Wir sind das Urteil - Nina Rudt - E-Book

Wir sind das Urteil E-Book

Nina Rudt

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Beschreibung

Ein Angeklagter. Millionen Richter. Und nur ein Klick, um über das Leben eines Menschen zu urteilen. Ein alternatives Deutschland in der heutigen Zeit: Das Rechtssystem wurde in Teilen digitalisiert, die Todesstrafe wieder eingeführt. Die App JUDGE ermöglicht es in ausgewählten Fällen, über das Schicksal eines Menschen zu entscheiden. Freispruch, Haft oder Tod lauten die Wahlmöglichkeiten. Genau wie ihre Freunde schätzt die Schülerin Pinar die Vorteile von JUDGE. Jede Stimme zählt. Doch als Pinars kleiner Bruder eines schwerwiegenden Verbrechens beschuldigt und vor das Bürgergericht gestellt wird, eskaliert die Situation und Pinar sieht sich mit der Frage konfrontiert: Wie gefährlich ist JUDGE wirklich?

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Seitenzahl: 399

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© privat

Nina Rudt, 1996 in Göttingen geboren, lebt und arbeitet derzeit in Hamburg. Ob als Autorin oder Leserin – Geschichten sind ihre große Leidenschaft. Sie liebt es, in fremde Welten abzutauchen und die Ecken und Kanten der Figuren zu entdecken. »Wir sind das Urteil« ist ihr zweiter Roman.

Mehr zu Nina Rudt gibt es auf Instagram unter: ninarudt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Copyright © 2023 bei Buntstein Verlag, ein Imprint des Bookspot Verlags

1. Auflage

Lektorat: Jara Dressler, Johanna Gerhard

Korrektorat: Yvonne Schmotz

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Ilaria Doro

Titelmotiv: © Verwendung von freien

Vektorgrafiken von Vecteezy.com

ISBN 978-3-95669-167-6

www.bookspot.de

 

 

Für meinen Vater

Prolog

Freispruch. Haft. Tod. Ich starrte auf die drei Worte. Meine Hand zitterte, während der Countdown über den drei Auswahlmöglichkeiten unaufhaltsam voranschritt. Deutschland hatte noch fünf Minuten, um eine Entscheidung zu treffen, um über das Leben eines Menschen zu urteilen.

Egal, was die Zukunft brachte, dieses Ergebnis würde vieles verändern. Es war wie ein Brandmal, das seinen Besitzer bis in alle Ewigkeit begleiten würde.

Mit klopfendem Herzen scrollte ich durch die App, las noch einmal die Fakten. Tathergang, Beweismaterial, Zeugenaussagen – es war alles penibel sortiert.

Noch drei Minuten.

Eigentlich wusste ich, dass diese Informationen nichts änderten. Die letzten Wochen hatten mehr als deutlich gezeigt, was passiert, wenn Hass und Feindseligkeit die Kontrolle übernehmen.

Noch eine Minute.

In meinen Ohren setzte ein leises Piepen ein. Ich streckte die Hand aus, suchte verzweifelt nach Halt.

Noch 30 Sekunden.

Der Countdown erschien als riesiges Ziffernblatt auf meinem Handydisplay. Wie würde Deutschland entscheiden?

Noch zehn Sekunden.

Ich atmete tief durch und schloss für einen Moment die Augen, das laute Pochen meines Herzens in den Ohren. Dann sah ich nach unten, um das Urteil über das Leben meines Bruders zu lesen.

Kapitel Eins

Meine beste Freundin deutete anklagend mit ihrer Gabel auf mich. »Du hast versprochen, dass wir zusammen vorglühen.«

»Was meinst du? Wir haben kaum darüber gesprochen«, widersprach ich ihr und lehnte mich vorsichtshalber etwas im Stuhl zurück, den Blick auf Laras Gabel gerichtet. Natürlich drohte sie mir nur im Spaß, aber ich kannte meine Freundin – sie war der ungeschickteste Mensch der Welt und ich hing an meinen Augen.

»Gib es doch einfach zu: Du magst ihn viel lieber als mich!« Schmollend stach sie eine Möhre auf, aber ihre Augen funkelten belustigt und meine Irritation schwand. Lara zog mich nur auf.

»Auf keinen Fall.« Grinsend schob ich mir die Reste meines Mittagessens in den Mund. »Ihr seid mindestens gleichauf.«

Lara lachte und obwohl ich wusste, dass sie mich nur necken wollte, schlich sich plötzlich ein Anflug von Zweifel in meine Gedanken. Ich betrachtete sie nachdenklich. Wir hatten kaum über unsere Pläne für die Party gesprochen, aber ich ahnte, woher ihre Vorstellung kam: Es war das, was wir immer taten, bevor wir feiern gingen. Und dieses Mal war das Ziel kein x-beliebiger Club, sondern das Event des Jahres: Charlotte Siegmeiers App-Launch-Party.

Seit ihrem 13. Geburtstag erlaubten die Siegmeiers ihrer Tochter, zum Jahrestag des App-Launches die exklusivste Party der Stadt zu schmeißen – bisher mit exquisiten Süßigkeiten und übertriebener Dekoration, dieses Jahr offenbar mit Catering und Alkohol.

Seit Wochen machte Charlotte mit ihren beliebten Accounts auf Instagram und TikTok Werbung für das bevorstehende Event und hatte eigens für die Party ein Highlight in ihrem Instagram-Profil erstellt – sogar mit passendem Titelblatt, gestaltet in den Farben des App-Logos: Das Datum der Party, der 15. September 2023, prangte in goldfarbenen Lettern auf einem weißen Hintergrund.

Die Party würde ein riesiges Spektakel werden, denn die Siegmeiers konnten sich den Aufwand leisten. Charlottes Vater war Teilhaber der Electronic-Design-Company, dem Unternehmen, das vor 16 Jahren die App JUDGE für unsere Regierung konstruiert hatte. Der Mann war stinkreich. Die Familie wohnte in einem riesigen Herrenhaus am Stadtrand, beide Kinder besaßen eine eigene Etage mit zwei Bädern, vom hauseigenen Pool ganz zu schweigen. Das Haus versprach Luxus pur und alle Welt wusste, dass nichts von den Gerüchten über die dekadenten Spielereien der Siegmeiers erfunden war, denn Charlotte hatte die teuren Gemälde und eleganten Möbelstücke bei einer Room Tour auf ihrem Instagram-Kanal gezeigt.

Es gab eine offizielle Gästeliste für die Party und jeder, der seinen Namen dort finden konnte, betonte unentwegt, wie sehr er sich auf den Abend freute. Eine Einladung galt als Privileg und schwer zu ergattern.

Auf uns wartete also nicht nur irgendeine Feier, sondern das Party-Highlight des Jahres. Etwas Besonderes. Und Charlottes älterer Bruder Jonathan würde natürlich auch dort sein. Was wiederum der Grund war, warum ich nicht mit Lara und meinen Freunden vorglühen, sondern früher bei den Siegmeiers erscheinen wollte. Jonathan war mein Freund.

Ich seufzte leise. Na gut, Fast-Freund.

»Du bist wie ein offenes Buch, Pi.« Mit einem amüsierten Gesichtsausdruck ließ unser Freund Paul sich neben Lara auf die Bank fallen. Er ging in unseren Geschichtskurs und war genau wie ich Mitglied der Theater-AG. »Ich habe euer Gespräch gehört und es ist nicht schwer zu erraten, an wen du gerade denkst. Warum macht ihr es nicht endlich offiziell?«

Seitdem Jonathan mich nach unserer jährlichen Theateraufführung angesprochen hatte, gingen wir regelmäßig aus. Er hatte das Thema Beziehung allerdings noch nicht erwähnt und ich traute mich nicht, ihn danach zu fragen. Ein aufgeregtes Flattern zog durch meine Mitte, während ich an ihn dachte. Er war einer der nettesten und gleichzeitig intelligentesten Menschen, die ich je getroffen hatte. Jonathan konnte mich in einem Moment zum Lachen bringen und in der nächsten Sekunde fuchsteufelswild machen, wenn er als Sturkopf, der er nun mal war, nicht auf meine Argumente hören wollte. Ich liebte unsere Diskussionen über Bücher und dieses Funkeln in seinen Augen, wenn er über ein Thema sprach, das ihn interessierte.

»Kommt vielleicht noch«, murmelte ich und überlegte, wie ich das Thema wechseln konnte. »Kommst du auch zu Charlottes Party? Wir könnten uns mittags treffen. Danach wollte ich zu Jonathan gehen«, fügte ich mit Blick auf meine beste Freundin hinzu. Auch wenn sie mich nur hatte necken wollen, schmerzte mich die Vorstellung, dass sie sich ausgeschlossen fühlen könnte. Lara und ich waren seit dem Kindergarten befreundet, sie gehörte für mich quasi zur Familie.

Paul runzelte so stark die Stirn, dass sich seine dunklen Brauen fast berührten. »Ich bin mir ehrlich gesagt noch nicht sicher.« Er senkte die Stimme. »Du weißt, was ich von Charlotte halte.«

Das tat ich nur allzu gut – und ich teilte seine Meinung. Im Gegensatz zu ihrem Bruder war Charlotte kein besonders netter Mensch. Sie verstand es, nach außen das Bild eines hübschen Engels zu verkörpern, der seine zahlreichen Follower auf mehreren Social-Media-Plattformen mit Tutorials, Hauls und Q&As unterhielt. Im echten Leben gehörten jedoch ständige Gemeinheiten zum Alltag. Wenn ich nur an das Theater-Debakel im letzten Jahr dachte, wurde ich sofort wieder wütend.

Jedes Jahr probten wir für die große Aufführung am Ende des Schuljahres, rissen uns bei der Erstellung des Bühnenbildes die Beine aus und schmückten die Schule einige Tage im Voraus, um alle in die richtige Stimmung zu versetzen. Es war ein riesiger Aufwand und Charlotte Siegmeier hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als sich mit ihren gehässigen Kommentaren über uns lustig zu machen – auf so subtile Art und Weise, dass nie ein Name fiel, aber jeder genau wusste, wer gemeint war.

Clara, ein wirklich liebes, aber etwas breiter gebautes Mädchen aus dem Jahrgang unter uns, war letztes Jahr auf der Bühne gestolpert. Am nächsten Tag postete Charlotte auf ihrem TikTok-Kanal ein Video von einem dicken Kind, das bei einer Schulaufführung stürzte. Das Video ging viral und Clara kündigte mit verweinten Augen ihren AG-Austritt an. Auch Paul hatte einiges an gut getarntem Spott abbekommen. Umso überraschender war es, dass er eine Einladung zur Party erhalten hatte. Vielleicht fühlte Charlotte sich wegen ihres Bruders verpflichtet, mich und damit auch meine Freunde einzuladen. Es war das erste Mal, dass wir auf der Gästeliste standen.

»Sie schmeißt zwar die Party, aber du musst dich ja nicht mit ihr unterhalten. Da werden noch andere Leute sein«, bemerkte ich.

»Und Mia und Tobi wollen auch gehen«, fügte Lara hinzu, um sich im nächsten Moment suchend umzusehen. Gedankenversunken zwirbelte sie eine ihrer braunen Korkenzieherlocken auf. »Wo sind die beiden überhaupt?«

Paul grinste. »Knutschen wahrscheinlich irgendwo rum.«

Mia und Tobi hatten vor einigen Monaten endlich gemerkt, dass sie mehr als nur Freundschaft miteinander verband. Es war das erste Mal, dass in unserer Fünfergruppe etwas lief, aber an unserer Freundschaft hatte sich zum Glück nichts geändert – bis auf die Tatsache, dass Lara, Paul und ich jetzt öfter allein in der Mensa aßen.

Bei dem Gedanken an das verliebte Pärchen glitt mein Blick wie von selbst in Richtung der weiter seitlich gelegenen Tische. Mein Herz raste verräterisch. Es war die Ecke, in der Jonathan meistens mit seinen Freunden aß. Als hätte er meinen Blick gespürt, hob er den Kopf und sah in meine Richtung. Er lächelte, strich sich ein paar blonde Haarsträhnen aus der Stirn und wackelte verschwörerisch mit den Augenbrauen. Ich musste lachen.

»Ich bin gleich wieder da«, sagte ich zu den anderen, stand auf und schob mich durch die Schülertrauben in Richtung von Jonathans Platz. Ich hatte noch gar nicht mit ihm darüber gesprochen, was der Plan für die Party war.

Lukas und Max, seine zwei besten Freunde, saßen ihm gegenüber. Max grinste, als er mich kommen sah. Jonathan und er kannten sich schon genauso lange wie Lara und ich, und obwohl er ganz schön frech werden konnte, mochte ich den hochgewachsenen Rotschopf gern.

»Hey, Pinar«, begrüßte mich Max mit einem schelmischen Lächeln und lehnte sich zurück. »Lass mich raten: Du willst Jo zu einem kurzen Gespräch entführen«, bemerkte er und setzte dabei zwei Anführungszeichen in die Luft.

»Fast richtig. Ich will mit ihm reden, aber eine Entführung hatte ich nicht im Sinn.« Ich setzte mich neben Jonathan, der gerade versuchte, sein Grinsen zu verstecken. Es misslang ihm.

»Es geht um Freitagabend«, erklärte ich.

»Das trifft sich gut.« Jonathan stupste mich von der Seite an. »Hast du Lust, vorher schon zu uns zu kommen? Wir könnten ein bisschen bei den Vorbereitungen helfen. Vorausgesetzt Charli lässt uns.« Seine Mundwinkel zuckten. »Sie wird zum richtigen Kontrollfreak, sobald die App-Launch-Party ansteht.« Er strich sich mit der Hand kurz über die schmale Narbe an seiner rechten Schläfe. Sie war das Überbleibsel eines Ski-Unfalls und diese Bewegung so typisch für ihn, dass ich lächeln musste. Jonathan mochte die Narbe nicht, aber ich fand, dass sie ihm stand. Sie verlieh ihm einen draufgängerischen Charakter und war der perfekte Gegenpart zu den hellblonden Haaren und blauen Augen, die offenbar das Markenzeichen der Siegmeiers waren. Bis auf seine Mutter, die mit ihrer zierlichen Figur und der hellbraunen Lockenpracht hervorstach, hatte die gesamte Familie dieselbe Haar- und Augenfarbe.

»Klingt gut. Lass uns wegen der Uhrzeit noch einmal schreiben.« Es klingelte und ich stand auf, warf aber noch einen kurzen Blick auf Jonathans Freunde. »Sehen wir uns dort?«

»Klar. Als ob wir uns das entgehen lassen würden. Die Eindrücke auf Charlis Insta-Kanal sehen echt krass aus – und dieses Jahr gibt’s sogar offiziell Alkohol.« Lukas klopfte Jonathan auf die Schulter, als wäre das sein Verdienst.

Charlotte war zwei Jahre jünger als wir und erst seit ein paar Monaten 16. Soweit ich wusste, war die letzte Launch-Party trotzdem nicht ganz jugendfrei geblieben.

Ich verabschiedete mich und eilte zu Lara und Paul zurück, die auf mich gewartet hatten. Gemeinsam schlossen wir uns dem Menschenstrom in Richtung der Schulflure an. Dort angekommen entzerrte sich die Masse, als sich die Schüler auf ihre Klassen verteilten. Während Lara und ich auf unseren Kursraum zusteuerten, verschwand Paul mit ein paar Mitgliedern der Theater-AG, die mir lächelnd winkten, im Nachbarraum. Kurz vor dem zweiten Klingeln, das den Beginn der Unterrichtsstunde ankündigte, setzten Lara und ich uns auf unsere Plätze. Mia und Tobi lungerten bereits hinter uns auf ihren Stühlen. Meine Freundin stach mit ihren dunklen Haaren und den Strähnchen in Regenbogenfarben meist aus der Masse hervor. Ich hatte beim Betreten des Klassenzimmers gesehen, dass sie und Tobi ihre Finger miteinander verschränkt hatten. Die beiden mutierten langsam zu einem verliebten, aber süßen Klischee.

Unser Politiklehrer Herr Wall war bereits da. Hinter ihm an der Tafel stand ein einziges Wort.

JUDGE.

»Morgen, Leute«, grüßte er, lehnte sich gegen seinen Schreibtisch und wartete, bis sich das allgemeine Gemurmel gelegt hatte. Als wir ihm leise genug waren, deutete er über seine Schulter. »Was meint ihr, warum das dort steht?«

»Sie wollen unser fachkundiges Urteil zu Ihrer neuen Brille hören?«

Gelächter. Herr Walls Mundwinkel zuckten. »Nicht ganz, Jonas. Aber wenn wir schon beim Thema sind: Was meint ihr?« Er rückte seine dunkle Hornbrille zurecht.

»Ziemlich cool«, befand Jonas.

»Gott sei Dank. Dann kann ich jetzt wieder beruhigt schlafen.«

Es dauerte einige Sekunden, bis sich die Heiterkeit gelegt hatte. Ich musste ebenfalls grinsen. Herr Wall war mein Lieblingslehrer. Er schaffte es, sogar einem Politikmuffel wie mir ein paar wesentliche Aspekte unserer Regierung nahezubringen. Außerdem war er immer für einen Scherz zu haben – bei anderen wäre Jonas für seine Antwort aus dem Klassenzimmer geflogen.

»Nein, ehrlich«, fuhr Herr Wall fort, »was könnt ihr mir zu JUDGE sagen?«

»Morgen ist der Jahrestag des App-Launches«, sagte ich.

»Richtig.« Er nickte. »Sehr gut.«

»Wenn der wüsste, dass wir alle das Datum nur wegen Charlottes Party so gut kennen«, flüsterte Lara und ich stimmte in ihr leises Lachen mit ein.

»JUDGE ist die modernste Form der Demokratie«, meldete Sara sich aus der hinteren Reihe zu Wort.

»Kannst du das noch ein bisschen genauer erklären?«, hakte Herr Wall nach.

Sie konnte. Genau genommen wurde ich das Gefühl nicht los, dass Sara auf diese Frage gewartet hatte.

»Es ist ein verbessertes System zur Verurteilung von Verbrechern. Eine Jury am Bundesgerichtshof wählt Fälle aus, die für die App freigegeben werden. Außerdem darf jeder wahlberechtigte Bürger einmal im Monat online einen Fall vorschlagen. Die Vorschläge werden in der App gesammelt und im Verlauf wird zufällig ein Fall für das Bürgergericht ausgewählt. Insgesamt werden also zwei Fälle pro Monat mit Hilfe von JUDGE verhandelt: Einer durch die Jury und einer aus den Vorschlägen der Bevölkerung. Am Ende eines Prozesses können alle Einwohner Deutschlands, die über 18 sind und eine deutsche Staatsbürgerschaft haben, abstimmen. Wir haben also nicht nur Einfluss auf die Urteile, sondern auch auf die Fälle, die ausgewählt werden.«

Ohne diese kleine digitale Anwendung wäre die Situation in Deutschland vor 16 Jahren vermutlich eskaliert. Die Bürger hatten, unzufrieden mit der politischen Situation, insbesondere mit der Flüchtlings- und Klimapolitik, eine Möglichkeit für ein größeres Mitspracherecht verlangt. Herr Wall hatte uns alte Aufnahmen von Massendemonstrationen gezeigt. Ich erinnerte mich noch genau an das flaue Gefühl in meiner Magengegend beim Anblick der Bilder. Zerstörte Häuser, Rauch in den Straßen, verletzte Menschen. Die zunächst noch friedlichen Demonstrationen waren zunehmend von Gewalt geprägt gewesen. In den folgenden Wahlen hatte sich das Machtverhältnis in Deutschland verschoben, neue Parteien mit anderen Ideen gewannen an Zulauf und führten mit Hilfe von Thomas Siegmeier und seinem Geschäftspartner der Electronic-Design-Company eine App ein, die es schaffte, die wütende Meute zu besänftigen. JUDGE wurde in Deutschlands Strafprozessordnung aufgenommen und ein neues System der Rechtsprechung war geschaffen.

Bis heute prägten uns die Bilder der vielen Menschen, die ihre Fäuste aus Protest gegen die Regierung erhoben hatten. Sie erinnerten an die Einheit und Macht des Volkes, die ausschlaggebend für die Farbwahl des JUDGE-Logos gewesen waren: Ein Kreis in majestätischem Gold umrahmte Justitia, die mit verbundenen Augen in einer Hand ein Schwert und in der anderen eine Waage trug. Der Hintergrund des Logos war weiß.

»Außerdem muss das DRS grünes Licht geben, damit man abstimmen darf«, ergänzte Mia Saras Ausführungen.

Herr Wall nickte. »Guter Einwand. Wieso ist das DRS so wichtig?«

»Weil es dafür sorgt, dass der Prozess wirklich fair ist«, nahm Sara das Wort wieder auf. »Ohne das DRS könnte ja eine Mutter über ihren Sohn abstimmen.«

DRS stand für Digitales Rechtssystem. Es war ein Cyberprogramm, das mit Hilfe komplizierter Algorithmen alle Menschen herausfilterte, die in einen Gerichtsfall verstrickt waren. So sorgte es dafür, dass alle Bürger, die mittels JUDGE ihr Urteil fällten, unbefangen wählten. Familienmitglieder wurden ausgesiebt.

»Außerdem muss man in der App einige Fragen zum Fall beantworten, damit sichergestellt ist, dass man nicht blind für etwas abstimmt.«

»Und nach welchen Kriterien werden die Fälle für JUDGE ausgewählt?« Herr Wall sah abwartend in die Runde.

»Über die Jury und über das Losverfahren«, wiederholte jemand aus der hinteren Reihe. »Bei beiden gilt die Regel, dass nur Taten ab einem erwarteten Strafmaß von mindestens 15 Jahren Haft im Falle einer Verurteilung ausgewählt werden. Fest steht, dass die Todesstrafe als Strafmaß in Betracht kommen muss, was ja indirekt auch etwas über die Schwere des Verbrechens aussagt.« Ein Zögern. »Beim Rest bin ich mir nicht sicher. Ich glaube, die Jury trifft sich einmal im Monat und jedes Mitglied trägt einen Vorschlag vor. Nach einer Beratungszeit entscheiden sie sich für einen Fall.«

»Die Vorschläge der Bürger werden alle auf Eignung für JUDGE überprüft, bevor sie an der monatlichen Fall-Auslosung teilnehmen«, ergänzte Sara.

»Und wie ist die App aufgebaut?«

Ich hob die Hand und Herr Wall nickte mir auffordernd zu. »Es gibt eine Rubrik zu den Fakten, in der alles nach Beweisen, Tathergang und so weiter sortiert aufgelistet ist. Die von den Bürger vorgeschlagenen Fälle stehen in einer separaten Liste.«

»Am Ende eines Prozesses kann man zwischen Freispruch, Haft und Tod wählen. Die Regierung gibt das Zeitfenster vor, in dem abgestimmt werden kann, damit niemand sein Urteil fällt, bevor alle Beweise zusammengetragen sind. Wenn Haft das Ergebnis ist, entscheidet ein Richter über das genaue Ausmaß der Strafe«, wusste Mia.

Es war der einzige Punkt an JUDGE, der mir immer wieder Kopfzerbrechen bereitete: Die Wiedereinführung der Todesstrafe, die damit einhergegangen war. Obwohl ich die Idee der App, unser Mitspracherecht, toll fand, hatten mir die bisherigen Todesurteile jedes Mal eine Gänsehaut verursacht. Sie wurden mittels Giftspritze vollzogen und der Gedanke, dass der Staat sich das Recht herausnahm, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen, gefiel mir nicht. JUDGE ohne die Todesstrafe wäre viel besser, aber es sah nicht so aus, als würde sich dahingehend etwas ändern. Immerhin war die Todesstrafe bisher nicht sonderlich häufig vorgekommen.

»Wenn keine absolute Mehrheit erlangt wird, erfolgt ein erneutes Aufeinandertreffen von den jeweiligen Anwälten der Parteien. Dann wird noch mal abgestimmt. Kommt es immer noch nicht zu einer Einigung, entscheidet der Richter«, fuhr Mia fort. Wie immer sprach sie mit bewundernswerter Gelassenheit.

Mit einem nachdenklichen Blick lehnte Herr Wall sich gegen seinen Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und wieso wurde dieses System erschaffen?«

Kurz war es still im Klassenzimmer, dann antwortete Sara verblüfft: »Es ist ziemlich fair, oder?«

»Ist es das?«

»Natürlich.« Sie klang irritiert.

Ein Gefühl, das ich nachvollziehen konnte. Schließlich waren wir eine Demokratie, da sollten die Menschen doch ein Mitspracherecht haben. Kurz vor der Erfindung von JUDGE hatte es einige Skandale über Bestechung einflussreicher Richter gegeben und die Unzufriedenheit in der Bevölkerung war weiter gestiegen. Heute konnten wir zumindest in einigen Fällen Einfluss nehmen.

»So kommen endlich gerechte Urteile zustande. Früher war es möglich, dass ein Betrüger zu mehr Jahren Haft verurteilt wurde als ein Vergewaltiger. Wussten Sie das?«

»Ja, davon habe ich schon mal gehört.«

Selbstverständlich hatte er das. Der Mann war ein wandelndes Lexikon, egal ob es um Geschichte oder Politik ging. Außerdem hatte er schon zu der Zeit vor JUDGE gelebt. Herr Wall kannte das alte System, hatte die Unzufriedenheit der Menschen und den Schrei nach Beteiligung in der Rechtsprechung persönlich mitverfolgen können.

»Sind hier alle Saras Meinung?«, fragte er.

Viele nickten, einige murmelten zustimmend. Ich verstand nicht, wieso er danach fragte. Es gab genug Lehrbücher über den Wandel, die Modernisierung unserer Judikative. JUDGE ermöglichte uns, etwas zu bewirken. Unsere Stimme zählte.

»Ich möchte, dass ihr euch bis nächste Woche einige Stichpunkte überlegt, die gegen JUDGE sprechen. Was sind die Nachteile der App? Was sagen die Kritiker?«

»Och nö.« Lara verzog das Gesicht. »Man könnte meinen, er hat etwas gegen JUDGE«, flüsterte sie in meine Richtung.

Ich zuckte mit den Schultern. Kritiker gab es immer und Herr Wall liebte Diskussionen. Es gab keinen Grund, wieso er die App nicht mögen sollte. Oder?

Kapitel Zwei

Ich hatte mich für einen feuerroten Lippenstift entschieden. Mir gefiel der starke Kontrast zu meinem schwarzen Haar, der den Blick auf mein Gesicht und weg von dem viel zu dünnen Körper lenkte.

»Du siehst gut aus.«

Durch den Spiegel sah ich meinen kleinen Bruder im Türrahmen lehnen. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und lächelte unschuldig. Ein Umstand, der mich sofort misstrauisch stimmte. Wir hatten uns nie schlecht verstanden, aber ich kannte Yasin. Dieser Blick verhieß nichts Gutes.

»Danke.« Ich drehte mich zu ihm um. »Was willst du?«

Yas trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Ich wollte fragen, ob ihr mich nachher mitnehmen könnt.«

»Wohin?«

Mein Bruder verdrehte die Augen. »Zu der Party natürlich.«

Für einen Moment war ich sprachlos. Dann kniff ich irritiert die Augen zusammen. »Das ist ein Scherz, oder? Du willst zu Charlotte Siegmeiers Party?«

Yasin zuckte mit den Schultern, als grenzte dieser Umstand nicht an ein Weltwunder. »Klar. Wieso nicht?«

Weil Charlotte Yasin niemals einladen und Yas niemals freiwillig zu ihrer Party gehen würde. Eher fror die Hölle zu. Mein Bruder und Charlotte gingen in dieselbe Klasse, lebten aber in unterschiedlichen Welten. Er belächelte die elitäre Blondine mit ihren Designerhandtaschen, dem Influencer-Kanal auf Instagram und TikTok und den YouTube-Videos, in denen sie von ihrem Leben erzählte. Yas verstand nicht, wie andere sich so sehr für das Privatleben eines einzelnen Menschen interessieren konnten. Shopping-Hauls, Schminktipps und Vlogs gehörten für ihn in ein anderes Universum. Mein Bruder ging lieber ins Fitnessstudio, steckte seinen Kopf in einen dieser Reiseromane, die er so mochte, oder kickte ein paar Bälle mit seinen Freunden auf dem Fußballplatz.

»Die Party wird bestimmt gut«, brummte er beleidigt, als ich nicht antwortete. »Du gehst doch auch hin.«

Das war ein Argument. »Du kannst trotzdem nicht mitkommen«, erklärte ich und fügte schnell hinzu: »Ich fahre früher hin und helfe ein bisschen bei den Vorbereitungen. Außerdem nehme ich den Bus, sonst kann ich nichts trinken.«

Yas kam grinsend einen Schritt näher. Obwohl er jünger war, überragte er mich um fast zwei Köpfe. »Fährst du wegen Jonathan früher?«

»Er hat mich gefragt, ob wir uns vorher sehen.« Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich schon viel zu spät dran war. »Bist du denn überhaupt schon fertig?« Ich betrachtete sein Outfit. Yas trug seine Lieblingsjeans und eines dieser Muskelshirts, die seinen Kleiderschrank füllten.

Meine Frage schien ihn allerdings ernsthaft zu verwirren. »Für was?«

»Die Party. Ziehst du dich nicht um?«

»Du kritisierst meinen Kleidungsstil? Autsch.« Er klang nicht im Geringsten verletzt. In seine Augen trat ein eigentümliches Funkeln, diese Mischung aus Belustigung und Selbstironie, die nur wenige richtig einordnen konnten. Mein kleiner Bruder war ziemlich clever, zeigte es aber viel zu selten. Yas gab nicht viel auf die Meinung anderer und manchmal wurde ich das Gefühl nicht los, dass er sich mit Absicht dumm stellte, um sein Gegenüber zu irritieren oder zu provozieren. Seine entspannte Art war mir grundsätzlich zu locker, trotzdem bewunderte ich ihn manchmal dafür. Ich selbst war das genaue Gegenteil. Nicht schüchtern, aber ein Planungsmensch. Ich wusste, was ich wollte und was ich tun musste, um meine Ziele zu erreichen. Und dennoch – hätte ich die Möglichkeit, meinen Ehrgeiz und Perfektionismus für einige Tage in den Urlaub zu schicken, würde ich vermutlich nicht ablehnen.

»Ich glaube, mich verwirrt immer noch die Tatsache, dass du überhaupt hingehst.« Und Charlotte dich eingeladen hat, ergänzte ich in Gedanken. Es passte einfach nicht. Yasin war nicht unbeliebt, im Gegenteil. Er bildete den Mittelpunkt seines eigenen Universums, während Charlotte der Stern des benachbarten Sonnensystems war. Zwei Sterne aus zwei unterschiedlichen Systemen interferierten nicht einfach miteinander.

»Wann kommen Danny und der Rest?«, fragte ich. Yas und sein bester Freund waren unzertrennlich. Wenn mein Bruder zur Party ging, tat Danny das auch.

Yasin zögerte. »Die kommen spontan.«

Ich hörte auf, meine Handtasche mit allerlei Krimskrams vollzustopfen, und schnaubte belustigt. Mein Bruder war ein miserabler Lügner. »Danny kommt nicht mit?«

Yas zog eine Grimasse. »Natürlich kommt er mit.«

Ich starrte ihn einfach nur an. Es dauerte genau drei Sekunden, bis seine Fassade bröckelte.

»Was geht dich das überhaupt an?«

»Gar nichts. Ich bin nur neugierig«, bemerkte ich zerstreut und ließ meinen Blick auf der Suche nach meinem Handy über meine Einrichtung wandern. Es war wie verhext. Ich liebte Strukturen, Pläne und To-Do-Listen, trotzdem war mein Zimmer ein Chaos aus Büchern und Pflanzen, die in unregelmäßigen Abständen meine weißen Holzregale füllten und den Boden belagerten.

»Aha!«, triumphierte ich und fischte das Handy zwischen den flauschigen Kissen auf dem Bett hervor. »Hab ich dich.« Ich wandte mich an meinen Bruder. »Sorry, Yas, aber ich muss los. Wir sehen uns auf der Party.«

Yasin schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders und zuckte mit den Schultern. Ich boxte ihm zum Abschied freundschaftlich gegen die Schulter, verstaute meinen Lippenstift in der Handtasche und lief die Treppe nach unten.

• • •

Das Haus der Siegmeiers lag in unendlichem Grün, umgeben von Bäumen und Blumen, in deren Mitte ein schmaler Kiesweg zur pompösen Eingangstür führte. Der Architekt hatte sich für eine Mischung aus altem Prunk und modernen Elementen entschieden, die überraschend gut harmonierten. Der hintere Teil, der zur Terrasse führte, imponierte mit einer Fensterfront, über der ein auf weißen Säulen gestützter Balkon thronte. Darunter, in dem weitläufigen Garten mit seinen vielen Blumenbeeten, war ein riesiger Pool eingelassen.

Jonathan und ich saßen auf dem weißen Sofa im Wohnzimmer. Er hatte es sich bequem gemacht, einige der ordentlich drapierten Kissen aus ihrer Position gerissen und sie sich in den Rücken gestopft, während seine Beine ausgestreckt auf den Polstern lagen. Ich hatte mich nichts dergleichen getraut und saß kerzengerade und mit einem Glas Mineralwasser in der Hand neben ihm. Ich betrachtete die hellen Designermöbel, deren steriler Anblick von einigen teuer aussehenden alten Stücken durchkreuzt wurde und nippte an meinem Wasser.

»Du darfst dich ruhig zurücklehnen«, neckte Jonathan mich mit einem schiefen Lächeln und warf eines der Kissen nach mir.

Erschrocken hielt ich mein Glas über den Rand der Polster und warf ihm einen bösen Blick zu. »Ich hätte es fast verschüttet!«

»Das ist Wasser«, sagte er lachend.

»Ich weiß, aber ich habe bei euch immer das Gefühl, dass alles so … perfekt ist.« Zu perfekt, fügte ich in Gedanken hinzu. Das war auch der Grund, warum ich trotz des ganzen Luxus lieber bei mir zu Hause war. Dort konnte ich entspannen und wurde nicht jede Sekunde von der Befürchtung heimgesucht, einen Fleck auf den sündhaft teuren Möbeln zu hinterlassen. Es lag nicht mal an den Siegmeiers – Jonathans Eltern waren nett und wären wahrscheinlich nicht böse, wenn mal etwas danebenginge oder ich Falten auf den hübsch angeordneten Sofakissen hinterließe. Trotzdem benahm ich mich, als würde mich der kleinste Fehltritt den Kopf kosten.

»Pi, du musst dir keine Sorgen machen.« Er rutschte näher an mich heran, wuschelte mir durch die Haare und entwendete mir das Wasserglas, um es auf den Boden zu stellen. Im nächsten Moment schlang er einen Arm um meine Taille und zog mich nach hinten. Ich lehnte mich an seinen Oberkörper, während Jonathan an meinen Strähnen zupfte. Langsam löste sich die Spannung aus meinem Körper und ich legte meinen Kopf auf seiner Schulter ab. So könnte ich für immer liegenbleiben.

»Die Leute vom Catering kommen gleich«, brummte Jonathan in meine Haare. »Aber ich will nicht aufstehen.«

Wir hatten Charlotte gefragt, ob sie Hilfe brauchte, aber sie hatte unser Angebot abgelehnt. Offenbar hatte sie ihre Eltern davon überzeugt, andere zu engagieren, die den Job erledigten. Umso mehr Zeit blieb ihr, die vielen Follower auf Insta und TikTok auf dem neusten Stand zu halten. Die Welt der sozialen Medien sehnte sich nach regelmäßigen Updates. Dabei war durch die Werbung nicht nur Charlotte und das bevorstehende Event, sondern auch Herr Siegmeier erneut in den Fokus verschiedenster Zeitungen und Onlineplattformen gerückt. Der Mann war im Laufe der Zeit zum inoffiziellen Gesicht von JUDGE geworden. Die App war seine Idee gewesen, programmiert hatte sie allerdings ein Studienfreund von ihm. Irgendein Informatiker, dessen Name im Ruhm von Jonathans Vater verblasst war. Herr Siegmeier war Rechtswissenschaftler mit einer phänomenalen Ausstrahlung und einem ausgesprochen feinen Gespür für den Geist der Zeit. Dank seiner Ideen und dem Ehrgeiz, diese in die Tat umzusetzen, hatte er in den letzten Jahren viel Zuspruch in der Bevölkerung erhalten. Der Mann war inzwischen richtig berühmt und gehörte nicht nur zum Freundeskreis vieler deutscher Stars, sondern auch zu den engsten Beratern verschiedener Politiker.

Irgendwo knallte eine Tür zu und riss mich aus meinen Grübeleien.

»Das werden sie sein«, vermutete Jonathan und richtete sich auf. »Vielleicht können wir schon etwas zu essen abstauben und auf mein Zimmer gehen«, murmelte er und gab mir einen Kuss auf die nackte Schulter.

Seine Berührung jagte einen Schauer durch meinen Körper und die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf. Gott, war ich leicht zu beeinflussen. Lara würde sich kaputtlachen.

»Charli? Jonathan?«

Ups. Peinlich berührt stand ich auf, griff nach dem Glas und presste es mir gegen die erhitzten Wangen. Das war nicht das Catering. Das war Jonathans Vater.

»Wir sind im Wohnzimmer«, rief Jonathan, stellte sich neben mich und bedachte meine spontane Abkühlung mit einem Grinsen. In der nächsten Sekunde stand sein Vater schon im Türrahmen und legte eine Aktentasche aus Leder auf dem Sideboard ab.

»Hallo, Pinar«, begrüßte er mich. »Ich wusste gar nicht, dass du schon da bist.«

»Das haben wir spontan in der Schule beschlossen«, erklärte ich und nahm das Glas runter, um nicht völlig idiotisch auszusehen.

Lara hatte meinen Plan, erst Zeit mit ihr und dann mit Jonathan zu verbringen, lachend abgewehrt und mich direkt zu ihm geschickt. Sie meinte, ich solle die Zeit genießen, und hatte dabei ein Gesicht gemacht, bei dem mir immer noch die Hitze in die Wangen schoss.

»Schön, dich zu sehen.« Mit einem Seufzer zog Herr Siegmeier die Schuhe aus und kickte sie nach hinten in den Flur. Diese winzige Bewegung reichte, um mich zu entspannen. Sie passte zu Jonathans Vater, der mit seinen kurzen grauen Haaren und der hochgewachsenen Statur zwar streng aussehen könnte, es allerdings nicht tat. Sein ganzer Anblick vermittelte den Eindruck eines coolen Geschäftsmannes, der sich abends auf ein Bier mit Kollegen treffen würde. Das fing bei der runden, knallroten Brille an und hörte bei dem maßgeschneiderten, schwarzen Anzug auf, den er mit roten Turnschuhen kombiniert hatte.

»Sind die Leute vom Catering schon da?« Er senkte die Stimme. »Ich dachte, wir könnten uns vielleicht eine Kleinigkeit vom Buffet klauen. Wir müssen allerdings vorsichtig sein. Wenn deine Schwester uns erwischt, sind wir geliefert«, bemerkte er mit Blick in Jonathans Richtung. »Ich habe das Gefühl, sie hat die Muffins abgezählt.«

Jonathan nickte ernst. »Möglich.«

Die beiden sahen sich einen Moment an, dann mussten sie lachen.

»Mann, sie wird jedes Jahr verrückter.« Jonathan verdrehte belustigt die Augen.

»Papa?« Charlottes Stimme kam aus der oberen Etage. Schritte ertönten im Treppenhaus, dann schob sie sich an ihrem Vater vorbei ins Wohnzimmer. »Du bist früh dran.« Charlotte strahlte und eine leichte Röte überzog ihre Wangen. »Wie kommt’s?«

»Ich wollte etwas früher da sein, da deine Mutter und ich nachher ja des Hauses verwiesen werden«, antwortete Herr Siegmeier gut gelaunt.

Charlotte lächelte, dann traf mich ein Blick aus babyblauen Augen. »Hey, Pinar. Cool, dass du da bist.«

Ein merkwürdiges Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus. Ich mochte Charlotte nicht, aber sie war Jonathans kleine Schwester und jedes Mal, wenn sie mich auf diese … freundliche Art ansah, fragte ich mich, ob ich vielleicht diejenige war, die nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Dieser Gedanke blieb genau so lange bestehen, bis sie sich wieder von ihrer unausstehlichen Seite zeigte und etwas Gemeines tat. Was in den meisten Fällen in Abwesenheit ihrer Familie geschah.

»Danke noch mal für die Einladung«, sagte ich und zwang mich zu einem Lächeln.

»Du gehörst zu meinem Bruder. Natürlich lade ich dich ein!«, kicherte sie und wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. Die kleine Geste katapultierte mich sofort einige Stunden zurück in die Mensa. Jonathan und Charlotte sahen sich verdammt ähnlich, waren ansonsten aber grundverschiedene Menschen. Zumindest dachte ich das immer, bis einer der beiden etwas tat, das mich an den anderen erinnerte.

»Wollen wir schon anstoßen?«, fragte Charlotte. Sie stupste ihren Vater mit dem Ellenbogen an. »Du darfst mitmachen.«

»Welch Ehre.« Herr Siegmeier streckte die Hand nach Charlottes blonder Haarpracht aus, aber sie durchschaute seinen Plan rechtzeitig und wich mit einem Quietschen aus. »Nicht die Haare«, rief sie und vergrößerte den Abstand zwischen sich und ihrem Vater. »Die sind frisch geföhnt!«

»Dann darf die natürlich keiner mehr anrühren«, stimmte Herr Siegmeier zu und schnappte sich die Aktentasche. »Kommt, wir gucken mal im Kühlschrank, was wir kaltgestellt haben.«

Natürlich hatten die Siegmeiers eine Flasche Champagner. Herr Siegmeier öffnete sie mit einem Knall, der Korken flog im hohen Bogen durch die Küche und landete auf einer Arbeitsplatte aus dunklem Marmor. Charlotte hatte in der Zwischenzeit vier Sektgläser aus dem Schrank geholt und ordentlich nebeneinander aufgestellt. Ich sah zu Jonathan, während sein Vater die prickelnde Flüssigkeit in die Gläser füllte und jedem von uns eines reichte. Er erwiderte meinen Blick mit einem Lächeln.

»So«, verkündete Herr Siegmeier und wir hoben alle unsere Gläser. »Auf JUDGE. Und die Party.«

»Und auf uns!«, schoss Charlotte hinterher.

Kapitel Drei

»Der Wahnsinn«, schrie Lara drei Stunden später, als wir uns durch das Getümmel bewegten. Bis auf ein paar Lichteffekte, die stark an einen Electro-Club erinnerten, war es stockduster. Der Boden bebte, der Flur war voll von torkelnden Menschen und zuckenden Körpern.

Meine Freunde waren vor einer halben Stunde mit leuchtenden Augen und offensichtlich bereits jeder Menge Alkohol im Blut durch die Haustür der Siegmeiers spaziert und Jonathan und mir in die Arme gelaufen. Irgendwie hatten die vier es geschafft, mich soweit auf die Tanzfläche zu ziehen, dass ich Jonathan aus den Augen verloren hatte.

»Lasst uns etwas zu trinken holen«, rief Mia in mein Ohr und nahm Laras und meine Hand. »Sollen wir euch etwas mitbringen?«, wandte sie sich an die Jungs.

Paul ignorierte sie. Mit strahlenden Augen verfolgte er die Bewegungen einer hübschen Brünetten, die im knappen Kleid vor uns tanzte.

»Gleich sabbert er«, sagte Lara und knuffte unseren Freund in die Seite. »Hey, willst du was trinken?«

Ein Nicken.

Ich drehte mich zu Tobi um, aber meine Frage, ob er auch etwas wollte, blieb mir im Hals stecken – er war im allgemeinen Partygetümmel verschwunden.

»Tobi wollte sich eh nach ein paar Drinks umsehen.« Mia zog uns lachend hinter sich her, halb laufend, halb tanzend. Sie war eindeutig die Verrückteste in unserer Clique und das nicht nur wegen der Regenbogenfarben ihrer wilden Locken oder den ausgefallenen Klamotten. Es war ihre sprudelnde, quirlige Art, die manchmal sogar mich überfordern konnte.

Wir fanden eine Bar, hinter der ein Typ Getränke verteilte. Er sah nicht viel älter aus als wir und verschenkte Alkohol wie Wasser an Verdurstende.

Mein Blick fiel auf zwei Mädchen neben uns, die in Pauls Matheleistungskurs gingen und fasziniert auf ihre Handys starrten. Als sie mich bemerkten, hellten sich ihre Gesichter auf.

»Pinar!« Ich bekam einen Kuss auf die Wange. »Wie geht’s? Wie laufen die Proben fürs Theater? Paul hat erzählt, du übernimmst wieder die Leitung.«

Da es ein Schulprojekt war, wurden wir natürlich von einem Lehrer unterstützt, aber jedes Jahr wählten die Mitglieder der AG ihren Vorsitzenden. Ich hatte im Vorjahr erstmals gewonnen und die anderen waren offenbar zufrieden mit meiner Arbeit, denn der Titel blieb mir erhalten. Ein Umstand, der mich mit Stolz erfüllte – ich liebte diese AG und das Vertrauen meiner Mitschüler freute mich.

Bevor ich auf ihre Fragen antworten konnte, fuhren beide begeistert fort: »Wart ihr bei Thomas Siegmeiers Willkommensrede dabei?«

»Die Jungs und ich haben noch bei Lara vorgeglüht. Aber Pi war schon hier«, sagte Mia und beugte sich vor. »Habt ihr sie gefilmt?«

Die beiden zeigten uns das Video und ich musste grinsen. Thomas Siegmeier war in Bestform gewesen. Kurz bevor er mit Jonathans Mutter das Feld geräumt hatte, hatte er noch die ersten Partygäste begrüßt. Daraus war eine spontane Rede entstanden, in der er allen viel Spaß gewünscht und ein paar Scherze gerissen hatte.

Mia tippte mit einem lila lackierten Fingernagel auf die Theke und winkte dem Barkeeper zu. »Herr Siegmeier ist ziemlich cool!«

Meine Freunde kannten ihn aus dem Vorjahr, als er für einen Vortrag über JUDGE an die Schule gekommen war. Es war die offizielle Infoveranstaltung für die 17-Jährigen gewesen, die in allen Schulen Deutschlands Pflicht war, da man ab 18 das Recht hatte, JUDGE zu nutzen. An unserer Schule hatte sie mal wieder den Rahmen gesprengt, weil wir das Glück hatten, die Einführung von Thomas Siegmeier persönlich zu erhalten. Das verdankten wir wohl den Überredungskünsten seiner Kinder.

»Und er sieht auch noch scharf aus – für einen Vater, meine ich«, sagte Lara und grinste.

Ich machte ein angeekeltes Geräusch und die anderen lachten. Herr Siegmeier war cool, ja. Aber ich hatte keine Lust, mir auf diese Art Gedanken über den Vater meines Freundes zu machen. Fast-Freundes. Frustriert stieß ich den Atem aus. Ach, verdammt. Wo war mein Drink?

Nachdem wir uns versprochen hatten, später gemeinsam etwas zu trinken, verschwanden die beiden Mädchen aus Pauls Kurs in der Menge. Der Barkeeper erschien und Lara bestellte uns Cocktails. Ihre Hüften wiegten sich im Takt der Musik, ihre Lockenpracht wirbelte bei jeder Drehung um ihre Schultern. Sie war kurz davor, auf die Tanzfläche zu springen. »Wie irre ist das hier bitte?«

Verdammt irre. Ein riesiger Kronleuchter hing von der Decke und glitzerte im Stroboskoplicht. Das Catering hatte ganze Arbeit geleistet und eine Snackbar eingerichtet, auf der sich fotogene Köstlichkeiten stapelten. Muffins, Brownies, glitzernde Cupcakes und Minipizzen in Form eines Js waren nur ein Teil davon. Dieser Abend versprach wirklich legendär zu werden und das, obwohl ich in den letzten zwei Jahren einige Erfahrungen zum Vergleich gesammelt hatte. Wir gingen gern auf Partys. Ich liebte die Musik und das Tanzen, das Gefühl, für einen winzigen Augenblick in einem anderen Universum zu sein.

»Seht ihr Tobi und Paul?«, schrie Mia, während sie zum Takt der Musik die Hüften kreisen ließ. Mit den Getränken in der Hand gingen wir auf die Tanzfläche.

Ich nahm die tanzenden Gestalten um uns herum genauer ins Visier. Von Mias Freund und Paul fehlte jede Spur, auch Jonathan blieb verschollen. Dafür machte ich einen blonden Haarschopf und das strahlende Lächeln von Charlotte in der Menge aus.

Als Lara mich an sich zog, um mir einen überschwänglichen Kuss auf die Wange zu geben, schwappte die rote Flüssigkeit in meinem Glas über. Der klebrig-süße Cocktail lief über mein Handgelenk und spritzte auf mein Top.

»Mist!« Ich fluchte. »Ich gehe das mal abwaschen«, rief ich laut, damit Lara mich verstand. Sie nickte versonnen, völlig gefangen in ihrer eigenen Welt, während sie mit Mia tanzte. Mit einem amüsierten Kopfschütteln quetschte ich mich an den Gästen vorbei in die Küche, stellte den Drink ab und machte mich auf den Weg zum Badezimmer.

»Pinar!« Beim Klang der Stimme so dicht neben meinem Ohr zuckte ich zusammen. »Machen wir ein Foto?«

Charlotte stand neben ein paar Freundinnen, ihr helles Paillettentop glitzerte im Stroboskoplicht. Als sie mein schmutziges Oberteil bemerkte, schlug sie die Hände vor den Mund. Ich war mir nicht sicher, ob sie lachte oder entsetzt war.

»Ich habe mein Getränk verschüttet«, erklärte ich unnötigerweise.

Sie nahm die Hände wieder runter. »Dachte ich mir. Komm, lass uns den Moment festhalten!«

Bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte Charlotte ihren Arm um meine Schultern gelegt und knipste ein Bild. »Süß«, kommentierte sie und meinte damit definitiv nicht mich. Meine Augen waren geschlossen, ich sah neben der funkelnden Charlotte mit meinem verklebten Oberteil unvorteilhaft getroffen aus.

»Könntest du das löschen?«, bat ich sie. »Ich sehe furchtbar aus.«

Charlotte nickte zerstreut. Dann fand unser Gespräch ein jähes Ende, als zwei ihrer Freunde sich zwischen uns drängten und wild auf sie einredeten. Keine Sekunde später waren sie verschwunden.

Verwirrt überlegte ich, wieso ich mich überhaupt von meinen Freunden getrennt hatte, dann fiel mir mein Missgeschick wieder ein. Richtig, das Badezimmer. Schnell quetschte ich mich an zwei Typen vorbei und steuerte den Hausflur an.

»Suchst du jemanden?«

Mein Herz stolperte, als ich die Stimme erkannte. Diesen Effekt hatte nur ein Mensch auf mich. Jonathan lehnte neben mir am Treppengeländer, die Arme vor der Brust verschränkt und einen herausfordernden Ausdruck im Gesicht. »Das wäre eine schöne erste Begegnung, wenn wir uns nicht schon kennen würden«, schmunzelte er. Sein Blick fiel auf mein Oberteil. »Willst du dir eines aus meinem Kleiderschrank holen?«

Das war natürlich einfacher, als mein Top im Badezimmer zu waschen. »Gern.«

Etwas abseits von uns entdeckte ich Max und Lukas, die wild gestikulierend und lachend auf den Nachbarraum deuteten und Jonathan dazu bewegen wollten, zu ihnen zu stoßen.

»Geh zu ihnen«, nahm ich ihm die Entscheidung ab, damit er sich nicht verpflichtet fühlte, mich zu begleiten. »Wir sehen uns schon noch.« Ich gab ihm einen flüchtigen Kuss und eilte die Treppe hoch ins nächste Stockwerk.

Die Etage lag im Dunkeln, da die Siegmeiers nur das Erdgeschoss für die Party freigegeben hatten. Zielsicher steuerte ich auf Jonathans Zimmer zu, schloss die Tür hinter mir und knipste das Licht an. Wie von selbst wanderte mein Blick zu dem Foto auf Jonathans Schreibtisch, das er gegen die Lampe gelehnt hatte. Es war mir schon heute Nachmittag aufgefallen und mein Körper reagierte auf dieselbe Art, wie er es schon vor Stunden getan hatte: Mein Puls schoss in die Höhe und ein warmes Gefühl durchströmte mich vom Kopf bis in die Fingerspitzen.

Das Bild zeigte mich. Ich saß mit einer Cola in der Hand in einem Café und konnte mich offenbar gar nicht mehr einkriegen vor Lachen. Jonathan hatte es auf einem unserer Dates geschossen.

Widerwillig kehrte ich dem Bild den Rücken zu und steuerte auf Jonathans Kleiderschrank zu. Irgendwie war in seinem Zimmer alles überdimensioniert – der Schrank, das gemütliche Bett und die Bücherregale, die den Großteil des Platzes einnahmen. Dabei beherbergten sie noch ganz andere Schätze. Jonathan sammelte Schallplatten, der passende Plattenspieler stand direkt neben seinem Schreibtisch.

Ich fischte ein schlichtes T-Shirt aus einer der unzähligen Schubladen, tauschte es gegen mein Top und stopfte den unteren Rand locker in die Hose. Das sollte gehen.

»Ich weiß! Es ist so cool, oder?«

Die Stimme kam vom Flur. Kurz überlegte ich, ob einer der Gäste sich einfach hochgeschlichen hatte, dann erkannte ich sie: Es war Charlotte.

»Ein ziemlich großer Aufwand.«

Ich riss überrascht die Augen auf. Das klang nach meinem Bruder.

»Du findest es albern, oder?« Ein Kichern. »Wobei ich das Gefühl habe, dass du dich amüsierst.«

»Vielleicht.«

Ich sah ihn nicht, aber ich kannte diesen Tonfall. Er amüsierte sich tatsächlich. Mit Charlotte. War das zu fassen? Die Stimmen wurden leiser und ich öffnete vorsichtig die Tür. Langsam streckte ich meinen Kopf in den Flur hinaus und erkannte zwei Schemen auf der Treppe. Sie waren wohl auf dem Weg zu Charlottes Zimmer, das eine Etage höher lag.

»Deine Schwester findet die Party übrigens auch toll. Wir haben ein Foto zusammen gemacht. Pi wollte, dass ich es bei Insta hochlade. Es ist so süß geworden!«

Wie bitte? Das war ja wohl ein Witz. Ich hatte sie gebeten, es zu löschen.

Charlottes wiederholtes Gekicher wischte meinen Ärger jedoch beiseite. Ich verstand die Welt nicht mehr. Wenn mich nicht alles täuschte, flirtete sie mit Yasin. Mit meinem kleinen Bruder! Das passte doch gar nicht. Charlotte liebte Glamour, stand gern im Mittelpunkt und wusste die exquisiten Dinge des Lebens zu schätzen. Mein Bruder war eher der aufmüpfige Typ, der sich für seine Prinzipien auch mal die Nase blutig schlug. Hatte ich Charlotte oder Yasin falsch eingeschätzt? Vielleicht gab es zwischen den beiden Gemeinsamkeiten, die ich übersah.

Nachdenklich trat ich in den Flur hinaus. Wenn ich das Jonathan erzählte! Ob Yasin heute Mittag deswegen so rumgedruckst hatte, als es um die Party ging? Seit wann hatte er Kontakt zu Charlotte?

Immer noch fasziniert von dem Gespräch der beiden eilte ich durch den Flur zurück zur Treppe und runter ins Erdgeschoss.

»Pi!«

Ein braunhaariger Wirbelwind stürmte auf mich zu und fiel schwankend in meine Arme. Ich strauchelte und konnte Laras und meinen Sturz im letzten Moment verhindern.

»Um Gottes Willen«, murmelte ich und richtete uns wieder auf. »Was war das denn?«

»Wiedersehensfreude.« Meine Freundin strahlte.

»Oder hängst du jetzt lieber mit Charlotte Siegmeier ab?« Mias bunter Haarschopf schob sich in mein Blickfeld. Belustigt hielt sie mir ihr Handy unter die Nase. »Herzlichen Glückwunsch, du bist in ihrer Insta-Story.«

Verärgert starrte ich auf das hässliche Foto von uns. »Blöde Kuh«, murrte ich. »Und Yas hat sie noch erzählt, ich hätte gewollt, dass sie das Bild hochlädt!«

Das schien meine Freundinnen zu verwirren. »Yas ist hier?«

Ich erzählte ihnen von meiner Entdeckung. Ihren Gesichtsausdrücken nach zu urteilen, überraschte sie die Vertrautheit zwischen Yas und Charlotte genauso sehr wie mich.

»Das ist ja mal ein Ding!« Überrascht verstaute Mia ihr Handy. »Yasin ist viel zu gut für Charlotte.«

Ihre Worte wärmten mein Herz. Es freute mich, dass Mia meinen Bruder in Schutz nahm. In ihrer Stimme schwang ehrliche Sympathie mit. Leider war ich mir sicher, dass nicht alle aus meinem Jahrgang so urteilen würden. Wahrscheinlich lag es an seiner provokanten Art, diesem Machogehabe, das er in den letzten zwei Jahren perfektioniert hatte. Yas war zwar das Alphatier in seinem Freundeskreis, konnte aber auch für ziemlich viel Ärger sorgen und außerhalb seiner kleinen Welt anecken. Das hatte er schon oft genug unter Beweis gestellt, Polizeieinsätze bei Prügeleien inklusive.

»Ich frage ihn morgen danach«, beschloss ich. »Da vorne sind übrigens Tobi und Paul.«

Mia quietschte vergnügt. Geschickt schlängelte sie sich durch die tanzenden Partygäste hindurch und schlang einen Arm um Tobis Oberkörper. Er lachte, griff nach ihren Armen und lenkte sie in eine Drehung, um im nächsten Moment einen innigen Kuss einzufordern. Paul beobachtete unsere Freunde für einen Moment, entschied dann offenbar, dass er nicht mehr gebraucht wurde, und kam auf Lara und mich zu. Mit einem Grinsen zog er uns jeweils an einer Hand auf die Tanzfläche und wippte losgelöst im Takt.

Wir tanzten, bis unsere Füße schmerzten und es schrecklich heiß wurde. Es war einer dieser Momente, die man am liebsten auf eine Gute-Laune-Playlist packen und bei schlechten Regentagen erneut abspielen wollte. Es ging nicht um die Musik oder die schöne Location. Es war das Gefühl, genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Dazuzugehören.

Unzählige Songs später lehnten wir uns erschöpft gegen die Wand. Die Musik war so laut, dass ich die Vibration des Beats im Rücken spürte. Ich hatte mir etwas Wasser geholt und presste das kühle Glas gegen meine erhitzten Wangen. Adrenalin rauschte durch meine Adern. Irgendjemand hatte eine Nebelmaschine angestellt und ein grauer Schleier stieg vor unseren Augen in die Höhe, nur durchbrochen vom stetigen Flackern des Stroboskoplichts. Verdammt, das war wirklich eine gute Party.

Eine sanfte Berührung an der Schulter riss mich aus den Gedanken. Ich sah zur Seite und blickte in Jonathans Gesicht.

»Hey.« Er lächelte und deutete in Richtung Terrassentür. »Wollen wir kurz raus?«

Ich ließ mich von ihm in die bereits herbstlich kühle Nachtluft ziehen. Sofort klang die Musik gedämpft. Draußen herrschte eine angenehme Atmosphäre, ein paar Scheinwerfer standen auf dem Rasen verteilt und spendeten zaghaft Licht in der sonst völligen Dunkelheit. Über uns funkelten ein paar Sterne, der Wind spielte mit Jonathans Haaren. Einige Schüler aus unserem Jahrgang standen in Gruppen verteilt auf der weitläufigen Terrasse, quatschten und bibberten in der Kälte. In regelmäßigen Abständen glühten ein paar Zigaretten in der Schwärze auf.

»Du hast ganz rote Wangen«, bemerkte Jonathan amüsiert. »Ich mag das.«

»Ich weniger«, gestand ich. »Aber gut, dass es dir gefällt. Warst du bei Max und Lukas?«

»Die beiden machen nur Unsinn.«

»Typisch.«

Wir lachten und ich hob mein Glas, um noch etwas zu trinken. Es war leer.