Mappe mit Zeitungsausschnitten unter dem Arm.

„Sie sind ein Held, gottverdammt. Die ganze Welt schwärmt von Ihnen, Isaac. Sie müssten mal sehen, was in China und Pakistan in den Zeitungen steht. Designierter Vizepräsident schützt ganzes Hotel vor Amokschützen unter Einsatz seines Lebens.“

„Wo ist Mrs. Markham?“

„Versteckt sich irgendwo. Wir mussten sie unbedingt aus der Geschichte raushalten. Die Leute könnten noch auf die Idee kommen, Sie hätten eine persönliche Astrologin. Wär nicht gut für die Politik.“

„Aber sie ist meine Astrologin. Und sie hat mir den Arsch gerettet. Ich hätte den Schützen niemals bemerkt, wenn sie nicht…“

Das Telefon klingelte.

„Ist das J. Michael? Haben Sie ihm gesagt, er soll mich anrufen, Tim?“

Isaac nahm das Telefon ab und knurrte in den Hörer. „Sidel hier.“

Es war die Telefonzentrale des Weißen Hauses. Calder Cottonwood war in der Leitung.

„Wie geht’s Ihnen, mein Sohn?“

„Ich komme mir vor, als würde ich in einem Palast leben.“

„Ich habe das Zimmer für Sie reserviert. Es ist das beste des Hauses. Ich bin ja immer noch Oberbefehlshaber, wissen Sie. Die Militärkrankenhäuser unterstehen mir… Ist Tim Seligman da?“

„Ja, Mr. President.“

„Dieser Drecksack hält Markham als Gefangene fest… In einem der Hinterzimmer des Menger.“

„Das ist Politik. Tim kämpft mit harten Bandagen, genau wie Sie.“

Es folgte einen Moment lang Stille. „Mit harten Bandagen?“

„Haben nicht Sie ihr die Nase gebrochen?“

„Das war Leidenschaft, nicht Politik.“

„Tja, und soweit es Marianna Storm betrifft, bin ich ganz genau so leidenschaftlich. Und es geht mir gewaltig gegen den Strich, sie zu verlieren, Mr. President, nur weil Ihre Jungs beschlossen haben, mich einen Bullen mit Lolitakomplex zu nennen, einen beschissenen Pädophilen. Versprechen Sie mir, dass jetzt Schluss ist mit Ihren kleinen Spielchen?“

„Ich könnte Ihnen das Blaue vom Himmel versprechen, Sidel, aber meine Jungs und Mädels werden Ihnen eins überziehen, wenn sich ihnen eine Möglichkeit bietet.“

Isaac legte einfach auf. „Tim, ich will mich mit meiner Astrologin beraten. Bitte.“

„Das ist unmöglich.“

„Soll ich sie selbst holen? Ich werde im Menger an jeder einzelnen gottverdammten Tür anklopfen. Ich werde im Krankenhaushemd dort antanzen.“

Tim flüsterte in sein Knopfmikrophon, und Mrs. Markham tauchte auf. Er musste sie aus dem Menger abgezogen und in Isaacs gelbem Bus gebunkert haben. Sie war sehr blass. Wahrscheinlich war ihr klar geworden, dass die Demokraten genau so unberechenbar und launisch waren wie Calder.

„Mrs. Markham, wohin würden Sie das Auge Gottes stecken? Ich meine, in welchen Teil des Tierkreises, in welches Haus genau?“

„Auf die Beantwortung dieser Frage bin ich nicht eingestellt.“

„Aber genau das hat der irre Soldat doch gesagt. ,Ich bin das Auge Gottes.‘ Und Sie haben ihn kommen sehen, Sie haben ihn vorhergesehen.“

Sie starrte die Wand an. „Auf die Beantwortung dieser Frage bin ich nicht eingestellt.“

„Timmy, was haben Sie mit ihr gemacht? Es gibt Schlimmeres als einer Frau die Nase zu brechen… Boyle, besorg mir meine Hose, ja? Ich gehe spazieren.“

„Sie können nicht gehen“, sagte Tim. „Vor diesem Zimmer lauern Hunderte Reporter. Sie sind noch nicht soweit, dass Sie sich ihnen stellen können.“

„Boyle, hast du meine Glock?“

„Jawohl, Mr. President.“

„Gut. Dann zieh mich jetzt bitte an.“

Isaac setzte sich im Bett auf, und Boyle streifte sein Krankenhaushemd ab. Isaacs Rippen waren verbunden. Boyle half ihm in Hemd, Hose und Schuhe. Isaac streifte ein Cordsamt-Sakko über, das er sich auf einem Wühltisch in Waco gesichert hatte. Er sah aus wie ein Verbrecherjäger, wie ein philosophischer Clown.

„Wo geht’s jetzt hin?“, erkundigte sich Boyle.

„Zu Billy Bob Archer.“

Timmy stöhnte. „Isaac, man wird uns nicht auf die Bekloppten-Station lassen.“

„Wollen wir wetten?“

„Sie können nicht mit Amanda Markham dorthin. Wir müssen sie als freiwillige Helferin tarnen.“

„Kommen Sie. Die Frau war bei Letterman und Larry King. Die ist eine Himmelsguckerin. Und die Nummer Eins in ihrer Branche. Haben Sie das nicht selbst gesagt?“

„Sie war nur zufällig in Ihrer Nähe, als der Bewaffnete dank Boyles Unachtsamkeit dort eintraf.“

„Lassen Sie Boyle in Ruhe. Er kann sich nicht um alle Irren kümmern.“

„Er hätte Sie schützen sollen. Dafür wird er bezahlt.“

„Tim, gehen Sie mir nicht auf die Eier.“

Und Isaac segelte aus dem Raum, hielt dabei Mrs. Markhams Hand.

„Citizen ist gestartet und auf dem Weg“, trällerte Boyle in sein Mikro, und der Secret Service musste Isaac den Weg freimachen und die Reporter davon abhalten, ihn zu zerquetschen.

„Mr. Sidel, glauben Sie an die Sterne?“

„Ach, eigentlich muss die Frage doch eher lauten: Glauben die Sterne an mich?“

„Aber haben nicht Sie und der Präsident ein und dieselbe Astrologin?“

„Verehrte Damen und Herren, Mrs. Markham ist lediglich eine gute Freundin.“

„Wer ist für Sie der größte Held, Isaac?“

„AR“, antwortete Isaac ohne das geringste Zögern.

„AR? Ist er im Alamo gestorben?“

„Nee-nee. Er war ein Spieler, der König des Verbrechens. Arnold Rothstein.“

„Rothstein“, fauchte Seligman Isaac ins Ohr. „Sie versenken uns, um Himmels willen.“

Und Boyle lotste den ganzen Wanderzirkus eine Etage tiefer in die Psychiatrie, wo Isaac von einem Captain der Army und zwei Militärpolizisten aufgehalten wurde.

„Tut mir leid, Sir“, sagte der Captain, „aber da können Sie nicht rein. Zutritt verboten, selbst für Vizepräsidenten.“

„Haben Sie ein Telefon, Captain?“

Isaac rief das Weiße Haus an und schrie Zeter und Mordio, bis er von der Zentrale zu Präsident Cottonwood durchgestellt wurde.

„Isaac, ich sitze auf dem Scheißhaus. Was zum Teufel wollen Sie? Ich dachte, wir wären mit Reden fertig.“

„Ich habe Mrs. Markham gefunden. Sie schulden mir was. Ich möchte auf die psychiatrische Station und Billy Bob sehen, aber der Captain sagt nein.“

„Wer ist Billy Bob?“

„Der Mann, der versucht hat, das Menger zu Klump zu ballern.“

„Aber das ist doch ein Irrer. Ich kann mich da nicht einmischen.“

„Sind Sie jetzt Oberbefehlshaber oder nicht?“

Isaac reichte dem Captain das Telefon, der daraufhin zuhörte, ein paar Worte nuschelte, das Telefon dann weglegte und vor Isaac salutierte.

„Captain“, sagte Isaac, „Mrs. Markham wird mich begleiten.“

„Aber der Präsident hat gesagt…“

„Muss ich das Weiße Haus noch mal anrufen? Es ist von entscheidender Wichtigkeit, dass Mrs. Markham diesen Billy Bob trifft.“

Der Captain sperrte das Tor zur Psychiatrie auf.

Seligman wirkte verärgert. „Isaac, sollte ich nicht –“

„Nein“, unterbrach Isaac und rauschte ohne Tim oder Martin Boyle, aber zusammen mit Mrs. Markham durchs Tor. Hinter einem vor ihnen marschierenden MP betraten sie eine Art Niemandsland, einen langen, sehr langen Korridor.

„Isaac, ich bin gerührt“, sagte die Astrologin, „dass Sie mich mit in die Höhle genommen haben.“

„Seien Sie still“, sagte Isaac. Er packte Mrs. Markham und zog den Verband von ihrer Nase. Sie schrie nicht. Nichts war gebrochen oder geprellt.

„Sie sind eine Schauspielerin, stimmt’s, die Mrs. Markham spielt?“

Die pummelige Frau nickte.

„Der arme Tim. Er glaubt, er hätte das Weiße Haus verwanzt. Calder verfügt über die besten National Security-Jungs. Er lässt aufzeichnen, was immer er Tim hören lassen möchte. Wie heißen Sie?“

„Amanda… Amanda Wilde.“

„Sie kommen mit Ihrer kleinen Referenz in unser Camp, und Sie werden dafür bezahlt, mich fertigzumachen. Stimmt’s nicht, Mrs. Wilde?“

„Ja… aber ich bin nicht verheiratet. Ich spürte –“

„Woher haben Sie Ihre Astrologie?“

„Aus einem Buch.“

„Aber Sie haben mich in der Menger Bar gewarnt… wegen Billy Bob.“

„Das Gespür einer Schauspielerin. Ich habe ge–“

„Moment. Ist Billy Bob Archer auch ein Schauspieler? Kommt er aus Ihrem eigenen kleinen Ensemble? Oder ist er einer von Calders Kommandosoldaten?“

„Ich weiß nicht… Er hat doch auf Sie geschossen, oder etwa nicht?“

„Eine Lappalie. Calder hätte eine kleine Fleischwunde riskieren können… wenn ihm ein Scharfschütze zur Verfügung stand.“

„Im Menger? Wo Leute…“

Der MP führte sie in eine winzige Zelle, die von der restlichen Station abgesondert war. Billy Bob Archer lag nicht im Bett. Er saß auf einem Ledersessel, die Arme und Beine in Fesseln, und Isaac fragte sich, ob er wohl mitten in ein aberwitziges Drama geraten war.

„Billy Bob, erinnern Sie sich an mich?“

„Ja.“

„Warum sollte Gott Ihnen sein Auge ausleihen?“

„Er hat’s nicht ausgeliehen. Ich bin Gottes einziges Auge.“

„Dann ist der Herr blind.“

„Genau, Mr. Schickimicki. Und ich muss ihn aus der Dunkelheit führen. Wer ist das fette Mädel?“

„Meine Astrologin.“

Der Mordschütze lächelte. „Dann weiß sie ja, dass Sie im Haus Gottes geboren sind.“

„Sind Sie deshalb mit einer Kanone hinter mir her gewesen, Billy Bob? Was hat mein Geburtstag mit Gott zu tun?“

„Ein Mai-Baby ist ein schwermütiges Baby… Sie weiß das.“

Isaac näherte sich dem Ledersessel. „Was weiß sie? Wohnt Gott im Weißen Haus? Träumt Er im Oval Office? Hat Calder Cottonwood Sie engagiert?“

Der Mordschütze fing an zu weinen. „Sie entweihen mich. Ich hatte eine Mission. Ihnen die Augen ausschießen. Und ich habe versagt… wegen diesem fetten Mädel da.“

„Was zum Teufel geht hier vor?“

Der Chefarzt der Station tauchte in Billy Bobs Zelle auf. Er war wütend auf Isaac, dieser Army-Psychiater, der ebenfalls ein Colonel war. Trevor Welles. Isaac hatte noch nie so weißes Haar gesehen wie seines.

„Das hier ist eine psychiatrische Station, Mr. Mayor. Kokolores wird hier nicht gutgeheißen.“

„Ach, Doc“, sagte der Mordschütze. „Hacken Sie doch nicht auf dem Mai-Baby rum.“

„Muss ich Sie wieder knebeln, Corporal Archer?“

„Aber ich will hören, was das fette Mädel hier zu sagen hat. Haben Sie im Menger Gott gesehen, kleines Fräulein?“

Amanda blinzelte. „Ich bin nicht sicher“, sagte sie. „Ich bin nicht sicher.“

Isaac wandte den Blick nicht von Welles’ Uniform: sie kam ihm eine Idee zu vertraut vor. „Colonel, hat Billy Bob Ihnen die Uniform geklaut und sie dann im Menger getragen?“

„Ja.“

„Wie hat er sie in die Hände bekommen?“

„Wird das jetzt ein Verhör? Sie sollten nicht mal hier sein… Er hat meinen Spind aufgebrochen.“

„Und ist am großen Tor an zwei MPs vorbeigekommen?“

„Wir sind hier in einem Krankenhaus, nicht in einem Gefängnis.“

„Haben Sie ihn trainiert, Colonel Welles? Haben Sie ihn ausgestattet, ihm eine Rodeo-Kanone ausgeliehen?“

„Sir“, sagte der Colonel, „Sie müssen diese Station umgehend verlassen.“

„Nicht bevor ich mich von Billy Bob verabschiedet habe.“

Isaac beugte sich über den Ledersessel und drückte dem gescheiterten Mordschützen einen Kuss auf die Stirn. „Mein armer kleiner Bob.“

Dann umklammerte er Amandas Hand, marschierte an Colonel Welles mit seinem weißen, weißen Haar vorbei und erreichte das Tor. Sein Schatten, Martin Boyle, wartete auf der anderen Seite des soliden, brutalen Stacheldrahts. Seine Hände zuckten. „Sie hätten da nicht ganz allein reingehen dürfen.“

„Allein?“, sagte Isaac. „Ich hatte Amanda zum Schutz dabei.“

In der Nähe des Tors lungerte immer noch eine Reporterbande.

„Mr. Sidel, Mr. Sidel, haben Sie sich mit dem irren Meuchelmörder getroffen?“

„Billy Bob ist kein Meuchelmörder. Er hat mich mit jemand anderem verwechselt.“

„Mit wem, Sir?“

„Mit einem Engel“, antwortete Isaac und wandte sich an seinen Schatten.

„Ruf unseren Fahrer, Boyle. Sag ihm, er soll den Bus schon mal warmlaufen lassen. Wir verlassen San Antonio.“

* * *

Der Bus tauchte neun Minuten später vor dem Krankenhaus auf. Isaac sprang mit den Journalisten an Bord, die seine Tour durch Texas begleiteten. Er hatte eine Sekretärin und einen kleinen Mitarbeiterstab, die er jedoch praktisch nie einspannte. Es gab keine Vereinbarungen, die er zu treffen hatte. Er war kein politischer Stratege wie Tim. Er war ein Rabauke mit einer Kanone. Er geriet in Faustkämpfe. Sein ganzer Körper war mit Narben übersät, wie Gottes ureigener Krieger. Er beobachtete Amanda, wartete, bis sie sich setzte. Er wollte seine Astrologin nicht in Panik versetzen. Und er musste Tim kein Zeichen geben.

Seligman näherte sich Isaac, nahm Platz.

„Wir müssen das Miststück loswerden… Isaac, sie steht im Licht der Öffentlichkeit. Meine Leute haben sie überprüft. Sie ist ein Spitzel.“

„Timmy, Schatz, haben sie auch herausgefunden, dass Ihre Wanzen im Weißen Haus nichts als Einbildung sind? Calder hat sein eigenes Drehbuch. Er hat Sie quasi an den Eiern.“

„Das ist eine Lüge.“

Isaac streichelte Tims Ohr. „Das Tohuwabohu im Menger war eine kleine Attentatsparty. Amanda muss die Sache in letzter Minute durchkreuzt haben… Benutzen Sie mal Ihren Kopf, Tim. Wie konnte Billy Bob in der Uniform eines Colonels aus einer geschlossenen Einrichtung spazieren?… Und wer hat ihm die Kanone geliefert?“

„Wenn es Calder war, bringe ich ihn um. Und ich schnappe mir das Miststück, führe eine Jedermann-Festnahme durch.“

„Sie werden gar nichts tun, Tim. Wir können nichts beweisen. Calder wird uns ins Gesicht lachen. Anschließend wird er mich in den Dreck rammen. Wir werden wie die letzten Amateure dastehen, die den Präsidenten der Vereinigten Staaten mit wilden Mordtheorien überschütten… Wo machen wir als nächstes Station?“

„Houston“, antwortete Tim.

„Gut. Wecken Sie mich, wenn wir da sind.“

Und Citizen schlief schnell ein.

3

Isaac machte eine Rundfahrt auf dem Houston Ship Channel, ritt im Gilley’s auf dem berühmten mechanischen Bullen, kniete in der Rothko Chapel, wo er ein wenig Ruhe fand, als er über den exzentrischen Millionär Mark Rothko nachdachte, der es sich nicht leisten konnte, einen Mantel zu kaufen, und sich jeden Winter den Arsch abfror… bis er sich schließlich umbrachte. Rothkos Gemälde, mit ihren intensiven Farbbändern, beruhigten Sidel, zwangen ihn, seine eigene Isolation zu erkennen, den symbolischen Mantel, den auch er niemals tragen würde.

Er rief seine Experten in der City Hall an. Dieses Team von Pionieren der Army im Claremont Park ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Seine Experten stellten eigene Nachforschungen an. Die Pioniere waren immer noch da. Der Claremont Park war anscheinend ihr Hauptquartier geworden. Sie hatten sich mit ihren magischen Stativen über das verwüstete Weideland von Morrisania ausgebreitet, hatten die ganzen Trümmer und angekokelten Backsteine vermessen. Morrisania war ein Paradies für Bettler. Der Stadtteil litt unter größerer Armut als jeder andere Bezirk in den gesamten Vereinigten Staaten. Isaac mochte keine Rätsel. Er rief das Pentagon an und bekam einen salbungsvollen Colonel an die Strippe.

„Army-Pioniere in der Bronx, Mr. Sidel? Muss wohl ein Übungseinsatz sein.“

„Übung wofür?“

Das konnte der Colonel auch nicht sagen. Es folgte ein langes Schweigen, bis schließlich ein anderer Colonel in die Leitung kam.

„Die Pioniere sind ohne jede Autorisierung tätig, Mr. Sidel. Sie hätten nicht in Ihrem Hinterhof auftauchen dürfen. Und die Schießerei in San Antonio bedaure ich sehr. Der Präsident hat uns fertiggemacht, weil wir’s nicht im Vorfeld verhindert haben. Wir hoffen alle, dass es Ihnen wieder gut geht.“

Seine Experten in der City Hall meldeten sich wenige Stunden später. Die Pioniere der Army waren aus dem Claremont Park verschwunden. Aber Big Guy war nicht zufrieden. Irgendwas nagte immer noch an ihm, und er war nicht mal sicher, was genau.

Er kehrte ohne Amanda nach New York zurück, versuchte, Marianna Storm anzurufen, schien sie aber einfach nicht an die Strippe bekommen zu können. Die Demokraten hatten sie aus seinem Leben ausgesperrt. Lolita. Und Isaac machte, was er häufig tat, wenn er sehr melancholisch war. Er kampierte vor dem Ansonia, wie eine verlorene Seele. Seine ganz persönliche Wallfahrt, so unergründlich wie die Geschichte. Für Isaac Sidel war das Ansonia Geschichte. David Pearl hatte dort gewohnt, Arnold Rothsteins letzter Schüler. Ach, wäre er doch nur ein wenig früher auf die Welt gekommen und hätte Rothstein auf den Stufen des Ansonia getroffen. AR hätte Isaac noch den einen oder anderen Trick beibringen können…

Seine erste Wallfahrt zum Ansonia machte er um 1940 herum. Es war eine Burg, die sich mit seinen geschwungenen Balkonen und den Ecktürmchen hoch über den Broadway erhob wie eine Alhambra, wo Könige herrschen und mit oder ohne ihren Mätressen und Ehefrauen sich vergnügen konnten. Diese Burg erstreckte sich über einen ganzen Block. Isaacs Dad, der Handschuhfabrikant Joel Sidel, besuchte dort David Pearl, seinen stillen Teilhaber, der ein Ecktürmchen ganz für sich allein besaß. Der Wunderknabe Pearl war bereits mit seinen etwa fünfundzwanzig Jahren ein Einsiedler.

Isaac begleitete seinen Dad und saß in diesem Türmchen, während Joel mit David sprach und Champagner trank, der eine leicht bläuliche Farbe hatte. Es herrschte eine gewisse fiebrige Aufregung wegen des Krieges in Europa, und der jungenhafte Banker hatte Joel geholfen, sich einen Auftrag der Armee über die Lieferung von „Schlechtwetter-Handschuhen“ zu sichern. Der Auftrag hätte eigentlich an einen erheblich potenteren Hersteller gehen sollen, doch David verstand sich auf die spezielle Dynamik eines Bieterkrieges, und er kannte die jeweiligen Hände, die von ihm „geschmiert“ werden mussten. Joel war wie ein Baby im Land der Politik, aber er konnte die besten Ziegenlederhandschuhe der Welt herstellen. David selbst besaß etwa hundert Paar.

Er war ein eher kleiner, fast schön zu nennender Mann mit zarten Händen und dunkelbraunen Augen. Er galt als Arnold Rothsteins Schützling, auch wenn Rothstein an einer Kugel in den Unterleib starb, als David gerade mal fünfzehn war. Rothstein hatte ihn adoptiert, und David ging beim König des Verbrechens „aufs College“. Rothstein nahm ihn mit auf die Pferderennbahn, zu Treffen mit Glücksspielern, in Spielkasinos, wo David seine neuen „Onkels“ entdeckte: Legs Diamond und Frank Costello. Umgeben von Rothsteins Aura war David mit sechzehn zu einem Risikokapitalgeber geworden, und die Unternehmen, die er finanzierte, wie zum Beispiel das von Joel, hatten niemals Probleme mit kriminellen Gewerkschaften und der Justiz.

David schwelgte gern in Erinnerungen. Er hatte Isaac lieb gewonnen und ließ ihn auf seinen winzigen Knien reiten, während er ihm Geschichten über ein Manhattan erzählte, das Isaac sich im Traum nicht hätte vorstellen können.

„Arnold hat mich mit dem Ansonia bekannt gemacht. ,Die einzige Adresse, die zu besitzen wert ist‘, sagte er immer. Caruso hat dort gelebt. Toscanini. Schaljapin. Babe Ruth. ,Wenn ich im Ansonia bin‘, sagte er, ,will ich nie mehr zurück raus auf die Straße gehen.‘“

„Und warum hat er dann nicht hier gelebt?“, fragte Isaac.

„Bitte“, sagte Joel, „belästige David nicht.“

„Das ist eine völlig legitime Frage. Arnold hatte eine Geliebte im dreizehnten Stock. Inez. Er war verrückt nach ihr. Was für ein Geschöpf. Groß und stolz wie ein Pelikan. Die Leute begafften sie, wenn sie mit dem Lift hinunter zum Swimmingpool fuhr. Arnold musste einen Verlobten für sie einstellen, denn andernfalls hätte sie zwanzig Heiratsanträge pro Monat bekommen. Er hatte sie aus den Ziegfeld Follies geholt, eine Tänzerin mit Beinen bis in den Himmel…“

„Mr. Pearl“, murmelte Isaac. „Inez’ Beine hätten ihn doch nicht aus dem Ansonia aussperren können.“

„Sei nicht so vorlaut“, sagte Joel. „Du unterbrichst David.“

Doch der jungenhafte Banker lachte, und dann begann er zu husten. Er hatte von Geburt an ein schwaches Herz.