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Martina Nitsche

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Beschreibung

Welche Zukunft kann eine Liebe haben, die verboten ist? Die Geschichte einer unwiderstehlichen Anziehungskraft, die alle Gewissheiten in Frage stellt. Zusammen mit seinen Jungs ist Daniel als rebellischer Unruhestifter bekannt. Partys, legendäre Streiche und Verstöße gegen die Internatsregeln sind bei ihnen an der Tagesordnung. Doch der impulsive Abiturient hat ein Geheimnis, das er selbst seinen besten Freunden verschweigt: Er ist homosexuell. Als der junge Kaplan Sven Flory an die Schule kommt, entwickelt Daniel Gefühle für seinen neuen Lehrer, die er schon bald nicht mehr unterdrücken kann. Vor allem, weil er merkt, dass sie erwidert werden … Sven, der sich eigentlich dem Glauben seiner Kirche verschrieben hat, beginnt eine verhängnisvolle Beziehung mit Daniel. Doch der Druck, der zunehmend auf den beiden lastet, droht sie zu zerbrechen …

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Seitenzahl: 464

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Martina Nitsche

Roman

Martina Nitsche wurde 1988 in Hannover geboren. Es regnete. Obwohl sie sich schon seit der Grundschule für Literatur begeistert, schreibt sie erst seit November 2020 eigene Geschichten. Ihre kreativen Ideen ließ und lässt sie oft in Pen-and-Paper-Rollenspielen einfließen. Sie liebt Videospiele, das Meer und ihre Kornnatter Corny.

Mehr über die Autorin gibt es auf Instagram unter:

martinanitsche_autorin

© privat

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Copyright © 2023 bei soul&mate, ein Imprint des Bookspot Verlags

1. Auflage

Lektorat: Johanna Gerhard

Korrektrat: Celine del Rosario, Yvonne Schmotz

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Ilaria Doro

Titelmotiv: Jeremy Bishop/unsplash.com, Maria Vojtovicova/unsplash.com

E-Book: Jara Dressler

ISBN 978-3-95669-183-6

www.bookspot.de

Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen.

Es braucht einen Discord-Server, um einen Roman zu schreiben.

Inhalt

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

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11

12

13

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28

29

30

Danksagung

Prolog

Wir wollten Legenden werden.

Dabei haben wir nie realisiert, dass wir längst berüchtigt – und in gewisser Weise unvergessen – waren.

Seit der fünften Klasse verbrachten meine vier besten Freunde und ich unsere freie Zeit mit der Planung grandioser Streiche. Unsere Schulzeit in einem zurückgezogenen Internat in den Bergen gab uns dazu jede Gelegenheit.

Wir waren die Unruhestifter. Wann immer eine Maus in der Küche auftauchte, Reißzwecken auf Stühlen lagen oder Konfetti aus Lüftungsschlitzen wirbelte, zitierte man uns zum Rektor. Dieser Ruf zwang uns regelrecht dazu, unser Abitur mit einem legendären Streich zu feiern.

Doch wir hatten ein gravierendes Problem: Einer von uns hütete seit Jahren ein Geheimnis.

Dieser Eine bin ich. Mein Name ist Daniel Lewenstein. Und ich bin schwul.

1

An einem Samstag Ende September wagte ich mich trotz nasskalten Wetters über den Innenhof zur Schulaula, um die Örtlichkeit noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Natürlich auch, um Ideen zu sammeln.

Obwohl ich bei dem Wetter alleine auf dem Hof unterwegs war, schlich ich die letzten Schritte und schloss die Tür bewusst leise hinter mir. Es war zu unserer Routine geworden, die Räume der Schule unbemerkt zu betreten oder zu verlassen.

Ich wanderte unentschlossen zwischen den Säulen entlang. Das Internat war in einem ehemaligen Schloss angesiedelt und die Aula im Prunksaal gelegen. Noch heute war der Saal zwar üppig ausgestattet, aber auch furchtbar langweilig. Die hohen Fenster wurden von schweren Samtvorhängen umrahmt, und natürlich hingen Kronleuchter von der Decke. Die Wände tru-gen die jahrhundertealten Malereien und goldenen Verzierungen der Fürsten. Egal, ob Besucher auf der Bühne standen oder auf den Bänken Platz nahmen, die Aula beeindruckte.

Aber mein Interesse lag daran, selbst zu beeindrucken. Seufzend blickte ich empor. Falls wir etwas an den Säulen oder Decken befestigen wollten, würden wir Leitern benötigen, also das Personal der Schule einspannen müssen. Beim einfachen Volk waren wir trotz unserer Streiche sehr beliebt, doch bargen externe Kräfte immer die Gefahr, dass sich jemand verplapperte. Außerdem war uns bisher nur eingefallen, dass wir die Gäste mit Schleim bedecken könnten. Sicherlich eine großartige Idee – wenn man 13 war. In den Sommerferien hatte ich meinen 19. Geburtstag gefeiert und wünschte mir ein stilvolles Finale. Etwas Infantiles wie Schleim schied schlicht aus.

Der Besuch des Saals war unnötig, das wusste ich selbst. Im Schloss gab es keinen Winkel, den ich nicht mit meinen Freunden erkundet hatte. Hier kannte ich mich aus. Trotzdem schritt ich zum Abschluss die Bankreihen ab und tastete unter den Sitzflächen in der Hoffnung auf eine zündende Idee. Erfolglos.

Stattdessen drückte eine Hand fest meine Schulter. »Herr Lewenstein! Ich frage nicht, was Sie hier machen. Ich will es auch gar nicht wissen.«

Die Stimme von Cornelius Schneider, unserem Schulleiter.

Betont langsam drehte ich mich zu ihm um und setzte ein sanftes Lächeln auf. Mit verschränkten Armen und zusammengepressten Lippen schaute der ältere Mann zu mir auf. Seit einem Wachstumsschub in der Zehnten musste fast jede Person in Schule und Dorf zu mir aufsehen. Beschwichtigend hob ich die Hände und öffnete den Mund.

»Ah!« Schneider schüttelte den Kopf. »Ich sagte, dass ich es nicht wissen will. Hören Sie, ich will nachher eine ruhige Veranstaltung, die zu diesen ehrwürdigen Hallen passt. Die zu dieser Schule passt. Ich will keine lebenden Tiere hier drin haben!« Er tippte aufzählend gegen seine Finger. »Und auch keine toten Tiere! Gar keine Tiere! Es werden keine Türen verschlossen, keine Mitschüler drangsaliert, nichts geflutet, nichts angezündet, keine Experimente gestartet. Und keine Bilder ausgetauscht!« Drohend hob er den Zeigefinger. »Ich mache Sie persönlich für jede Störung verantwortlich, ist das klar?«

Ich nickte.

»Gut. Dann nutzen Sie den Rest der Pause und entfernen Sie, was auch immer Sie hier versteckt haben. Sollte nachher irgendetwas passieren, werfe ich Sie von der Schule. Und es ist mir egal, wie viel Geld Ihre Eltern in das Internat stecken. Es reicht!« Ich unterdrückte den Drang zu Gähnen. Es war über die Jahre zur Routine geworden, dass uns Schneider mit Rauswurf drohte. Bisher hatten die großzügigen Spenden unserer Eltern diese Drohung verpuffen lassen.

Ohne eine Antwort abzuwarten, stapfte Schneider davon. Offensichtlich hatte es ihm keine Freude bereitet, dass wir letzte Woche sein Büro verschönert hatten. Fabian hatte jedes der Bilder in mühevoller Arbeit angefertigt, doch unser Schulleiter besaß keinen Sinn für die verborgenen Talente meines Freundes.

Der Nieselregen hielt sich hartnäckig und trieb mich über den Hof in Richtung des Kaminzimmers. Es gab zwar einen trockenen Weg durch das Schloss, der bedeutete jedoch einen deutlichen Umweg. Fröstelnd rieb ich mir die Hände. Aus dem Regen würde bald Schnee werden. Als Kind hatte mich der schneereiche Winter in den Bergen fasziniert, da ich nur die verregneten Weihnachten in Berlin gekannt hatte. Heute nutzte ich Wetter, Schloss und die dazugehörigen opulenten Parkanlagen vorwiegend als romantische Kulisse, um Frauen zu bezirzen.

Meine Maskerade. Mein bestgehütetes Geheimnis. Mein wohl größter Streich, von dem nie jemand erfahren hatte.

Der Gemeinschaftsraum für die Oberstufe war zweckmäßiger eingerichtet als die Aula. Der Stil der Sitzmöbel erinnerte an einen schwedischen Inneneinrichter. Meine Freunde saßen an einem der Tische und spielten Blackjack um Smarties. Über ihnen hing der Grund, weswegen Sebastian den Raum ›Kaminzimmer‹ getauft hatte: ein modernes Bild, ganz in roten und orangen Strichen gehalten.

Mark, der die Bank verwaltete, schaute kurz auf und nickte mir zu. Die anderen sortierten Schokolinsen auf dem Tisch.

Wir hatten ursprünglich mit Poker angefangen und um Geld gespielt. Bis wir erkannten, dass Frank buchstäblich immer ein Ass im Ärmel hatte und Karten sehr gezielt mischte. Außerdem verbot die Schulordnung Glücksspiel. Eine Kleinigkeit, die wir vor einigen Jahren am eigenen Leib hatten spüren dürfen. Zum Leidwesen unserer Eltern verbrachten wir daraufhin über zwei Wochen in ihrer Obhut. Marks Vater, der im Kölner Nachtleben bestens vernetzt und deswegen auch der wichtigste Mandant meiner Eltern war, hatte seinem Sohn die Regularien für Glücksspiele genauer erläutert. Die Schulordnung verbot keine mathematischen Exkurse. Mark hatte uns deswegen Blackjack vorgeschlagen und es zum Langzeitprojekt zur Stochastik deklariert. Deswegen schrieb er auch jetzt akribisch Zahlen in ein Notizbuch.

Unsere Eltern waren uns wieder losgeworden und vermutlich sehr glücklich. Der Schulordnung wurde zwar Genüge getan, aber Rektor Schneider war über unseren Exkurs in die Stochastik vermutlich eher unglücklich. Doch wir konnten an verregneten Tagen gemeinsam spielen.

»Gib mir die Grünen«, raunte Sebastian. »Die schmecken besser.«

Ich gesellte mich dazu. »Dir ist schon bewusst, dass Smarties alle gleich scheiße schmecken, oder?«

Die Runde schaute freudig auf.

»Hey Daniel, du bist zurück!«, stellte Frank fest. Er war unser Experte für das Offensichtliche.

»Ja, und ich hatte eine Begegnung der dritten Art mit Rektor Schneider.« Mit einem theatralischen Stöhnen ließ ich mich auf einem der Stühle nieder und klaute aus der Bank einige Smarties.

»Hey!«, empörte sich Mark. »Du frisst unsere Einsätze! Ich dachte, du magst die nicht?«

Ich zuckte mit den Schultern.

Fabian grinste breit. »Der hohe Herr Schulleiter gibt sich also mit dem Fußvolk ab? Sag schon, wie hat ihm der Ausflug in den Akt gefallen?«

»Er hat eine Andeutung gemacht.« Ich verzog das Gesicht und machte eine abschätzende Geste in seine Richtung. »Ich befürchte, dass du es nicht bis in den Louvre schaffen wirst. Die Aktstudie ›Clowns unverhüllt‹ ist vielleicht etwas zu speziell für ein breites Publikum.«

»Bedauerlich.« Er tippte auf seine Karte. Mark teilte ihm eine

10 aus, 23 mit seiner 4 und der 9. Fabian rollte mit den Augen und schob die Karten von sich.

Durch Zufall hatten wir erfahren, dass sich Rektor Schneider vor Clowns gruselte. Es war Franks Idee gewesen, die Bilder im Büro des Schulleiters gegen entsprechende Fotos auszutauschen. Obwohl er oft träumte oder die Nase in klassische Literatur steckte, hatte er bei unseren Plänen häufiger die zündende Idee. Clowns alleine waren uns aber zu langweilig gewesen. Schließlich hatte Fabian angeboten, sein künstlerisches Talent zu nutzen, um nackte Clowns anzufertigen. Dies waren eine katholische Gegend und eine katholische Schule. Nackte Männer trieben den Menschen zumindest Schamesröte in die Gesichter. Da ich den Schulleiter lange nicht mehr so wütend gesehen hatte, mussten wir ins Schwarze getroffen haben.

Frank schob ebenfalls Karten zur Tischmitte. »Hat Schneider wenigstens erwähnt, weswegen wir nachher alle so ›herzlich eingeladen‹ sind?«

»Ne.« Ich hob die Schultern und inspizierte die Bank. »Aber er war stinksauer, dass ich in der Aula herumgelungert bin. Sicher kommt irgendein hohes Tier, denn er hat mal wieder mit Rausschmiss gedroht.«

»Ach«, winkte Fabian ab, »das traut er sich doch nicht so kurz vor dem Abitur. Deine Eltern würden durch alle Instanzen klagen, bis Franks Vater euch Recht gibt.«

Der Angesprochene verzog das Gesicht.

Ich tätschelte seine Hand. »Sei nicht traurig. Ich bin nur mit dir befreundet, damit Mama mehr Fälle gewinnt.«

Frank seufzte. »Daniel ...«

»Und mit dem da«, ich deutete auf Mark, »weil –«

»Pass auf, was du sagst.« Mark hob den Zeigefinger. »Papa ist ein ehrenwerter Unternehmer.«

Fabian kicherte in seine Faust. »Klar.«

Sebastian schüttelte den Kopf. »Wieso bin ich eigentlich mit so Verbrecherkindern wie euch befreundet?«

Für einen kurzen Moment starrten wir ihn an. Ähnliche Gespräche hatten wir schon häufiger geführt, doch waren wir uns einig, dass uns die Geschäfte unserer Eltern egal sein sollten.

Mark schob die Karten zusammen, um einen Stapel zu formen. Lächelnd zwinkerte er Sebastian zu. »Na, das weißt du doch. Wir alle mögen kleine Zottelpferdchen und besuchen eure Ställe so gern.« Er mischte das Deck. »So, die Gentlemen kennen die Regeln. Keine Diskussionen am Spieltisch.«

Ich beobachtete die fließenden Bewegungen der Karten, um nicht in Marks Gesicht schauen zu müssen. Sein einnehmendes Lächeln faszinierte nicht nur mich. Er hatte mit einem Scherz und einem Grinsen bereits zahlreiche brenzlige Situationen entspannt. Doch bei mir löste es noch andere Gefühle aus. Ich lenkte das Thema zurück zu meiner Begegnung mit dem Schulleiter. »Wir sollten nachher eh schön brav sein und uns von unserer besten Seite zeigen. Da können wir jetzt schon üben.«

Die anderen nickten.

Mark schaute auf. »In den nächsten Wochen sollten wir sowieso etwas kürzer treten.«

Fabian blickte ihn an. »Wieso das denn?«

»Na, weil jeder von uns erwartet, dass wir etwas anstellen. Wenn wir einige Wochen die Füße stillhalten, wird es sie richtig fertigmachen.« Seine Augen glänzten. »Und dann kommt unser Finale, an das sie sich ewig erinnern werden!«

»Warten wir erstmal ab, was Schneider nachher erzählt«, warf ich ein.

»Hoffentlich hebt er die Trennung von Mädchen und Jungen auf«, murmelte Sebastian. Er hatte eine geheime Freundin auf der anderen Seite des Schlosses. Dem Teil, der für uns tabu war. Ursprünglich als reines Jungeninternat gegründet, hatte die Schule ein Jahr nach unserer Einschulung den ersten Jahrgang mit Mädchen aufgenommen. Da man um die Sittsamkeit besorgt war, wurden wir natürlich streng getrennt, auch im Unterricht. Die Schlafräume lagen an den jeweils gegensätzlichen Enden des Schlosses, doch das hatte uns nie davon abgehalten, die eine oder andere Mitschülerin zu treffen.

Mädchen, jetzt schon Frauen, waren ein gutes Stichwort. Mein letztes romantisches Abenteuer lag einige Zeit zurück. Auf Partys wurde ich geradezu vom weiblichen Geschlecht umschwärmt und über die Jahre hatte ich mir einen Ruf als Frauenheld erarbeitet. Perfekte Tarnung, denn ebenfalls seit Jahren war mir klar, dass mich Frauen nicht interessierten. Häufig hatte ich mir vorgenommen, meine Freunde in meine wahren Gefühle einzuweihen, doch jede passende Gelegenheit war verstrichen, und nun war ich Daniel, der Frauenschwarm. Nur in den Sommerferien traf ich heimlich und versteckt andere Männer.

Um den Schein zu wahren, würde ich bald eine neue Eroberung benötigen. In der Herbstzeit boten Feste im Dorf oder Marks berühmt-berüchtigte Partys viele Gelegenheiten, Frauen kennenzulernen. Nach den Gottesdiensten war es ebenfalls leicht, mit anderen ins Gespräch zu kommen. Doch die Kirche erinnerte mich immer an den Pfarrer in meiner Heimat, den einzigen Menschen, dem ich je mein Geheimnis anvertraut hatte. Seine Reaktion hatte mir klargemacht, dass für Menschen wie mich in der Kirche kein Platz war.

Vier Stunden später fanden wir uns alle geputzt und gestriegelt in der Aula des Internats ein. In unseren dunkelblauen Anzügen und den gestreiften Krawatten sahen wir bei solchen Anlässen furchtbar seriös aus. Die Mädchen und jungen Frauen ergänzten das Bild in ebenfalls dunkelblauen, knielangen Röcken. Fein säuberlich waren wir nach Klassen und Namen aufgereiht.

Rektor Schneider erzählte an seinem Pult langatmig irgendetwas über die Schule. Es hatte mich vor acht Jahren nicht interessiert und es interessierte mich heute noch weniger. Neben ihm stand irgendein Oberstreber aus den unteren Klassen. Zumindest war der blonde Junge noch klein.

Ich betrachtete die Säulen und die Decke. Die Abschlussfeier würde ebenfalls hier stattfinden und vermutlich ähnlich eintönig werden. Diese Monotonie der Schulveranstaltungen musste unser Angriffsziel werden! Die Party aufpeppen und übernehmen, sie den Erwachsenen entreißen. Hey, wir waren doch auch Erwachsene! Warum durften wir nie mitentscheiden?

Den Gedanken verfolgte ich weiter. Da die Oberstufe als verantwortungsbewusst galt – ich grinste – gab es durchaus verschiedene Gremien, die an der Gestaltung der Schule mitwirken durften. Vielleicht könnten wir uns dort breitmachen, um einen finalen Streich zu planen.

»... Kaplan Flory noch einige Worte an Sie richten«, beendete der Schulleiter seine Rede.

Erschrocken richtete ich den Blick nach vorne. Ein Geistlicher war mir bisher entgangen. Vermutlich würde das unser neuer Religionslehrer werden. Kaplan Klein war nämlich in den Sommerferien überraschend von seinem Chef abberufen worden. Der Mann tat jetzt irgendetwas ultra Heiliges im Vatikan. Dem Papst die Nase putzen oder so. Damit war seine ursprüngliche Stelle an der Schule vakant.

Außer Schneider stand da aber nur dieser Oberstreber, der jetzt nach vorne trat. Durch seine Bewegungen änderte sich der Lichteinfall auf der Kleidung. Er trug gar keine dunkelblaue Schuluniform, sondern einen schwarzen Anzug. An sein Revers war ein Kreuz gesteckt und ein weißer Kragen steckte im grauen Hemd. Ich rollte mit den Augen. Ein Geistlicher!

Habemus magistrum!

Ein winziger Kaplan stellte sich an das Pult, über das er nur knapp sehen konnte.

Weil Fabian ›Ludwig‹ mit Nachnamen hieß, stand er neben mir. Er knuffte meine Seite.»Kleinster Priester der Welt«, flüsterte er kichernd.

Ich grinste breit, doch Rektor Schneider starrte mich mit einem finsteren Blick an. Das Grinsen erstarb. Das war der Nachteil daran, fast zwei Meter groß zu sein. Ich konnte zwar alles überblicken, aber den Augen der anderen nicht entgehen. Für den Schulleiter setzte ich eine brave Miene auf und schaute auf den Kaplan.

Ich hatte damit gerechnet, dass er piepsig sprechen würde. Wie ein Chipmunk vielleicht, passend zu seiner Körpergröße. Doch seine Stimme war sanft, warm und wohlklingend. Sie zog mich in den Bann, so wie ihr Besitzer. Ich hörte seine Worte nicht, lauschte nur dem Klang und ließ meinen Blick über den Geistlichen wandern. Sein Gesicht war freundlich, entspannt, fast selig. Mein Herz klopfte schneller. Auf die Distanz konnte ich die Farbe seiner wachen Augen nicht erkennen, die uns aufmerksam beobachteten. Ich hoffte, dass sie blau waren, es hätte zu diesen hellblonden Haaren gepasst. Eine Strähne fiel ihm ins Gesicht. Nach wenigen Worten strich er sie hinter sein Ohr. Sie rutschte erneut und er strich sie wieder fort. Es war ein niedliches Spiel.

Ich biss mir auf die Lippe. Die Beleuchtung ließ den Mann förmlich strahlen. In meinem Bauch breitete sich wohlige Wärme aus, die langsam nach unten wanderte.

Ein erneuter Knuff in meine Seite unterbrach den Bann und bewahrte mich vor einer peinlichen Situation in der Lendengegend. Scheiße, ich war doch keine 13 mehr!

»Alter«, flüsterte Fabian neben mir, »an welche Braut denkst du denn?«

Irritiert schaute ich zu ihm herab.

»Fehlte nicht mehr viel und du hättest auf den Boden gesabbert.«

Ich atmete tief ein. »Kennst du nicht«, raunte ich zurück.

»Kannst du sie mir dann mal vorstellen?«

Ein Räuspern zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Rektor Schneider schaute streng zu uns herüber und zog die Brauen zusammen.

»Mal sehen.« Ich stellte mich aufrecht hin und fixierte einen Punkt über dem kleinen Kaplan. Mit so einem sexy Religionslehrer konnte es ein heiteres Abschlussjahr werden.

2

Der kleine Kaplan sollte uns zweimal die Woche in katholischer Religion unterrichten. Also fanden wir uns am nächsten Montagmorgen im Klassenzimmer ein. Die ersten drei Wochen des Schuljahrs hatten wir montags ausschlafen können, weil ein Lehrer gefehlt hatte. Nun begrüßte mich die Woche mit dem langweiligsten aller Unterrichtsfächer.

In den unteren Klassen hatte ich noch Interesse an den Lehren meiner Kirche empfunden, sogar Spaß im Unterricht gehabt. Doch das hatte sich geändert, nachdem ich dem Gemeindepfarrer von meinen damals noch verwirrenden Gefühlen berichtet hatte. Mit jeder neuen Lehre und jedem neuen Grundsatz, den wir hier besprachen, verfestigte sich die Gewissheit, dass sie mich ausschließen sollten. Ich glaubte, oder eher hoffte, noch immer fest, dass Gott alle Menschen liebte, aber die Kirche tat es offensichtlich nicht.

In den Stunden hatte ich bisher obszöne Bilder in meine Bibel gemalt, Mitschüler mit Radiergummis beworfen oder aus dem Fenster gestarrt. Jetzt wurde die Schulstunde wenigstens optisch aufgewertet: Kaplan Flory betrat das Klassenzimmer in einer engen, schwarzen Hose. Sie ließ seinen Hintern hervorragend zur Geltung kommen.

Nach der obligatorischen Vorstellungsrunde, in der meine Mitschüler brav über den bisherigen Unterricht berichteten, schritt Herr Flory im Zimmer auf und ab, während er dozierte. Gähnend richtete ich meinen Blick auf das einzig interessante Objekt: den Hintern des Kaplans.

Es hatte eine gewisse Komik, dass mich gerade der Hintern eines katholischen Geistlichen erregte. Ich grinste. In meinen Gedanken trug der Geistliche gar keine Kleidung. Ich stellte mir vor, dass er untenrum genauso blond war wie auf seinem Kopf. Nie zuvor hatte ich eine Person mit blonden Schamhaaren gesehen – noch nicht einmal in einem Porno. Gut, da waren sowieso alle rasiert. Ob sich Priester die Scham rasieren durften?

»Und? Haben Sie dazu auch eine Meinung, Herr Lewenstein?«

Verdattert schaute ich auf. Der Kaplan stand mit verschränkten Armen vor mir.

»Tut mir leid, Hochwürden«, antwortete ich mit honigsüßer Stimme. »Ich war in Gedanken woanders.«

»Und wo waren Sie?«

»Bei der befleckten Empfängnis.«

»Sie meinen wohl die Unbefleckte Empfängnis?«

Ich schüttelte energisch den Kopf. »Nein, nein. Ich meinte schon befleckt. Befleckte Empfängnis.«

Meine Mitschüler johlten.

Der Geistliche seufzte und zog die Bibel unter meinen Händen hervor, um darin zu blättern. Mit jeder Seite wurden die Falten zwischen seinen Brauen tiefer. Er blickte auf mich herun-ter und in seinen Augen lag Enttäuschung. Es gab mir in diesem Moment keine Genugtuung, dass sie tatsächlich blau waren.

»Sie sind also der Klassenclown?«, fragte er schließlich.

Ich zuckte mit den Schultern. »Ja, manchmal. Es ist Montagmorgen, da kann doch jeder etwas Aufheiterung vertragen. Es ist ja recht öde.«

Der Kaplan legte den Kopf zur Seite. »Es tut mir leid, dass mein Unterricht nicht nach Ihrem Geschmack ist.«

»Oh, das ist es nicht.« Ich schüttelte energisch den Kopf. »Das Thema ist halt langweilig. Es hat nichts mit Ihnen zu tun. Sie sind durchaus ein ... hmm.« Mein Lächeln wurde breiter und etwas schief.

Er legte das Buch zurück auf den Tisch. Mit verschränkten Armen und fester Miene betrachtete er mich. Trotz seiner geringen Größe strahlte der Kaplan enorme Autorität aus. Um uns herum beobachteten meine Mitschüler gespannt und still das Geschehen. Sie waren Zeugen des ersten Kräftemessens mit dem neuen Lehrer. Was hier passierte, würde bis zum Mittag-essen die gesamte Schule wissen. Ich durfte jetzt nicht zurückweichen.

»Na ja«, fuhr ich fort. Einen erotischen Augenaufschlag nachahmend leckte ich mir über die Oberlippe. »Sie sind ein wirklich gut aussehender Mann.«

Seine Augen weiteten sich und ich meinte, leichte Röte auf seinen Wangen zu erkennen. Unterdrücktes Kichern war zu hören.

Ich griff nach seiner Hand. »Bestimmt haben Sie auch schon mal etwas«, ich zwinkerte, »befleckt?«

Jetzt waren seine Wangen sichtbar gerötet. Er zog seine Hand aus meiner. »Das ...« Er räusperte sich. »Herr Lewenstein, das geht zu weit.«

Erneut kicherten und lachten die anderen.

Herr Flory atmete tief aus und zog sein Sakko unnötig gerade. »Darüber sprechen wir noch. Kommen Sie nach dem Unterricht zu mir.« Er drehte sich um.

Ich ließ ihn drei Schritte gehen. Mit schmeichelnder Stimme säuselte ich hinterher: »Hochwürden, Sie möchten mit mir nach der Stunde über befleckte Empfängnis reden?«

Es wurde gelacht, gejohlt und geklatscht. Irgendwer trommelte sogar auf seinem Tisch. Zufrieden lehnte ich mich zurück. Diese Runde hatte ich gewonnen.

Der Kaplan kam langsam zu mir zurück. Obwohl er noch rot im Gesicht war, lächelte er freundlich. Verwirrt blinzelte ich ihm entgegen.

Er holte tief Luft. »Das finden Sie wirklich witzig, richtig? Das ist alles ein Spiel für Sie? Herr Lewenstein, ich verstehe es nicht. Wenn es Ihnen hier offensichtlich nicht gefällt, warum gehen Sie dann nicht?«

»Ich kann doch nicht einfach gehen.«

»Natürlich könnten Sie das. Sie sind erwachsen und nicht mehr schulpflichtig. Es steht Ihnen frei zu gehen.« Er deutete auf die Tür des Klassenzimmers. Durch seine ruhige Art wirkten die Worte noch eindringlicher. »Sie müssen kein Abitur machen. Zumindest müssen Sie es nicht hier machen. Sie könnten auf jeder Schule unterrichtet werden, eine ohne diesen langweiligen Religionsunterricht.«

»Aber meine Eltern –«

»Ah! Ihre Eltern. Ich verstehe.« Der Kaplan nickte. »Nun, Herr Lewenstein, wir sind uns wohl einig, dass Ihre heutige mündliche Leistung null Punkte wert ist. Zu Ihrem Glück haben wir noch einige Schulstunden dieses Jahr, vielleicht können Sie sich ja noch verbessern.« Er ging zurück zum Pult.

Ich verschränkte die Arme. In einer Stunde null Punkte zu kassieren war insgesamt kein Problem, doch wenn der Mann es wirklich so ernst meinte, müsste ich mich vielleicht doch noch anstrengen.

Neben mir schüttelte Sebastian grinsend den Kopf. »Der will es wohl wissen, hmm?«

»Was ne Pfeife«, flüsterte ich zurück.

Kaplan Flory hatte auf das Gespräch mit mir verzichtet und knapp 20 Minuten später lief ich mit meinen Freunden zu unserer Englischstunde.

Mark rieb mir die Schulter. »Es tut mir wirklich leid, dass unser neuer Lehrer dich so schlecht bewertet hat. Von mir hättest du allein für den Spruch mit der befleckten Empfängnis zehn Punkte erhalten. Wie du es danach zu Ende geführt hast, ein Traum. Das war eine glatte Eins. 15 Punkte!«

»Ja!«, rief Fabian. »Der Mann ist ein Kulturbanause.«

Ich seufzte. Wenn es um Noten ging, hatten uns die Lehrer im Griff. Religion konnte man nicht einfach abwählen. Deswegen waren wir überhaupt hier, weil unsere Eltern eine gute, katholische Erziehung für ihre Kinder wünschten.

Sebastian kratzte sich am Kinn. »Am Samstag hat er doch gesagt, dass er 27 ist, oder?«

»Schon«, antwortete Frank.

Ich verzog das Gesicht. »Ihr habt da zugehört?«

»Also«, setzte Sebastian unbekümmert fort, »wenn er noch so jung ist, warum ist er dann so steif?«

»Vielleicht«, bot ich an, »weil bei ihm nichts steif sein darf?« Wir kicherten. Mit sexuellen Inhalten ließen sich viele Lehrer verunsichern. Bei dem Kaplan hatte es außerordentlich gut funktioniert. Er hatte sich zwar gefangen und es war in einem Unentschieden geendet, aber der Ansatz schien vielversprechend. Außerdem war er unfassbar sexy, wenn er Autorität for-derte. Das wollte ich erneut erleben.

Ich schaute in die Runde. »Was haltet ihr davon, wenn ich da weitermache, wo wir heute aufgehört haben? Er wird so witzig rot, wenn man ihn gut aussehend nennt. Das dürfte den Unterricht interessanter gestalten.«

Fabian klatschte vergnügt in die Hände. »Du willst dir den Kaplan gefügig machen? Das schaue ich mir gern an.«

Frank schnaubte.

Ich tippte gegen seine Schulter. »Was hast du denn?«

»Ich finde das nicht in Ordnung. Kaplan Flory ist ein Geistlicher und hat einen gewissen Respekt verdient. Ich denke nicht, dass wir sowas tun sollten, einen Priester verärgern. Dafür werden wir sicherlich hart bestraft.«

»Du meinst Nachsitzen?«, fragte Mark.

»Nein, Fegefeuer, du Nase. Habt ihr denn gar keine Skrupel?« Ich tätschelte seine Schulter. »Ach Frank. Die Priester sind doch auch nur Männer. Die hocken in riesigen Gebäuden und sinnieren den ganzen Tag darüber, wie sie sich unbemerkt einen hobeln können, weil sie es eigentlich gar nicht dürfen.«

»Daniel ...« Er rollte mit den Augen.

»Nein, Frank. Priester sind Menschen wie du und ich. Wie soll man die Kirche ernst nehmen, wenn sie doch alle keinen Deut besser sind als wir? Entweder gehen wir alle gemeinsam ins Fegefeuer oder niemand!«

In den vielen Stunden, die man mich über den Glauben unterrichtet hatte, war immer wieder betont worden, dass Gott keine Unterschiede machte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mich extra bestrafen würde, wenn ich seinen Priester ein wenig neckte.

Mark klatschte in die Hände. »Ich verfüge jetzt, dass diese Woche niemand ins Fegefeuer geht. Denn ich werde am Freitag 19 und ich erwarte, dass ihr alle frisch und munter zur Feier erscheint. Und Geschenke bringt!«

Sebastian faltete die Hände. »Amen!«

3

In der folgenden Religionsstunde hatte ich zwar den Plan, unseren Lehrer weiter zu reizen, doch es fehlte die Gelegenheit. Nach einer kurzen Einführung besprachen wir in Partnerarbeit Texte und trugen im Anschluss die Ergebnisse vor. Sebastian, der auf eine gute Note angewiesen war, hatte mich fest eingebunden und keine Albernheiten geduldet. Wenigstens würde ich so genug Punkte sammeln, um den Kurs zu bestehen. Und vermutlich wog sich der Kaplan dadurch sogar in falscher Sicherheit.

Die Woche stand sowieso ganz in Marks Zeichen, der euphorisch auf seinen Geburtstag blickte. Die 18. Geburtstage hatten wir groß mit Familie und Freunden an Wochenenden oder in den Ferien gefeiert. Dieses Jahr reichte selbst unserem Partyhengst eine Feier im kleinsten Kreis in der Hütte.

Das Gelände der Schule grenzte an einen riesigen See, dessen Ufer Grüppchen von Bäumen schmückten. In einem der Wäldchen lag versteckt ein verlassenes Blockhaus. Entdeckt hatten wir es im zweiten Schuljahr bei einem ausgedehnteren Spaziergang durch die Ländereien des Internats. Der Wald lag außerhalb des Schulgeländes und unser Aufenthalt dort war bis zur zehnten Klasse immer ein Verstoß gegen die geltenden Ordnungen gewesen. Doch es gab ohnehin nur wenige Punkte in der Schulordnung, die wir in den letzten sieben Jahren nicht gebrochen hatten.

Mark hatte den eigentlichen Besitzer der Hütte schnell ausfindig gemacht und ihn davon überzeugen können, uns das Häuschen zu überlassen. Keine Ahnung, wie er das angestellt hatte, aber so war Mark eben. Er kam mit Menschen einfach gut aus, hatte Beziehungen in alle Richtungen, und wann immer wir etwas brauchten, kannte er eine Person, die ihm einen Gefallen schuldete.

Wir hatten die Hütte repariert und unseren Bedürfnissen angepasst. Zuerst diente sie für konspirative Treffen oder als Versteck vor älteren Schülern. Später lagerten wir Bier, um uns heimlich zu betrinken. Wir experimentierten ebenfalls mit Substanzen, die verboten waren, weil sie illegal waren. Und irgendwann hatten wir auch unsere Freundinnen dorthin gebracht. Aus diesem Grund gab es sogar Nägel an der Tür und ein Hufeisen. Hing es dort, wollte man zu zweit alleine sein.

Diesen Freitag würde uns das Gebäude als Partyraum dienen. Zu Marks Glück und Freude hatten sich die Wolken verzogen und die Herbstsonne heizte noch einmal ordentlich ein. Beste Bedingungen für eine Geburtstagsfeier.

Gut gelaunt saßen meine Freunde an unserem Tisch, als ich zum Frühstück erschien. Der Speisesaal war, wie auch die Aula, ein ehemaliger Prunksaal des Schlosses. Das Gewölbe bildete mit seinen zahlreichen Säulen automatisch Nischen, in denen es sich zurückgezogen speisen ließ. Einen der besten Plätze hatten wir schon im ersten Winter ergattern können. Nach harten Verhandlungen mit einer Gruppe aus der Oberstufe hatten sie uns das Objekt der Begierde überlassen. Im Gegenzug hatten wir für sie Botengänge und Pflichten übernommen, die uns sogar interessante Einblicke in die Schule beschert hatten. Langfristig hatten wir also deutlich mehr aus dem Deal herausgeholt.

Ich trat an den Tisch und umarmte das Geburtstagskind.

»Herzlichen Glückwunsch.«

Mark tätschelte mir den Arm. »Danke. Hast du sie dabei?«

»Logisch!« Ich zog die Karte aus meiner Gesäßtasche und reichte sie ihm.

Lächelnd strich er sie glatt und las den neuen Text. Die Geburtstagskarte zeigte eine Katze mit einem pinken Partyhut, über der »Älter werden ist für Pussys« prangte.

Mark selbst hatte sie mir zum 13. Geburtstag geschenkt. Allerdings hatte er nur ein »Happy Birthday« reingeschrieben. Mir hatte sie sehr gefallen und als Mark wenige Wochen später Geburtstag hatte, hatte ich sie scherzhaft um »dir auch« ergänzt und sie zurück geschenkt. Seitdem wurde die Karte zu jedem Geburtstag mit einer neuen Zeile weitergereicht.

Dieses Jahr hatte ich einen derberen Ansatz probiert. Ein wenig nervös setzte ich mich Mark gegenüber, um seine Reaktion zu beobachten. Noch immer lächelnd legte er die Karte auf den Tisch und beugte sich vor. Er hielt meinen Kopf an den Schläfen.

»Danja«, flüsterte er und schaute mir in die Augen. Im Anschluss sprach er einige Worte auf Russisch.

Mir lief ein leichter Schauer über den Rücken, weil ich nie wusste, ob er mich gerade beglückwünschte oder beleidigte.

Mark küsste meine Stirn. »Ja tebja ljublju.«

Das konnte ich zwar nicht wiederholen, aber wenigstens verstehen. Er liebte mich.

Ich lächelte ebenfalls. »Dir gefällt die Karte also?«

»Klar. Super Idee!« Er setzte sich zurück.

Fabian griff nach der Karte und las stirnrunzelnd den Text.

»Das verstehe ich nicht. ›Wir mögen dich, auch wenn du ein kleiner Sünder bist.‹ Wieso ist Mark ein kleiner Sünder?« Er grinste schief. »Wenn überhaupt, dann ist er doch eher ein großer Sünder?«

Frank schaute zu mir. »Ist das wegen seiner Oma?« Ich nickte.

Sebastian blickte mit einer hochgezogenen Braue zu Fabian, der die Schultern hob. Dabei war ich mir so sicher gewesen, dass jeder am Tisch die Geschichte kannte.

»Also«, begann ich, »als Mark noch klein und niedlich war, da hat ihn sein Vater nach Russland zu seiner Oma –«

»He!«, rief Mark. »Das ist meine Geschichte. Wenn sie jemand erzählt, dann wohl ich.«

»Natürlich.« Ich ließ Mark erzählen und widmete mich dem Frühstück.

»Wie Daniel schon sagte, hat mich mein Vater, als ich noch klein war, nach Russland mitgenommen, damit ich meine Oma kennenlerne.«

Fabian und Sebastian beugten sich neugierig vor.

»Wie ihr wisst, waren mein Vater und meine leibliche Mutter nie verheiratet. Das macht mich zu so einer Art Bastard.«

Frank hob die Hand. »Deine leibliche Mutter war das Kindermädchen, oder?«

»Ja, das auch. Aber jetzt nicht mehr stören.« Mark schüttelte den Kopf.

So weit mir die Geschehnisse bekannt waren, hatte sein Vater tatsächlich eine Scheidung angestrebt, um Marks Mutter zu heiraten. Sie war allerdings einige Monate nach seiner Geburt verstorben. Ich beobachtete meinen Freund genauer und nippte am Kaffee. Er saß entspannt zurückgelehnt und grinste verschmitzt.

»Wir fliegen also nach Russland und fahren in diese tolle Siedlung, in der Papa für Oma eine Wohnung gekauft hatte. Da begrüßt uns dann diese steinalte Frau, die meine Oma sein soll. Sie betrachtet mich eher aus dem Augenwinkel und fragt Papa, ob das da sein Bastard sei. Ich habe Papa bis dahin noch nie nervös oder gar kleinlaut erlebt, aber das Treffen mit seiner Mutter ließ ihn ein wenig schrumpfen. Papa sagt ›das ist Mark, dein Enkelsohn‹ und Oma antwortet ›na, wenigstens einen anständigen Namen hättet ihr ihm geben können‹. Und mit ›anständig‹ meint sie vermutlich russisch.«

»Megafies«, murmelte Sebastian.

Mark winkte ab. »Ach, sie kommt aus so einem Hinterwäldlerkaff aus dem Osten. Da gab es nur Kirche und Armut. Bis Papa ihr die Wohnung gekauft hat, hat die sicherlich niemals ein Klo mit Wasserspülung gesehen.« Er kicherte vergnügt. »Sie kennt das wohl nicht anders.«

Fabian schnaubte. »Trotzdem. Aber was hat das jetzt mit dem Sünder zu tun?«

»Also, ich stehe da vor meiner Oma, die beugt sich zu mir hinab und kneift mich in die Wange. ›Na‹, sagt sie und mir kommt ein fieser Schwall von Zigarettenrauch entgegen. Die Frau raucht permanent diese billigen Zigaretten.« Er schüttelte sich. »Sie grinst dabei schief. ›Na, du kleiner Sünder. Freust du dich, mal eine richtige Zivilisation zu sehen?‹ Ich nicke und sage ihr, dass ich mich sehr freue, sie kennenzulernen. Denn Papa hatte mir vorher gesagt, dass ich das sagen solle, und ich war zumindest damals noch ein folgsames Kind.« Er hob die Hände. »Sie hat mich den gesamten Aufenthalt immer so genannt, ›kleiner Sünder‹, weil ich ja ein uneheliches Kind bin. Sie hat auch immer für meine Seele gebetet, wisst ihr?«

Sebastian tätschelte Marks Schulter. »Ist das Verhältnis zu deiner Oma ein Problem für dich?«

Mark lachte herzhaft. »Aber nein. Was interessiert mich die Meinung einer garstigen alten Hexe, die tausende Kilometer entfernt von mir lebt? Nur weil wir uns einige Gene teilen, müssen wir uns ja nicht mögen. Ich teile mir die Hälfte meines Erbguts mit Bananen und war noch nie mit einer befreundet.«

Ich schob ihm eine Banane aus dem Obstkorb zu. »Diese hier sieht besonders freundlich aus, falls du reden willst.«

»Danke.« Er streichelte zärtlich über die Schale. »Aber ich hoffe, dass ich heute Abend eine andere Freundin finde. Apropos Abend, Daniel. Wir haben das schon besprochen, während du noch getrödelt hast.«

»Ich brauche halt meinen Schönheitsschlaf!«

»Ja, hat auch gewirkt. Frank und Sebastian werden nach der Schule die Hütte schmücken. Fabian und ich fahren einkaufen. Und du ...«

»Hey!« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich will auch mit einkaufen.«

Fabian schüttelte den Kopf. »Du passt doch gar nicht in den Porsche.«

»Ihr wollt doch nicht mit Marks Porsche einkaufen fahren? Mein Wagen ist viel größer!« Sowohl Mark als auch Fabian hatten von ihren Eltern Sportwagen geschenkt bekommen. Extrem schnelle Kisten mit winzigem Innenraum. Mit etwas Glück konnte man einen zweiten Erwachsenen und eine Schachtel Zigaretten in die Karren quetschen. Ich hingegen hatte mir einen Geländewagen gewünscht, mit dem ich ganzjährig in den Bergen fahren konnte.

Mark nickte. »Stimmt. Gut, wir fahren mit deinem Wagen direkt nach der Schule einkaufen und du hilfst uns dann tragen, wenn wir zurück sind.«

Ich schnaubte. »Wieso darf ich nicht mit einkaufen fahren?

Es ist mein Auto.«

Frank knuffte meine Seite. »Der Mathegrundkurs fällt heute aus. Wir haben früher Feierabend als du.«

»Oh, ach so. Na schön, dann fangt halt ohne mich an.« Seufzend betrachtete ich die Tasse vor mir.

»Gut.« Mark nickte in die Runde. »Dann wäre das alles geklärt. Seid heute alle artig, wenn jemand nachsitzen müsste, wäre ich außerordentlich enttäuscht.«

Fabian schickte mir eine Nachricht, als die beiden auf dem Rückweg waren. Wie erbeten fand ich mich zur verabredeten Zeit auf dem Parkplatz ein. Obwohl es nachts schon sehr kalt wurde, erinnerte die Sonne tagsüber noch immer an den Sommer, und in den Grünanlagen saßen kleine Grüppchen, die gemeinsam lernten, plauderten oder rumalberten. In der Ferne spiegelten sich die glitzernden Strahlen der Nachmittagssonne im See. Ein Eichhörnchen buddelte nicht weit von mir entfernt unter einem Busch.

Seufzend lehnte ich mich an einen Baum. Die friedliche Landschaft um Schule und Dorf faszinierte mich auch heute noch. Liebend gern hätte ich wenigstens einmal diese Szenerie mit einem Menschen geteilt, für den ich etwas empfand. Doch bald würde ich diesen Ort für immer verlassen und meine romantischen Abenteuer würden alle eine Lüge bleiben.

Das Knirschen vom Kies ließ mich aufschauen. Mein Auto fuhr gemächlich über den Parkplatz. Ich folgte dem Wagen.

»Ihr seid aber spät«, begrüßte ich Fabian, der die Beifahrertür öffnete.

Er stieg aus, um zum Kofferraum zu gehen. »Mark fährt wie meine Oma.«

»Tu ich nicht!« Der Angesprochene warf die Tür lautstark zu.

»Ey!«, rief ich. »Neuwagen!«

»Ach, das hält der schon aus.«

Augenrollend folgte ich zum Heck. Im Auto stapelten sich ein halbes Dutzend Kisten und etliche Tüten. In den Porsche hätte dieser Einkauf sicher nicht gepasst. Ich blickte zum Wäldchen und zurück zum Wagen. Es war ein ordentliches Stück bis zur Hütte. Bei der Hitze hatte ich eigentlich wenig Lust auf einen Gewaltmarsch.

Ich stöhnte. »Das schaffen wir zu dritt doch gar nicht.« Fabian schnappte sich einige Tüten. »Gehen wir halt zweimal. Vielleicht sind Sebastian und Frank ja schon fertig.« Mark tat es ihm gleich und sie liefen in Richtung Hütte.

Testweise hob ich eine der Kisten an. Sie war schwer und klirrte leise. Unter Chipstüten fand ich Schnaps und stöhnte erneut. Wir hatten eine große Sammlung Alkoholika im Häuschen, trotzdem wurde fleißig dazugekauft. Jetzt musste ich das Zeug schleppen, obwohl mir der Kram nicht schmeckte.

Murrend sortierte ich die Kisten, damit ich zwei gleichzeitig tragen konnte. Außerdem schnappte ich mir die noch verbliebenen drei Tüten und hievte alles auf einmal aus dem Kofferraum. Der Weg war gradlinig und so störte es kaum, dass mir die Last die Sicht versperrte. Zumindest bis mein Fuß an eine Kante stieß.

Scheiße. Ich sah mich schon auf dem Boden aufschlagen, da strichen Finger über meine Hände, packten die Kisten und bewahrten mich vor dem Sturz.

»Vorsicht«, murmelte unser Kaplan mit sanfter Stimme vor mir.

Deutlich spürte ich meinen Herzschlag. Trotz der Hitze stellten sich mir die Haare auf und ein angenehmer Schauer lief mir über den Rücken, wie ich ihn bisher nur im Bett mit heißen Kerlen erlebt hatte.

»Oh, ich ... öhm«, stammelte ich hilflos.

»Sie sollten vielleicht weniger auf einmal tragen.« Er half mir, die Kisten abzustellen. Die Sonne ließ seine Haare glänzen, fast schon leuchten. Er lächelte freundlich zu mir auf, obwohl ich ihn bei unserem ersten Treffen so geärgert hatte. Entweder bildete ich mir das ein oder die Hitze wurde intensiver.

Verwirrt fummelte ich an meinem Kragen. »Es tut mir leid. Ich habe Sie nicht gesehen, weil ... weil Sie doch so klein sind.«

Kaplan Flory legte die Stirn in Falten. »Alles in Ordnung? Sie wirken ein wenig fahrig.« Er tätschelte meinen Handrücken.

Ausgehend von der Berührung schoss Hitze durch meinen Körper und fegte mir schlagartig das Hirn leer. Das ging doch nicht! Ich musste schleunigst etwas sagen. An irgendetwas denken, das nicht mein Blut in Wallung brachte. Ich deute auf die Kiste. »Party ... Marks Geburtstag.«

Seine Augen folgten der Geste. »Und haben Sie schon probiert?«

»Nein. Also, ich meine ...« Ich hatte absolut keine Ahnung, was ich meinte.

Sein Blick verdunkelte sich. »Alkohol ist auf dem Schulgelände nicht gestattet. Wenn Sie eine feuchtfröhliche Party planen, werden wir diese nicht erlauben können.«

Falls mir nicht schleunigst etwas einfiel, würde der Kaplan unseren Einkauf konfiszieren. Wir würden ihn zwar später zurückerhalten, doch Marks Planung wäre dahin. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Der Geruch des aufgeheizten Kieses umgab uns, dazwischen lag ein zartes Bouquet aus Sommerblüten, die nicht in die Jahreszeit passten. Verwirrt öffnete ich ein Auge. Der Duft musste von Herrn Flory ausgehen. Eine interessante Wahl für ein Pflegeprodukt, doch es brachte mein Herz erneut zum Pochen. Marks Party ging vor.

Natürlich! Marks Party! Ich presste die Augenlider aufeinander und stellte mir den Geruch am Ende seiner letzten Feier vor. Zigarettenqualm, schales Bier und Erbrochenes. Ekel erfüllte mich und vertrieb wie geplant die erregenden Gefühle.

Ich öffnete die Augen und lächelte freundlich. »Sie müssen sich keine Gedanken machen, wir feiern außerhalb. Deswegen auch die vielen Kisten, wir müssen ja den Kram hinbringen.«

Er verschränkte kopfschüttelnd die Arme vor der Brust.

»Soso, außerhalb. Wo soll denn die Party steigen?«

»Das kann ich Ihnen schlecht sagen. Sie sind ja nicht eingeladen. Obwohl, eine Möglichkeit gäbe es.« Ich kratzte mich am Kopf.

Er hob fragend die Augenbraue.

Aus meinem Lächeln wurde ein schelmisches Grinsen. »Mir fehlt noch eine Begleitung für heute Abend. Wie sieht es mit uns beiden aus?« Ich wackelte mit der Augenbraue und hoffte, dass es verführerisch aussah.

Schnaubend ließ er die Arme sinken. »Sie sind unmöglich, Herr Lewenstein!« Der Kaplan winkte ab und drehte sich in Richtung Schloss. »Viel Spaß bei Ihrer Party.« Schnellen Schrittes lief er davon.

»Danke noch mal!«, rief ich ihm hinterher. Immerhin hatte er mich vor einem Sturz bewahrt. Falls er es hörte, reagierte er nicht darauf.

Stattdessen tauchte Mark neben mir auf. »Sag mal, lässt du uns den ganzen Kram alleine schleppen, während du mit Hochwürden flirtest?«

»Ich musste den irgendwie loswerden. Er wollte sich am Schnaps vergreifen!«

»Nein, das gibt es doch nicht!« Er schüttelte grinsend den Kopf. »Die müssen die Lehrer echt scheiße bezahlen, wenn die immer unseren Alkohol klauen wollen.«

Über die Wiese schlenderten Frank und Sebastian mit unserer Schubkarre. Mark trieb die beidem mit einer Handbewegung zur Eile an. Gemeinsam beluden wir das Gefährt, um die Einkäufe sicher zur Hütte zu transportieren, bevor die nächste Lehrkraft auftauchte.

Auf einer Lichtung umgeben von Tannen stand das Holzhäuschen. Es bestand aus einem großen Raum, in dem ein Ofen für Wärme sorgte, einer ausladenden Veranda und einem Schuppen. Wir hatten uns damals noch ein Plumpsklo mit Rindenmulch besorgt. Insgesamt ließ es sich hier lange aus-halten.

Sebastian und Frank hatten nicht nur den Innenraum, sondern die Hütte auch von außen aufgeräumt und festlich dekoriert. Luftschlangen, Girlanden und Ballons in verschiedenen Farben säumten die Wände. Auf der Lichtung luden Tische und Stühle zum Verweilen ein. Sie bildeten gleichzeitig einen Kreis, der als Tanzfläche diente. Mark stolzierte mit seiner Geburtstagskrone, die er seit Kindertagen besaß, umher und begrüßte die Gäste. Sie waren vor allem aus den umliegenden Dörfern angereist, aber auch einige Menschen aus anderen Teilen des Landes wurden mir vorgestellt. Am Ende plauderten und tanzten etwa 50 Leute auf der Lichtung. Es erstaunte mich immer wieder, wie viel Platz wir hier hatten.

Die Party verlief augenscheinlich zu Marks Zufriedenheit. Er stand mittlerweile an seinem Gabentisch und inspizierte die Geschenke.

Ich gesellte mich zu ihm. »Na, fette Beute gemacht?«

»Oh ja!« Er strahlte mich an. »Ich denke, dass jetzt alle da sind. Dann kann ich ja mal auspacken, oder?«

Zur Bestätigung nickte ich knapp.

»Kommt mal alle her«, rief er über die noch leise Musik. Die Gäste kamen näher und bildeten einen Kreis um uns herum. Mark nahm die dunkle Schachtel in die Hand, die ich ihm überreicht hatte, und löste das Schleifenband. Einpacken gehörte nicht zu meinen Stärken, doch Bänder um Kistchen binden konnte ich. Drinnen lagen eine Großpackung Aspirin und eine Schlafmaske mit Kühlpad.

Ich knuffte seinen Arm. »Ist für morgen früh.«

»Voll gut. Danke!« Er drückte mich kurz, bevor er sich dem nächsten Paket widmete.

Mit den anderen beobachtete ich, wie er seine Geschenke auspackte und sich bei den Schenkern bedankte. Es waren vor allem Kleinigkeiten und lustige Gadgets. Dinge, die man Menschen schenkte, die sowieso alles besaßen.

Im Anschluss schritt Mark auf die provisorische Tanzfläche.

»So, ihr Lieben. Vielen Dank, dass ihr alle hergekommen seid. Und vielen Dank für eure tollen Geschenke. Außer vielleicht diese Silikonbrust.« Er wackelte abschätzend mit der Hand. »Echt, wieso nur eine? Ich brauche zwei davon! Hab doch auch zwei Hände!«

Ein paar Menschen kicherten.

Mark hob eine Augenbraue. »Ja, ich weiß, ich tauge nicht zum Comedian. Eigentlich will ich auch was anderes.« Er hielt sein Handy in die Luft. »Ich habe hier eine denkbar geniale, absolut tanzbare Playlist erstellt. Nur für euch. Also kommt her und schwingt die Hüften. Und Ladys, achtet besonders auf den da!« Er zeigte auf mich. »Daniel ist erstens ein begnadeter Tänzer und zweitens noch Single!« Es wurde gejohlt und geklatscht, während Mark seine Playlist startete und die Lautstärke aufdrehte.

Das Spielchen kannte ich schon. Bei wirklich jeder Veranstaltung musste er mich anbieten. Und wie immer dauerte es nicht lange, bis mich die erste Frau zum Tanzen einlud.

Es wurde eine lange und schweißtreibende Nacht.

4

Marks Party hatte mich erfolgreich einige Stunden von den Gefühlen abgelenkt, die ich neben Kaplan Flory auf dem Parkplatz empfunden hatte. Das war auf jeden Fall mehr als nur sexuelle Anziehung und ich genoss diese Emotionen. Hatten mir beim ersten Mal noch die Worte gefehlt, konnte ich in der folgenden Schulstunde meinen Plan wieder aufnehmen und mit dem Lehrer völlig überzogen flirten. Je häufiger wir zusammen waren, desto eloquenter wurde ich. Oft schimpfte er mich aus und ahnte sicherlich nicht, wie attraktiv ihn seine autoritäre Ausstrahlung dabei machte. Manchmal antwortete er zögerlich, fast schüchtern, wodurch er liebevoll und niedlich auf mich wirkte. Es war egal, wie er reagierte, mir gefiel jede Kommunikation mit ihm und ich wollte mehr.

Doch nach einigen Wochen überspannte ich den Bogen offensichtlich, denn den steten Ermahnungen des Kaplans folgte schließlich die Aufforderung zum Nachsitzen. An einem Samstagmorgen.

Mürrisch war ich noch vor Sonnenaufgang zu einem hastigen Frühstück aufgebrochen und fand mich wie gefordert im Innenhof ein. Kaplan Flory stand an den Brunnen gelehnt und trotzte der kühlen Luft mit einem langen, dunklen Mantel. Aufmerksam folgte sein Blick meinen Schritten.

»Bin da«, murmelte ich.

»Schön, Sie sind pünktlich.«

»Muss ja.«

Er nickte mir zu und wies zum Parkplatz. »Kommen Sie, wir machen einen Ausflug.«

»Ich dachte, dass ich nachsitzen soll?«

»Vermutlich haben Sie schon viele Strafarbeiten abgeleistet und den ein oder anderen Text kopiert. Deswegen habe ich mir etwas überlegt, das uns beiden etwas bringen wird.« Er zog einen Autoschlüssel hervor und ließ ihn baumeln.

»Oh? Es bringt uns beiden etwas?« Grinsend rückte ich näher an ihn. »Möchten Sie mich an einen romantischen Ort entführen? Dafür benötigen wir doch kein Auto.«

»Herr Lewenstein.« Er seufzte. »Sie können auch in meinem Büro die Schulordnung abschreiben, wenn Ihnen das lieber ist.«

Ich trat zurück und hob beschwichtigend die Arme. »Nein, nein. Schon gut. Ausflug klingt gut.« Vielleicht sollte ich einen Gang herunterschalten und ihn nicht direkt verärgern. Ein gemeinsamer Ausflug stand jetzt schon auf Platz eins der besseren Varianten des Nachsitzens.

Wir gingen schweigend zu den Fahrzeugen. Während meines schnellen Frühstücks war es noch stockfinster gewesen, doch langsam änderte sich das dunkle Blau des Himmels zum fröhlichen Grau eines wolkenverhangenen Herbsttages. In einiger Ferne trällerte trotz Kälte ein früher Vogel. Vermutlich, um danach einen Wurm zu verspeisen. Vor dem zerbeulten Pritschenwagen der Schule blieb Herr Flory stehen.

»Echt?«, maulte ich. »Können wir nicht mein Auto nehmen? Das ist viel gemütlicher!«

Der Kaplan massierte seine Schläfen. »Herr Lewenstein ...« Ich biss mir auf die Lippe. Wir waren noch keine fünf Minuten unterwegs, und er war bereits von mir genervt. Ruhiger machen ging tatsächlich anders. Ich trat näher an das Auto und beobachtete meinen Lehrer, der mit dem Türschloss kämpfte. Der Kleinlaster stammte noch aus einer Zeit ohne Zentralverriegelung. Die Schule behielt ihn trotz des Alters, weil er die richtige Größe hatte und ohne Probleme die Steigungen schaffte. Leider hatte der Zahn der Zeit nicht vor den mechanischen Bauteilen Halt gemacht und das Türschloss klemmte bei Kälte häufiger. Mit dem Wagen kannte ich mich aus, denn dank Marks Freundschaft zum Hausmeister hatte der uns den Kleinlaster manchmal fahren lassen.

Vorsichtig berührte ich die Hand des Geistlichen. »So wird das nichts. Man muss da einfühlsamer ran.«

Er ließ den Schlüssel stecken. »Und Sie wissen, wie das geht?«

»Klar. Soll ich es Ihnen zeigen?« Gefühlvoll drückte ich gegen die Tür und drehte den Schlüssel. »Sie müssen ganz zärtlich sein, als wenn Sie einer Frau ...« Schelmisch grinste ich auf den Kaplan herab. »Aber sowas dürfen Sie ja nicht.«

Genervt starrte er unter seinen Augenbrauen hervor.

Das Türschloss klackte. Ich trat einen Schritt zurück. »Ist offen, bitte.«

»Woher wissen Sie, wie man diesen Wagen aufschließt?«

»Ach, das.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich kann gut mit dem Hausmeister.«

Die Antwort schien ihm zu genügen, denn er kletterte wortlos ins Wageninnere.

Während er die Einstellungen prüfte, setzte ich mich auf den Beifahrersitz. »Also, wo soll es hingehen?«

»In eine Stadt, da ist so ein Markt. Moment.« Er zog sein Telefon aus der Tasche. »Etwas mit Gans. Nein, Gams. Gamshörnchen?«

»Sie meinen das Gamshörndl? Das ist ein Berg, aber ja, da ist auch eine Stadt.«

Verwirrung machte sich auf seinem Gesicht breit. »Also, da ist ein Markt. Ich suche das mal auf der Karte raus.«

Zum Markt also. Alleine dafür hatte es sich gelohnt, so früh aufzustehen, denn den hatte ich lange nicht mehr besucht. Dort kaufte die Schule die frischen Lebensmittel ein. Vermutlich würde ich nachher Kisten schleppen müssen, aber etwas Zeit für einen Bummel würde es sicherlich geben.

Mein Lehrer wischte noch immer auf seinem Handy herum. Die Berge mit ihren kleinen Dörfern und schmalen Straßen waren für die meisten Navigationsgeräte eine Herausforderung.

Ich schnallte mich an. »Ich kenne den Weg.«

»Hmm, schön. Und Sie möchten mich jetzt lotsen, damit wir irgendwo in der Pampa rauskommen.«

»Herr Flory!« Ich zeigte nach draußen. »Wir sind schon in der Pampa. Welchen Sinn hätte das? Sie können ja Ihrem Handy vertrauen, aber der Weg führt uns durch drei Funklöcher.«

Er betrachtete mich aus zusammengekniffenen Augen. »Ich warne Sie, stellen Sie keinen Unfug an.«

»Ja, ist gut. Ich will doch auch auf den Markt.« Ich legte meine Hand auf seine. Es war wundervoll. Mein Herz schlug vor Freude schneller und das angenehme Kribbeln breitete sich immer weiter aus. »Vielleicht kaufe ich Ihnen nachher auch was Schönes?«

»Genug jetzt!« Er zog seine Hand zurück und startete den Motor. »Keine Albernheiten mehr. Sagen Sie mir einfach, wo es lang geht.«

Seufzend nickte ich. »Folgen Sie erstmal nur der Straße, gibt ja nur eine.«

Langsam rollte der Wagen über den Parkplatz. Der Kaplan streckte die Finger nach dem Radio aus.

»Auf gar keinen Fall!«, rief ich. »Bitte. Das empfängt nur einen Sender, und der ist für Scheintote!«

Seufzend lehnte er sich zurück, und wir lauschten dem Dröhnen des Motors. Bis hinunter ins Tal schwiegen wir, wenn ich ihm nicht gerade eine Anweisung gab. Die Straßen waren wenig befahren und ich döste vor mich hin. Es war für meinen Geschmack noch viel zu früh. Gähnend streckte ich mich.

Kaplan Flory schnaubte erheitert.

»He«, murrte ich. »Ich hätte gern ausgeschlafen. Zum Markt hätten wir auch später fahren können.« Erneut gähnte ich demonstrativ.

»Sie können nicht immer bekommen, was Sie wollen.«

»Ja, ganz toll.« Für diese grandiose Lektion hatte er mich also so früh aus dem Bett gescheucht.

Er summte leise eine langsame Melodie, die mir bekannt vorkam. Ich versuchte vergeblich zu ergründen, woher ich sie kannte. Sicher hatte Mark das Lied auf einer seiner Partys gespielt.

Das Summen stoppte. »Wirklich. Sie können nicht immer bekommen, was Sie wollen. Aber wenn Sie es mal versuchen, werden Sie erkennen, dass Sie vielleicht bekommen, was Sie brauchen.«

»Oh, Sie hatten einen Glückskeks zum Frühstück, kann das sein?« Ich verschränkte die Arme und blickte zu ihm.

Kaplan Flory setzte die Melodie fort und wippte im Takt den Kopf. Außerdem bewegte er die Finger der linken Hand, als hielt er eine Gitarre und kein Lenkrad. Wie so ein Möchtegern-Rocker, der Luftgitarre spielt.

Rocker! Natürlich! Ich schnaubte ungläubig, aber auch ein wenig erheitert. »Haben Sie gerade die Rolling Stones zitiert?«

»Natürlich. Was dachten Sie denn? You can’t always get what you want. Vielleicht etwas lose übersetzt.«

»Das habe ich einfach nicht erwartet.«

»Möchten Sie lieber ein Bibelzitat? Ich könnte Ihnen etwas Schönes aus Markus zitieren.«

»Bitte nicht«, murmelte ich. Rockzitate waren zwar cooler als Bibelzitate, aber sie kamen trotzdem noch von einem Priester. Vielleicht versuchte er, damit bei mir Eindruck zu schinden, doch es wirkte irgendwie peinlich, wenn sich Lehrer so anbiederten. Andererseits war Kaplan Flory nicht viel älter als ich und wir hörten sicherlich die gleiche Musik. Genau genommen waren die Stones Alte-Leute-Musik, denn der Song war älter als wir beide zusammen.

»Und, Herr Lewenstein, was ist es, was Sie wollen?« Er schaute mit einem freundlichen Lächeln kurz zu mir.

»Dass Sie dort vorne links abbiegen.«

Er kam der Aufforderung nach, aber das Lächeln blieb auf seinem Gesicht.

Verdammt! Er hatte mich nur aus meiner Deckung locken wollen, um jetzt Lehrerkumpel zu spielen. Darauf hatte ich keine Lust, schon gar nicht mit einem Priester. Ein einziges Mal hatte ich dem freundlichen Lächeln eines Geistlichen vertraut und ihm erzählt, was ich wirklich wollte. Von meinen wahren, verwirrenden Gefühlen und meinen Ängsten hatte ich gesprochen. Wenige Tage später hatten meine Eltern davon gewusst. Angeblich waren sie nur zu meinem Besten eingeweiht worden, denn nur gemeinsam, so glaubten sie, könne man mich von diesem Weg der Sünde abbringen.

Ich hingegen glaubte, dass der Herr nur denen half, die sich selbst halfen. Also half ich mir selbst, indem ich Männer nur heimlich und Frauen in aller Öffentlichkeit traf. Und nun fragte mich Kaplan Flory, dieser wunderschöne, anziehende Mann, von dem ich nachts träumte, was ich wirklich wollte.

Ich seufzte laut. »Bei allem Respekt, Hochwürden, das würden Sie nicht verstehen.«

»Ach?« Er kicherte. »Sie haben also doch Respekt vor mir?«

»Öhm ... nein?« Ich drückte mich verlegen in den Sitz.

Er lachte auf. »Schon gut. Ich verrate es niemandem. Aber ...« Wir näherten uns den stärker befahrenen Straßen und er musste dem Verkehr für einige Momente seine volle Aufmerksamkeit schenken. Ich lotste ihn, schwieg aber ansonsten. Doch er hatte noch etwas sagen wollen. Mit jedem Meter, den der Wagen fuhr, wuchs meine Neugier.

Ich trommelte unbewusst den Takt des albernen Songs auf dem Türgriff. »Sie sagten ›aber‹?«

»Sie glauben vielleicht, dass ich Sie nicht verstehen kann. Aber ich bin ein verständnisvoller Mann und vielleicht überrascht es Sie, was ich alles kann. Doch ich muss Sie auch nicht unbedingt verstehen. Häufig reicht es, wenn Sie über Ihre Sorgen reden. Dafür habe ich immer ein offenes Ohr, egal wie rücksichtslos Sie sich im Unterricht aufführen. Ich kann das trennen.«

Nicht nur Lehrerkumpel, auch noch Priesterkumpel. Der Tag wurde besser und besser. Vielleicht könnte ich auf dem Markt eine Kiste finden, in die der winzige Kaplan passte, und ihn für den Rückweg auf die Ladefläche schnallen.

»Also, möchten Sie mir etwas erzählen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Aber vielleicht möchten Sie mir etwas erzählen?«

Am Straßenrand tauchte der erste Wegweiser zu unserem Ziel auf. Mit der aufgehenden Sonne hatten sich auch einige Wolken verzogen, sodass die Strahlen vereinzelt die Berghänge beschienen. In den schattigen Bereichen lag noch feiner Nebel.

»Was denken Sie, was ich Ihnen erzählen möchte?« Der Kaplan kratzte sich am Kinn.

Bei unserer ersten Begegnung war er glatt rasiert gewesen, aber jetzt ließ er den Bart stehen. Seine Finger glitten zwischen blonden Haaren entlang, die seinen Kiefer umrandeten. Der Bart ließ ihn älter wirken. Leider auch reizvoller.

Ich schob den Gedanken zur Seite, um mich auf die Frage zu konzentrieren, die ich hatte stellen wollen. »Na, was Sie wollten, aber nicht bekommen haben. Und was sie stattdessen bekamen, weil sie es brauchten. Was war das?«

»Oh, das ist einfach!« Der Kaplan schwieg und fummelte an seiner Kleidung herum.

Ich verdrehte die Augen. »Und?«

»Das hier habe ich gebraucht.« Sein Finger war auf das Collar gerichtet.

Warum fragte ich auch einen Priester, was er wirklich in seinem Leben gebraucht hatte? »Okay. War irgendwie klar. Und was wollten Sie?«

»Rockstar werden.«

Die Absurdität dieser Aussage ließ mich laut und herzhaft lachen. Ich hatte mit vielen Aussagen gerechnet, nur nicht mit dieser.

Er runzelte die Stirn. »Wieso lachen Sie? Ich hätte gedacht, dass das klar wäre.«

Ich lehnte mich gegen die Tür und betrachtete ihn genauer. In dem dunklen Mantel, dem grauen Hemd mit Collar und den hellblonden Haaren sah er wie ein unschuldiger Erstsemester aus. Nie hätte ich geglaubt, dass so jemand mal Musiker hatte werden wollen.

»Zumindest hatte ich bei meiner Vorstellung erwähnt, dass ich mal Gitarrist in einer Band war«, fuhr er fort.

Ich drehte den Kopf verlegen zur Seitenscheibe. »Ich hab da vielleicht nicht zugehört«, flüsterte ich.

Zu meiner Verwunderung lachte er herzhaft über das Geständnis. »Den Blicken nach zu urteilen waren Sie da nicht der Einzige.«

»Okay, Sie wollten Rockstar werden. Was ist dann passiert?« Er zuckte mit den Schultern. »Was eben so passiert. Ich habe

Abitur gemacht, bin erwachsen geworden.«