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Bartholomäus Grill

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Beschreibung

Wie uns das Denken der Kolonialzeit noch immer prägt – eine packende Geschichtsreportage zur aktuellen Debatte

Die deutschen Kolonien - dieses Kapitel unserer Geschichte ist beunruhigend aktuell, wie Bartholomäus Grill zeigt. Und das nicht nur im Bewusstsein der Afrikaner selbst (etwa der Nachfahren der Herero, die heute Entschädigung für Gräueltaten der Deutschen fordern). Sondern auch in unseren eigenen Köpfen. Der SPIEGEL-Reporter, einer der besten deutschen Afrikakenner, hat in den letzten drei Jahrzehnten an allen Schauplätze des ehemaligen Kolonialreichs recherchiert, er hat mit den letzten Augenzeugen gesprochen, den Nachkommen von Tätern wie Opfern. Grill verfolgt akribisch die Spuren der deutschen Fremdherrschaft in Afrika, China und der Südsee und beschreibt unser rassistische Erbe: Das Herrenmenschentum prägt nach wie vor unser Denken, die Klischees von den „bedrohlichen Afrikanern“ oder „hilflosen Entwicklungsländern“ wirken fort, gerade in Zeiten verstärkter Flucht und Migration. Eine packende historische Reportage – und zugleich ein Debattenbuch von höchster Aktualität.

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Die deutschen Kolonien – dieses Kapitel unserer Geschichte ist beunruhigend aktuell, wie Bartholomäus Grill zeigt. Und das nicht nur im Bewusstsein der Afrikaner selbst (etwa der Nachfahren der Herero, die heute Entschädigung für Gräuel­taten der Deutschen fordern). Sondern auch in unseren eigenen Köpfen. Der SPIEGEL-Reporter, einer der besten deutschen Afrikakenner, hat in den letzten drei Jahrzehnten an allen Schauplätzen des ehemaligen Kolonialreichs recherchiert, er hat mit den letzten Augenzeugen gesprochen, den Nachkommen von Tätern wie Opfern. Grill verfolgt akribisch die Spuren der deutschen Fremdherrschaft in Afrika, China und der Südsee und beschreibt unser rassistisches Erbe: Das Herrenmenschentum prägt nach wie vor unser Denken, die Klischees von den »bedrohlichen Afrikanern« oder »hilflosen Entwicklungsländern« wirken fort, gerade in Zeiten verstärkter Flucht und ­Migration. Eine packende historische Reportage – und zugleich ein Debattenbuch von höchster Aktualität.

Bartholomäus Grill, geboren 1954, ist preisgekrönter SPIEGEL-Reporter, langjähriger Afrikakorrespondent und Autor des Bestsellers »Ach Afrika« (Siedler 2003). Zuletzt erschien »Um uns die Toten. Meine Begegnungen mit dem Sterben« (2014).

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Bartholomäus Grill

WirHerrenmenschen

Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte

Siedler

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März 2019

Copyright © 2019 Siedler Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Karten: Peter Palm, Berlin

Bildbearbeitung: Lorenz & Zeller, Inning a. A.

Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München

Umschlagabbildung: © Shutterstock/olegganko

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-21986-4V007

www.siedler-verlag.de

Inhalt

Heia Safari!

Die Mär vom deutschen Kolonialidyll

Die Welt sei unser

Das koloniale Vorspiel an der Goldküste und der Wettlauf um Afrika

Hundert Jahre Einsamkeit

Deutsch-Ostafrika, die Perle des kaiserlichen Kolonialreichs

Unsere treuen Askari

Schwarze Hilfssoldaten und ihre Rolle bei der Unterwerfung Afrikas

Willkommen im Disneyland

Wie wir die Kolonialzeit verklären und was die Afrikaner davon halten

Der Geisterbaum

Auf der Suche nach einem Schädel, den deutsche Kolonialsoldaten raubten

Frohes Leben überall

Togoland, die kleinste deutsche Kolonie in Afrika

Sechs Pullen Rum

Die Gewaltexzesse und Plünderungen in Deutsch-Kamerun

Gewisse Ungewissheiten

Deutsch-Südwestafrika, das dunkelste Kapitel der deutschen Kolonialherrschaft

Heimat, deine Sterne

Deutsche in Namibia und die Frage des Völkermords

Heil Dir im Siegerkranz!

Kiautschou, der imperiale Seestützpunkt in China

Ungleich sind die Stunden

Das Sonnenreich in der Südsee, ein wilhelminisches Verlustgeschäft

Wir Herrenmenschen

Wie uns der koloniale Blick gefangen hält

Dank

Bildnachweis

Ausgewählte Literatur

Register der Namen, Ethnien, Orte und Länder

Heia Safari!

Die Mär vom deutschen Kolonialidyll

Das Buch lag ganz oben in der grünen Holzkiste. Auf dem sandgelben Deckel war eine unheimliche Gestalt abgebildet, ein schwarzer Soldat mit grimmiger Miene, der sich in leicht geduckter Haltung auf seinen Karabiner stützt und mit ausgestrecktem Arm in die Ferne deutet. Darunter stand in kräftigen Lettern »Heia Safari!«. Ich las den Namen des Autors, der mir, dem zehnjährigen Jungen, wenig sagte: Paul von Lettow-Vorbeck. Ich wusste nicht, dass ich die afrikanischen Aben­teuer­geschichten des berühmtesten deutschen Kolonialkriegers in der Hand hielt.

Abenteuer Afrika: Die Erinnerungen des Kolonial­kriegers Paul von ­Lettow-Vorbeck

In der Kiste, die ich zwischen dem Gerümpel auf dem Dachboden unseres Bauernhofes entdeckte, hatte mein 1958 verstorbener Großvater Bartholomäus seine kolonialhistorische Hinterlassenschaft aufbewahrt: Bücher, Broschüren, Festschriften, Erinnerungsstücke. Die meisten Werke waren viel zu komplex, um sie in meinem Alter verstehen zu können, aber die Titel schlugen mich gleich in ihren Bann. »Volk ohne Raum« stand da in Frakturschrift. Oder »Peter Moors Fahrt nach Südwest«. Ein Buch hieß »Wir ritten für Deutsch-Ostafrika«. Darunter lagerten Stapel von teilweise zerfledderten Groschenheftchen aus der Reihe »Kolonial-Bibliothek«; auf den ­Deckblättern waren furchterregende Szenen zu sehen, weiße Männer in khakibraunen Uniformen, die mit Krokodilen kämpften, brüllende Buschkrieger, Karawanen von Sklavenjägern. Zwischen den Druckerzeugnissen fand ich eine mit winzigen ­Muscheln und Perlmutt verzierte Schatulle und das feuerrote Gehäuse einer faustgroßen Flügelschnecke. Ich hielt es ans Ohr und konnte das Rauschen des Indischen Ozeans hören. Mehr als alle anderen Fundsachen aber hat mich der Erzählband »Unter Wilden und Seeräubern« des Jugendschriftstellers Ludwig Foehse begeistert; er schilderte das gefahrvolle Leben in der Fremde, und die Orte, die darin auftauchten, wirkten auf mich wie Zauberformeln: Sansibar. Bagamoyo. Serengeti. Kilimandscharo.

An diesen unendlich langen Kindheitsnachmittagen auf dem Dachboden betrat ich eine untergegangene Welt: das deutsche Kolonialreich, dem mein Großvater bis zu seinem Tod nachgetrauert hatte. Der alte Grill, geboren 1895, war ein leidenschaftlicher Anhänger der Kolonialbewegung, die in der Weimarer Republik für die Rückgabe der deutschen Kolonien kämpfte und das Rad der Geschichte zurückdrehen wollte. Eine richtige Weltmacht musste schließlich überseeische Besitzungen haben, so wie Frankreich oder das ­Vereinigte König­reich. Die Revisionisten sprachen von der »kolonialen Schuldlüge«, sie empfanden es als tiefe Schmach, dass die Siegermächte des Ersten Weltkriegs den Deutschen die moralische Eignung als Kolonialherren abgesprochen und ihnen die »Schutzgebiete« in Afrika, China und der Südsee weggenommen hatten – sie hätten aufgrund des Missmanagements und der Misshandlungen der Bevölkerung das Recht darauf verwirkt, stand im Friedensabkommen, das am 28. Juni 1919 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles unter Protest der Unterhändler aus Berlin besiegelt wurde. Großvater konnte die entsprechende Mantelnote und den Artikel 119 des Vertrags auswendig hersagen. Die Kolonien waren Deutschland quasi amputiert worden, mein Opa litt wie viele seiner nationalistisch gesinnten Zeitgenossen an einer Art Phantomschmerz. Doch in seinen Vorstellungen lebte das kaiserliche Großreich fort, und er sammelte alles, was die imperialen Sehnsüchte nährte. Auch mein Vater, Jahrgang 1928, sprach bis ins hohe Alter vom »Schandfrieden von Versailles«. Schon als fanatischer Hitlerjunge hatte er inständig gehofft, dass der »Führer« die verlorenen Gebiete zurückerobern würde.

So wuchs auch ich im kindlichen Glauben auf, dass das alte Kolonialreich noch immer existierte. Wie heißt der höchste Berg Deutschlands? Fragte mich der Vater. Die Zugspitze? Falsch! Vielleicht der Großglockner? Auch falsch, dummer Bub! Es die Kaiser-Wilhelm-Spitze, international bekannter unter dem Namen Kilimandscharo. Die kolonialen Besitz­tümer konnten also in meinen Augen keine Illusion sein. Außerdem gab es in unserem Dorf einen Lebensmittelladen, über dessen Schaufenster »Kolonialwarenhandlung« stand. In der »Buschtrommel«, einer Jugendzeitschrift der katholischen Mission, las ich fesselnde Geschichten aus Afrika. Und in der Adventszeit sammelten wir Spenden für die »armen Negerlein«. Irgendwie waren wir für ihre Länder nach wie vor zuständig, dachte ich. Und dann die sensationelle Entdeckung auf dem Dachboden! Sie weckte eine unstillbare Sehnsucht nach Afrika, nach diesem wundersamen, aber auch unheimlichen Kontinent, von dem ein Teil, wenn auch nur ein kleiner, einmal deutsch gewesen war.

Die Sehnsucht sollte mich nie wieder loslassen und meine berufliche Zukunft vorherbestimmen: Ich wurde Korrespondent in Afrika, reiste dreißig Jahre lang kreuz und quer durch den Erdteil und stieß immer wieder auf Spuren der deutschen Kolo­nialzeit. Sie waren stumme Zeugen einer angeblich glorreichen Epoche, und von Anfang an fiel mir auf, dass die Afrikaner und Afrikanerinnen in dieser Erzählung keine Stimme hatten. Sie waren sprachlos wie der tragische Held in »Foe«, einem Roman von John Maxwell Coetzee. Der südafrikanische Literaturnobelpreisträger hatte »Robinson ­Crusoe«, einen Klassiker der Aufklärung, umgeschrieben; in seiner Version war Freitag die Zunge abgeschnitten worden, er konnte seine Geschichte nicht mehr erzählen. Der weiße Mr. Foe (das bedeutet im Englischen »Feind« und ist eine Anspielung auf ­Daniel Foe, der seinen Namen durch ein Adelsprädikat veredelt hatte) sagte in einem Anfall von Schuld und Reue: »Wir müssen Freitags Stimme zum Sprechen bringen und die Stille, die Freitag umgibt.« Das Abschneiden der Zunge war eine Grausamkeit, die auf den Baumwollplantagen im Süden der USA bis ins 20. Jahrhundert praktiziert wurde. Und bis heute liegt ein gespenstisches Schweigen über den Verbrechen, die wir, der weltbeherrschende Westen, den Afrikanern und anderen Völkern angetan haben. Landraub? Unterdrückung? Mord und Terror? Institutionalisierter Rassismus? War da was? Kolonialismus – was ist das überhaupt? In einem deutschen Lexikon der historischen Grundbegriffe sucht man diesen Terminus vergeblich.

In den Nachkriegsjahren erschien die deutsche Kolonial­ära als kurze und vergleichsweise harmlose Episode, und dass sie so früh endete, wurde als historischer Glücksfall gesehen: Deutschland hatte einfach zu wenig Zeit, um größeren Schaden anzurichten. In der Bundesrepublik war die Mehrheit ohne­hin damit beschäftigt, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu verdrängen oder zu leugnen, und selbst die wenigen kritischen Geister nahmen die koloniale Epoche nur oberflächlich wahr, die Ungeheuerlichkeit des Holocaust und der Nazi-Barbarei verstellte auch ihren Blick auf die dahinterliegende Zeit. Erst ein 1966 ausgestrahlter Dokumentarfilm von Ralph Giordano sollte die Legende entzaubern, dass die Deutschen eigentlich gute und anständige Kolonialisten gewesen waren. Die Empörung der Ewiggestrigen war groß, und sie wurde noch größer, als die 68er-Studentenbewegung mit den restlichen Mythen aufräumte: Sie prangerte das koloniale Unrecht an, verurteilte den Neokolonialismus und unterstützte Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, von Vietnam bis Mosambik.

Auch ich verteilte in den frühen 1970er-Jahren Flugblätter der maoistischen »Liga gegen den Imperialismus«, meine ­Heroen hießen Ho Chi Minh, Che Guevara, Amilcar Cabral, Julius Nyerere und Nelson Mandela. Die Unterdrückten dieser Erde hatten sich erhoben und waren zu Vorboten der erträumten Weltrevolution geworden. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass unsere grenzenlose Solidarität nicht nur den Blick auf die Verbrechen im Namen des Freiheitskampfes verbaute, sondern auch auf die Wiederkehr kolonialer Machtstrukturen: Die schwarzen Herren sprangen nach der Unabhängigkeit ihrer Staaten in die Seidenbetten und Schwimmbäder der ­weißen Herren und plünderten ihre Völker genauso aus wie diese, schreibt Frantz Fanon, der Vordenker des antikolonialen Wider­stands.

Unsere Historiker trugen zunächst wenig zu einem besseren Verständnis des Kolonialismus und seiner politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und mentalen Langzeitwirkungen bei. Das liegt sicherlich auch daran, dass diese Epoche fast ausschließlich von weißen europäischen Männern analysiert wurde. Mittlerweile liegen zwar einige kritische Werke vor, die eine andere Perspektive abbilden – Fallstudien aus einzelnen Ländern, mikrohistorische Untersuchungen, Befragungen von Zeitzeugen im Rahmen der Oral history, Abhandlungen über die Ursprünge des Rassismus oder den kolonialen Blick. Aber die meisten Standardwerke zur Geschichte des deutschen Kolonialismus bewegen sich in den alten eurozentrischen Deutungsmustern. Manchmal wirken diese sogar in Rückschauen nach, die aufklären wollen. Ein Beispiel lieferte die eigentlich recht lehrreiche Kolonialismus-Ausstellung, die 2016/17 im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen war: Im Fachbeirat saß kein einziger Afrikaner, nur zwei Curators-in-Residence aus Tansania und Namibia durften ein bisschen mitgestalten.

In unserer geschichtsvergessenen Gegenwart ist die Kolonialära nur einer von vielen blinden Flecken. So konnte sich auch die Mär vom deutschen Kolonialidyll und von den Zivilisationsleistungen unserer Vorfahren halten. Hören wir dazu Aimé Césaire, den großen afrokaribisch-französischen Poeten: »Man erzählt mir vom Fortschritt und geheilten Krankheiten. Ich aber spreche von zertretenen Kulturen … von Tausenden hingeopferten Menschen … Ich spreche von Millionen Menschen, denen man geschickt das Zittern, den Kniefall, die Verzweiflung eingeprägt hat.«

Es sollte lange dauern, ehe die »Verdammten dieser Erde« ihre Sprache wiederfanden. Unter diesem Titel erschien 1959 ein bahnbrechendes Werk des schon erwähnten Frantz Fanon, das heute als Gründungsdokument der Postcolonial Studies gilt: Diese intellektuelle Bewegung wechselt die Perspektive erstmals radikal, sie dekonstruiert die westliche Deutungs­hoheit und erzählt die Kolonialgeschichte aus der Sicht des globalen Südens. Freitag kann wieder reden. Die Bewohner der Kolonien erscheinen nicht mehr als wehrlose Objekte und ewige Opfer, sondern als eigenständig denkende und handelnde Subjekte, die die Auslegung ihrer Vergangenheit zurückerobern. Die Leitgedanken von Edward Said, Stuart Hall, Achille Mbembe und anderen postkolonialen Philosophen waren meine Wegweiser auf der Reise in die koloniale Vergangenheit.

Nun könnte man einwenden, dass sich schon wieder ein weißer Mann anmaßt, über die koloniale Erfahrung zu schreiben. Natürlich bin auch ich durch europäische Weltbilder geprägt, und ich stelle immer wieder fest, dass ich selbst nach drei Jahrzehnten in Afrika das rassistische Erbe nicht einfach abschütteln kann. Ich habe versucht, die Blickrichtung zu ändern, um Klischees und Zerrbilder zu überwinden. Das ist mir vermutlich nicht immer gelungen. Und die Toten konnte ich auch nicht mehr zum Sprechen bringen. Ich habe nur einen Menschen getroffen, der diese Zeit noch erlebt hat, einen uralten Mann aus Tansania. Das ist schon über zwanzig Jahre her. Unterdessen sind die letzten Zeitzeugen verstorben, zwei Generationen von Historikern haben es versäumt, sie ausführlich zu befragen. Ihre Geschichten hätten erklären können, warum Afrika bis heute mit den Folgen der europäischen Fremdherrschaft kämpft. Vielleicht würden wir dann besser verstehen, warum so viele Afrikaner ihren Kontinent verlassen wollen: Sie sehen keine Zukunftschancen in ihren Heimatländern, die erst von ausländischen Mächten kannibalisiert und nach der Unabhängigkeit von einheimischen Räuberregimen geplündert wurden. Hunderttausende junger Männer und Frauen fliehen in diesen Tagen vor Armut, Gewalt und Hoffnungs­losigkeit, sie träumen von einem besseren Leben, aber in ihren Traumländern – in Amerika, Frankreich, England, Italien oder Deutschland – sind sie nicht willkommen. Im Zeitalter der Globalisierung zirkulieren Waren, Kapital, Dienstleistungen und Informationen ungehindert um die Welt, doch die Menschen sollen bleiben, wo sie sind, jedenfalls die Armen, Hungrigen, Ungebildeten. Für uns, die Wohlhabenden, Satten, Privilegierten, gelten selbstverständlich andere Regeln. Und so bleibt den meisten jungen Afrikanern nur der »back way«, der Hintereingang ins gelobte Land. Im Beamtendeutsch spricht man von illegaler oder irregulärer Einwanderung; in der Umgangssprache werden Ausdrücke aus dem Wörterbuch unwägbarer Naturereignisse verwendet: Flüchtlingswelle, Asylantenschwemme, Migrationsströme.

Während historische Darstellungen geschundener Sklaven oder Bilder von verhungernden Kindern mit Empathie betrachtet werden, lösen die aktuellen Fotos von Afrikanern, die zu Tode verängstigt auf überfüllten Schiffen im Mittelmeer dahintreiben, nur noch Furcht und Abscheu aus. Man nimmt sie nicht als Menschen wahr, sondern als bedrohliche schwarze Masse. Sie werden wie in der Epoche des Kolonialismus ihrer Individualität beraubt und dehumanisiert. »Absaufen! Absaufen!« skandierte der Mob, als bei einer fremdenfeindlichen ­Demonstration in Dresden Fernsehbilder von in Seenot geratenen Afrikanern gezeigt wurden. Ausländer, »Asylanten«, Flüchtlinge seien unerwünscht, schreit die rechtsradikale »Alternative für Deutschland«, und in der aufgewiegelten Bevölkerung dröhnt ein vieltausendstimmiges Echo. Sie nehmen uns Wohnraum und Arbeitsplätze weg. Sie drücken die Löhne und missbrauchen den Sozialstaat. Sie vergewaltigen unsere Frauen. Sie bedrohen die abendländische Leitkultur. Und am Ende führen sie jenen multikulturellen Zustand herbei, den die Mehrheit der »Biodeutschen« angeblich nicht will: die »durchrasste Gesellschaft«. Diese Kampfformel aus der NS-Zeit hat der ehemalige bayerische CSU-Ministerpräsident Edmund Stoiber schon lange vor Thilo Sarrazin wieder eingebürgert. Sie war vor allem an den extremen Rändern der Gesellschaft verbreitet, doch unterdessen dringt sie immer weiter in die bürgerliche Mitte vor, und das hängt mit der zeitweiligen Öffnung der deutschen Grenzen und der Aufnahme von rund 800 000 Kriegs- und Armutsflüchtlingen im Jahr 2015 zusammen. »Wir schaffen das«, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel – und natürlich sollte eine reiche Nation mit über 80 Millionen Einwohnern diese Herausforderung bewältigen können. Doch die Folgen der Willkommenskultur wurden von der Regierungschefin und allen wohlmeinenden Politikern, die ihren Kurs unterstützten, sträflich unterschätzt: Der beispiellose humanitäre Akt hat die politische Landschaft grundlegend verändert und wie in vielen europäischen Ländern auch in Deutschland den Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen beschleunigt. Mittlerweile gefährden die xenophoben Exzesse in manchen Regionen der neuen Bundesländer den sozialen Frieden. Im Sommer 2018 schaute die ganze Welt angewidert auf die Horden, die mit zum Hitlergruß hochgerissenen Armen durch Chemnitz marschierten. Und auf die Wutbürger, die den Glatzköpfen hinterherliefen und »Wir sind das Volk!« grölten. Manchmal fragen mich afrikanische Freunde, ob sie um ihr Leben fürchten müssen, wenn sie nach Deutschland reisen.

Wir leben in einer Zeit, in der die moralischen und ethischen Grundregeln unseres demokratischen Gemeinwesens bedroht sind. Begriffe wie Volk, völkisch, Lebensraum, Rasse und Rassenkampf sind in den Sprachgebrauch zurückgekehrt. Weiße Europäer zeigen wieder öffentlich, dass sie sich für höher­wertige Geschöpfe halten und glauben, dass das Leben schwarzer Menschen weniger wert sei – angeblich zähle es ja auch in deren Heimatländern nicht viel. Richtig gefährlich wird die ethnonationalistische Hetzerei allerdings dann, wenn sie auch in demokratische Parteien einsickert. Wenn etwa Spitzenpolitiker der CSU den »Asyltourismus« und die »Anti-Abschiebe-Industrie« geißeln und im Kampf um rechte Wählerstimmen das bisschen christlich-humanistischen Anstand aufgeben, mit dem sie sich gerne brüsten. Neuerdings wird sogar darüber diskutiert, ob man afrikanische Migranten unbedingt vor dem Ertrinken retten müsse. In derart obszönen Gedankenspielen brechen wieder ungehemmt jene rassistischen Weltbilder durch, die in der Kolonialära geprägt wurden. Aus dem Alltagsleben waren sie ohnehin nie ganz verschwunden. Dunkelhäutige Menschen werden vielerorts ganz unbefangen »Neger« genannt – das haben wir schon immer gesagt, heißt es in meinem Heimatland Bayern. Mitunter kriege ich dort auch zu hören, dass die meisten Afrikaner nur Asylbetrüger, arbeitsscheue Parasiten oder Drogendealer seien. Wenn danach gefragt wird, was sie denn, bitteschön, zum Fortschritt der Menschheit beigetragen und wie viele Nobelpreisträger sie hervorgebracht hätten, ist das ein versteckter Hinweis auf ihre vermeintliche geistige Beschränktheit, die schließlich auch von renommierten Wissenschaftlern bestätigt werde: Der amerikanische Medizinnobelpreisträger James D. Watson behauptet allen Ernstes, dass Schwarze weniger intelligent seien als Weiße. Diese rassistische Überzeugung schlummert auch im Staunen darüber, dass es Afrikaner gibt, die Shakespeare und Goethe lesen, Opern lieben oder erfolgreiche Quantenphysiker sind.

Wenn über Afrika berichtet wird, bleibt uns kein Klischee erspart, im Guten wie im Schlechten. Es ist entweder ein traumschöner Erdteil, ein Naturparadies, dessen fröhliche Bewohner immerzu singen und trommeln und beneidenswert gut tanzen. Oder es ist ein Ort der Gewalt und des Schreckens, der Fiebersümpfe, des mörderischen Chaos, eine Bluthölle, in der Warlords und Kindersoldaten wüten und himmelschreiendes Elend herrscht. Der kenianische Schriftsteller Binyavanga Wainaina hat europäischen Kollegen ein paar Tipps gegeben, wie sie über Afrika schreiben sollten: »Auf keinen Fall darf die hungernde Afrikanerin fehlen …. Ihre Kinder haben Fliegen in den Augenwinkeln und Hungerbäuche, ihre Brüste sind leer. Sie hat keine Geschichte, keine Vergangenheit …« Unbedingt müssten auch die nackten verwesenden Leichen erwähnt werden. »In Ihrem Text sollten Sie Afrika wie ein einziges Land behandeln … Beenden Sie Ihr Buch mit einem Nelson-­Mandela-Zitat, am besten mit irgendetwas über Regenbögen oder Wiedergeburt.« Man könnte hinzufügen, dass sich als Überschrift stets der Titel des düsteren Romans von Joseph Conrad eignet: »Herz der Finsternis«.

Afrika, der Kontinent der Kriege, Krisen und Katastrophen, immerzu begegnet uns dieses Zerrbild, als gäbe es dort kein normales Leben mehr, sondern nur den permanenten Ausnahmezustand. Nach dem Ausbruch der Ebola-Epidemie in Sierra Leone und Liberia schrieb der kenianische Gelehrte Ali Mazrui: »Dem, was in Afrika geschieht, begegnet man mit Gefühllosigkeit, weil man davon überzeugt ist, dass es sich am Rande der menschlichen Existenz zuträgt, und selbst wenn Hunderttausende dabei umkommen, geht man mit bösartiger ­Nachlässigkeit darüber hinweg.« Die Lage auf dem Nachbarkontinent würde uns Europäer also gar nicht so genau interessieren, wenn da nicht diese untergründige Angst wäre: die Angst, dass in den kommenden Jahrzehnten Millionen von armen Afrikanern die Wohlstandsfestung Europa »überrennen« könnten, die Angst vor »Überfremdung« und schleichender »Umvolkung«. In den öffentlichen Debatten über diese Bedrohungsszenarien taucht plötzlich wieder jenes Herrenmenschentum auf, das sich in der Kolonialära herausgebildet hat: Afrika und die Afrikaner, überhaupt Migranten und Flüchtlinge aus dem globalen Süden, würden sich vermehren wie die Schildläuse und seien so ganz anders als wir, heißt es, ihre Kultur, ihre Religion, ihre Moralvorstellungen würden nicht in unseren Wertekanon passen.

In einem Zeitungsinterview war zu lesen, warum afrikanische Gesellschaften einfach anders funktionieren; der befragte »Experte« führte den Unterschied auf Clan-Strukturen, die Rolle von Stammesführern, die Vielzahl der Ethnien und auf tradierte Verhaltensweisen zurück. Außerdem wachse die Bevölkerung viel zu schnell. Auch die Arbeitsproduktivität der Afrikaner sei eine andere als hier, sie stellten nur ganz wenig selbst her. Auf die Frage, ob die Missstände in Afrika eine Folge der Kolonialzeit seien, antwortete der Gesprächspartner: »Es gibt schon Nachwirkungen. Schlimm waren die Sklaventransporte nach Nordamerika. Auf der anderen Seite hat die Kolonialzeit dazu beigetragen, den Kontinent aus archaischen Strukturen zu lösen.« Die Sätze lesen sich, als hätte sie ein Beamter des Reichskolonialamts vor über hundert Jahren ausgesprochen. Aber weit gefehlt: Sie kamen im Oktober 2018 aus dem Mund von Günter Nooke, dem Afrika-Beauftragten der Bundeskanzlerin. Er gab bei dieser Gelegenheit auch ein altbekanntes Rezept zum Besten, um unseren Nachbarkontinent vor sich selbst zu retten: »Vielleicht ist der eine oder andere ­afrikanische Regierungschef bereit, gegen eine Pacht ein Stück territoriale Hoheit abzugeben und dort für 50 Jahre eine freie Entwicklung zuzulassen.« Merkels Berater sprach von »Wirtschaftssonderzonen«, in denen man Migranten ansiedeln könne, die dann nicht mehr zu uns kommen würden. Das hieße nichts anderes, als Teile Afrikas wieder unter Kuratel zu stellen; man müsste nur die Bezeichnung ändern und »Schutzgebiet« durch »Sonderzone« ersetzen.

Nookes Ansichten zeigen wie in einem Brennglas die paternalistische Haltung eines deutschen Politikers gegenüber ­Afrika und den Afrikanern. Er verwendet Denkfiguren der Kolonialära, allerdings scheint er sich dessen nicht bewusst zu sein. Aber warum sollte ein hochrangiger Regierungsvertreter anders urteilen als ein Durchschnittsbürger, der sich einbildet, in einer Gesellschaft zu leben, die sich auf dem höchsten Stand der mensch­lichen Entwicklung befindet? In einer Wohlstandsfestung, in der man sich das Recht herausnimmt, den Rest der Menschheit zu belehren, zu bevormunden und zum eigenen Nutzen abzurichten? Früher hieß das: An unserem Wesen möge die Welt genesen. Heute sprechen wir von Entwicklungshilfe und Kooperation auf Augenhöhe. Das weltweite Ausbeutungssystem, das im Zeitalter des Kolonialismus etabliert wurde, aber bleibt bestehen – und macht alle Hilfsanstrengungen zunichte. Wir sehen die außereuropäische Welt nach wie vor mit dem imperialen Auge und behandeln ihre Bewohner nicht viel besser als in der Kolonialzeit. Auch darum geht es in diesem Buch: Es ist der Versuch, unser rassistisches Erbe zu ergründen.

Die Welt sei unser

Das koloniale Vorspiel an der Goldküste und der Wettlauf um Afrika

»Ihr Deutschen habt euch nichts vorzuwerfen«, versichert ­Joseph Mensah, »eure Kaufleute haben nur mit Gold und Elfen­bein gehandelt, nicht mit Menschen.« Wie ein Burgherr steht er hinter einer Schießscharte der Feste Großfriedrichsburg und lässt den Blick von der sanft geschwungen Meeresbucht zu seinem Heimatort schweifen. Auf den Landkarten ist die Siedlung an der Atlantikküste von Ghana als Princes Town eingezeichnet, die Einheimischen nennen sie Pokesu. »Das gehörte alles mal den Preußen«, sagt Mensah. Er ist der ­Kustode des Forts, führt Besucher herum, vermietet spartanische Schlafkammern und tischt eine recht eigensinnige Version der Vorgeschichte auf. Während er mich durch das erstaunlich gut erhaltene Kommandantenhaus, in den Seitentrakt und auf den Wehrturm geleitet, lobt er die Erbauer der Anlage in den höchsten Tönen. Die Begegnung mit Joseph Mensah liegt nun schon einige Jahre zurück, aber sein Freispruch für die deutschen Sklavenhändler bleibt unvergesslich, denn so etwas hört man selten in Afrika.

Sie kamen aus Brandenburg, ausgesandt vom absolutistischen Herrscher Friedrich Wilhelm, der als Großer Kurfürst in die Geschichtsbücher einging. Er hatte nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges die Fundamente der europäischen Großmacht Brandenburg-Preußen gelegt. Um als rückständiges Agrarland diesen Status zu erlangen, forcierte er schon früh eine expansive Handelspolitik, die weit über die Grenzen Europas hinausging. »Seefahrt und Handlung sind die führnehmsten Säulen eines Estats«, befand Friedrich Wilhelm in einem Edikt. Sein Vorbild waren die Niederlande, ein kleines Land mit einer gewaltigen Schiffsflotte, das im Laufe des 17. Jahrhunderts ein globales Wirtschaftsnetz geknüpft hatte und die Hälfte des Welthandels kontrollierte; holländische Konglomerate wie die Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC) stiegen seinerzeit zu den größten Handelsunternehmen der Welt auf. Die Niederländer machten Milliardengewinne mit Gold, Elfenbein, Gewürzen – und mit Sklaven. An diesem Geschäft mit dem »Näger« wollten auch die Preußen unter Friedrich Wilhelm teilhaben. Es lag also nahe, sich von holländischen Großkaufleuten und Reedern beraten und das Startkapital beschaffen zu lassen. Die ersten Expeditionen waren nicht von Erfolg gekrönt, doch im Mai 1681 gelang es erstmals einem brandenburgischen Kapitän, ein paar Häuptlingen an der Goldküste, dem heutigen Ghana, ein Abkommen aufzunötigen, in dem diese die kurfürstliche Oberhoheit über ihr Gebiet anerkannten. Dieses Datum markiert in den Werken mancher Historiker den Beginn des deutschen Kolonialismus.

Ein paar Versuche, in den aufblühenden Welthandel einzusteigen, hatte es schon früher gegeben. Deutsche Handelsreisende, Forscher, Abenteurer und Hasardeure schlossen sich spanischen, portugiesischen oder holländischen Unternehmungen in Übersee an. Landsknechte verdingten sich als Konquistadoren in Brasilien und brachten wie Hans Staden Schauergeschichten von »wilden, nacketen, grimmigen Menschenfresser-Leuten« mit. Großkaufleute und Geldjongleure wie die Fugger finanzierten Handelsflotten. Die Patrizierfamilie der Welser investierte in den Gewürzhandel in Indien, mischte im transatlantischen Sklavenhandel mit und ließ in Venezuela schon Mitte des 16. Jahrhunderts Bodenschätze ausbeuten. 1654 nannte Herzog Jakob von Kurland die Insel ­Tobago und ein Fort am westafrikanischen Gambia-Fluss sein Eigen. 15 Jahre später erwarb Reichsgraf Casimir von Hanau im heutigen Französisch-Guyana eine Art Kolonie. Die Fürsten waren Merkantilisten, die am frühkapitalistischen Welthandel mitverdienen wollten, um ihre Heere, ihre Verwaltung und ihr Luxusleben zu finanzieren. Aber sie waren nur kleine Fische im Haifischbecken der damaligen Handelsmächte.

Friedrich Wilhelm wollte richtig groß einsteigen. Er schickte eine brandenburgisch-preußische Expedition los, zwei Fregatten, die unter dem Kommando von Otto Friedrich von der Groeben Richtung Goldküste segelten. Der Major und Kammerjunker vermerkt in seinem Logbuch, wie die Flagge des Kurfürsten »den 1. Januarii, Anno 1683« zum ersten Mal mit »Pauken und Schallmeyen aufgeholet« wurde. Er findet auf einer Anhöhe über dem Meer, die die Dorfbewohner Manfro nennen, einen idealen Standort für eine Festung und notiert weiter: »Und weil Sr. Churfl. Durchl. Nahme in aller Welt Groß ist, also nennete ich auch den Berg: Den Großen Friedrichs-Berg.«

Von der Groeben hatte auch gleich Baumaterial für das Fort mitgebracht, Dachplatten, Holzbalken, Eisen, Nägel, Werkzeug. Und womöglich auch die erste Ladung der kleinen gelben Normziegel, mit denen Wände, Gewölbe, Säulen und Türlaibungen aufgemauert wurden. Joseph Mensah ist felsenfest davon überzeugt, dass sie aus Königsberg stammen. Er steht am verschütteten Eingang eines unterirdischen Tunnels, durch den die Sklaven an den Strand getrieben und in die Schiffe verladen wurden. »Aber nicht von den Preußen«, wiederholt er. Dann treten wir in einen dusteren Keller unter dem linken Seitenflügel, in dem aufgeschreckte Fledermäuse herumflattern; hier wurde das »schwarze Elfenbein« zwischengelagert. »Es waren die Holländer, die mit dem Menschenraub anfingen«, sagt Mensah. Das stimmt. Aber wahr ist nach neueren Erkenntnissen auch, dass die Preußen zwischen 20 000 und 30 000 Sklaven von der Goldküste nach Amerika verschifften. Und dass Friedrich Wilhelm der erste Deutsche war, der den Menschenhandel förderte.

Sklavenhändler aus Preußen: Die Feste Großfriedrichsburg im heutigen Ghana

Aber Joseph Mensah wacht unbeirrbar über die Unschuld des Großen Kurfürsten. In seinem Büro hat er allerlei Nippes gesammelt: kleine Fähnlein mit dem roten Preußenadler auf weißem Grund, einen Aschenbecher mit Schloss Sanssouci, den Alten Fritz auf Bierdeckeln, Krüge mit Weltkugel, Kurhut und Zepter, die Insignien der Kurwürde. Nein, auf seine ­Preußen lässt er nichts kommen!

Das brandenburgisch-preußische Abenteuer blieb eine Episode in der Geschichte des Sklavenhandels. Es war ein Verlustgeschäft, was auch daran lag, dass zwischendurch die Preise für die Menschenware einbrachen. 1717 verkaufte der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. die unrentablen Besitzungen in Westafrika an die Holländer, für 7200 Dukaten und »zwölf Mohren«. Es sollten eineinhalb Jahrhunderte vergehen, ehe die Deutschen wieder vor den Küsten Afrikas aufkreuzten, und beinahe wären sie wieder zu spät gekommen.

Die Engländer, Franzosen, Portugiesen und Belgier hatten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits weite Teile des Kontinents vereinnahmt. Die Deutschen fühlten sich abgehängt, das passte nicht in ihr Selbstbild. Sie sahen sich nach der Reichsgründung 1871 als wirtschaftliches Schwergewicht im Zentrum Europas, das sich anschickte, zu einer politischen Großmacht aufzusteigen. Die Vordenker der organisierten Kolo­nialbewegung warben für die Expansion nach Übersee, aber so richtig in Schwung kam die öffentliche Diskussion erst 1879, als der vaterländische Prediger Friedrich Fabri eine Broschüre mit dem Titel »Bedarf Deutschland der Colonien?« veröffentlichte. Es verwundert nicht, dass er die Frage mit einem uneingeschränkten »Ja« beantwortete. Fabri war Inspektor der Rheinischen Missionsgesellschaft in Barmen und als Missionar weit herumgekommen. Sein Hintergedanke war natürlich die Christianisierung des gesamten Erdballs, aber er stellte wie die meisten Fürsprecher der kolonialen Idee politische und ökonomische Argumente in den Vordergrund. In Europa fanden damals gewaltige Umwälzungen statt. Die industrielle Revolution stand im Zenit, der Kapitalismus entfaltete durch technologische Innovationen (Eisenbahn, Dampfschifffahrt, Elektrizität, modernes Nachrichtenwesen) eine weltumspannende Dynamik. Gleichzeitig erlebten die führenden Wirtschaftsmächte die ersten Überproduktionskrisen. Sie suchten nach neuen Absatzmärkten und Rohstoffquellen. Überdies erhoffte man sich von der globalen Expansion die Lösung der sozialen und der demografischen Frage; sie sollte neuen Lebensraum für die im 19. Jahrhundert explosionsartig wachsende Bevölkerung erschließen, vor allem für das stetig anschwellende Heer der Arbeitslosen. Die Massenauswanderung verarmter Proletarier in Siedlerkolonien sei »eine Art Sicherheitsventil«, schrieb ­Fabri, denn sie dämme »die rasche, mächtige Ausbreitung der Social-Demokratie« ein. Das war ganz nach dem Geschmack der herrschenden Eliten, die das revolutionäre Potential der Arbeiterbewegung fürchteten. Für den reaktionären Historiker Heinrich von Treitschke wurde die Kolonisation sogar zur »Daseinsfrage«. So dachten viele seiner Zeitgenossen: Der ­Export von Waren, Kapital und Menschen – ein Königsweg, um die Probleme des Bevölkerungsdrucks und der Überproduktion zu bewältigen.

Doch ausgerechnet Reichskanzler Otto von Bismarck war zunächst nicht von der Sache überzeugt, obwohl unter seinen Vertrauten einige Kolonialpropagandisten waren, tatendurstige Männer wie der Chefmissionar Friedrich Fabri, der hanseatische Großkaufmann Adolph von Woermann oder der Bankier Gerson von Bleichröder. 1881 beschied er kategorisch: »Solange ich Reichskanzler bin, betreiben wir keine Kolonialpolitik.« Er wollte das fragile politische Gleichgewicht in Europa nicht gefährden, abgesehen davon waren ihm überseeische Abenteuer einfach zu kostspielig. Der Fürst, notiert Kaiser Wilhelm II. in seinem selbstherrlichen Rückblick »Ereignisse und Gestalten«, habe nicht gesehen, dass er durch den Erwerb der Kolonien »seinen Blick über Europa hinaus zu richten hatte«. Noch 1888 erklärte Bismarck einem Forschungsreisenden: »Ihre Karte von Afrika ist ja sehr schön, aber meine Karte von Afrika liegt in Europa.« Historiker rätseln bis heute über die eigentlichen Motive seiner ablehnenden Haltung – und warum er schließlich doch einlenkte.

In jenem Jahr 1888 war längst ein Prozess in vollem Gange, für den die britische Times eine griffige Parole gefunden hatte: »The Scramble for Africa« – der Wettlauf um Afrika. Bereits vier Jahre vorher, vom 15. November 1884 bis zum 26. Februar 1885, hatten sich in Berlin die Gesandten aus 14 Staaten versammelt, um unter dem Vorsitz des deutschen Reichskanzlers handels- und machtpolitische Streitfragen in West- und Zentralafrika zu klären, und nicht, wie oft fälschlicherweise behauptet wird, den Kontinent aufzuteilen. Die eigentliche Zerstückelung Afrikas hatte schon vorher begonnen; sie wurde durch die sogenannte Kongo-Konferenz legitimiert und danach vollendet. Die Signatarmächte präzisierten in ihrer Schlussakte quasi nur die Spielregeln des Wettrennens. Am Verhandlungstisch in Berlin saßen die europäischen Groß- und Möchtegern-Großmächte Frankreich, Vereinigtes Königreich, Deutschland, Belgien, Portugal und Österreich-Ungarn, außerdem Unterhändler aus Spanien, Italien, Russland, den skandinavischen Staaten, dem Osmanischen Reich sowie den Vereinigten Staaten von Amerika. Heutzutage gebrauchen wir einen anderen Ausdruck für derartige Veranstaltungen: Gipfeltreffen der Globalisierer.

In der Ausstellung »Who Knows Tomorrow«, die ich 2006 im Rahmen der Initiative »Partnerschaft mit Afrika« im Auftrag von Bundespräsident Horst Köhler mitorganisierte, persiflierte der nigerianische Künstler Yinka Shonibare die Kongo-Konferenz. Auf der Empore der Friedrichwerderschen Kirche in Berlin installierte er einen Tisch mit den Umrissen Afrikas, an dem 14 kopflose Herren saßen; sie trugen barocke Kostüme, die aus afrikanischen Stoffen geschneidert waren. Gerade in dieser vom klassizistischen Meisterarchitekten Karl Friedrich Schinkel gebauten Kirche entfaltete das Kunstwerk eine besondere Wucht: Es stand wie ein Fremdkörper über den Statuen und Skulpturen von Kant, Goethe, Schiller, Tieck, den Gebrüdern Humboldt und anderen Geistesgrößen der deutschen Aufklärung – und entlarvte den Drang zur Weltunterwerfung, der dem universellen Anspruch ihrer Ideen innewohnte. Alle Menschen sind gleich, aber die Weißen sind gleicher.

Die Vormächte Europas – England, Frankreich, Deutschland – verbanden mit dem kolonialen stets auch den imperialen Gedanken, also die Errichtung von Weltreichen. Sie läuteten ab 1880 das Zeitalter des Hochimperialismus ein. Weltgeltung, Weltunterwerfung, Weltmacht – das waren oft ­gebrauchte Kraftworte in Deutschland, der verspäteten und von Minderwertigkeitskomplexen geplagten Nation. Die Expansionspläne wurden stets mit humanitären Motiven verbrämt, mit der Abschaffung des Sklavenhandels und der Verbreitung der Zivilisation, darauf hatte man sich schon im Kapitel II, Absatz 6 der Schlussakte der Berliner Konferenz von 1884/85 geeinigt. Das missionarische Sendungsbewusstsein war eng verbunden mit dem Sozialdarwinismus, aus dem die Europäer ihre biologische Höherwertigkeit und geistige Überlegenheit ableiteten – und nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, »unzivilisierte« Völker zu unterwerfen. Fanatische Vertreter der deutschen Kolonialbewegung riefen sogar einen »Weltkampf der Rassen« aus, den selbstverständlich der weiße Mann gewinnen würde; Frauen galten damals nicht als vollwertige Menschen.

Als das 20. Jahrhundert heraufdämmerte, war die Aufteilung der Erde abgeschlossen, und das wehrlose Afrika hatte es härter als alle anderen Weltregionen erwischt: Erstmals in der Menschheitsgeschichte war ein gesamter Kontinent flächendeckend von fremden Mächten enteignet worden. Die größte Landmasse hatten sich Briten und Franzosen herausgeschnitten, die Belgier holten sich ein Filetstück im Zentrum, Por­tugal erhielt zwei Flanken, Angola im Südwesten und Mosambik im Südosten, die Italiener schnappten sich Somalia und Eritrea, für die Spanier fielen nur Brosamen an der Westküste ab. Auch die Deutschen bekamen beim großen Fressen ein paar ordentliche Portionen, mussten sich aber mit einer Streukolonie begnügen: Togoland, Kamerun, Deutsch-Südwestafrika und Deutsch-Ostafrika. Hinzu kamen ein Pachtgebiet in China sowie ausgedehnte Territorien in der Südsee. Alles zusammen ergab das viertgrößte Kolonialreich der Welt.

Der erste Leiter des Reichskolonialamts, ein Bankier und Politiker namens Bernhard Dernburg, fasste den Sinn und Zweck des räuberischen Unternehmens recht freimütig zusammen: »Kolonisation heißt die Nutzbarmachung des Bodens, seiner Schätze, der Flora, der Fauna und vor allem der Menschen zugunsten der Wirtschaft der kolonisierenden Nation, und diese ist dafür zur Gegengabe ihrer höheren Kultur, ihrer sittlichen Begriffe, ihrer besseren Methoden verpflichtet.« Man kann das auch kompakter ausdrücken: unterwerfen, berauben, ausbeuten, umerziehen.

Hundert Jahre Einsamkeit

Deutsch-Ostafrika, die Perle des kaiserlichen Kolonialreichs

»Guten Morgen, Herr Lehrer!«, rief ein alter Mann mit fröhlicher Stimme. Ich glaubte nicht recht zu hören an diesem heißen Augustmorgen des Jahres 1980. Ich stand im tansanischen Küstenstädtchen Bagamoyo neben dem verfallenen Gebäude, das den deutschen Kolonialherren einst als Zollamt gedient hatte, und schaute den Fischern zu, die gerade von einer Nacht auf dem Meer heimgekehrt waren und ihren mageren Fang aus den Netzen schüttelten. Da humpelte plötzlich dieser Alte auf mich zu und grüßte auf Deutsch. Er trug einen grauen Kanzu, das traditionelle Männergewand, seine Augen blitzten vor Freude. Ich muss wohl ziemlich verdutzt dreingeschaut haben, als er mir ein vergilbtes Dokument zeigte. Es handelte sich um eine vom Kaiserlichen Bezirksamt zu Bagamoyo ausgestellte Urkunde, die den Freikauf seines Vaters, eines ehemaligen Sklaven, »seitens der Kath. Mission hier« bescheinigte. »Ihr Deutschen habt uns die Freiheit gebracht«, sagte der alte Mann.

Diesen Satz hätte mein Großvater, der alte Kolonialromantiker, gerne gehört. Er wäre aus seiner Sicht ein Beweis dafür gewesen, dass die Kolonisierung eine grundgute Sache war. Weil die Deutschen den Sklavenhandel abgeschafft und ein vorbildliches Protektorat in Ostafrika aufgebaut hatten. Weil sie ein entwickeltes Land mit Straßen, Bahnlinien, ­Häfen, Tele­grafenleitungen, Krankenhäusern hinterließen. Weil sie die Grund­lagen für ein modernes Bildungswesen schufen, was schon allein die Tatsache zeigt, dass die Schreibweise des Kisuaheli latinisiert wurde und das deutsche Wort für Schule in die Verkehrssprache einging: shule. Eigentlich müssten die armen Afri­kaner für all diese Errungenschaften dankbar sein, hieß es in der Rechtfertigungslehre der Kolonialrevisionisten. Andernfalls würden sie ja noch immer in der Steinzeit leben.

Ende der Versklavung: ­Freibrief No. 1034, ­ausgestellt vom Kaiser­lichen Bezirksamt in ­Bagamoyo

Während ich den Sklavenfreibrief bestaunte, eilte ein Schuljunge herbei. Er bot eine reichsdeutsche Münze an, eine ­Rupie, Prägejahr 1892, auf der Vorderseite der preußische Adler, hinten Gravuren in arabischer Schrift. Ich kaufte ihm das Geldstück ab und hatte erstmals ein dingliches Zeugnis aus der deutschen Kolonialzeit in der Hand, die bisher nur in meiner Imagination existiert hatte. Dann ging ich weiter zum alten deutschen Friedhof, der schöner gar nicht liegen könnte: direkt am Meer, in warmen Sand gebettet, überschattet von Palmen. Eine Umgebung, in der die Grabinschriften fast unwirklich erschienen. Max Schelle, Unterleutnant zur See, gefallen 1889; Antonie Bäumler, Krankenschwester und Mitglied des Deutschen Frauenvereins, gest. 1889; Reinhold Wonneberger, Feldwebel, gest. 1890; Franz Groucza, Oberlazarettgehilfe, gest. 1894; Emil Hochstetter, Kurfürstl. Württemberg. Bauinspektor, verschieden im neunundreißigsten Lebensjahr; Gretchen Schuller, das geliebte Kind, schon nach sechs Tagen vom Tropenfieber hingerafft: »Dem Auge fern, dem Herzen ewig nah’«.

Da liegen sie in der Erde Tansanias, gestorben für Kaiser und Reich. Im Osten der unermessliche Indische Ozean, im Westen der Riesenleib Afrikas, dazwischen hundert Jahre Einsamkeit. Der »schwarze Kontinent« hat die Weißen verschlungen, die Kolonialbeamten, Baumwollpflanzer und Geometer, die Missionare, Löwenjäger, Naturforscher und Soldaten. Sie kamen mit Bibeln und Kanonen, zogen auf ihren Messtischblättern Grenzen, raubten den »Eingeborenen« das Land – und zerfielen auf dem Friedhof von Bagamoyo zu Staub. Nichts ist geblieben von ihren Peitschen und Psalmen und Porzellan­figürchen. Nichts, außer der Erinnerung an die Begierden der Außenwelt und die Alpträume der Afrikaner.

Im Laufe der vergangenen dreieinhalb Jahrzehnte habe ich Bagamoyo oft besucht, es ist einer jener Orte in Afrika, die mich mit magischer Kraft anziehen. Denn in dieser Stadt, die heute ungefähr 30 000 Einwohner zählt, laufen viele Fäden der Eroberungsgeschichte des Kontinents zusammen. Hier landeten die Schiffe der Inder und Perser, hier herrschten Araber, Portugiesen, die Sultane von Sansibar, Deutsche und Briten, und von keinem anderen Küstenort brachen so viele Europäer ins Innere des Erdteils auf: der Kongoforscher Verney ­Lovett Cameron; John Hanning Speke, der »Entdecker« der Nilquellen, und sein Kollege Richard Francis Burton, britischer Offi­zier und Orientalist; der Journalist und Abenteurer Henry Morton Stanley; Eduard Schnitzer alias Emin Pascha, der es bis zum Gouverneur Äquatorias im heutigen Sudan bringen sollte. Zu den Pionieren, die in Bagamoyo Station machten, gehörte auch ein gewisser Carl Peters, der erfolgreichste Landräuber im Namen des deutschen Kaiserreichs, zu dem wir gleich noch kommen werden.

In die Weltgeschichte aber trat Bagamoyo bereits im Zeitalter des Sklavenhandels ein, es war das Ziel der Karawanen aus dem Landesinneren. Bis zu 70 000 Sklaven gingen jährlich durch diese Todesschleuse. Wer auf dem sechsmonatigen Gewaltmarsch von Ujiji am Tanganjikasee zur Küste nicht im wahrsten Sinne des Wortes verreckt oder geflohen war, für den gab es keine Rettung mehr; die Gefangenen wurden mit Dhaus, den für die Region typischen Segelbooten, auf die Nelkeninsel Sansibar übergesetzt und von dort zu den Menschenmärkten in Arabien, Persien und Amerika verschifft. Die Hoffnungslosigkeit hat der Stadt den Namen gegeben. Bagamoyo bedeutet sinngemäß: Leg dein Herz nieder.

Hier fing also alles an. Und hier beginnt auch unser Streifzug durch die Kolonialgeschichte von Deutsch-Ostafrika. Oft stieß ich bei meinen Dienstreisen zufällig auf Hinterlassenschaften aus der Kolonialzeit, auf Friedhöfe, Kirchen, Amtsgebäude, Bahntrassen, Telegrafenmasten, Schlachtendenk­mäler. Ich fuhr durch Siedlungen, deren deutsche Namen ich erst später herausfand: Kasanga (Bismarckburg), Igulwa (Mariahilf), Kizarawe (Hoffnungshöh), Tabora (Waidmannsheil), Tukuyu (Neu-Langenburg). Manchmal kam mir die Landschaft wie ein Palimpsest vor, wie eine Schrifttafel, die vielmals überschrieben wurde und unter deren Oberfläche tiefere historische Schichten aufscheinen. Oder war alles nur Einbildung? Eine versunkene Wirklichkeit, die nur in meiner kolonialhistorischen Fiktion existierte?

Bagamoyo hat eine Aura, in der das Vergangene surreal anmutet, aber seltsam gegenwärtig ist. Manche Straßenzüge ­haben sich seit der »deutschen Zeit« kaum verändert, und einige Bauten erzählen lange Geschichten aus dieser Epoche: das schon erwähnte Zollhaus, das Post- und Telegrafenamt, eine Schule, ein Krankenhaus. Am südlichen Ortseingang steht ein gewaltiger Affenbrotbaum, an dessen Stamm eiserne Klettersprossen angebracht sind, die zu einer Plattform in der Baumkrone führten; sie diente im Ersten Weltkrieg als Ausguck der deutschen »Schutztruppe«, um herannahende britische Kriegsschiffe zu melden. Ein anderer Baum existiert nur noch in der Erinnerung der Alten: der Galgenbaum, an dem rebellische »Eingeborene« erhängt wurden. Bagamoyo war ab 1888 die erste Hauptstadt der Kolonie, davon zeugt das imposante Gebäude auf einer Anhöhe über dem Meeresufer: die Boma, ein grauer Koloss im Stil einer arabischen Zitadelle, die erste Kommandozentrale der deutschen Eroberer. Von hier aus versuchten sie eine Landmasse zu beherrschen, die zum größten Teil der schon erwähnte Carl Peters erschwindelt hatte.

Dieser Mann wurde vom imperialen Wahn getrieben. Er wollte das Deutschtum in alle Welt hinaustragen und das Kaiserreich vergrößern: Deutschland sollte eine Weltmacht werden, auf Augenhöhe mit Briten und Franzosen, und dazu gehörten überseeische Besitzungen. Doch Reichskanzler Otto von Bismarck fand zunächst wenig Gefallen an der Expansionsidee, den forschen Eroberer Peters schimpfte er einen »dummen Kerl«. Der allerdings hatte sich längst selbst ermächtigt und das Hauptziel der 1884 von ihm mitbegründeten »Gesellschaft für Deutsche Kolonisation« ganz unmissverständlich formuliert: »die rücksichtslose und entschlossene Bereicherung des eigenen Volkes auf anderer, schwächerer Völker Unkosten«. Im Herbst selbigen Jahres brachen Peters und seine Gefährten nach Ostafrika auf, denn dort war noch ein schönes Stück vom großen Kuchen für Kaiser und Reich zu ­holen. Sie starteten die berüchtigte Usagara-Expedition, drangen wie Konquistadoren ins Innere des heutigen Tansania vor und ­nötigten zahlreichen lokalen Autoritäten Abkommen auf. Wo es keine Führungsfiguren gab, wurden sie kurzerhand erfunden; auf diese Weise hat die Eroberung vielerorts einen neuen Herrschertypus hervorgebracht, der in der präkolonialen Zeit unbekannt war: den Stammeshäuptling. ­Peters ging mit roher Gewalt vor, wandte aber auch trickreiche Metho­den an, um an das Land der Afrikaner zu kommen. Er machte Clanchefs oder Dorfälteste betrunken, ehe sie »Schutzverträge« unterzeichneten, die sie nicht einmal lesen konnten. Oder er köderte sie mit Geschenken, mit Stoffen, Perlen und feschen Husarenjacken. »Es ist natürlich, daß der Eingeborene, geblendet durch ein paar Tuchstücke, Messer, Spiegel und bunten Schmuck sich seiner Rechte für nichts und wieder nichts entäußerte«, schreibt Dr. Alex Haenicke im »Buch der deutschen Kolonien«, einem 1937 veröffentlichten Propagandawerk der Kolonialrevisionisten. Es war ein unbewusstes Eingeständnis des großen Betrugs. Im gleichen Absatz lobt der Autor das Vorgehen des Dr. Peters, denn der habe für das Deutsche Reich »äußerst günstigen ­Boden mit reicher Ertragsmöglichkeit« sicher­gestellt, »wenigstens insoweit, als er es dem Zugriff der anderen Nationen entzog«.