Wir im besten Alter - Silvia Jelincic - E-Book

Wir im besten Alter E-Book

Silvia Jelincic

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Beschreibung

Fünf Freundinnen ringen mit dem Altern und der Liebe. War das wirklich schon alles? Oder dürfen sie mehr vom Leben fordern? Die wilde Ximena sucht nach einer Affäre, obwohl sie glücklich verheiratet ist. Karrierefrau Nadine ist im Beruf erfolgreich, nicht aber in ihrer Ehe. Die selbstständige Burglind sehnt sich nach der großen Liebe. Die unsichere Greta denkt ständig an Männer,nur nicht an ihren. Und die schüchterne Lilly will endlich einen Orgasmus. Aber wird das, was sie wollen, sie auch glücklich machen? Liebevoll, unterhaltsam und feinfühlig erzählt Silvia Jelincic von den kleinen Dramen des echten Lebens abseits von Hollywood-Illusion und Netflix-Kitsch.

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Seitenzahl: 373

Veröffentlichungsjahr: 2024

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WIR IM BESTEN ALTER

Silvia Jelincic:

Wir im besten Alter

Alle Rechte vorbehalten

©2024 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: Simone Scheutz & Vesna Baranovic

Illustrationen: Rika Vestjens

Satz: Bastian Welzer

Gesetzt in der Benne

Gedruckt in Deutschland

1 2 3 4 5 — 27 26 25 24

isbn: 978-3-99001-779-1

Silvia Jelincic

Wir im besten Alter

edition a

Für meine Freundinnen und alle

wunderbaren Frauen dieser Welt.

Auf Basis vieler wahrer Geschichten.

Weil es nicht so ist, wie es uns erzählt wird.

Inhalt

Vorbemerkung der Autorin

1 Ich. Oma Greta

2 Ximena und das Feuer der Jugend

3 Lillys Lüge

4 Der Freundinnen-Pakt

5 Der Radfahrer

6 Mein ganz privates Kopfkino

7 Mitfahrgelegenheit

8 Burglind und das jüngere Modell

9 Flackerndes Licht

10 Ich und Bruno

11 Das Problem

12 Der »So geht’s zum Orgasmus«-Plan

13 Beschattungsaktion

14 Alles. nur keine Mama sein

15 Geständnisse

16 Frau Doktor Nadine Bauer

17 Meine erste Therapiestunde bei Raphael Bonelli

18 Gerti. die Sextherapeutin der Nation

19 Der Mann von Willhaben

20 Ximenas Komplize

21 Lillys traumhafte Reise

22 All you need is love

23 Sei kein dummes Mädchen

24 Toni Faber und die Liebe

25 Burglinds Ménage-à-trois

26 Ich auf der etwas anderen Party

27 Ximenas Jugend kehrt zurück

28 Lillys neuer Guru

29 Jour fixe

30 Unerwarteter Besuch

31 Ich im Dampfbad (fast) ganz allein

32 Lillys erste Lektion

33 Burglinds Feindin

34 Ximenas schwere Entscheidung

35 Mein mieser Plan

36 Plötzlich war er weg

37 »Lilly. wer bist du?«

38 Konfrontation

39 Ximenas Dilemma

40 Nur eine Nacht

41 Ein zu perfektes Leben

42 Wow! Bülent Ceylan!

43 Die Stadt der Liebe

44 Zufälliges Wiedersehen

45 Neuigkeiten

46 Lilly goes Salzburg

47 Burglinds Triumph

48 Mädelstrip

49 Nadines Entdeckung

50 Späte Wahrheit

51 Das Elend mit den Narzissten

52 Forever young

53 Das blaue Kuvert

54 Beweismaterial

55 Auch das noch!

56 Rache

57 Hoffnung

58 Gebärmaschinen

59 Ein neuer Freund

60 Keine Lügen mehr

61 Es ist vorbei

62 Die Frau aus dem Obstladen

63 Wir im besten Alter

Vorbemerkung der Autorin

Dieser Roman erzählt eine fiktive Geschichte. Die fünf Frauen Greta, Burglind, Ximena, Lilly und Nadine sind frei erfunden, doch ihre Erlebnisse sind es nicht. Ich habe über Jahrzehnte hinweg die wahren Geschichten meiner Freundinnen gesammelt und daraus einen Roman gemacht.

Neben den fünf fiktiven Figuren treten im Buch echte Menschen mit ihren echten Namen auf, zum Beispiel der Wiener Dompfarrer Toni Faber, der Kabarettist Michael Buchinger, die Psychotherapeutin Gerti Senger, der Psychiater Raphael Bonelli und der Dragqueen-Künstler Mario Soldo. Ich habe sie alle getroffen und die Szenen mit ihnen besprochen.

»Ein ungewöhnliches Konzept, bei dem ich gernedabei war. Ich habe der fiktiven Heldin des Romansdieselben Ratschläge gegeben, als wäre sie im echtenLeben meine Patientin.«

- Psychiater DDr. Raphael Bonelli

»Das Buch hat meinen Segen.«

- Dompfarrer Anton Faber

Greta: Ihr Mann kämpft mit seiner Arbeit und Greta mit dem Älterwerden. Für den gemeinsamen Sohn bleibt wenig Zeit. Greta zieht am liebsten pinke Strümpfe und enge Tops an, doch das macht sie auch nicht jünger. Also startet sie ihr ganz privates Kopfkino. Ob das eine gute Idee ist?

Ximena: Ihr seriöses Auftreten passt nicht zu ihrer Wildheit. Eigentlich will Ximena Abenteuer und Affäre. Aber auch ihren tollen Mann Willi nicht verlieren. Mit Cartierbrille und Leopardenschal verdreht sie vielen Männern den Kopf. Was passiert, wenn ihr selbst der Kopf verdreht wird?

Lilly: Mit Mann und den Zwillingen führt sie ein Bilderbuchleben, doch nicht einmal ihr katholischer Glaube vermag gegen die gähnende Langeweile anzukommen. Lilly will endlich sexuelle Erfüllung! Wird es ihr gelingen, aus ihrem biederen Alltag zu entkommen, um sich selbst zu spüren?

Nadine: Bei ihrem beruflichen Erfolg und dem vielen Geld vergisst Nadine gern, dass ihre Ehe nicht so ist, wie sie sein sollte. War es klug, für ihren Mann auf Kinder zu verzichten? Nadine wird sich immer unsicherer. Sie entdeckt düstere Geheimnisse und eine Seite an sich, die sogar ihren Freundinnen Unbehagen bereitet.

Burglind: Als unabhängige Frau braucht sie keine fixe Partnerschaft in ihrem Leben. Sie lebt allein mit ihren beiden Kindern und nimmt sich die Männer zwischendurch nach Lust und Laune. Aber mit den Jahren bröckelt ihre Fassade immer mehr und die sonst so lustige Burglind leidet, weil sie den, den sie schon immer geliebt hat, nicht haben kann.

1

Ich. Oma Greta

Wie bitte? Sprachlos stand ich vor der Verkäuferin des kleinen Fleischladens am Wiener Naschmarkt. Neben mir hüpfte mein elfjähriger Sohn von einem Bein auf das andere. Als leidenschaftlicher Basketballspieler machte Elias seine Sprungübungen, wo und sooft er nur konnte. Gut, er sah jünger aus. Viele schätzten ihn auf neun, aber mein Enkelsohn? Eine leise Panik stieg in mir auf.

»Sind Sie die Oma?«, hatte mich die Frau hinter der Theke doch glatt gefragt. Die dumme Kuh! Hätte sie ihren Blick gesenkt und meine schlanken Beine in den pinken Strumpfhosen und die schwarzen High Heels bemerkt, wäre ihr das nicht passiert. »Er ist mein Sohn«, sagte ich in einem Ton, als müsste ich mich dafür entschuldigen, was mich nur noch wütender machte.

In dem Laden roch es säuerlich, wie oft in Fleischereien. Bisher hatte mich das nie gestört, jetzt ertrug ich es kaum. Ihren Anblick auch nicht. Die Frau wirkte auf den ersten Blick alterslos, irgendetwas zwischen 45 und 55, aber bei genauem Hinsehen war sie wohl auch nicht viel älter als ich. Sie tat, als wäre nichts gewesen. Aber vermutlich wusste sie ganz genau, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte, und genoss jetzt still ihren Triumph.

Wäre mir wenigstens ein gewitzter Konter eingefallen, wie es sonst meine Art war. Aber sie hatte sich schon mit einem kaum merklichen Lächeln der nächsten Kundin zugewandt. »Mama, du hast das Hühnerfleisch vergessen«, sagte Elias, als ich bereits auf dem halben Weg zur Tür war. Auch das noch.

Draußen bemühte ich mich mit aller Kraft, mich vor meinem Sohn zusammenzureißen. Die Verkäuferin war nur frustriert und kam wahrscheinlich selbst nicht mit dem Älterwerden klar. Ich dagegen war vierzig und in der Blüte meines Lebens. Viele schätzten mich auf 35 oder höchstens 37. Eine Oma? Lächerlich! Ich sah fast so gut aus wie Jane Fonda in ihren besten Jahren, mit langen aschblonden Haaren, einer sportlichen, zarten Figur und einem gut geschnittenen Gesicht.

Oder etwa nicht? Sah ich im Spiegel nur eine einigermaßen junge Frau, weil ich daran gewöhnt war, dort eine zu sehen? Weil ich mein Gesicht gewandt zurechtrückte, bis es meinem Wunschbild von mir am nächsten kam? Vielleicht ging alles bergab, und ich wollte es einfach nicht sehen. Ich schob die bangen Gedanken beiseite. Wenn ich mir jetzt den Tag versauen lassen würde, hätte diese fiese Frau endgültig gewonnen.

Es war gegen 15 Uhr, und am Naschmarkt war wenig los. Vermutlich würden sich die Gänge zwischen den bunten Ständen, duftenden Käsevitrinen, Asia-Läden, kleinen Cafés und Restaurants erst kurz nach Büroschluss füllen. Als erste, warme Regentropfen sanft auf meine Nase fielen, kam mir das Wort Altweibersommer in den Sinn. Ein altes Weib war ich jedenfalls noch lange nicht. »Mama, es ist egal, dass sie dich für meine Oma gehalten hat«, unterbrach Elias meine Gedanken, als er mich hüpfend eingeholt hatte.

Meine enge Jeans zwickte am Bauch. Hatte ich zugenommen? War dieser Tag überhaupt noch zu retten? Ich merkte, wie stolz mein Sohn seine neuen Michael-Jordan-Basketballschuhe trug. Immer wieder sah er auf seine Füße und strahlte dabei. Sie waren weiß-rot-grau gestreift und hatten seine vermeintliche Oma stolze 190 Euro gekostet. »Sie wollte mich nur ärgern«, sagte ich. »Wenn Menschen einen schlechten Tag haben, ärgern sie gerne andere, und manche haben immer einen schlechten Tag.« Ich merkte, dass mir Elias nicht glaubte. Diese blöde Gans! Das Leben war ja wohl kompliziert genug, Frauen sollten sich nicht auch noch gegenseitig fertigmachen. Zum Glück waren nicht alle so. Ich musste an meine besten Freundinnen denken und fühlte eine tröstende Wärme. Wenn wir schon altern mussten, dann wenigstens gemeinsam.

Der Himmel verdunkelte sich und der Regen wurde stärker. Gut, dass wir fast zu Hause waren. »Es ist egal, dass sie dich Oma genannt hat«, sagte Elias nach einer kurzen Weile wieder. »Bei uns in der Klasse hat einer eine ganz junge Oma. Sie holt ihn manchmal mit einem knallgrünen Jeep ab.«

Frauen in der Midlife-Crisis zu trösten, hatte Elias noch nicht drauf, aber er meinte es gut. Und so ganz abwegig war die Oma-Sache leider nicht. Großmutter mit vierzig, das ginge. Elias hätte zwanzig sein und ein Kind haben können. Dann wäre ich wirklich Großmutter gewesen. Ich, Greta, die Oma. Ich, Oma Greta. All die Jahre, wo waren sie nur geblieben? Dabei fühlte es sich an wie gestern, dass ich in meiner Studienzeit mit dem Rucksack halb Europa durchquert hatte.

Bedrückt wartete ich an der Ampel vor unserem Haus auf Grün, während die Autos mit winkenden Scheibenwischern an uns vorbeifuhren und das Geräusch der Räder auf der nassen Fahrbahn die Motorengeräusche übertönte. Mehr denn je spürte ich, dass meine Haut nicht mehr so frisch und straff war wie früher. Bald würde auch das gewandteste Zurechtrücken vor dem Spiegel nichts mehr nützen. Die Falten in meinem schmalen Gesicht waren jetzt schon kleine Kerben. Also versuchte ich, sie täglich mit Makeup zu verdecken. Was nicht funktionierte. Auch konnte ich nicht mehr so viel essen wie früher, ohne gleich zuzunehmen, und war ich krank, brauchte ich länger, um zu genesen.

Was so ein dummer Kommentar alles auslösen konnte! Während ich auf die rote Ampel starrte, fragte ich mich, ob es tatsächlich eine Midlife-Crisis war, die mich so quälte, oder doch meine Vergangenheit. In meiner Kindheit hatten mir meine Eltern eingetrichtert, dass die Nachbarskinder braver, klüger, schöner, fleißiger und talentierter waren als ich, was sie heute niemals zugeben würden. Meine Mutter hatte sogar geschmacklose Witze über meine dünnen Beine und mein blasses Gesicht gemacht.

Nie war ich gut genug gewesen, egal worin. Heimito von Doderer, der berühmte österreichische Schriftsteller aus dem 20. Jahrhundert, hatte recht. Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war, und dann rinnt es an uns herunter, da können wir noch so oft die Kleider wechseln. Und genau das spürte ich in diesem Augenblick. Ich fühlte mich nass, besudelt und frustriert. In meinen Zwanzigern und Dreißigern hatten mich Studium, Reisen, Partys, Beruf, Beziehungen und schließlich mein Kind von diesen Erinnerungen abgelenkt. Aber jetzt, im mittleren Alter, holte mich die Vergangenheit mit voller Wucht ein.

Genervt verdrehte ich die Augen. Warum nur schaltete die Ampel nicht um? Dicht neben mir hopste mein Sohn wieder hin und her. Das lange Warten schien ihn nicht zu stören. Er war ganz bei sich und zufrieden. Und ich? War gar nicht bei mir, sondern irgendwo anders und total frustriert. Ich atmete tief durch. Ruhig bleiben, Greta, ruhig bleiben. Das Leben ist gut. Das Leben ist schön. Das Leben ist ein Geschenk. Warum nur spürte ich all das in diesem Augenblick nicht?

Endlich Grün. Ein Mann um die fünfzig kam uns entgegen. Verdammt, sah der gut aus! Groß, sportlich, markantes Gesicht, Dreitagebart, lässige Bomber-Jacke. Warum nur spielte das Alter bei Männern eine andere Rolle als bei Frauen? Männer werden zwischen 35 und sechszig erst so richtig sexy, oder etwa nicht?

Der Typ beachtete mich nicht. Hatte er meine schönen Beine nicht bemerkt? Werden Frauen ab vierzig wirklich unsichtbar, wie es immer überall heißt? Ich hatte mich anscheinend von einem Tag auf den anderen in Luft aufgelöst. Zumindest für diesen heißen, mittelalten Kerl. Vielleicht lag es auch an der Brünetten, die ihn begleitete. Bestimmt war sie keine dreißig. Sie ging wenige Schritte hinter ihm, und als sie ihn einholte, legte sie besitzergreifend ihren Arm um ihn. Hätte ihn die Verkäuferin im Fleischladen gefragt, ob sie seine Tochter war? Sicher nicht. Sie hätte wahrscheinlich von ihm zu träumen begonnen, während sie ihm seine Steaks einpackte.

Als wir heimkamen, schloss ich im Vorbeigehen die Badezimmertür. Heute keine Spiegel mehr. Mir war zum Heulen. Wenn das Altern schon nicht aufhörte, wollte ich zumindest eine Pause davon haben. »Handy weg«, rief ich in die Richtung, in die Elias verschwunden war. Es herrschte verdächtige Stille. Er hatte mich gestern ausgetrickst und seine tägliche Bildschirmzeit überzogen. Dafür hatte er sich mein Handy geschnappt und in unserer Familien-App seine Spielzeit verlängert, was ich erst nach fast zwei Stunden bemerkt hatte. Deshalb war heute Handypause angesagt.

Später, wenn Elias schlief, würde ich mir Models auf Instagram ansehen und versuchen, mich in ihnen wiederzuentdecken. Aber nicht in Kendall Jenner oder Gigi Hadid, in keinem dieser jüngeren Püppchen. Nein, ich würde mich auf Schönheiten aus den 1990er Jahren wie Claudia Schiffer, Helena Christensen oder Cindy Crawford konzentrieren, die nach wie vor fantastisch aussahen. Ein besseres Mittel gegen das unvermeidliche Schicksal als Oma fiel mir im Moment nicht ein. Verdammt. Vielleicht war es an der Zeit, meinem Leben einen tieferen Sinn zu geben! Vielleicht sollte ich hungernde Kinder in Afrika besuchen, dort eine Schule aufbauen, mich für Tierrechte einsetzen und Mal- und Philosophiekurse absolvieren? Ich wusste es nicht, aber ich wusste, dass sich etwas ändern musste.

Die Frau aus dem Fleischladen hatte es tatsächlich geschafft, mir den Tag zu vermiesen. Irgendetwas würde ich mir einfallen lassen.

2

Ximena und das Feuer der Jugend

»Ich vermisse euch«, schrieb Ximena in die Freundinnengruppe auf Whatsapp. »Hat jemand Zeit für ein spontanes Treffen?«

Sie saß auf einer grünen Bank im Wiener Stadtpark und trug ein klassisches Business-Outfit mit schwarzem Blazer und langer brauner Stoffhose. Richtig wohl fühlte sie sich nicht in den Klamotten. Nicht in dieser Umgebung. Die goldene Johann-Strauß-Statue glänzte in der Sonne, und Touristen posierten davor für Selfies. Ximena band ihre krausen dunklen Haare mit einem Gummiband zusammen. Endlich wieder gutes Wetter, dachte sie, so sollte der September immer sein. Sie putzte ihre Cartier-Brille, eine Maßanfertigung.

Eine Weile sah sie Jugendlichen bei ihren Skateboard-Kunststücken zu, obwohl sie keine Ahnung von diesem Sport hatte. Sie wusste nur, was ein Ollie war. Ein Arbeitskollege, der noch mit 45 Skateboard fuhr, hatte ihr einmal erklärt, der Ollie sei der erste Trick, den Kinder beim Skaten lernen sollten. Ein einfacher Sprung, die Grundlage für alles weitere. Um das Board in die Luft zu bekommen, mussten Skater leicht in die Hocke gehen und mit einem Fuß das Tail, also das hintere Ende des Skateboards, nach unten drücken. Könnte sie das auch? Früher war sie eine Sportskanone gewesen, aber heute?

Ximena atmete tief durch. Das Telefon klingelte. Sie drückte den Anruf weg. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie so etwas das letzte Mal getan hatte. Nicht erreichbar sein. Ein Leben außerhalb des Jobs zu haben. Versunken blickte sie auf die Skateboarder und beneidete sie. Für sie gab es vielleicht nichts Schlimmeres, als ein aufgeschürftes Knie oder eine geprellte Hand. Sie hatten nicht viel zu verlieren. Anders als Ximena.

Vor einer Stunde war sie nach einer Präsentation, auf die sie monatelang hingearbeitet hatte, erschöpft in ihren Sessel gesunken. Die Bilanzen, die Marktanalyse, die Prognosen, die Werbemaßnahmen, alles war bis ins letzte Detail durchdacht. Doch mit einer Sache hatte sie nicht gerechnet: Der Kunde war gar nicht mehr daran interessiert, mit Ximena ins Geschäft zu kommen. Er hatte sie bloß aus Höflichkeit angehört. Das war ihr nach seinen ersten zwei Sätzen klar gewesen, und dennoch hatte sie sich zwanzig weitere Minuten zu einem höflichen Lächeln zwingen müssen, während der Kunde eine Reihe an Entschuldigungen und halbseidene Begründungen vorbrachte. Die ganze Arbeit, der Stress, die nächtlichen Überstunden, alles umsonst. Viele Millionen Euro auf einen Schlag weg. Die Leere, die sie hinterließen, war abstrakt, groß, beängstigend. Ximena konnte fühlen, wie sich diese Leere in ihr ausbreitete. Kaum hatte sie dem Mann und dessen Anwälten die Hand geschüttelt, war sie reflexartig aus dem Firmengebäude und in den Stadtpark geflüchtet.

Jeden Tag saß sie mehr als zehn Stunden im Büro, vor acht Uhr abends kam sie selten raus. Zu Hause ging es dann meistens weiter. Mails beantworten. Kundenakquise, Kundenbetreuung. Sparmaßnahmen, neue Geschäftsfelder prüfen.

Während sie auf Antworten aus der Whatsapp-Gruppe wartete, betrachtete sie ihre Hände. Sie mochte sie. Die weiche Haut. Den dunklen Teint. Die schmalen, langgliedrigen Finger. Aber so wie früher sahen sie nicht mehr aus. Vor allem die beiden Zeigefinger hatten viele feine Falten an den Außenseiten. Vielleicht würde eine Anti-Aging-Creme helfen?

Sie nahm sich nicht oft Zeit, einfach so ein paar Minuten in einem Park zu sitzen, obwohl sie gelesen hatte, dass sich Pausen positiv auf die Leistungsfähigkeit auswirken würden. Doch statt Energie zu tanken, gingen ihr jetzt seltsame Gedanken durch den Kopf. Gedanken, die sie in ihrem sonst pausenlosen Berufsleben verdrängte.

War es das, was sie wollte? Arbeiten, immer nur arbeiten? Mit zwanzig wollte sie die Welt erobern, mit dreißig irgendwann mal Kinder haben, und mit vierzig hatte sie in einer Psychotherapie festgestellt, dass sie die Familiengründung nicht zufällig immer weiter aufgeschoben hatte. Denn in Wirklichkeit wollte sie keinen Nachwuchs. Aber nur arbeiten? Jetzt war Ximena Mitte vierzig und fragte sich, ob sie das Leben führte, das sie wirklich führen wollte. Sie spürte eine merkwürdige Leere in sich, die sich in der wenigen freien Zeit, die sie hatte, immer größer und unangenehmer anfühlte.

Ximena war rund um die Uhr erreichbar. Für wen lebte sie eigentlich? Für sich oder ihre Firma? Was würde bleiben? Erinnerungen an erfolgreiche Meetings? An das Abklatschen mit ihrem Chef nach einem geglückten Deal? »Zuerst der Mensch. Dann die Arbeit«, lautete der Werbeslogan einer österreichischen Linkspartei. Ximena fragte sich, ob diese Reihenfolge nicht tatsächlich die bessere wäre. »Die mittleren Jahre sind die Jahre der Abrechnung«, flüsterte sie verbittert. »Sie zeigen, ob du alles richtig gemacht hast. Oder nicht.« Ximena zuckte mit den Schultern und betrachtete traurig ihre alternden Hände. Über ein paar Zeilen von Nadine hätte sie sich besonders gefreut, aber seit Wochen war ihre beste Freundin wie verschollen. Sie beantwortete keine Nachrichten und ging nicht mehr ans Telefon. Nur ein einziges Mal schrieb Nadine kurz angebunden, sie sei erkältet und brauche Ruhe.

Endlich kam eine Message: »Hallo, ihr jungen Hühner! Ich vermisse euch auch.« Greta. Sie war es, die vor einigen Jahren die Whatsapp-Gruppe »Die jungen Hühner« gegründet hatte.

»Kommst du?«, schrieb Ximena zurück. »Ich bin in der City, muss aber bald zurück ins Büro.«

»Muss leider arbeiten.«

»Ich muss auch arbeiten«, meldete sich Burglind zu Wort. Was ihr Ximena nicht abnahm. Burglind war faul, und es war nach 17 Uhr. Vermutlich lag sie schon auf ihrer Couch und aß Schokolade-Haselnuss-Eiscreme, ihre Lieblingssorte.

Ximena blieb noch eine Weile sitzen, während der Schatten des hoch aufragenden Hotels Intercontinental immer näher auf ihre Bank zuschlich. Sie zupfte ihren schwarzen Blazer zurecht, als sie ein nussiger Duft anwehte. Ganz in der Nähe breitete ein Walnussbaum seine Äste aus. Er erinnerte Ximena an den Baum im Garten ihrer geliebten Großmutter. Wo waren all die Jahre nur hin? Sie spürte, dass es das kleine Mädchen von damals noch immer gab, irgendwo tief in ihrem Innersten. Vielleicht war es an der Zeit, wieder mehr auf dieses kleine, lebensfrohe Mädchen zu hören.

Unter den jungen Leuten, die wild die Rampe hinauf und hinunter fuhren, fiel einer Ximena besonders auf. Seine Freunde riefen ihn Tommy. Er schien etwas älter zu sein als die anderen, vielleicht war er schon zwanzig oder 22. Tommy hatte lange zerzauste Haare und tätowierte Unterschenkel. Er trug weite, abgeschnittene Jeans, und sein weißes T-Shirt hatte Löcher. Ximena stellte sich vor, wie sie noch größere Löcher in sein T-Shirt riss und es vor den Augen seiner Freunde mit ihm trieb. Sie gestattete sich die kleine spontane Phantasie, denn diese fühlte sich wahnsinnig gut an. Ihr kleines privates Kopfkino. Ihre letzte Affäre war schon viel zu lange her, bevor ihr Willi einen Heiratsantrag gemacht und sie beschlossen hatte, wilde Abenteuer für eine Weile bleiben zu lassen. Doch jetzt sehnte sie sich nach damals, nach einem Fremden, mit dem sie dem Alltag entfliehen konnte. Für Ximena war Sex immer mehr als Spaß gewesen. Er funktionierte stets auch als Stressabbau und war damit etwas, was sie gerade jetzt mehr denn je brauchte.

Der Schatten des Intercontinentals hatte ihre Bank jetzt vollends erfasst. Ximena stand auf und ging auf den Parkausgang zu. Sie warf Tommy einen sehnsüchtigen Blick zu. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Hände eines Tages wieder auf einem so jungen, athletischen Körper liegen würden, schwanden mit jedem Sommer. Als sie zur Ringstraße hinaustrat, roch es nach dem Rindenmulch, den die Wiener Stadtgärtner zwischen die Alleebäume streuten. Für Ximena gehörte der Duft zum Herbst, der sich langsam und unvermeidlich in der Stadt bemerkbar machte. Der goldene Glanz der Johann-Strauß-Statue würde sich im kommenden Frühling neu aufpolieren lassen, ihr eigener aber nicht, dachte sie bang. War sie mit ihren Freundinnen beisammen, waren sie alle noch jung, die jungen Hühner eben. Aber heute fühlte sich Ximena mit ihrer Midlife-Crisis allein gelassen.

Nanu. Was war das denn? Tommy war gerade mit seinem Skateboard und wehenden Haaren an ihr vorbeigesaust. Am liebsten wäre sie ihm nachgerannt, der Jugend hinterher. Sie, Ximena, die Sexbombe, lief jungen Männern hinterher, die sie nicht beachteten. Wie erbärmlich!

3

Lillys Lüge

Das neue Bettlaken fühlte sich seidig und luxuriös an. Lilly überlegte, eines derselben Marke für ihre Mutter zu kaufen.

»Ist es gut so?«, fragte Stefan.

Er lag stöhnend und nur in Socken auf ihr und drückte sanft sein Gesicht gegen ihre rechte Wange.

»Ja, mach weiter.« Jetzt stöhnte auch Lilly. Sie glaubte, dass es Stefan so wollte und hoffte, dass er dann schneller fertig würde.

»Soll ich dich unten küssen?«

»Ich komme gleich!«

Lilly war müde und wollte schlafen. Routiniert täuschte sie einen Orgasmus vor, und wenige Sekunden später kam Stefan. Es war vorbei.

»Ich liebe dich, Baby. Ich werde dich immer lieben«, sagte er glückselig, nachdem er wieder zu Atem gekommen war. »Unser Sex ist der Beweis, wie gut unsere Beziehung nach all den Jahren noch funktioniert. Was glaubst du, wie neidisch alle meine Freunde wären, wenn sie wüssten, dass ich dich noch immer zum Höhepunkt bringe!«

Zärtlich küsste er sie auf den Mund, rollte von ihr herunter, drehte sich zur Seite und schlief kurz darauf ein.

Lillys blonde Locken waren ihr ins Gesicht gefallen und kitzelten ihre Stupsnase. Sie zog ihr weißes, knöchellanges Nachthemd nach unten und blickte auf die kleine Marienstatue, die gegenüber auf dem hölzernen Schreibtisch stand. Lilly war erleichtert. Heute hatte es keine zehn Minuten gedauert.

Stefan war ihre erste und einzige große Liebe. Sie hatte nichts dagegen, mit ihm zu schlafen. Sie tat es gerne, irgendwie, aber dann auch wieder nicht. Lilly mochte seine Küsse, meistens zumindest. Sie erregten sie, für kurze Zeit, aber dann nicht mehr, was vielleicht gar nicht wichtig war. Sex gehörte zu einer christlichen Ehe nun einmal dazu. Schon der Apostel Paulus schrieb in seinem Brief an die Korinther: »Entzieht euch einander nicht!« Wobei wahrscheinlich niemand so genau wusste, wie er das tatsächlich gemeint hatte.

Normalerweise dämmerte sie, nachdem sie den obligatorischen Akt vollzogen hatten, langsam in den Schlaf. Doch heute war etwas anders. Stefans Worte gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Wie konnte er denken, dass der Sex für Lilly gut war? Sie gab sich nicht mal sonderlich Mühe, einen Orgasmus vorzutäuschen. Fast wäre sie beleidigt gewesen, dass Stefan sie so schlecht kannte. Würde er etwas merken, müsste sie allerdings wohl weitere Versuche über sich ergehen lassen, seine Manneskraft unter Beweis zu stellen. Und darauf konnte sie verzichten.

Aber stimmte, was er sagte? Hatten Menschen in glücklichen Beziehungen guten Sex? War das eine untrennbar mit dem anderen verbunden? Denn wenn dem so war, dann hatte Lilly allen Grund für schlaflose Nächte ...

Als Lilly ein Mädchen gewesen war, hörte sie ihre Mutter immer wieder abwertend über Sex reden. Ihr Vater sei zu begierig, zu wild, zu lüstern. Lillys Mutter hatte ihm öfter Schokolade gegeben, weil damals die Frauen einander erzählten, sie würde Männer ruhiger machen. Was auch stimmte, wie Lilly inzwischen gelesen hatte. Schokolade senkt den Testosteronspiegel. Allerdings nur, wenn sie in größeren Mengen konsumiert wird. In kleineren Mengen steigert sie die Lust, denn dann setzt der darin enthaltene Kakao das körpereigene Hormon Phenylethylamin frei, das eine anregende Wirkung auf das Zentralnervensystem hat und für das Glücksempfinden mitverantwortlich ist.

Wie viel Gramm Schokolade Stefan wohl verdrücken könnte?

Bei Lillys Vater hatte die viele Schokolade nicht geholfen, aber eine brave, gottesfürchtige Ehefrau müsse ihrem Mann ohnehin mindestens ein- oder zweimal im Monat zur Verfügung stehen, hatte ihre Mutter stets gemeint. Schon seit geraumer Zeit fragte sich Lilly, ob sie das wollte. Zur Verfügung stehen, wenn Stefan sein eheliches Recht einforderte? Wollte sie wirklich für immer so leben? Bis dass der Tod uns scheidet?

Lilly hörte die Straßenbahn draußen auf der Nußdorfer Straße. Es musste eine alte Garnitur sein. Sie quietschte und knarrte wie ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert. Höchste Zeit für schallisolierte Fenster.

Lilly hatte es nie mit Schokolade versucht. Auch nicht mit anderem, was die männliche Libido senkt, wie Popcorn aus der Mikrowelle, Käse oder Softdrinks. Oder so wie die Japanerinnen, die ihren übereifrigen Männern regelmäßig Tofu-Gerichte und den Faulenzern Natto, ein Gericht aus fermentierten Bohnen, servierten. Das wäre ihr dann doch wie Verrat an ihrer Liebe und ihren ehelichen Pflichten vorgekommen.

Stefan jedenfalls schien der Sex mit Lilly zu erfüllen. Warum ging es ihr nur so anders? Warum bekam sie keine Orgasmen? Lag es an ihm? Oder an ihr? Gott würfelte nicht. Das sagte schon Albert Einstein, der große Physiker. Es gab keinen Zufall, alles hatte einen tieferen Sinn, vielleicht auch, dass sie im Sex mit Stefan keine Erfüllung fand.

Noah und Laura klopften an die Tür. »Mama, dürfen wir zu euch? Wir hatten einen Alptraum!«

Vermutlich hatte der Herbstwind die beiden aus dem Tiefschlaf gerissen. Lilly öffnete ihnen verschlafen. Schnurstracks liefen sie zum Bett und hüpften hinein. Wenn Lilly und Stefan Sex hatten, sperrte sie vorsorglich immer ab. Schließlich waren die Zwillinge erst sieben. Lilly sah die beiden leicht genervt an. Im Bett war es eng geworden. Aber auch das ertrug sie schweigend. Leiden war Teil des Lebens, Jesus hatte es vorgezeigt. Im Schlaf hatte Lilly ständig Noahs Arme im Gesicht. Für die Familie leben, war das ihr einziger Lebensinhalt?

Am Morgen war Stefan schon weg, als sie fast zeitgleich mit den Kindern aufwachte. Ein frühes Meeting in der Bank. Lilly zog sich ihr hochgeschlossenes langes Kleid an. Es war grau mit schwarzen Ärmeln und einem schwarzen Kragen. Ihre Freundin Burglind verglich ihren Stil mit den Amish People in den USA, was Lilly nicht gern hörte. Schließlich waren die Amischen eine täuferisch-protestantische Glaubensgemeinschaft, die Fortschritt und Weltoffenheit ablehnte. Lilly hingegen stammte aus einer adeligen Familie, die christliche Werte pflegte. Die Altenburgs waren direkte Nachkommen des Erzherzogs Clemens Salvator von Österreich-Toskana und damit des österreichischen Kaiserhauses Habsburg-Lothringen, aber fast niemand aus ihrer Familie prahlte damit. Sie lebten bescheiden und unauffällig, gottergeben, daraus schöpften sie ihre Kraft. Auch ihren Vornamen mochte Lilly gern. Der Name Elisabeth stammte aus dem Hebräischen und bedeutete »mein Gott ist Fülle«. Eine berühmte Trägerin war die Mutter von Johannes dem Täufer. An die Kurzform Lilly, wie sie vor allem ihre Freundinnen nannten, hatte sie sich längst gewöhnt.

Nachdenklich machte sie ihren Kindern Frühstück. Cornflakes mit Milch und Früchten. Für beide exakt gleich große Portionen, um Streit zu vermeiden. Danach brachen sie zur Schule auf.

»Mama, ist alles okay?«, fragte Laura im Auto.

War alles okay?

Seit mehr als zwanzig Jahren schob sie das Problem beiseite. Welches Leben war schon makellos? Stefan war ein guter Mann, und sie führten eine solide Beziehung. Nur die sexuelle Erfüllung fehlte eben, darüber konnte eine Frau doch hinwegsehen. Das hatte sich Lilly jedenfalls immer eingeredet. Aber heute war es anders. Die Fassade schien zu bröckeln. Auf einmal war ihr das Leben, so wie es bisher war, nicht mehr genug.

Vielleicht lag es am Herbstwind, der seit Tagen über der Stadt sein Spiel mit den Wolken trieb. Nachdenklich fuhr Lilly in ihrem Volvo XC60 die Währinger Straße hinauf. Bis zur Volksschule in der Krottenbachstraße waren es nur zehn Minuten. Lilly hoffte, dass der Gürtel ausnahmsweise halbwegs frei sein würde. »Ja, klar, alles okay. Warum?«

»Du sagst nichts.«

»Entschuldige, mein Schatz, ich bin nur müde.«

Aber das war eine Lüge. Auf einmal erschien es ihr unerträglich, weiterhin brav ihre Orgasmen vorzutäuschen. Früher, als sie und Stefan jünger waren, konnte sie ganz gut damit leben. Doch nun fühlte sie, dass mit ihrer Jugend kostbare Zeit verlorengegangen war. Lilly seufzte. Wenn es doch nur einen Weg gäbe, sich diese Zeit zurückzuholen.

4

Der Freundinnen-Pakt

Weiches Ei, ein Korb mit duftenden Semmeln und zarten Croissants, Nougatcreme und Marmelade, beides hausgemacht. Dazu ein bisschen exquisites Drumherum. Ich, Oma Greta, liebte es, jeden Montag mit meinen drei besten Freundinnen im Motto am Fluss, einem schicken Café am Donaukanal, unserem Stammlokal, zu frühstücken. Heute entschied ich mich unter den Frühstücksvarianten für den »Heimathafen«, vor allem wegen des weichen, handgemachten Gebäcks. Während ich das Frühstück genoss, ging bei meinen Freundinnen die Bombe hoch.

»Was, du hattest noch nie einen Orgasmus in deiner Ehe?«, kreischte Burglind und drehte sich grinsend zu mir. »Kannst du dir das vorstellen, Greta? Eine Beziehung ohne Orgasmus? Wie armselig!« Lilly hatte eindeutig einen Fehler gemacht. Spontan hatte sie ihr Herz geöffnet, was sonst gar nicht ihre Art war. Nun fiel Burglind in ihrer lauten, rustikalen Art über sie her, wie der Mann am Nebentisch über seine Eier mit Speck.

»Oh mein Gott, noch nie?«, fuhr sie gnadenlos fort. »Wie kann das sein? Wie viele Jahre bist du jetzt mit Stefan zusammen?« Burglind strahlte. Auf ihren Schneidezähnen leuchteten knallrote Lippenstiftspuren. Burglind bekam es einfach nicht besser hin. Perfektionismus war nicht ihr Problem, dafür hatte sie von uns allen vermutlich am meisten Spaß. Und am meisten Sex.

Der Typ am Nebentisch, ein zierlicher Mann mit schmalem Gesicht, hob den Blick von seinem Tablet und sah staunend zu uns herüber. Ich lächelte verlegen. Burglind war ein Trampeltier. Sie hatte wahrscheinlich gar nicht bemerkt, wie rot die verklemmte Lilly geworden war.

Burglind war an Montagen fast immer schlecht gelaunt. Hätte sie nicht mit ihrem Chef gevögelt, hätte sie womöglich schon längst den Job gewechselt. Sie hatte noch nie gerne gearbeitet, zu Wochenbeginn schon gar nicht, und schien ihren Frust nun lautstark an Lilly auszulassen. Und am Kellner. »Bringen Sie mir noch ein Glas Sekt«, schnaubte sie ihn an. »Die Semmeln sind viel zu trocken!«

Burglind war zu Kellnern genauso unfreundlich wie zu Taxifahrern und Kassierern. Sie konnte es nicht ertragen, wenn sich nicht alles um sie drehte.

»Burglind, um Himmels Willen, sei nicht so hart zu Lilly«, kam ich meiner Freundin zu Hilfe. »Sie schüttet uns ihr Herz aus, und du trampelst auf ihr herum.«

Burglind rollte ihre rundlichen Schultern wie ein Boxer, der in den Ring steigt. »Was ist mit dir, Greta? Zu seinen besten Freundinnen darf man ja wohl noch ehrlich sein, oder etwa nicht?«

Ich zog meinen weißen Strickpullover aus, als wollte ich mich ebenfalls für den Kampf bereitmachen. Darunter trug ich ein pinkes Top, passend zu meinen knalligen Fingernägeln und den pinken Strumpfhosen. Noch ehe ich wieder zu Wort kam, schaltete sich Ximena ein. »Nicht alle Frauen kommen wie du immer und überall, Burglind«, sagte sie ruhig. Ihre türkisfarbenen Augen blitzten. Ich merkte, wie Lilly erleichtert aufatmete, froh, nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen.

Der Kellner brachte Burglind das zweite Glas Sekt. Er hatte kluge, dunkle Augen und ein breites, freundliches Lächeln. Ein Perser oder Syrer wahrscheinlich, der sich vorerst von Burglinds schroffer Art nicht provozieren ließ. Die kam jetzt erst so richtig in Fahrt. »Mein Gott, da habe ich wohl einen Nerv getroffen. Kommst du etwa auch nicht, Ximena? Ich dachte, du liebst Sex?«

Ich streifte den Typ am Nebentisch mit einem Blick. Hörte er uns noch immer zu? Er musste uns für verrückt halten. »Ein bisschen leiser, bitte«, ermahnte ich meine Freundinnen. Ximena rückte ihre Cartier-Brille zurecht und gleich danach ihr Leoparden-Halstuch. »Außer dir kommt keine Frau immer«, wiederholte sie ihre Botschaft und sah Burglind dabei herausfordernd an. »Dir könnte es auch eine Mücke besorgen, schnell und effizient. Denk nur an Brač.«

Ich wusste, was Ximena meinte. Bei einem gemeinsamen Urlaub auf der kroatischen Insel Brač hatte ich Burglind auf einem Nacktbadestrand mit Olivenöl eingecremt. Ihre Beine hatten vor Erregung gezittert.

»Lilly ist nicht die Einzige, die ihr Leben hinterfragt«, sagte Ximena nachdenklich. »Ich vermisse unsere aufregenden Jahre. Die viele Arbeit, der Stress, ich ertrage all das nicht mehr. Manchmal wünsche ich mir, es wäre wieder wie früher.« Sie machte eine kleine Pause. »Ich würde mich gerne wieder jung und begehrenswert fühlen. Ich möchte frei sein, Spaß haben, lange Partynächte und Abenteuer erleben und ohne Verpflichtungen sein. Ich frage mich immer öfter, ob es sinnvoll ist, so viel zu arbeiten. Soll so mein Leben aussehen? Bis zur Pension? Und dann?«

»Mein Gott, es läuft doch alles gut bei dir, Ximena«, sagte Burglind und zupfte an ihrem knielangen, schwarzen Lederrock. »Du verdienst viel Geld, dein Typ ist okay und dein Job auch. Sei dankbar dafür.«

Vielleicht hatte Burglind recht, vielleicht würden lange Partynächte und Abenteuer alles nur schlimmer machen. Vielleicht sind wir Menschen verflucht. Vielleicht wollen wir immer das haben, was wir gerade nicht haben, und je älter wir werden, umso schlimmer wird dieses sinnlose Streben. Ich blickte mich verunsichert um. Im Lokal war alles wie zuvor, das Geklapper des Geschirrs, der Duft nach heißem Kaffee, frischen Semmeln, Toasts und Eiern mit Speck, doch an unserem Tisch hatte sich die Stimmung verändert.

»Machen wir uns nichts vor«, sagte Lilly mit ernster Miene. »Richtig glücklich sind wir alle nicht. Unsere Jugend ist vorbei. Unsere Haut wird immer schlaffer. Die aufregende Zeit kommt nicht wieder. Das sollten wir einsehen. Und offenbar leben wir nicht das Leben, das wir leben wollen. Sonst hätten wir auch kein Problem mit dem Altern. Mädels, wir stecken alle tief in der Midlife-Crisis.«

So kannte ich Lilly gar nicht. Ich hatte sie noch nie unangenehme Dinge aussprechen hören, derart hässliche Wahrheiten schon gar nicht. Sorgfältig richtete sie den weißen Kragen ihrer Bluse zurecht und sah mich verzweifelt an.

Burglind verdrehte die Augen. Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Coccinelle-Tasche und wischte sich damit routiniert den Lippenstift ab. Vermutlich hatte sie bemerkt, dass wir immer wieder auf ihre Zähne gestarrt hatten.

»Wer von euch fängt als Erste zu heulen an?«, fragte sie genervt. »Von wegen aus und vorbei! Ich hatte vergangene Woche Sex mit einem gutaussehenden Fremden, in einer öffentlichen Sauna. Klar, wir führen heute ein anderes Leben, aber ich habe alles, was ich möchte, einen guten Job, wunderbare Kinder, und gesund bin ich auch. Warum sollte ich herumjammern?«

Sex in einer öffentlichen Sauna? Hatte sie das gerade eben wirklich gesagt? Mit einem Fremden? Ich dachte an Geschlechtskrankheiten und fragte mich, ob Burglind bei so einer schnellen Nummer Kondome parat hatte. Sex mit einem Fremden in einer Sauna zu haben, egal wie gut er aussah, war jedenfalls nicht, wonach ich mich sehnte. Oder etwa doch? Ich sah verunsichert in die Runde. Ximenas Blick war wie eingefroren. Lilly rümpfte die Nase. Burglinds Sauna-Abenteuer hatte Wirkung gezeigt.

»Das mit den Frauen ab vierzig ist nur das Geschwätz von Frustrierten«, fuhr Burglind fort. »Wir können immer aufregende Jahre haben, egal in welchem Alter. Es liegt nur an uns!«

»Aus dir spricht der Sekt, meine Liebe.« Ximena zeigte auf Burglinds zweites Glas, das fast leer war.

»Ein aufregendes Leben ist immer eine Entscheidung, Schätzchen«, sagte Burglind belehrend, während sie den letzten Schluck nahm. »Deshalb schließen wir jetzt einen Pakt. Wir genießen von jetzt an unsere besten Jahre, und zwar jede auf ihre Weise. Lilly holt sich einen Orgasmus, und zwar wie, wo und mit wem auch immer! Ximena, du angelst dir einen Lover und fühlst dich mit ihm wieder jung und begehrenswert. Das bedeutet natürlich, dass du weniger arbeiten wirst. Tut dir sicher gut. Und auch Greta und ich stürzen uns voll ins Leben und drehen so die Uhren zurück. Was haltet ihr davon?«

Burglind hob die Hand zum Abklatschen, aber keine von uns schlug ein. Auch ich nicht. Was sollte das? Lilly spielte mit dem kleinen Kreuzanhänger an ihrer Goldkette. Das tat sie immer, wenn sie nervös war. In Lillys Welt gab es nichts Schlimmeres als sexuelle Eskapaden und Ehebruch.

Ich spürte eine unausgesprochene Trauer inmitten unserer sonst so fröhlichen Runde. Da war dieses Problem mit dem Älterwerden. Es lag wie ein düsterer, unausweichlicher Schatten über uns allen, egal, wie sehr wir unsere Freundschaft, unsere Begegnungen und das Leben feierten. Die Kunst, glücklich zu altern, beherrschte keine von uns, ganz gleich, wie sehr wir versuchten, nach außen hin sorglos und zufrieden zu wirken. Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen, pflegte meine Mutter stets zu sagen.

»Mein Gott, was seid ihr bloß für trübe Tassen«, schimpfte Burglind jetzt. »Lasst es mich noch einmal anders formulieren. Wir sind vier Frauen im besten Alter, und wir kriegen unser Leben ab jetzt so hin, dass uns alle anderen darum beneiden. Wenn wir so denken und es auch wirklich fühlen, wird es Wirklichkeit.«

Ximena lächelte. Sie nahm Burglind offenbar genauso wenig ernst wie ich. Auch Lilly wirkte noch immer unschlüssig. Immerhin war es schön, mit meinen Sorgen nicht allein zu sein.

»Die Welt könnte uns gehören«, führte Burglind ihre Motivationsrede unnachgiebig fort. »Also holen wir sie uns! Wer sollte das schaffen, wenn nicht wir?«

Sie unternahm einen neuen Abklatsch-Versuch und stellte dabei den Ellbogen auf den Tisch. Burglind wackelte mit der offenen Hand, als spiele sie mit Kindern Armdrücken. Auch das noch. Burglind würde nicht aufgeben, bevor wir nicht alle einschlugen.

Ximena musste lachen. Sie sah heute besonders gut aus, ihre violette Bluse betonte ihre außergewöhnlichen Katzenaugen. »Also wirklich, Burglind, manchmal hätte ich gerne deine Power.«

Im Stillen musste ich Ximena beipflichten. Burglind war zwar nicht gerade ein Workaholic, aber privat konnte sie inspirierend und motivierend sein. Dabei hatte sie es teils schwer gehabt in ihrem Leben, schon wegen ihres eigenartigen Namens. Er war eine Idee ihrer Mutter gewesen. Die führte ein unstetes Leben, war in Las Vegas Stripperin gewesen und hatte sich für ihre Töchter ein bürgerliches Leben gewünscht. Bei der Wahl eines dazu passenden Namens hatte sie allerdings übertrieben. Burglinds Schwester, Charlotta, hatte es eine Spur besser erwischt. Burglind schien jedenfalls die Gabe zu haben, alles Missliche von sich abperlen zu lassen und immer weiter nach vorne zu stürmen, wo ihrer Meinung nach nur das Beste auf sie wartete.

»Was ist mit euch, Lilly und Greta?«, fragte sie, nachdem Ximena zögerlich eingeschlagen hatte. »Seid ihr dabei? Rocken wir das Leben? Zeigen wir der Welt, wie schön die besten Jahre einer Frau sind?«

»Meinst du das ernst?«, fragte Lilly leise.

Burglind nickte. »Komm schon, Lilly. Du hast es drauf.«

Nun schlug auch die fromme Lilly ein. Ich konnte es nicht fassen. Was sollte das werden? Wir waren doch keine Teenies. Fehlte nur noch, den Pakt mit Blut zu besiegeln.

»Wo ist eigentlich Nadine?«, fragte Burglind euphorisch, während sie darauf wartete, dass auch ich einschlug. »Sie kommt schon seit Wochen nicht mehr zum Jour fixe.« Nadine war die Fünfte in unserer Runde, wobei wir sie in letzter Zeit wenig gesehen hatten. »Sie ist immer noch erkältet«, sagte Ximena, die ihr am nächsten stand. »Nichts Schlimmes.«

Auf einmal hielt Burglind inne. »Hört ihr das?«, fragte sie.

Ich hörte es. Obwohl im Motto am Fluss sonst entspannende Hintergrundmusik lief, drang ein altes Chanson aus den Boxen. Wie für uns bestellt, war es Hildegard Knefs »Für mich soll’s rote Rosen regnen«.

Ich liebte das Lied. Knef hatte den Text als hochaggressiv bezeichnet, weil er von einer Frau handelte, die um jeden Preis ein wunderbares Leben wollte, egal, wie es den Menschen um sie herum dabei erging. Knef hatte recht, für uns sollte es rote Rosen regnen!

Ich sah mich um, der staunende Typ am Nachbartisch war gegangen, auf seinem Teller lag eine einsame Semmel. Vermutlich hatte er unser Gejammer nicht mehr ertragen.

»Letzte Chance, Greta«, sagte Burglind. »Jetzt oder nie!« Wieder wedelte sie mit der Hand. Ich lachte und konnte nicht anders, als ebenfalls einzuschlagen. Es war mir lächerlich vorgekommen, und ich hatte nur mitgemacht, um Burglind nicht zu enttäuschen. Aber in dem Moment, in dem sich unsere Handflächen berührten, passierte etwas mit mir. Ihre Energie erfasste mich. Auch die anderen schienen die Funken zu spüren, die zwischen uns sprühten. Wir waren seit Jahrzehnten auf besondere Weise verbunden, und wir spürten jetzt alle ganz deutlich diese Kraft. Sie würde uns aus unseren langweiligen Routinen und unserer Frustration reißen und in ein neues, besseres, aufregenderes Leben katapultieren. Zumindest wollte ich das glauben.

»Darauf stoßen wir an«, sagte Burglind gebieterisch. Sie hielt mittlerweile ihr drittes Glas Sekt in der Hand.

Kling, machte es, als unsere Gläser einander berührten. Kling. Kling. Kling. Wir hatten unseren Pakt besiegelt. Alles würde sich ändern. Ich spürte eine kraftvolle Erregung in meinem sexy, mittelalten Körper. Von wegen Oma!

5

Der Radfahrer

Draußen am stark befahrenen Franz-Josefs-Kai roch es nach Regen. Lilly mochte den Frühherbst. Es gefiel ihr, wenn die Tage kürzer, stürmischer und kälter wurden.

Vor zwei Monaten, im Hochsommer, war die Hotelkette, bei der sie als Personalmanagerin gearbeitet hatte, pleitegegangen, und sie war ihren gut bezahlten Job los gewesen. Sollte sie sich einen neuen suchen? Stefan verdiente gut. Wäre es nicht besser, ihr Leben umzukrempeln? In jeder Hinsicht? Auch privat? Wäre es nicht besser hinzusehen, statt in einer Lüge zu leben? War das nicht die Voraussetzung für den Pakt, den sie gerade mit ihren Freundinnen geschlossen hatte?

Sie hasste sich für die vielen Fragen, die sie sich immerzu stellte, denn sie hatte keine Antworten. Irgendwie war sie träge geworden. Früher war sie sportlich, voller Energie und eigenständig gewesen, doch jetzt war sie von Stefan abhängig, nicht nur finanziell. Stefan zu verlassen, war keine Option. Das wäre eine Sünde, für die es keine Vergebung gäbe. Außerdem liebte Lilly ihn, daran durfte sie nicht zweifeln.

Sie schnürte das Band ihres grauen Herbstmantels enger, allerdings nicht zu eng. Lilly betonte ihre eleganten Kurven nicht gerne. Ein Jammer, sagte Burglind immer, die Lillys zarten, wohlgeformten Körper bewunderte und insgeheim wohl gerne mit ihr getauscht hätte. Burglind hatte recht. Von wegen Midlife-Crisis und von wegen, es war zu spät für alles.

Lilly legte keinen Wert darauf, mit ihrer äußeren Erscheinung zu glänzen, ganz anders als Greta, aber sie wusste, dass sie gut aussah mit ihrem Puppengesicht und den hellblauen Augen. Klar, so straff wie vor zehn Jahren war ihre Haut nicht mehr, aber sie brauchte sich nicht zu verstecken. Manchmal verglichen Bekannte sie mit der berühmten Schauspielerin Nicole Kidman, mit dem Unterschied, dass an Lilly alles echt war. Allerdings war Kidman auch schon deutlich älter.

Lilly wusste, dass auch Ximena ein bisschen nachhalf. Mit Botox? Hyaluron? Lilly kannte sich da nicht aus, und Künstlichkeit passte nicht in ihr Weltbild, aber als sie gedankenversunken durch die Wiener Innenstadt spazierte, kokettierte sie dennoch kurz mit der Vorstellung. Da fielen ihr die Worte der bekannten Journalistin Susi Sonntag ein, die sie vergangenen Sommer bei einer alten Schulfreundin am Wörthersee kennengelernt hatte. Während Lilly zwischen ihrer Freundin und Susi auf einer Strandliege saß und die vielen reichen, sichtlich operierten Damen beobachtete, hatte die Journalistin trocken gemeint, dass Frauen, die an ihren Gesichtern herumpfuschten, davon nicht jünger aussähen, nur anders. Und Lilly wollte nicht anders aussehen. Die Vorstellung machte ihr Angst.

In der Flaniermeile Kärntner Straße fiel Lilly eine junge Frau auf. Rote Haare. Grüne Augen. Etwa Ende zwanzig. Sie sah fantastisch aus. So begehrenswert war auch Lilly in diesem Alter gewesen. Wo war die Zeit nur hingekommen? Himmel! Bestimmt fragten sich das viele Frauen. Wie konnte sie sich zurückholen, was sie ausgemacht hatte? Dieses intensive Gefühl, sie selbst zu sein, jung und stark.

Als Mädchen wollte Lilly Nonne werden. Ihr Vorbild war Hildegard von Bingen, die im finsteren Mittelalter gelebt hatte und voller Güte und Liebe zu Gott, den Menschen und der Natur war. Wie sie hatte auch Lilly schon immer gern gebetet. Sie betete zu Gott, Jesus und der Mutter Maria. Manchmal auch zu den Engeln, vor allem zum Erzengel Michael, dem Verteidiger des Himmelreichs. Darin hatte sie stets Kraft gefunden, etwa als ihre Eltern wieder stritten und ihr Vater tagelang vom Erdboden verschluckt und vermutlich bei anderen Frauen war. Sein Trieb war zu stark, viel zu stark, schimpfte Lillys Mutter jedes Mal.

Als Teenagerin hatte Lilly private Gebetskreise für sich entdeckt. Dort sah sie, wie Menschen in tranceartige Zustände verfielen und in Zungen sprachen. Wer Zungenbeten beherrschte, musste Gott ganz nahe sein, dachte Lilly und wünschte sich, es auch zu können. Doch irgendwie wurde daraus nichts. Der Heilige Geist wollte nicht durch ihren Körper strömen, was nur an ihr liegen konnte. Bestimmt war sie zu verklemmt und zu unbedeutend. Eine ganze Weile hatte sie noch davon geträumt, es eines Tages doch zu schaffen. Sie würde inmitten einer riesigen Gebetsgruppe stehen und in einer merkwürdigen Sprache beten, die wie aus einer anderen Welt klang. Doch als Lilly Mutter wurde, ging es in ihrem Leben plötzlich um andere Dinge. Alles drehte sich um ihre Familie, vor allem um die Kinder.