Winzige Gefährten - Ed Yong - E-Book

Winzige Gefährten E-Book

Ed Yong

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Beschreibung

Unser Körper ist eine ganze Welt: Billionen Mikroorganismen bevölkern ihn. Sie gestalten unsere Organe mit, schützen uns vor Krankheiten, steuern unser Verhalten und bombardieren uns mit ihren Genen. Diese winzigen Gefährten verfügen über den Schlüssel zum Verständnis für das gesamte Leben auf der Erde, wie es begann, wie es sich fortentwickelte. Ed Yong öffnet uns die Augen für diese unsichtbare Welt. Er erzählt von den erstaunlichen Symbiosen, die Korallen dazu bewegen, mächtige Riffe zu bauen, oder es Zwergtintenfischen ermöglichen, ihre eigenen Umrisse mit einem diffusen Licht zu tarnen, um sich vor Jägern zu schützen. Wir erfahren, wie Mikroben Viren in Schach halten, Einfluss auf unsere Emotionen und unser Wesen nehmen und sogar unsere genetische Veranlagung verändern können. Wir lernen die Wissenschaftler kennen, die mit ansteckender Begeisterung diese winzigen Begleiter erforschen – sehr zu unserem Nutzen. Mit überraschendem Witz, großer Kenntnis und Anschaulichkeit lässt Ed Yong auf dieser Entdeckungsreise in den Kosmos der Mikrobiologie das Unsichtbare und Winzige sichtbar und groß werden.

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ED YONG

WINZIGEGEFÄHRTEN

Wie Mikroben uns eine umfassendereAnsicht vom Leben vermitteln

Aus dem Englischenvon Sebastian Vogel

 

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

Zum Buch

Eine erstaunliche, amüsante und kenntnisreiche Entdeckungsreise in den Kosmos der Mikrobiologie.

Unser Körper ist eine ganze Welt: Billionen Mikroorganismen bevölkern ihn. Sie gestalten unsere Organe mit, schützen uns vor Krankheiten, steuern unser Verhalten und bombardieren uns mit ihren Genen. Diese winzigen Gefährten verfügen über den Schlüssel zum Verständnis für das gesamte Leben auf der Erde, wie es begann, wie es sich fortentwickelte.

Ed Yong öffnet uns die Augen für diese unsichtbare Welt. Er erzählt von den erstaunlichen Symbiosen, die Korallen dazu bewegen, mächtige Riffe zu bauen, oder es Zwergtintenfischen ermöglichen, ihre eigenen Umrisse mit einem diffusen Licht zu tarnen, um sich vor Jägern zu schützen. Wir erfahren, wie Mikroben Viren in Schach halten, Einfluss auf unsere Emotionen und unser Wesen nehmen und sogar unsere genetische Veranlagung verändern können. Wir lernen die Wissenschaftler kennen, die mit ansteckender Begeisterung diese winzigen Begleiter erforschen – sehr zu unserem Nutzen.

Mit überraschendem Witz, großer Kenntnis und Anschaulichkeit lässt Ed Yong auf dieser Entdeckungsreise in den Kosmos der Mikrobiologie das Unsichtbare und Winzige sichtbar und groß werden.

»Ed Yong vermittelt uns eine überraschende und faszinierende Einsicht nach der anderen.

Wissenschaftsjournalismus in Höchstform.«

Bill Gates

Über den Autor

Ed Yong, geb. 1981, ist Wissenschaftsjournalist und schreibt für The Atlantic. Seine Artikel und Reportagen sind außerdem u.a. im National Geographic, New Yorker, Wired, Nature, New Scientist, Scientific American erschienen. Der New York Times-Bestseller "Winzige Gefährten“ ist sein erstes Buch. Er lebt derzeit in Washington DC.

INHALT

Prolog         Ein Besuch im Zoo

Kapitel   1:  Lebende Inseln

Kapitel   2:  Die Idee, genauer hinzusehen

Kapitel   3:  Baumeister des Körpers

Kapitel   4:  Allgemeine Geschäftsbedingungen

Kapitel   5:  In kranken und gesunden Tagen

Kapitel   6:  Der lange Walzer

Kapitel   7:  Wechselseitig gesicherter Erfolg

Kapitel   8:  Allegro in E-Dur

Kapitel   9:  Mikroben à la carte

Kapitel 10:  Morgen: die Welt

Danksagungen

Anhang       Anmerkungen

Literatur

Register

PROLOG

EIN BESUCH IM ZOO

BABA SCHRECKT NICHT ZURÜCK. Die Horde aufgeregter Kinder, die sich um ihn versammelt hat, lässt ihn vollkommen unbeeindruckt. Ebenso wenig stört ihn die kalifornische Sommerhitze. Und auch um die Wattestäbchen, die über sein Gesicht, seinen Körper und seine Pfoten gestrichen werden, kümmert er sich nicht. Die Lässigkeit kann er sich leisten, denn er führt ein sicheres, gemütliches Leben. Sein Zuhause ist der Zoo von San Diego. Er trägt einen undurchdringlichen Panzeranzug, und derzeit hat er sich um den Bauch eines Zoowärters geschlungen. Baba ist ein Weißbauchschuppentier – ein überaus liebenswerter Zeitgenosse, der wie eine Kreuzung zwischen einem Ameisenbär und einem Kiefernzapfen aussieht. Er ist ungefähr so groß wie eine kleine Katze. Seine schwarzen Augen blicken traurig drein, und die Haare, die seine Wangen rahmen, sehen aus wie widerspenstige Koteletten. Sein rosafarbenes Gesicht läuft in einer spitzen, zahnlosen Schnauze aus, die sich gut dafür eignet, Ameisen und Termiten zu schlürfen. Die langen, gebogenen Klauen an den Enden seiner stämmigen Vorderbeine sind dazu gebaut, sich an Bäumen festzuklammern und Insektennester auseinanderzureißen. Und mit dem langen Schwanz kann er sich von Ästen (oder freundlichen Zoowärtern) herunterhängen lassen.

Aber sein mit Abstand auffälligstes Merkmal sind die Schuppen, die Kopf, Rumpf, Gliedmaßen und Schwanz bedecken. Diese hellorangefarbenen, sich überlappenden Platten bilden einen äußerst widerstandsfähigen Abwehrpanzer. Sie bestehen aus dem gleichen Material wie unsere Fingernägel: Keratin. Sie sehen auch tatsächlich fast aus wie Fingernägel und fühlen sich so an – allerdings wie große, lackierte und übel abgekaute. Die Schuppen sind flexibel, aber fest am Körper verankert; deshalb geben sie nach, wenn ich mit der Hand über Babas Rücken streiche, und richten sich anschließend wieder auf. Würde ich ihn in der umgekehrten Richtung streicheln, ich würde mich vermutlich schneiden – viele der Schuppen haben scharfe Kanten. Nur Babas Gesicht, Bauch und Pfoten sind ungeschützt, aber bei Bedarf kann er sie leicht verteidigen, indem er sich zu einer Kugel zusammenrollt. Dieser Fähigkeit verdankt das Tier seinen englischen Namen pangolin: Er kommt von dem malaiischen Wort pengguling, und das bedeutet so viel wie »etwas, das sich einrollt«.

Baba gehört zu den Botschaftern des Zoos – das sind besonders gefügige, gut ausgebildete Tiere, die an öffentlichen Vorführungen mitwirken. Die Zoowärter nehmen sie häufig mit in Pflegeheime oder Kinderkrankenhäuser, damit kranke Menschen sich an ihnen erfreuen und gleichzeitig etwas über ungewöhnliche Tiere lernen können. Aber heute hat er frei. Er hat sich um die Körpermitte des Wärters geschlungen wie die seltsamste Bauchbinde der Welt, und Rob Knight tupft eine Seite seines Gesichts vorsichtig mit einem Wattestäbchen ab. »Das ist eine der Tierarten, von denen ich schon als Kind gefesselt war – dass es so etwas überhaupt gibt«, sagt er.

Knight, ein großer, schlaksiger Neuseeländer mit kurz geschorenen Haaren, ist Fachmann für mikroskopisch kleine Lebensformen – ein Connaisseur des Unsichtbaren. Er erforscht Mikroben, das heißt Bakterien und andere Lebewesen, die nur mit dem Mikroskop zu sehen sind. Insbesondere begeistert er sich für solche, die im oder auf dem Körper von Tieren leben. Um sie zu studieren, muss er sie erst einmal sammeln. Schmetterlingssammler benutzen Netze und Glasgefäße; Knights Lieblingswerkzeug ist das Wattestäbchen. Er rollt die kleine Verdickung ein paar Sekunden lang über Babas Nase – lang genug, um das Ende des Stäbchens mit einer Menge Gürteltierbakterien zu versehen. Tausende, wenn nicht Millionen Zellen haben sich jetzt in dem weißen Gewebe verfangen. Knight bewegt sich vorsichtig, er will das Schuppentier nicht stören. Baba könnte nicht ungestörter aussehen. Ich bekomme den Eindruck, er würde, selbst wenn neben ihm eine Bombe hochginge, nur mit einem leichten Zappeln reagieren.

Baba ist nicht nur ein Schuppentier. Er ist auch eine wimmelnde Masse von Mikroben. Manche davon leben in seinem Inneren, vor allem im Darm. Andere sind auf seiner Oberfläche zu Hause: auf Gesicht, Bauch, Pfoten, Klauen und Schuppen. Knight wischt nacheinander über all diese Stellen. Auch von seinen eigenen Körperteilen hat er mehr als einmal Wischproben genommen, denn auch er ist Gastgeber einer Mikrobengemeinschaft. Das Gleiche gilt für mich und für jedes Tier im Zoo. Und auch für jedes andere Lebewesen auf der Erde mit Ausnahme einiger Labortiere, die von Wissenschaftlern absichtlich keimfrei gezüchtet wurden.

Jeder von uns verfügt über ein üppiges, mikroskopisches Sammelsurium, das zusammenfassend als Mikroflora oder Mikrobiom bezeichnet wird.1 Die Mikroben leben auf unserer Oberfläche, in unserem Körper und manchmal sogar innerhalb unserer eigenen Zellen. In ihrer großen Mehrzahl sind es Bakterien, aber es gibt auch andere winzig kleine Organismen, darunter Pilze (beispielsweise die Hefen) und Archaea, eine rätselhafte Gruppe, die uns später wieder begegnen wird. Außerdem Viren in unvorstellbarer Zahl – sie bilden ein Virom, das alle anderen Mikroorganismen und gelegentlich auch die Zellen des Wirtsorganismus infiziert. Von all diesen winzigen Dingern sehen wir nichts. Würden unsere eigenen Zellen allerdings auf rätselhafte Weise verschwinden, könnten wir vielleicht einen gespenstischen Mikrobenschimmer wahrnehmen, der die Umrisse des verschwundenen Tieres nachzeichnet.2

In manchen Fällen würde man das Fehlen der Zellen kaum bemerken. Zu den einfachsten Tieren gehören die Schwämme: Ihr unbeweglicher Körper ist niemals dicker als ein paar Zellen, und auch sie beherbergen ein gedeihendes Mikrobiom.3 Wenn man Schwämme unter dem Mikroskop betrachtet, sieht man das Tier manchmal kaum, weil es vollständig von Mikroben bedeckt ist. Die noch einfacheren Plattentiere oder Placozoa sind eigentlich nicht mehr als feuchte Matten aus Zellen; sie sehen aus wie Amöben, sind aber Tiere wie wir und besitzen ebenfalls Mikroben als Partner. Ameisen leben manchmal zu Millionen in Kolonien zusammen, aber auch jede einzelne Ameise ist wiederum eine Kolonie. Ein Eisbär, der allein durch die Arktis schlendert und in alle Richtungen nichts sieht als Eis, ist in Wirklichkeit vollständig eingehüllt. Streifengänse tragen Mikroben über den Himalaja, und Elefantenrobben nehmen sie mit in die Tiefen der Ozeane. Als Neil Armstrong und Buzz Aldrin zum ersten Mal einen Fuß auf den Mond setzten, war das auch ein Riesenschritt für die Gemeinschaft der Mikroben.

Als Orson Welles sagte: »Wir werden allein geboren, wir leben allein, wir sterben allein«, hatte er unrecht. Selbst wenn wir allein sind, sind wir nie allein. Unser Dasein ist eine Symbiose – dieser wunderbare Begriff bezeichnet das Zusammenleben verschiedenartiger Organismen. Manche Tiere werden von Mikroben besiedelt, wenn sie noch unbefruchtete Eizellen sind; andere nehmen im Augenblick der Geburt ihre ersten Partner auf. Anschließend gehen wir in ihrer Gegenwart durch unser ganzes Leben. Wenn wir essen, essen sie auch, wenn wir reisen, kommen sie mit. Wenn wir sterben, fressen sie uns auf. Jeder von uns ist sein eigener Zoo – eine Kolonie, die in einem einzigen Körper eingeschlossen ist. Ein Kollektiv zahlreicher Arten. Eine ganze Welt.

Diese Vorstellungen sind mitunter schwer zu fassen, nicht zuletzt weil wir Menschen eine weltweit verbreitete Spezies sind. Unsere Reichweite ist grenzenlos. Wir haben uns bis in die hintersten Winkel unserer blauen Murmel ausgebreitet, und manche von uns haben sie sogar verlassen. Da mag es ein seltsamer Gedanke sein, dass so manches Dasein sich in einem Darm oder in einer einzelnen Zelle abspielt, und ebenso mag es merkwürdig erscheinen, sich unsere Körperteile als hügelige Landschaften vorzustellen. Und doch sind sie es. Die Erde beherbergt eine Fülle verschiedener Ökosysteme: Regenwälder, Graslandschaften, Korallenriffe, Wüsten, Salzmarschen, und jedes davon hat seine eigene Artengemeinschaft. Aber auch ein einzelnes Tier ist voller Ökosysteme. Haut, Mund, Darm, Genitalien – jedes Organ, das in einer Verbindung mit der Außenwelt steht, besitzt seine eigene, charakteristische Mikrobengemeinschaft.4 Alle Prinzipien, mit denen Ökologen die kontinentweiten, via Satellit sichtbaren Ökosysteme beschreiben, gelten auch für die Ökosysteme in unserem Körper, die wir mit dem Mikroskop betrachten. Wir können über die Vielfalt der Mikrobenarten sprechen. Wir können Nahrungsnetze zeichnen, in denen verschiedene Lebewesen sich gegenseitig fressen und gefressen werden. Wir können einzelne wichtige Mikroben herausgreifen, die in ihrer Umwelt einen überproportional großen Einfluss ausüben – ähnlich wie Seeotter oder Wölfe. Wir können Mikroorganismen, die Krankheiten auslösen – Krankheitserreger –, als invasive Arten betrachten wie Aga-Kröten oder Feuerameisen. Den Darm eines Menschen, der an einer entzündlichen Darmkrankheit leidet, können wir mit einem sterbenden Korallenriff oder einem brach liegenden Acker vergleichen: Er ist ein misshandeltes Ökosystem, in dem das Gleichgewicht der Organismen verloren gegangen ist.

Was solche Ähnlichkeiten bedeuten, ist klar: Wenn wir eine Termite, einen Schwamm oder eine Maus betrachten, werfen wir auch einen Blick auf uns selbst. Diese Tiere beherbergen vielleicht andere Mikroben als wir, aber die Bündnisse unterliegen den gleichen Prinzipien. Ein Tintenfisch, dessen Leuchtbakterien nur nachts glimmen, liefert uns Aufschlüsse über das tägliche Auf und Ab der Bakterien in unserem Darm. Ein Korallenriff, in dem die Mikroben wegen Wasserverschmutzung oder Überfischung Amok laufen, gibt einen Hinweis darauf, welches Chaos in unserem Darm ausbricht, wenn wir ungesunde Lebensmittel oder Antibiotika zu uns nehmen. Eine Maus, deren Verhalten sich unter dem Einfluss ihrer Darmmikroben ändert, sagt uns etwas über die weitreichenden Einflüsse, die unsere eigenen Gefährten in unserem Geist ausüben. Über die Mikroben finden wir trotz unseres unglaublich unterschiedlichen Lebens die Einheit mit unseren Mitgeschöpfen. Keines von ihnen lebt isoliert; ihr Dasein bewegt sich immer in einem mikrobiologischen Zusammenhang und umfasst den ständigen Austausch zwischen großen und kleinen Arten. Mikroben – auch Mikroorganismen genannt – wechseln nicht nur zwischen verschiedenen Tieren hin und her, sondern auch zwischen unserem Körper und dem Boden, dem Wasser, der Luft, Gebäuden und anderen Elementen unserer Umwelt. Sie verbinden uns miteinander und mit der Welt.

Alle Zoologie ist eigentlich Ökologie. Ohne etwas über unsere Mikroben und unsere Symbiose mit ihnen zu wissen, können wir das Leben der Tiere nicht vollständig verstehen. Und wir können unser eigenes Mikrobiom nicht umfassend einschätzen, wenn wir nicht wissen, wie das Mikrobiom anderer Arten deren Leben bereichert und beeinflusst. Wir müssen das Panorama des gesamten Tierreichs betrachten und gleichzeitig die verborgenen Ökosysteme, die in jedem Lebewesen stecken, aus der Nähe betrachten. Wenn wir uns Käfer und Elefanten ansehen, Seeigel und Regenwürmer, Eltern und Freunde, dann sehen wir Individuen, die als Haufen von Zellen in einem einzigen Körper ihren Weg durchs Leben gehen, angetrieben von einem einzigen Gehirn und gelenkt von einem einzigen Genom. Aber das ist nur angenehme Fiktion. In Wirklichkeit sind wir, jeder und jede Einzelne von uns, ganz viele. Sind immer ein »Wir« und niemals nur ein »Ich«. Vergessen wir Orson Welles, und hören wir auf Walt Whitman: »Ich bin groß, ich enthalte Vielheiten.«5

KAPITEL 1

LEBENDE INSELN

DIE ERDE IST 4,54 MILLIARDEN JAHRE ALT. Ein so atemberaubend langer Zeitraum ist nicht zu begreifen, also drängen wir einmal die gesamte Geschichte unseres Planeten auf ein einziges Kalenderjahr zusammen.1 Gerade jetzt, da Sie diese Seite lesen, schreiben wir den 31. Dezember unmittelbar vor Mitternacht. (Dankenswerterweise wurde das Feuerwerk erst vor neun Sekunden erfunden.) Menschen gibt es seit höchstens dreißig Minuten. Bis zum Abend des 26. Dezember beherrschten Dinosaurier die Erde, dann aber traf ein Aste roid den Planeten und löschte sie (mit Ausnahme der Vögel) aus. Blumen und Säugetiere entwickelten sich im Laufe des Dezember. Im November besiedelten Pflanzen das Land, und in den Meeren erschienen die meisten Hauptgruppen der Tiere. Pflanzen und Tiere bestehen aus vielen Zellen, und ähnliche vielzellige Organismen hatten sich mit Sicherheit bereits Anfang Oktober entwickelt. Möglicherweise erschienen sie schon früher auf der Bildfläche – die Fossilien sind zweideutig und lassen verschiedene Interpretationen zu –, aber in jedem Fall waren sie selten. Vor dem Oktober handelte es sich bei nahezu allen Lebewesen auf dem Planeten um einzelne Zellen. Sie wären für das bloße Auge unsichtbar gewesen, wenn es Augen gegeben hätte. So war es seit irgendeinem Zeitpunkt im März, als zum ersten Mal Leben entstand.

Um es noch einmal zu betonen: Alle sichtbaren Lebewesen, die uns heute vertraut sind, alles, was uns einfällt, wenn wir an die »Natur« denken, sind Nachzügler in der Geschichte des Lebendigen. Sie gehören zum Schlussakkord. Während des größten Teils der Geschichte waren Mikroorganismen die einzigen Lebewesen auf der Erde. In unserem imaginären Kalender hatten sie von März bis Oktober den Planeten für sich allein.

In dieser Zeit veränderten sie die Erde ein für alle Mal. Bakterien reichern die Böden an und bauen Schadstoffe ab. Sie treiben die globalen Kreisläufe von Kohlenstoff, Stickstoff, Schwefel und Phosphor an; dazu verwandeln sie diese Elemente in Verbindungen, die von Tieren und Pflanzen genutzt werden können, und anschließend geben sie die gleichen Verbindungen durch den Abbau organischer Körper der Welt zurück. Als erste Organismen stellten sie ihre eigenen Nähr stoffe her, weil sie durch einen Prozess, den man Fotosynthese nennt, die Sonnenenergie nutzbar machten. Als Abfallprodukt setzten sie Sauerstoff frei und gaben das Gas in so großen Mengen ab, dass die Atmosphäre unseres Planeten sich dauerhaft veränderte. Ihnen haben wir es zu verdanken, dass wir in einer Welt des Sauerstoffs leben. Noch heute produzieren die Fotosynthesebakterien in den Ozeanen den Sauerstoff in der Hälfte aller unserer Atemzüge, außerdem binden sie eine ebenso große Menge an Kohlendioxid.2 Manchmal wird gesagt, wir würden heute im Anthropozän leben, einer neuen Epoche der Erdgeschichte, die durch die ungeheueren Auswirkungen der Menschheit auf unseren Planeten charakterisiert ist. Ebenso gut kann man die Ansicht vertreten, dass wir uns immer noch im Mikrobiozän befinden, dem Zeitalter, das mit der Entstehung des Lebens einsetzte und bis zu seinem Ende fortdauern wird.

Mikroorganismen sind wahrlich überall. Sie leben im Wasser der tiefsten Ozeangräben und in dem Gestein darunter. Sie überleben in dampfenden hydrothermalen Schloten, siedenden Quellen und im Eis der Antarktis. Man findet sie sogar in den Wolken, wo sie als Keime für Regentropfen und Schneeflocken dienen können. Es gibt sie in astronomischer Zahl. Eigentlich ist ihre Zahl sogar weit größer als nur astronomisch: Es gibt mehr Bakterien in unserem Darm als Sterne in unserer Galaxis.3

So sah die Welt aus, in der die Tiere entstanden: Sie war völlig von Mikroorganismen bedeckt und wurde von ihnen verändert. Oder, wie der Paläontologe Andrew Knoll es einmal formulierte: »Tiere mögen der Zuckerguss der Evolution sein, aber der eigentliche Kuchen sind die Bakterien.«4 Sie waren immer Teil unserer Ökologie. Wir haben uns unter ihnen entwickelt, und wir haben uns aus ihnen entwickelt. Die Tiere gehören zu einer Gruppe von Lebewesen, die Eukaryonten genannt wird und auch alle Pflanzen, Pilze und Algen umfasst. Trotz ihrer offenkundigen Vielfalt sind alle Eukaryonten aus Zellen aufgebaut, die den gleichen Grundbauplan haben, und dieser Bauplan unterscheidet sie von anderen Lebensformen. Nahezu ihre gesamte DNA ist in einem zentralen Zellkern verpackt, einer Struktur, die der Gruppe ihren Namen gibt – »Eukaryont« kommt aus dem Griechi schen und bedeutet »echter Kern«. Sie besitzen in ihrem Inneren ein »Skelett«, das als Stütze für ihre Struktur dient und Moleküle von einem Ort zum anderen transportiert. Und sie enthalten Mitochondrien, bohnenförmige Kraftwerke, die den Zellen ihre Energie liefern.

Diese Merkmale sind allen Eukaryonten gemeinsam, denn wir alle haben uns aus einem gemeinsamen Vorfahren entwickelt, der vor rund 2 Milliarden Jahren lebte. Davor konnte man das Leben auf der Erde in zwei große Lager oder Domänen einteilen: die Bakterien, die wir bereits kennengelernt haben, und die Archaea, eine Gruppe von Lebewesen, die uns weniger vertraut ist und die eine Vorliebe für die Besiedelung unwirtlicher und extremer Lebensräume hat. Beide Gruppen bestanden aus einzelnen Zellen, denen die raffinierte Struktur der Eukaryonten fehlte. Sie hatten kein inneres Skelett, sie hatten keinen Zellkern, und sie hatten aus Gründen, mit denen wir uns in Kürze ausführlich beschäftigen werden, keine energieliefernden Mitochondrien. Außerdem sahen sie sich oberflächlich ähnlich, weshalb die Wissenschaftler ursprünglich glaubten, Archaea seien Bakterien. Aber das Äußere täuscht; die biochemischen Eigenschaften von Archaea und Bakterien sind so unterschiedlich wie die Betriebssysteme von PC und Mac.

Ungefähr während der ersten 2,5 Milliarden Jahre, in denen es Leben auf der Erde gab, gingen Bakterien und Archaea im Wesentlichen getrennte Evolutionswege. Dann, bei einer schicksalhaften Gelegenheit, verschmolz auf nicht genau geklärte Weise ein Bakterium mit einem Archaeon, gab sein frei lebendes Dasein auf und war für immer in seinem neuen Wirt gefangen. So entstanden nach Ansicht vieler Wissenschaftler die Eukaryonten. Das ist unsere Schöpfungsgeschichte: Zwei große Domänen des Lebendigen verschmolzen und schufen mit der größten Symbiose aller Zeiten eine dritte. Das Archaeon bildete das Grundgerüst der Eukaryontenzelle, und aus den Bakterien wurden im Laufe der Zeit die Mitochondrien.5

Dieser schicksalhaften Vereinigung entstammen alle Eukaryonten. Sie ist der Grund, warum unser Genom so viele Gene enthält, die in ihren Eigenschaften noch auf Archaea hindeuten, während andere eher denen von Bakterien ähneln. Auch ist sie der Grund, warum all unsere Zellen Mitochondrien enthalten. Durch die domestizierten Bakterien veränderte sich alles. Da sie zusätzliche Energie lieferten, konnten die Eukaryonten nun größer werden, mehr Gene anhäufen und eine kompliziertere Struktur annehmen. Das ist die Erklärung für das »schwarze Loch im Zentrum der Biologie«, wie der Biochemiker Nick Lane es nannte: die große Leere zwischen den einfacheren Zellen der Bakterien und Archaea auf der einen und den komplizierteren Eukaryontenzellen auf der anderen Seite. In 4 Milliarden Jahren gelang es dem Lebendigen genau ein Mal, diese Kluft zu überbrücken. Seitdem ist es den unzähligen Bakterien und Archaea auf der Welt, deren Evolution mit halsbrecherischer Geschwindigkeit abläuft, nie wieder gelungen, einen Eukaryonten hervorzubringen. Wie ist das möglich? Andere komplexe Strukturen – von Augen über Körperpanzer bis hin zum vielzelligen Körper – sind in der Evolution viele Male unabhängig voneinander entstanden, die Eukaryontenzelle aber ist eine einmalige Innovation. Nach Ansicht von Lane und anderen liegt das daran, dass die entscheidende Verschmelzung eines Archaeons und eines Bakteriums derart atemberaubend unwahrscheinlich war, dass sie sich nie wiederholt hat – oder zumindest nie erfolgreich. Indem die beiden Mikroorganismen ihre Vereinigung vollzogen, trotzten sie den Wahrscheinlichkeiten und machten die Existenz aller Pflanzen und Tiere möglich, von allem, das für das bloße Auge sichtbar ist – oder selbst Augen hat, wenn wir schon dabei sind. Sie ist der Grund, warum ich hier bin und dieses Buch schreiben kann, und warum Sie hier sind und es lesen können. In unserem imaginären Kalender ereignete sich die Verschmelzung irgendwann Mitte Juli. Dieses Buch handelt davon, was danach geschah.

Nachdem die Eukaryontenzellen entstanden waren, fingen manche von ihnen an, zusammenzuarbeiten und sich zusammenzulagern. So entstanden die vielzelligen Lebewesen wie Tiere und Pflanzen. Zum ersten Mal wurden Lebewesen groß – so groß, dass sie in ihrem Inneren riesige Lebensgemeinschaften von Bakterien und anderen Mikroorganismen beherbergen konnten.6 Diese Mikroben zu zählen ist schwierig. Häufig wird gesagt, in einem durchschnittlichen Menschen kämen auf jede menschliche Zelle ungefähr zehn Mikro organismen, sodass wir in unserem eigenen Körper zu einem Rundungsfehler werden. Aber dieses Verhältnis von 10 zu 1, das in Büchern, Zeitschriften, Konferenzbeiträgen und praktisch jedem wissenschaftlichen Übersichtsartikel zum Thema genannt wird, ist eigentlich nur eine grobe Vermutung; sie beruht auf einer provisorischen Berechnung, die unglücklicherweise als Tatsache festgeschrieben wurde.7 Neuesten Schätzungen zufolge enthalten wir rund 30 Billionen menschliche Zellen und 39 Billionen Mikroorganismen – womit ungefähr Gleichstand herrschen würde. Auch diese Zahlen sind ungenau, aber das spielt eigentlich keine Rolle: Wie man auch rechnet, wir enthalten Vielheiten.

Würden wir unsere Haut aus allernächster Nähe betrachten, so würden wir sie sehen: kugelförmige Perlen, würstchenähnliche Stäbchen und kommaförmige Bohnen, allesamt nur wenige Tausendstelmillimeter groß. Sie sind so klein, dass sie trotz ihrer gewaltigen Zahl zusammen nur wenige Kilo wiegen. Ein Dutzend oder mehr von ihnen könnte sich auf dem Durchmesser eines menschlichen Haares gemütlich nebeneinanderlegen. Eine Million könnten auf einem Stecknadelkopf tanzen.

Die meisten von uns werden diese winzigen Lebewesen mangels eines Mikroskops nie unmittelbar zu Gesicht bekommen. Wir bemerken nur ihre Auswirkungen, und zwar insbesondere die negativen. Wir spüren den schmerzhaften Krampf eines entzündeten Darms und hören das Geräusch eines unkontrollierbaren Niesens. Das Bakterium Mycobacterium tuberculosis können wir mit bloßem Auge nicht sehen, aber wir sehen den blutigen Auswurf eines Tuberkulosepatienten. Auch Yersinia pestis, ein weiteres Bakterium, ist für uns unsichtbar, aber die Pestepidemien, die es auslöst, sind nur allzu offensichtlich. Solche Pathogene – Mikroorganismen, die Krankheiten hervorrufen – haben die Menschen während ihrer gesamten Geschichte traumatisiert und eine immer noch nachwirkende kulturelle Narbe hinterlassen. Die meisten Menschen sehen in den Mikroben nur Keime, unerwünschte Überbringer von Seuchen, die wir um jeden Preis meiden müssen. In der Zeitung lesen wir regelmäßig beängstigende Berichte, in denen Alltagsgegenstände von Tastaturen über Handys bis zu Türklinken – keuch! – über und über von Bakterien bedeckt sind. Mehr Bakterien als auf einem Toilettensitz! Damit wird angedeutet, diese Mikroorganismen seien eine Verunreinigung und ihre Gegenwart ein Anzeichen für Schmutz, Vernachlässigung und Krankheitsgefahr. Solche Klischees sind zutiefst ungerecht. Die meisten Mikroorganismen sind keine Krankheitserreger. Sie machen uns nicht krank. Noch nicht einmal hundert Bakterienarten lösen beim Menschen ansteckende Krankheiten aus;8 dagegen sind die vielen Tausend Arten in unserem Darm in ihrer Mehrzahl harmlos. Im schlimmsten Fall sind sie blinde Passagiere oder Mitreisende. Bestenfalls jedoch sind sie ein unschätzbar wertvoller Bestandteil unseres Körpers: Sie nehmen ihm nicht das Leben, sondern hüten es. Die Mikroben verhalten sich wie ein verborgenes Organ, das ebenso wichtig ist wie der Magen oder das Auge, aber nicht aus einer einzigen, einheitlichen Masse besteht, sondern aus Billionen wimmelnder Einzelzellen.

Das Mikrobiom ist unendlich viel flexibler als die uns vertrauten Körperteile. Unsere Zellen enthalten zwischen 20.000 und 25.000 Gene, die Zahl der Gene in den Mikroorganismen in unserem Inneren liegt dagegen nach Schätzungen 500-mal höher.9 Dieser genetische Reichtum macht sie in Verbindung mit ihrer schnellen Evolution zu biochemischen Virtuosen, die sich auf praktisch jede erdenkliche Herausforderung einstellen können. Sie wirken an der Verdauung unserer Nahrung mit und setzen Nährstoffe frei, die ansonsten unzugänglich wären. Sie produzieren Vitamine und Mineralstoffe, die in unserer Ernährung fehlen. Sie bauen Giftstoffe und gefährliche Chemikalien ab. Sie schützen uns vor Krankheiten, weil sie gefährlichere Mikroorganismen zahlenmäßig überflügeln oder unmittelbar mit mikrobenhemmenden Wirkstoffen abtöten. Sie produzieren Substanzen, die sich auf unseren Geruchssinn auswirken. Ihre Gegenwart ist so unvermeidlich, dass wir erstaunliche Aspekte unseres Lebens in sie ausgelagert haben. Sie lenken den Aufbau unseres Körpers, indem sie Moleküle und Signale abgeben, die das Wachstum unserer Organe steuern. Sie erziehen unser Immunsystem und bringen ihm bei, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Sie wirken sich auf die Entwicklung des Nervensystems aus und beeinflussen vielleicht sogar unser Verhalten. Sie tragen auf tief greifende, vielfältige Weise zu unserem Leben bei; kein Winkel unserer Biologie bleibt von ihnen unberührt. Wenn wir sie nicht zur Kenntnis nehmen, betrachten wir unser Leben nur durchs Schlüsselloch.

Dieses Buch soll die Tür weit aufstoßen. Wir werden das unglaubliche Universum erkunden, das sich innerhalb unseres Körpers befindet. Wir werden etwas über die Ursprünge unserer Bündnisse mit Mikroorganismen erfahren, über die völlig unerwartete Art, auf die sie unseren Körper formen und unser Alltagsleben prägen, und über die Kunstgriffe, mit denen wir sie im Zaum halten und eine herzliche Partnerschaft sicherstellen. Wir werden uns ansehen, wie wir diese Partnerschaft manchmal unabsichtlich beeinträchtigen und damit unsere Gesundheit untergraben. Wir werden erfahren, wie wir solche Probleme rückgängig machen können, indem wir das Mikrobiom zu unserem Vorteil verändern. Und wir werden Geschichten über die vergnügten, fantasievollen, betriebsamen Wissenschaftler hören, die ihr Leben dem Ziel gewidmet haben, die Welt der Mikroorganismen zu verstehen, und das häufig angesichts von Hohn, Ablehnung und Fehlschlägen.

Dabei werden wir uns nicht nur auf die Menschen konzentrieren.10 Vielmehr werden wir erfahren, wie Mikroben auch Tiere mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, evolutionären Möglichkeiten und sogar mit ihren eigenen Genen ausgestattet haben. Der Wiedehopf, ein Vogel mit dem Profil einer Spitzhacke und den Farben eines Tigers, bestreicht seine Eier mit einer bakterienhaltigen Flüssigkeit, die er aus einer Drüse unterhalb des Schwanzes ausscheidet; die Bakterien setzen Antibiotika frei und verhindern so, dass gefährlichere Mikroorganismen in die Eier eindringen und die Jungen schädigen. Auch Blattschneiderameisen tragen antibiotikaproduzierende Mikroorganismen im Körper und desinfizieren mit ihnen die Pilze, die sie in ihren unterirdischen Gärten heranzüchten. Der stachelige, aufblasbare Kugelfisch benutzt Bakterien, um Tetrodotoxin herzustellen, eine außerordentlich giftige Substanz, die natürliche Feinde tötet, wenn sie versuchen, den Fisch zu fressen. Bakterien im Speichel des Kartoffelkäfers, eines wichtigen Schädlings, unterdrücken die Abwehrmechanismen der Pflanzen, die er frisst. Gestreifte Kardinalbarsche locken mit Leuchtbakterien, die sie im Körper tragen, ihre Beute an. Die Ameisenjungfer, ein Raubinsekt mit Furcht einflößenden Kiefern, lähmt ihre Opfer mit Giftstoffen, die von Bakterien im Speichel produziert werden. Manche Fadenwürmer töten Insekten, indem sie giftige Leuchtbakterien in deren Körper speien;11 andere bohren sich in Pflanzenzellen und verursachen mithilfe von Genen, die sie von Mikroben gestohlen haben, gewaltige Verluste in der Landwirtschaft.

Unsere Bündnisse mit Mikroorganismen haben den Verlauf der Evolution der Tiere wiederholt verändert und die Welt um uns herum zu einer anderen gemacht. Am einfachsten kann man einschätzen, wie wichtig diese Partnerschaften sind, wenn man darüber nachdenkt, was geschehen würde, wenn sie zerbrechen würden. Stellen wir uns einmal vor, alle Mikroorganismen auf der Erde würden plötzlich verschwinden. Der Vorteil wäre, Infektionskrankheiten würden der Vergangenheit angehören und auch viele Schadinsekten kämen nicht mehr über die Runden. Das war es dann aber schon mit den guten Nachrichten. Weidetiere wie Kühe, Schafe, Antilopen und Hirsche würden verhungern, denn sie sind schlichtweg darauf angewiesen, dass die Mikroben in ihrem Darm die zähen Fasern der gefressenen Pflanzen verdauen. Die großen Herden der afrikanischen Savanne würden verschwinden. Ähnlich abhängig von der Verdauungstätigkeit der Mikroben sind auch Termiten: Auch sie würden also verschwinden, genauso wie die größeren Tiere, denen sie als Nahrung dienen oder denen ihre Bauten einen Unterschlupf bieten. Blattläuse, Zikaden und andere Insekten, die sich von Pflanzensaft ernähren, wären ohne Bakterien, die ihnen die in der Nahrung fehlenden Nährstoffe liefern, zum Untergang verdammt. In der Tiefsee beziehen viele Würmer, Schalen- und andere Tiere ihre gesamte Energie von Bakterien. Ohne Mikroben wurden auch sie sterben, und das gesamte Nahrungsnetz in den tiefen Abgründen dieser Welt würde zusammenbrechen. Den flacheren Ozeanen würde es kaum besser ergehen. Die Korallen, die auf mikroskopisch kleine Algen und eine überraschend vielfältige Ansammlung von Bakterien angewiesen sind, würden geschwächt und angreifbar. Ihre mächtigen Riffe würden ausbleichen und erodieren, und darunter würde das gesamte Leben leiden, das von ihnen versorgt wird.

Den Menschen würde es seltsamerweise gut gehen. Im Gegensatz zu anderen Tieren, für die Keimfreiheit den schnellen Tod bedeuten würde, kämen wir noch auf Wochen, Monate oder sogar Jahre hinaus zurecht. Unter Umständen würde unsere Gesundheit leiden, aber wir hätten dringendere Sorgen. Sehr schnell würde sich Abfall ansammeln, denn Mikroorganismen sind die Könige der Zersetzung. Mit den Weidetieren würden auch unsere Nutztiere zugrunde gehen. Das Gleiche gilt für unsere Nutzpflanzen: Mikroorganismen versorgen die Pflanzen mit Stickstoff, und ohne sie würde die Erde eine katastrophale Entgrünung erleben. (Dieses Buch konzentriert sich jedoch ausschließlich auf Tiere, was mir die Botanikbegeisterten unter den Lesern verzeihen mögen.) »Wir sagen in Verbindung mit dem katastrophalen Versagen der Lebensmittelversorgung den vollständigen gesellschaftlichen Zusammenbruch innerhalb nur eines Jahres voraus«, schrieben die Mikrobiologen Jack Gilbert und Josh Neufeld, nachdem sie dieses Gedankenexperiment angestellt hatten.12 »Die meisten biologischen Arten auf der Erde würden aussterben, und die Populationsgröße der Arten, die überdauern, würde sich stark vermindern.«

Mikroorganismen sind wichtig. Doch wir haben sie nicht zur Kenntnis genommen. Wir haben sie gefürchtet und gehasst. Jetzt ist es an der Zeit, ihren Wert richtig einzuschätzen, denn es nicht zu tun, kommt einem gewaltigen Verzicht auf Kenntnisse über unsere eigene Biologie gleich. In diesem Buch möchte ich zeigen, wie das Tierreich wirklich aussieht und wie viel staunenswerter es wird, wenn man es als die Welt der Partnerschaften sieht, die es in Wirklichkeit ist. Eine solche Version der Naturgeschichte vertieft die bekanntere Form, die von den größten Naturforschern der Vergangenheit begründet wurde.

Im März 1854 machte sich ein einunddreißigjähriger Brite namens Alfred Russel Wallace auf eine abenteuerliche, acht Jahre währende Reise über die Inseln Malaysias und Indonesiens.13 Er sah Orang-Utans mit rotem Fell, Kängurus, die durch die Bäume hüpfen, prächtige Paradiesvögel, riesige Schwalbenschwanz-Schmetterlinge, Hirscheber, deren Stoßzähne aus der Schnauze nach oben wachsen, und einen Frosch, der mit seinen fallschirmähnlichen Füßen von Baum zu Baum durch die Luft gleitet. Die Wunder, die er sah, fing Wallace mit Netzen, griff nach ihnen oder erschoss sie, und schließlich hatte er eine erstaun liche Sammlung von über 125.000 Funden zusammengetragen: Tiergehäuse, Pflanzen und Tausende von Insekten, die er mit Nadeln an Brettern befestigt hatte; Vögel und Säugetiere, gehäutet, ausgestopft oder in Konservierungsflüssigkeit eingelegt. Aber im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen beschriftete Wallace auch alle Gegenstände peinlich genau und notierte, wo er sie jeweils gefunden hatte.

Das war entscheidend. Aus solchen Einzelheiten konnte Wallace eine Gesetzmäßigkeit ableiten. Bei Tieren, die an einem bestimmten Ort lebten, fiel ihm selbst dann eine große Vielgestaltigkeit auf, wenn sie zu derselben Spezies gehörten. Er sah, dass manche Inseln die einzige Heimat bestimmter Arten waren. Als er von Bali in östlicher Richtung nach Lombok segelte – eine Entfernung von nur rund 35 Kilometern –, machten die Tiere Asiens plötzlich der ganz anderen Tierwelt von Australasien Platz, als wären die beiden Inseln durch eine unsichtbare Schranke (die man später als Wallace-Linie bezeichnete) getrennt. Aus gutem Grund wird Wallace heute als Vater der Biogeografie gepriesen, jener Wissenschaft, die erforscht, wo Arten vorhanden sind und wo nicht. Aber wie David Quammen in Der Gesang des Dodo schreibt: »Wird sie von Wissenschaftlern betrieben, die Verstand haben, so beschränkt sich die Biogeografie nicht darauf, zu fragen Welche Arten? und Wo? Sie fragt auch Warum? und, was manchmal noch entscheidender ist, Warum nicht?«14

Genauso beginnt die Erforschung der Mikrobiome: Man katalogisiert, welche Arten man auf verschiedenen Tieren oder an verschiedenen Körperteilen desselben Tieres findet. Welche Arten leben wo? Warum? Und warum nicht? Wir müssen etwas über ihre Biogeografie wissen, erst dann können wir tiefer gehende Erkenntnisse über ihre Beiträge zum Leben gewinnen. Wallace’ Beobachtungen und Funde führten ihn zu der definierenden Erkenntnis der Biologie: Arten verändern sich. »Jede Spezies ist sowohl räumlich als auch zeitlich in Verbindung mit einer bereits vorhandenen, eng verwandten Spezies ins Dasein getreten«, schrieb er immer wieder und manchmal in Kursivschrift.15 Tiere treten in Wettbewerb: Die am besten geeigneten Individuen überleben, pflanzen sich fort und geben so ihre vorteilhaften Merkmale an ihre Nachkommen weiter. Das heißt, sie erleben eine Evolution durch natürliche Selektion. Das war eine der wichtigsten Erleuchtungen, die es in der Wissenschaft jemals gab, und sie begann mit einer rastlosen Neugier auf die Welt, mit dem Wunsch, sie zu erforschen, und mit der Bereitschaft, festzuhalten, wer wo zu Hause ist.

Wallace war nur einer von vielen Naturforschern und Entdeckern, die sich auf der ganzen Welt herumtrieben und ihre Reichtümer katalogisierten. Charles Darwin erduldete eine fünfjährige Weltumsegelung an Bord der HMS Beagle; dabei entdeckte er in Argentinien die fossilen Knochen riesiger Faul- und Gürteltiere, und auf den Galapagosinseln stieß er auf Riesenschildkröten, Meeresechsen und verschiedene Finkenarten. Seine Erlebnisse und Sammlungen legten den geistigen Grundstock für die gleiche Idee, die unabhängig davon auch in Wallace’ Geist aufgekeimt war: die Evolutionstheorie, die sich untrennbar mit dem Namen Darwin verbinden sollte. Thomas Henry Huxley, der die natürliche Selektion leidenschaftlich verteidigte und deshalb als »Darwins Bulldogge« bekannt wurde, reiste nach Australien und Neuguinea, um dort die wirbellosen Meerestiere zu studieren. Der Botaniker Joseph Hooker gelangte auf verschlungenen Wegen bis in die Antarktis und sammelte unterwegs Pflanzen. In jüngerer Zeit schrieb E. O. Wilson, der zuvor die Ameisen Melanesiens erforscht hatte, ein Lehrbuch über Biogeografie.

Häufig stellt man sich vor, dass diese sagenumwobenen Wissenschaftler sich ausschließlich auf die sichtbare Welt der Tiere und Pflanzen konzentrierten, die verborgene Welt der Mikroorganismen dagegen völlig außer Acht ließen. Das stimmt nicht ganz. Darwin sammelte bekanntermaßen auch Mikroben – er sprach von »Infusorien« –, die auf das Deck der Beagle geweht wurden, und korrespondierte mit führenden Mikrobiologen seiner Zeit.16 Aber viel konnte er mit den Hilfsmitteln, die ihm zur Verfügung standen, nicht ausrichten.

Heutige Wissenschaftler dagegen können Proben von Mikroorganismen sammeln und sie in ihre Bestandteile zerlegen, ihre DNA gewinnen und sie durch Sequenzierung ihrer Gene identifizieren. Damit tun sie genau das Gleiche wie Darwin und Wallace: Sie sammeln Proben von unterschiedlichen Orten, identifizieren sie und stellen die grundlegende Frage: Wer lebt wo? Sie können ebenfalls Biogeografie betreiben – nur in einem anderen Größenmaßstab. Die sanfte Zartheit eines Wattebäuschchens tritt an die Stelle des Schmetterlingsnetzes. Gene abzulesen ist so, als würde man ein Bestimmungsbuch durchblättern. Und ein Nachmittag im Zoo, an dem man von Käfig zu Käfig geht, kann etwas Ähnliches sein wie die Reise der Beagle, die von Insel zu Insel segelte.

Von Inseln waren Darwin, Wallace und ihresgleichen besonders fasziniert, und das aus gutem Grund. Inseln sucht man auf, wenn man das Leben in seinen besonders exotischen, farbenfrohen Formen und all seinen Superlativen finden will. Ihre Alleinlage, ihre festen Grenzen und ihre beschränkte Größe sorgen dafür, dass die Evolution in die Vollen gehen kann. Die Gesetze der Biologie sind hier leichter und in konzentrierterer Form zu erkennen als auf dem weiten, zusammenhängenden Festland. Aber eine Insel muss keine Landmasse sein, die von Wasser umgeben ist. Für Mikroorganismen ist eigentlich jeder Wirtsorganismus eine Insel – eine Welt, umgeben von Leere. Meine Hand, die ich im Zoo von San Diego ausstrecke, um Baba zu streicheln, ist wie ein Floß, das Arten von einer Insel in Menschengestalt zu einer Insel in Gestalt eines Schuppentiers transportiert. Ein Erwachsener, der von der Cholera niedergestreckt wird, gleicht der Insel Guam, die von Schlangen aus dem Ausland besiedelt wird. Niemand ist eine Insel? Das stimmt nicht: Aus Sicht der Bakterien ist jeder von uns eine Insel.17

Jeder von uns hat sein eigenes, charakteristisches Mikrobiom. Gestaltet wurde es von den Genen, die wir geerbt haben, von den Orten, an denen wir gelebt haben, von den Medikamenten, die wir genommen haben, von den Lebensmitteln, die wir verzehrt haben, von den Jahren, die wir schon gelebt haben, von den Händen, die wir geschüttelt haben. Mikrobiologisch sind wir alle ähnlich, aber auch unterschiedlich. Als Mikrobiologen sich zum ersten Mal daranmachten, das Mikrobiom der Menschen in seiner Gesamtheit zu katalogisieren, hatten sie die Hoffnung, ein »Kern-Mikrobiom« zu entdecken, eine Gruppe von Arten, die allen Menschen gemeinsam ist. Ob dieser Kern existiert, ist heute umstritten.18 Manche Arten sind zwar sehr weit verbreitet, aber keine findet man überall. Wenn es einen Kern gibt, dann nicht auf der Ebene der Organismen, sondern bei den Funktionen. Bestimmte Aufgaben wie die Verdauung einzelner Nährstoffe oder die Ausführung eines besonderen Kunstgriffs im Stoffwechsel werden immer von irgendeinem Mikroorganismus erfüllt – aber nicht immer von dem gleichen. Die Tendenz erkennen wir auch in größerem Maßstab. In Neuseeland stöbern die Kiwis auf der Suche nach Würmern in altem Laub und tun damit das Gleiche wie ein Dachs in England. Tiger und Nebelparder streifen durch die Wälder Sumatras, aber im katzenfreien Madagaskar ist dieselbe ökologische Nische von der Fossa besetzt, einer großen, räuberischen Manguste; und auf der Insel Komodo beansprucht eine riesige Echsenart die Spitze der Nahrungskette für sich. Verschiedene Inseln, verschiedene Arten, die gleichen Aufgaben. Bei den fraglichen Inseln könnte es sich auch um riesige Landmassen oder um einzelne Menschen handeln.

Eigentlich ähnelt jeder Einzelne eher einem Archipel – einer Kette von Inseln. Jeder unserer Körperteile hat seine eigene Mikrobenfauna, genau wie es auf den verschiedenen Galapagosinseln jeweils eigene Schildkröten und Finken gibt. Das Mikrobiom auf der menschlichen Haut ist das Revier von Propionibacterium, Corynebacterium und Staphylococcus; Bacteroides ist der Herrscher im Darm, Lactobacillus dominiert in der Vagina, und Streptococcus regiert im Mund. Auch innerhalb jedes Organs gibt es Schwankungen. Am Anfang des Dünndarms sind ganz andere Mikroorganismen zu Hause als im Enddarm. Bei den Bewohnern des Zahnbelags gibt es Unterschiede zwischen dem Bereich oberhalb und unterhalb der Zahnfleischgrenze. Auf der Haut unterscheiden sich die Mikroorganismen in den fettigen Tümpeln auf Gesicht und Brust von denen im warmen, feuchten Dschungel von Leistengegend und Achselhöhlen, aber auch von denen, die die trockenen Wüsten der Unterarme und Handflächen besiedeln. Wo wir gerade bei den Handflächen sind: Unsere rechte Hand hat nur ein Sechstel ihrer Mikroorganismenarten mit der linken Hand gemeinsam.19 Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Körperteilen stellen jene, die zwischen verschiedenen Menschen bestehen, in den Schatten. Einfach ausgedrückt, sind die Bakterien auf Ihrem Unterarm denen auf meinem Unterarm ähnlicher als denen in Ihrem Mund.

Das Mikrobiom wandelt sich nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit. Wenn ein Baby geboren wird, verlässt es die keimfreie Welt der Gebärmutter und wird sofort von den Mikroorganismen aus der mütterlichen Vagina besiedelt. Fast drei Viertel aller Mikrobenstämme eines Neugeborenen kann man unmittelbar auf die Mutter zurückverfolgen. Dann folgt eine Zeit der Vermehrung. Während das Baby von Eltern und Umwelt weitere neue Arten aufnimmt, wird das Mikrobiom in seinem Darm allmählich immer vielgestaltiger.20 Mit den beherrschenden Arten geht es dabei zahlenmäßig auf und ab: Wenn sich die Ernährung des Babys verändert, machen Milch verdauende Spezialisten wie Bifidobacterium den Kohlenhydratfressern wie Bacteroides Platz. Und mit den Mikroorganismen verändern sich auch ihre Besonderheiten. Sie stellen andere Vitamine her und bahnen der Fähigkeit, die Nahrung von Erwachsenen zu verdauen, den Weg.

Es ist ein turbulenter Zeitraum, aber er läuft in vorhersagbaren Stadien ab. Stellen wir uns vor, wir würden einen Wald betrachten, der kürzlich durch einen Brand verwüstet wurde, oder eine Insel, die erst kürzlich aus dem Meer emporgestiegen ist. Beide werden schnell von einfachen Pflanzen wie Flechten und Moosen besiedelt. Später folgen Gräser und kleine Sträucher, noch später kommen die Bäume hinzu. Ökologen bezeichnen diesen Prozess als Sukzession, und er spielt sich auch bei Mikroorganismen ab. Ein bis drei Jahre dauert es, bis das Mikrobiom eines Babys den Zustand wie bei einem Erwachsenen erreicht hat. Anschließend tritt dauerhafte Stabilität ein. Das Mikrobiom kann sich zwar von Tag zu Tag, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang oder sogar von Mahlzeit zu Mahlzeit verändern, aber solche Schwankungen sind klein im Vergleich zu dem Wandel, der zu Beginn abläuft. Die Dynamik des Mikrobioms von Erwachsenen läuft vor einem konstanten Hintergrund ab.21

Die Sukzession sieht bei verschiedenen Tieren unterschiedlich aus, denn wir erweisen uns als wählerische Wirte. Wir werden nicht einfach von beliebigen Mikroben besiedelt, die zufällig auf uns landen. Auch wir haben Möglichkeiten, unsere Mikroorganismenpartner auszuwählen. Über diese Tricks werden wir noch Genaueres erfahren, vorerst aber wollen wir nur festhalten, dass das Mikrobiom des Menschen anders ist als das Mikrobiom der Schimpansen, und dieses sieht wiederum anders aus als das der Gorillas, genau wie die Wälder Borneos (Orang-Utans, Zwergelefanten, Gibbons) sich von denen in Madagaskar (Lemuren, Fossas, Chamäleons) oder Neuguinea (Paradiesvögel, Baumkängurus, Kasuare) unterscheiden. Das wissen wir, weil Wissenschaftler quer durch das ganze Tierreich Proben genommen und sequenziert haben. Beschrieben wurden die Mikrobiome von Pandas, Kängurus, Komodowaranen, Delfinen, Loris, Regenwürmern, Blutegeln, Hummeln, Zikaden, Röhrenwürmern, Blattläusen, Eisbären, Dugongs, Pythons, Alligatoren, Tsetsefliegen, Pinguinen, Kakapos, Austern, Wasserschweinen, Vampirfledermäusen, Meerechsen, Kuckucken, Truthähnen, Truthahngeiern, Pavianen, Gespenstschrecken und vielen anderen. Ebenso sequenzierten Wissenschaftler die Mikrobiome von Menschenbabys, Frühgeborenen, Kindern, Erwachsenen, älteren Menschen, schwangeren Frauen, Zwillingen, Stadtbewohnern aus den Vereinigten Staaten und China, Dorfbewohnern aus ländlichen Gebieten von Burkina Faso oder Malawi, Jägern und Sammlern aus Kamerun und Tansania, Völkern aus dem Amazonasgebiet, die noch nie Kontakt zur Außenwelt hatten, schlanken und dicken Menschen sowie von solchen mit guter Gesundheit und Kranken.

Solche Studien erleben eine Blütezeit. Die Erforschung des Mikrobioms ist zwar eigentlich schon Jahrhunderte alt, in den letzten Jahrzehnten hat sie aber gehörig Fahrt aufgenommen. Das lag einerseits an technischen Verbesserungen, andererseits dämmerte aber auch die Erkenntnis herauf, dass Mikroorganismen für uns insbesondere im medizinischen Umfeld von ungeheurer Bedeutung sind. Sie haben einen derart großen Einfluss auf unseren Körper, dass sie darüber bestimmen, wie wir auf Impfstoffe reagieren, wie viel Nährstoffe Kinder aus ihrer Nahrung aufnehmen können und wie gut Krebspatienten auf Medikamente ansprechen. Viele Gesundheitsstörungen, darunter Fettleibigkeit, Asthma, Darmkrebs, Diabetes und Autismus, sind von Veränderungen im Mikrobiom begleitet; demnach liegt die Vermutung nahe, dass die entsprechenden Mikroorganismen zumindest ein Anzeichen für die Krankheit und im schlimmsten Fall auch ihre Ursache sind. Wenn Letzteres zutrifft, können wir unsere Gesundheit vielleicht nennenswert verbessern, wenn wir unsere Mikroorganismengemeinschaften manipulieren: Wir können Arten hinzufügen oder wegnehmen, ganze Mikrobengemeinschaften von einem Menschen zum anderen transplantieren und synthetische Organismen herstellen. Wir können sogar die Mikrobiome anderer Tiere verändern und so Partnerschaften auseinanderreißen, mit deren Hilfe parasitische Würmer uns entsetzliche tropische Krankheiten aufhalsen; gleichzeitig können wir auch neue Symbiosen schmieden, die es den Mücken erlauben, das Virus zu bekämpfen, das die Ursache des Denguefiebers ist.

Das Wissenschaftsgebiet wandelt sich schnell und ist nach wie vor mit Unsicherheiten, Undurchschaubarkeit und Meinungsverschiedenheiten behaftet. Viele Mikroorganismen in unserem Körper können wir nicht einmal identifizieren, und erst recht können wir nicht herausfinden, welche Auswirkungen sie auf unser Leben und unsere Gesundheit haben. Aber gerade das ist spannend! Auf einem Wellenkamm zu reiten und die vor einem liegende Strecke zu betrachten, ist doch besser, als schon wieder am Strand gelandet zu sein. Auf dieser Welle reiten heute Hunderte von Wissenschaftlern. Die Forschungsmittel fließen. Die Zahl der einschlägigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist steil angestiegen. Mikroorganismen haben immer unseren Planeten beherrscht, aber zum ersten Mal in der Geschichte sind sie heute in. »Früher war das völlige Hinterhofwissenschaft; heute stehen wir damit an der vordersten Front«, sagt die Biologin Margaret McFall-Ngai. »Es macht Spaß zuzusehen, wie den Menschen klar wird, dass Mikroorganismen der Mittelpunkt des Universums sind, und wie das Fachgebiet jetzt aufblüht. Heute wissen wir, dass sie die große Vielfalt der Biosphäre ausmachen, dass sie in enger Verbindung mit Tieren leben und dass die Biologie der Tiere durch ihre Wechselwirkung mit Mikroorganismen geprägt wurde. Für mich ist das die bedeutsamste Revolution in der Biologie seit Darwin.«

Kritiker behaupten, das Mikrobiom habe seine Beliebtheit nicht verdient und die Studien in dem Fachgebiet würden in ihrer Mehrzahl kaum mehr leisten als eine fantasievolle Form des Briefmarkensammelns. Was haben wir davon, wenn wir wissen, welche Mikroorganismen im Gesicht eines Schuppentiers oder im Darm eines Menschen leben? Wir wissen dann zwar etwas über das Was und Wo, aber nicht über das Warum oder Wie. Warum leben manche Mikroorganismen auf bestimmten Tieren, andere aber nicht, oder auf wenigen Menschen, aber nicht auf jedem, oder auf bestimmten Körperteilen, aber nicht auf allen? Warum sehen wir gerade diese und keine anderen Gesetzmäßigkeiten? Wie sind diese Gesetzmäßigkeiten entstanden? Wie finden Mikroorganismen überhaupt erst den Weg zu ihren Wirten? Wie besiegeln sie ihre Partnerschaft? Wie verändern Mikroorganismen und Wirte sich gegenseitig, sobald sie zusammen sind? Wie kommen sie zurecht, wenn ihr Bündnis zerbricht?

Solche weitreichenden Fragen versucht man in dem Fachgebiet zu beantworten. In diesem Buch werde ich zeigen, wie weit wir damit schon gekommen sind, wie vielversprechend es ist, Mikrobiome zu verstehen und zu verändern, und inwieweit wir dieses Vorhaben schon verwirklicht haben. Vorerst wollen wir festhalten, dass man diese Fragen nur beantworten kann, wenn man viele kleine Einzeldaten sammelt, genau wie Darwin und Wallace es auf ihren bahnbrechenden Reisen taten. Das Briefmarkensammeln ist wichtig. »Auch Darwins Journal war nicht mehr als ein farbiger Reisebericht, eine Parade exotischer Geschöpfe und Orte, und trug keine Evolu tionstheorie vor«, schrieb David Quammen.22 »Die Theorie sollte erst später kommen.« Davor stand aber noch eine Menge harte Arbeit. Klassifizieren. Katalogisieren. Sammeln. »Auf einem neuen, unerforschten Kontinent muss man auch erst einmal herausfinden, wo sich die Dinge befinden, bevor man feststellen kann, warum sie dort und nicht woanders sind«, sagt Rob Knight.

Mit diesem Entdeckergeist wandte Knight sich zum ersten Mal an den Zoo von San Diego. Er wollte die Gesichter und die Haut verschiedener Säugetiere abtupfen und so ihre Mikrobiome charakterisieren, aber auch herausfinden, welche Substanzen – Stoffwechselpro dukte – diese Mikroorganismen abgeben. Die Stoffwechselprodukte prägen die Umgebung, in der Mikroorganismen leben und sich weiterentwickeln, und sie zeigen nicht nur, welche Mikroorganismen vorhanden sind, sondern auch, was sie tun. Sich einen Überblick über die Stoffwechselprodukte zu verschaffen, ist vergleichbar damit, ein Verzeichnis von Kunstwerken, Lebensmitteln, Erfindungen und Exporten einer Stadt zusammenzustellen, statt nur ihre Bürger zu zählen. In letzter Zeit bemühte Knight sich auch darum, einen Überblick über die Stoffwechselprodukte im Gesicht der Menschen zu finden, aber dabei musste er feststellen, dass Kosmetikprodukte wie Sonnenmilch oder Gesichtscreme die natürlichen Stoffwechselprodukte ertränken.23 Die Lösung: Er tupfte die Gesichter von Tieren ab. Schließlich benutzt Baba, das Schuppentier, keine Feuchtigkeitscreme. »Wir hoffen auch auf Proben aus dem Mund«, sagt Knight, »und vielleicht auch aus der Vagina.« Ich hebe eine Augenbraue. »Die Leute, die hier an Zuchtprogrammen für Geparde und Pandas arbeiten, haben ganze Gefriertruhen voller Vaginalabstriche«, versichert er mir.

Der Zoowärter zeigt uns eine Kolonie von Nacktmullen. Die kleinen Nagetiere rennen in einem System aus miteinander verbundenen Plastikröhren herum. Es sind höchst unattraktive Tiere – sie sehen aus wie runzelige Würstchen mit Zähnen. Außerdem sind sie unglaublich seltsam: Unempfindlich gegen Schmerzen, resistent gegen Krebs, außerordentlich langlebig und kaum in der Lage, ihre Körpertemperatur zu steuern, besitzen sie auch noch missgebildete unfruchtbare Spermien. Sie leben wie Ameisen in Kolonien mit Königin und Arbeiterinnen. Außerdem graben sie Gänge, und deshalb sind sie für Knight interessant. Er hat sich gerade ein Forschungsstipendium gesichert, um die Mikrobiome von Tieren zu erforschen, die bestimmte Aspekte ihrer Lebensweise gemeinsam haben: Graben, Fliegen, Leben im Wasser, Anpassung an Hitze oder Kälte und auch Intelligenz. »Es ist ein recht spekulativer Gedanke, aber vielleicht liefern die Mikroben ja mit bereits vorhandenen Anpassungen die Energie, die man braucht, um solche exotischen Dinge zu tun«, sagt er. Spekulativ sicher, aber nicht allzu weit hergeholt. Mikroorganismen haben den Tieren so manche Tür geöffnet und sie in die Lage versetzt, sich alle möglichen eigenartigen Lebensweisen zu eigen zu machen, die ihnen sonst verschlossen geblieben wären. Und wenn Tiere die gleichen Gewohnheiten haben, stimmen häufig auch ihre Mikrobiome überein. Knight und seine Kollegen konnten beispielsweise nachweisen, dass Tiere, die Ameisen fressen, darunter Schuppentiere, Gürteltiere, Ameisenbären, Erdferkel und Erdwölfe (eine Art von Hyänen), in ihrem Darm ähnliche Mikroorganismen besitzen, obwohl sie schon seit rund 100 Millionen Jahren in ihrer Evolution voneinander unabhängig sind.24

Wir kommen an einem Rudel Erdmännchen vorbei. Manche von ihnen stehen aufrecht und halten Wache, andere spielen zusammen. Das einzige unter ihnen, das Knight vielleicht abtupfen könnte, ist das einsame Weibchen – die Matriarchin der Gruppe –, aber sie ist alt und herzkrank. Das ist nichts Ungewöhnliches. Erdmännchen greifen manchmal die Jungen von Artgenossen an oder verlassen den eigenen Nachwuchs; wenn das geschieht, greift der Zoo ein, und die Jungtiere werden mit der Flasche großgezogen. Dann überleben sie zwar, aber wie der Zoowärter uns berichtet, bekommen sie im Alter häufig Herzprobleme. Die Gründe kennt man nicht. »Das ist sehr interessant«, sagt Knight. »Wissen Sie irgendetwas über die Milch von Erdmännchen?« Die Frage stellt er, weil die Milch von Säugetieren besondere Zuckerverbindungen enthält, die das Junge selbst nicht verdauen kann, während bestimmte Mikroorganismen dazu in der Lage sind. Wenn eine Menschenmutter ihr Kind stillt, füttert sie es nicht nur, sondern sie versorgt es auch mit den ersten Mikroben und sorgt so dafür, dass die richtigen Pioniere sich in seinem Darm ansiedeln. Knight fragt sich, ob das vielleicht auch für Erdmännchen gilt. Beginnt das Leben der verlassenen Jungtiere mit den falschen Mikro organismen, weil sie nicht die Milch ihrer Mutter bekommen? Und wirken sich diese frühzeitigen Veränderungen im späteren Leben auf die Gesundheit aus?

Knight arbeitet bereits an anderen Projekten, mit denen er die Gesundheit der Zootiere verbessern will. Als wir an einem Käfig mit Silbernen Haubenlanguren – hübschen Kleinaffen mit zinngrauem Fell und silbrigem Gesichtsflaum – vorbeikommen, erzählt er mir, dass er derzeit herauszufinden versucht, warum manche Kleinaffenarten in Gefangenschaft so häufig an einer Entzündung des Dickdarms (Colitis) leiden, während dies bei anderen nicht der Fall ist. Es gibt stichhaltige Gründe für die Annahme, dass Mikroorganismen dabei eine Rolle spielen. Bei Menschen sind entzündliche Darmerkrankungen in der Regel von einer übergroßen Menge an Bakterien begleitet, die das Immunsystem anregen, während an denen, die es in die Schranken weisen, Mangel herrscht. Ähnliches beobachtet man auch bei mehreren anderen Gesundheitsstörungen, so bei Fettleibigkeit, Diabetes, Asthma, Allergien und Dickdarmkrebs. Man kann sich solche gesundheitlichen Probleme als ökologische Störungen vorstellen: Schuld ist nicht ein einzelner Mikroorganismus, sondern eine ganze Lebensgemeinschaft ist in einen ungesunden Zustand übergegangen. In solchen Fällen hat die Symbiose nicht funktioniert. Und wenn derart verformte Mikrobiome tatsächlich die verschiedenen Krankheiten verursachen, sollte es möglich sein, die Gesundheit durch Eingriffe in die Gemeinschaft der Mikroorganismen wiederherzustellen. Und selbst wenn die Lebensgemeinschaften der Mikroben sich erst als Folge einer Erkrankung verändern, könnten sie nützlich für die Diagnose einer Störung sein, bevor die Symptome offenkundig werden. Genau darauf hofft Knight bei den Kleinaffen: Er vergleicht Tiere verschiedener Arten mit und ohne Darmentzündung; damit will er herausfinden, ob die Krankheit charakteristische Kennzeichen hat, an denen Zoowärter ein symptomfreies, aber gefährdetes Tier erkennen können. Mithilfe solcher Studien werden wir eines Tages möglicherweise auch besser verstehen, wie sich das Mikrobiom bei Menschen mit entzündlichen Darmerkrankungen verändert.

Schließlich gehen wir in ein Hinterzimmer, in dem mehrere Tiere vorübergehend untergebracht und den Augen der Öffentlichkeit entzogen sind. Einer der Käfige beherbergt einen riesigen Schatten: ein Tier von einem Meter Länge mit schwarzem Pelz, das die Form eines Wiesels und den Gesichtsausdruck eines Bären hat. Es ist ein Binturong, eine große, struppige Schleichkatze, die Gerald Durrell einmal als »schlecht gemachten Kaminvorleger« bezeichnete. Der Zoowärter geht davon aus, dass wir ihm Gesicht und Füße leicht abtupfen können, aber die eigentliche Aktion findet weiter unten statt. Binturongs haben beiderseits des Anus besondere Duftdrüsen, und der Geruch, den sie ausströmen, erinnert an Popcorn. Auch hier sind es aller Wahrscheinlichkeit nach Bakterien, die die Düfte erzeugen. Wissenschaftler haben bereits die Gerüche charakterisiert, die von Mikroben erzeugt werden und aus den Duftdrüsen von Dachsen, Elefanten, Erdmännchen und Hyänen dringen. Der Binturong wartet noch!

»Können wir den Anus abtupfen?«, frage ich.

Der Zoowärter betrachtet das furchterregende Tier in dem Käfig und wendet seinen Blick dann langsam wieder uns zu. »Eher … nicht«, sagt er.

Wenn wir das Tierreich durch die Brille der Mikroorganismen betrachten, gewinnen selbst die vertrautesten Bereiche unseres Lebens eine erstaunliche neue Ausstrahlung. Wenn eine Hyäne ihre Duftdrüsen an einem Grashalm reibt, hinterlassen die Mikroorganismen dort ihre Autobiografie, sodass andere Hyänen sie lesen können. Eine Erdmännchenmutter säugt ihre Jungen und baut in deren Darm eine eigene Welt auf. Ein Gürteltier verschluckt einen Mundvoll Ameisen und füttert damit eine billionenköpfige Lebensgemeinschaft, von der es im Gegenzug mit Energie versorgt wird. Wenn ein Langur oder ein Mensch erkrankt, hat er ganz ähnliche Probleme wie ein See, der von Algen erstickt wird, oder eine Wiese, auf der das Unkraut wuchert – die Ökosysteme sind aus dem Gleichgewicht. Unser Leben wird stark von äußeren Kräften beeinflusst, die eigentlich in unserem Inneren liegen, von Billionen Wesen, die von uns getrennt und doch ganz und gar ein Teil von uns sind. Duft, Gesundheit, Verdauung, Entwicklung und Dutzende weitere Aspekte, die angeblich zur Domäne des Individuums gehören, sind in Wirklichkeit die Folge eines komplexen Wechselspiels zwischen Wirt und Mikroorganismen.

Wie können wir angesichts dessen, was wir wissen, überhaupt ein Individuum definieren?25 Beschreibt man das Individuum anatomisch als den Besitzer eines bestimmten Körpers, muss man einräumen, dass die Mikroorganismen den Raum mit ihm teilen. Man könnte es mit einer Definition auf der Grundlage der Entwicklung versuchen: Dann ist ein Individuum alles, was aus einer einzigen befruchteten Eizelle hervorgeht. Aber auch das funktioniert nicht, denn der Körper mancher Tiere – von Tintenfischen über Mäuse bis zu Zebrafischen – wird auf der Grundlage von Anweisungen aufgebaut, die sowohl in ihren eigenen Genen als auch in ihren Mikroorganismen codiert sind. In einer sterilen Blase würden sie nicht normal heranwachsen. Man könnte eine physiologische Definition zur Debatte stellen, in der das Individuum aus Teilen – Geweben und Organen – besteht, die zum Wohle des Ganzen kooperieren. Das stimmt schon, aber wie steht es mit Insekten, in denen Bakterien- und Wirtsenzyme bei der Herstellung lebenswichtiger Nährstoffe zusammenwirken? Diese Mikroben sind in jedem Fall ein Teil des Ganzen, und ein unentbehrlicher Teil noch dazu. Die gleichen Probleme wirft eine genetische Definition auf, wonach ein Individuum aus Zellen besteht, denen das gleiche Genom gemeinsam ist.

Jedes einzelne Tier enthält sein eigenes Genom, darüber hinaus wirken sich aber auch viele Mikrobengenome auf sein Leben und seine Entwicklung aus. In manchen Fällen können die Genome von Mikroorganismen sich auf Dauer im Genom des Wirtsorganismus festsetzen. Ist es demnach wirklich sinnvoll, sie als eigenständige Gebilde zu betrachten? Wenn wir mit unserem Latein am Ende sind, können wir den Schwarzen Peter dem Immunsystem zuschieben, das ja angeblich zu dem Zweck existiert, unsere eigenen Zellen von denen der Eindringlinge zu unterscheiden, Selbst und Nichtselbst auseinanderzuhalten. Auch das stimmt aber nicht ganz; wie wir noch genauer erfahren werden, tragen die in uns ansässigen Mikroorganismen dazu bei, unser Immunsystem aufzubauen, das seinerseits lernt, sie zu tolerieren. Ganz gleich, wie wir das Problem auch drehen und wenden, eines ist klar: Mikroorganismen stellen unsere Vorstellungen von Individualität infrage. Und sie prägen unsere Individualität auch. Ihr Genom gleicht im Wesentlichen meinem, aber unsere Mikrobiome können sehr unterschiedlich sein (und für unsere Virome gilt das noch stärker). Vielleicht ist es weniger so, dass ich Vielheiten enthalte, sondern eher, dass ich Vielheiten bin.

Sich das vorzustellen, kann zutiefst beunruhigen. Unabhängigkeit, freier Wille und Identität sind zentrale Gedanken unseres Lebens. David Relman, ein Pionier der Mikrobiomforschung, schrieb einmal: »Der Verlust eines Gefühls der eigenen Identität, der Illusionen im Hinblick auf die eigene Identität und Erlebnisse einer ›Fremdbestimmung‹« seien potenzielle Anzeichen für eine Geisteskrankheit.26 »Da ist es kein Wunder, dass die Erforschung der Symbiose in jüngster Zeit ein beträchtliches Maß an Interesse und Aufmerksamkeit geweckt hat«. Er fügt aber auch hinzu: »[Solche Untersuchungen] werfen ein Schlaglicht auf die Schönheit der Biologie. Wir sind soziale Lebewesen und streben danach, unsere Verbindungen zu anderen lebenden Gebilden zu verstehen. Symbiose ist das beste Beispiel für den Erfolg durch Zusammenarbeit und für den gewaltigen Nutzen enger Beziehungen.«

Der gleichen Ansicht bin ich auch. Symbiose ist ein Hinweis auf die Fäden, die alles Leben auf der Erde verbinden. Warum können so unterschiedliche Organismen wie Menschen und Bakterien zusammenleben und zusammenarbeiten? Weil wir einen gemeinsamen Vorfahren haben. Wir speichern die Information nach dem gleichen Codierungsschema in unserer DNA. Moleküle namens ATP dienen uns als Energiewährung. Das Gleiche gilt quer durch die gesamte Welt des Lebendigen. Stellen wir uns einmal ein Sandwich mit Schinken, Salat und Tomaten vor: Vom Salat über die Tomaten bis zum Schwein, von dem der Schinken stammt, und von der Hefe, mit der das Brot gebacken wurde, bis zu den Mikroorganismen, die mit Sicherheit auf seiner Oberfläche liegen, sprechen alle Zutaten die gleiche molekulare Sprache. Oder, wie der niederländische Biologe Albert Jan Kluyver es einmal formulierte: »Vom Elefant bis zum Buttersäurebakterium – es ist alles das Gleiche!«

Wenn wir erst einmal begreifen, wie ähnlich wir sind und wie tief die Verbindungen zwischen Tieren und Mikroorganismen reichen, wird unser Blick auf die Welt unermesslich viel reichhaltiger. Bei mir war es mit Sicherheit so. Schon immer liebte ich die Natur. Meine Regale sind voller Dokumentarfilme über Tiere und voller Bücher, in denen es von Erdmännchen, Spinnen, Chamäleons, Quallen und Dinosauriern wimmelt. Aber nirgendwo ist davon die Rede, wie Mikroorganismen das Leben ihrer Wirte beeinflussen, verbessern und lenken; die Filme und Bücher sind also unvollständig – Bilder ohne Rahmen, Kuchen ohne Zuckerguss, Lennon ohne McCartney. Heute erkenne ich, wie stark das Leben all dieser Tiere von unsichtbaren Organismen abhängig ist, mit denen sie leben, ohne sich ihrer bewusst zu sein, die zu ihren Fähigkeiten beitragen und manchmal gänzlich dafür verantwortlich sind, und die auf unserem Planeten schon viel länger existieren als wir. Es ist ein schwindelerregender Perspektivwechsel, aber auch ein großartiger.

In den Zoo gehe ich schon, seit ich so klein war, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann (und noch nicht wusste, dass man nicht in den Käfig der Riesenschildkröten klettern soll). Aber mein Besuch im Zoo von San Diego mit Knight (und Baba) fühlt sich anders an. Der Zoo ist ein turbulentes Durcheinander von Farben und Geräuschen, und doch wird mir klar, dass das Leben hier zum größten Teil unsichtbar und unhörbar ist. Am Haupteingang trennen sich Gefäße voller Mikroorganismen von ihrem Geld, damit sie durch die Tore gehen und anders geformte Mikrobengefäße sehen können, die in Käfigen und Gehegen herumlungern. Billionen Mikroben fliegen, verborgen in gefiederten Körpern, durch die Volieren. Andere Horden schwingen sich von Ast zu Ast oder sausen durch Tunnel. Ein Bakterienhaufen, eingekuschelt in das Hinterende eines schwarzen Kaminvorlegers, erfüllt die Luft mit dem angenehmen Duft von Popcorn. Das ist die wahre Welt des Lebendigen, und obwohl sie für meine Augen immer noch unsichtbar ist, kann ich sie endlich erkennen.

KAPITEL 2

DIE IDEE, GENAUER HINZUSEHEN

BAKTERIEN SIND ÜBERALL, aber was unser bloßes Auge betrifft, könnten sie ebenso gut nirgendwo sein. Es gibt nur ein paar außergewöhnliche Ausnahmen: Epulopiscium fishelsoni, ein Bakterium, das ausschließlich im Darm des Goldtupfen-Doktorfisches lebt, ist ungefähr so groß wie der Punkt am Ende dieses Satzes. Alle anderen kann man ohne Hilfsmittel nicht sehen, das heißt, sehr lange sah man sie überhaupt nicht. In unserem imaginären Kalender, der die Erdgeschichte in einem Jahr zusammendrängt, tauchten Bakterien erstmals Mitte März auf. Praktisch während ihrer gesamten Lebenszeit war nichts und niemand sich ihrer Existenz bewusst. Ihr anonymes Leben endete erst wenige Sekunden vor dem Jahresende, als ein neugieriger Niederländer auf die schrullige Idee kam, einen Tropfen Wasser durch selbst gefertigte Linsen von Weltklassequalität zu betrachten.

Antoni van Leeuwenhoek wurde 1632 in Delft geboren, einer pulsierenden Drehscheibe des Auslandshandels, die von Kanälen, Bäumen und Wegen mit Kopfsteinpflaster durchzogen war.1 Tagsüber arbeitete er als städtischer Beamter und führte ein kleines Kurzwarengeschäft. Nachts stellte er Linsen her. Zeit und Ort waren dafür günstig: Die Niederländer hatten kurz zuvor sowohl das zusammengesetzte Mikroskop als auch das Teleskop erfunden. Jetzt konnten Wissenschaftler durch kleine runde Glasstücke auch Gegenstände sehen, die viel zu klein waren, als dass man sie mit bloßem Auge hätte erkennen können. Einer von ihnen war der britische Universalgelehrte Robert Hooke. Er richtete den Blick auf alle möglichen winzigen Dinge: Flöhe, Läuse, die sich an Haare klammerten, Nadelspitzen, Pfauenfedern, Hanfsamen. Seine Beobachtungen veröffentlichte er 1665 in einem Buch mit dem Titel Micrographia, das auch großartige, außerordentlich detaillierte Abbildungen enthielt. Es wurde in Großbritannien sofort zum Bestseller. Kleine Dinge hatten ihre große Zeit.