Wir werden älter. Vielen Dank. Aber wozu? - Peter Gross - E-Book

Wir werden älter. Vielen Dank. Aber wozu? E-Book

Peter Gross

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Beschreibung

Die Lebenserwartung steigt, unsere Gesellschaft wird immer älter. Peter Gross schildert positive Effekte dieser Entwicklung: Für Junge: Verlangsamung als Korrektiv einer beschleunigten Gesellschaft. Für Ältere: Alter als Chance, einen Lebensabschnitt zu gestalten, den Generationen vor uns nicht gestalten konnten – weil sie vorher gestorben sind. Ein Buch, das Lust aufs Altwerden macht und genau hinschaut auf das, was ansteht.

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Peter Gross

Wir werden älter Vielen Dank. Aber wozu?

Vier Annäherungen

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © Getty Images

ISBN (E-Book) 978-3-451-80019-1

ISBN (Buch) 978-3-451-30699-0

für Ursula

Inhalt

Vorwort

1 Geschenktes Leben

Auftritt der Langlebigen – Der gleitende Nachen – Sinnfinsternis – Nicht-Orte – Das neue Altern – Das große Moratorium – Verkürzter Lebenslauf – Vom Sinn der Ewigkeitserzählung – Vom halben zum ganzen Leben

2 Vorzüge alternder Gesellschaften

Altern als Kulturgut – Generative Hochkulturen – Der alte Großvater und der Enkel – Wunschkinder – Wenigkinderglück – Prinzessinnen und Prinzen – Kindertotenlieder – Der kleine Julian – Weniger ist mehr – Europäischer Herbst

3 Sinn der Schwäche

Eigensinn des Alterns – Schwinden der Laster – Kleine und große Fragen – Evolutionäre Demografie – Altern heißt schwächer werden – Sinn der Schwäche – Schützender Firnis – Verblassen des Paradieses – Fundamentale Müdigkeit – Rezessive Dynamik

4 Weltmäßigung

Begleitschutz – Demografische Endzeit – Offensive und defensive Bevölkerungen – Noch einmal Malthus – Europäisches Kontrastprogramm – Ende des Steigerungswillens – Langlebigkeitskultur als Gegenprinzip – Gefahr der Überhöhung – Eintritt der Ruhestifter in die Geschichte – Weltmäßigungsprojekt – Epochaler Sinn des Alterns

Nachwort

Literatur

Vorwort

»Das Altern annehmen!«: Unter allen Ratschlägen zum guten Altwerden ist dieser Rat der am meisten verbreitete. Aber in ihm schwingt eine eigentümliche Resignation mit. Eine Resignation, die dem heutigen Altern nicht gerecht wird. Muss man dem Altern nicht vielmehr etwas abgewinnen? Etwas aus ihm machen? Auch dazu fehlt es nicht an Vorschlägen. Aber sie orientieren sich in einer unbarmherzigen Art an der Kraft der Jugendlichkeit und der Energie des Erwachsenenlebens. Die Altersratgeber mit entsprechenden Vorschlägen sind Legion. »Strengt euch an«, heißt es, »und sagt nie: Dafür bin ich zu alt.«

Aber wird das Altern damit nicht in einer unangemessenen Art verharmlost? Wird ihm nicht sein Eigenwert genommen? Altern beinhaltet doch auch Zumutungen, Empfindsamkeiten und Schmerzen. Altwerden heißt doch auch, mit Krankheiten rechnen und dem Tod ins Auge sehen müssen. Altern ist jedenfalls immer und unerbittlich verbunden mit einem Schwächerwerden und Nachlassen der Kräfte. Trotz aller Bemühungen, unsere Leistungsfähigkeit zu steigern oder mindestens zu erhalten. Hat solches Altern einen Sinn in einer Gesellschaft, die das Starke dem Schwachen, das Schnelle dem Langsamen und ein Wachstum der Minderung vorzieht?

Die Verlautbarungen der Politik strotzen dementsprechend von Vorhaltungen über den derzeitigen demografischen Zustand. Besorgte Politiker und Wissenschaftler operieren mit Statistiken über einen kommenden altersbedingten Niedergang Europas und beschwören ein halbes Jahrhundert nach dem Aufspüren einer »Bevölkerungsbombe« (womit der amerikanische Biologe Paul Ehrlich das ungebremste Wachstum der Weltbevölkerung meinte) einen neuen, aus der Zunahme der älter werdenden Menschen resultierenden Alterssprengstoff. Eine demografische Endzeit.

Aber den Sprengstoff der Alterung sehen Politik und Wirtschaft einseitig in der unsicheren Zukunft der Alterssicherungssysteme. Das Wachstum der Lebenserwartung und die Vorzüge kinderarmer Bevölkerungen werden selten erfreut zur Kenntnis genommen. Dass die Frauen bei uns bloß noch, wie es abschätzig heißt, »eineinhalb Kinder« zur Welt bringen, die Bevölkerung stagniert und, was Europa betrifft, sogar längerfristig schrumpft, ist vielmehr Gegenstand sorgenvoller, wenn nicht apokalyptisch angehauchter Studien.

Ist es nicht paradox, dass die imposante Steigerung der Lebenserwartung, der gute Gesundheitszustand und die nach allen Untersuchungen glückliche Alterszeit so abschätzig behandelt werden – als wäre der Übertritt ins Alter der Eintritt ins Krankenhaus? Fernab der Realität des Älterwerdens, verständnislos gegenüber der erstmalig möglichen Vervollständigung eines in der Vormoderne verstümmelten Lebens und blind, was die desolaten demografischen Zustände in den meisten Teilen der Welt betrifft, lauten die politischen Ermahnungen, die Bevölkerungen Europas sollten den demografischen Rückwärtsgang einlegen und das Rad der demografischen Evolution zurück in eine vormoderne (mit modernen Augen gesehen: barbarische) demografische Steinzeit mit vielen Kindern und wenigen Alten drehen.

Gewiss wäre es eine Verharmlosung, im Altern nur den Glücksfall, ein gelobtes Land sehen zu wollen. Wer altert, erlebt auch Verletzungen, verwirrende Vorkommnisse und bittere Erfahrungen. Aber das gilt für alle Lebensabschnitte, für die Pubertät und die Erwerbszeit vielleicht noch mehr als für das Alter. Altern enthält Zumutungen und glückhafte Momente, herrliche Aufregungen und tiefe Depressionen. Aber vor allem Raum für das Nachdenken. Würden wir nicht alt, könnten wir uns keine Gedanken über das Altern machen. In wenigen Jahrhunderten haben wir in Europa (und einigen außereuropäischen Länder wie Japan, Südkorea, den USA) in den letzten Jahrhunderten mehr Lebenszeit geschenkt bekommen als in den zehntausend Jahren vorher. Eine Lebenszeit von acht Jahrzehnten ist in den westlichen Ländern Realität geworden. Es genügt aber eben nicht, das Geschenk dankend entgegenzunehmen. Und es unausgepackt liegen zu lassen.

Was heißt das aber, man solle das Altern nicht nur annehmen, sondern etwas aus ihm machen? Das ist offenkundig ein schönes und gutes Motto. Was fällt einem für die gewonnenen Jahre nicht alles ein! Aufräumen. Die Fotografien von gestern ordnen. Endlich Freunde einladen, die man schon lange nicht mehr gesehen hat. Meditieren. Arabisch lernen. Weltreisen. Fahrrad fahren. Überhaupt das Leben in Ordnung bringen. Aber dieses muntere Motto hat auch etwas Unverschämtes. Für vieles ist man zu alt. Nur wer feige ist, wagte das zu leugnen. Die Frage nach dem Sinn der gewonnenen Jahre verlangt also mehr. Das Alter verlangt nicht nach irgendeiner Deutung. Sondern nach einer Sinngebung der Schwäche. Und zwar auch für das hohe Alter, in dem Gebrechlichkeit, Erschöpfung und Rückzug vorherrschen. Denn allem Altern ist das Nachlassen und Schwächerwerden gemeinsam. Dieser Tatsache ins Auge zu sehen und ihr einen Sinn abzutrotzen zu versuchen, das ist alles andere als einfach.

Die Frage nach dem Sinn dieses neu entstandenen Lebensabschnittes, des »dritten« Alters, eines Rest-Lebens, das sich in wenigen Jahrhunderten extrem dehnte, aber keine Aufgabe mehr zu haben scheint, ist angesichts der demografisch am stärksten wachsenden Gruppe dringlich. Es ist die Frage nach dem Sinn eines Lebens, das sich in einer eigentümlichen Weise nicht mehr in die Breite, sondern in die Höhe entwickelt, eines Lebens mit weniger Kindern, aber mehr und immer länger zusammenlebenden Generationen, eines Lebens schließlich, das je älter, desto schwächer und funktionsloser wird und schließlich wie alles kreatürliche Sein mit dem Sterben endet.

Für den frühen Tod im Mittelalter, wo Krieg, Pest und Cholera die Menschen früh aus dem Leben rissen, schenkte die Religion Trost. Ein segensreicher, die Tränen stillender Lebensabend ließ sich nach christlicher Auffassung erst nach dem Tod außerhalb der irdischen Welt in einem Jenseits erwarten. Das Leben in dieser Welt blieb ein Torso. Die aus dieser Vorstellung abgeleitete Welt- und Todesanschauung hat das für die meisten Menschen kurze Leben in vormodernen, in Europa noch weit in das 19. Jahrhundert hineinreichenden Gesellschaften gezähmt und den Menschen Trost gespendet. Sie sind Symptome des Leidens an einer Vergänglichkeit, die ganz anders geartet war. Das Altern, wie wir es heute kennen, gab es nicht. Dem Leben fehlte es an Vollständigkeit, die naturwüchsige Folge der Lebensstadien wurde gestoppt, dem Leben fehlte der Schluss.

Der letzte Teil des Lebens war wie weggerissen. Das Leben blieb Fragment, eine unversorgte offene Wunde. Beklagt wurde die Kürze des Lebens. Dem Buch des Lebens fehlte das Nachwort. Dafür gab es gnädige Vertröstungen auf eine ewige Seligkeit in einer anderen Welt. Es entstand eine Lücke, und das ewige Leben war ein segensreicher, das kurze auf dem Höhepunkt der Schaffenskraft gekappte Leben erst erträglich machender Lückenbüßer. Der christliche Ewigkeitsglaube trat und tritt, wenn auch unter völlig veränderten Lebensumständen, für die Gläubigen in die Leerstelle. Und füllt diese, wie es heißt, mit seinem Atem.

Heute erinnern nur mehr die Todesanzeigen und Grabsteine mit ihren Widmungen und Symbolen an diese untergegangene Zeit. Der mythische Proviant geht zur Neige. Jenseitsvorstellungen werden ausgehöhlt. Man will ein Jenseits im Diesseits. Der späte und der manchmal zu späte Tod, die Entkräftung und der körperliche Verfall sind es, die deshalb eine Deutung verlangen. Und diese kann keineswegs nur eine freundliche und generös positive sein. Die Defizite im Alter, das Schwächerwerden, das Schwinden der Kräfte, die Verluste an sozialen Kompetenzen dürfen nicht verharmlost werden. Nicht verharmlost – aber auch nicht einfach hingenommen. Sie rufen nach einer Sinngebung.

Das ist die drängende und zentrale Frage. Man kann sich ihr nicht entziehen, wenn man älter wird. Auch die zahllosen fröhlich gestimmten Altersratgeber können sich dieser Frage nicht verschließen. All die gut gemeinten Altersmodelle, die dem Alter hohe Tatkraft und Beweglichkeit zubilligen, kommen um die unerbittlichen defizitären Begleiterscheinungen nicht herum. Je mehr Menschen alt werden, desto dringlicher wird die Frage nach dem Sinn dieses seit Jahrhunderten und unterdessen im Weltmaßstab sich fortsetzenden altersbedingten Schwächerwerdens ganzer Gesellschaften. Die Frage nach dem Sinn eines solchen Lebens erhebt sich sogar umso lauter, je leiser das Leben wird.

Die moderne Gesellschaft muss sich mit einer solchen Sinnfindung schwer tun. Sie ist auf Kraft und Wachstum getrimmt. Sie ist eine Kraftmaschine. Altern ist Schwäche, Wüste und Notstandsgebiet. Es ist widerspenstig und merkwürdig antiquiert. Im Alter kumulieren sich in einem fort die Widrigkeiten: Rentenkollaps, Pflegenotstand, Rationierung von Hüftgelenken, Harnstottern, Vergesslichkeit, Alzheimer, Multimorbidität, Krieg der Generationen, Stagnation, schleichende Überalterung, Konkurrenzierung durch neue Einwanderungswellen, schließlich demografischer Untergang, Entvölkerung und Aussterben. Altwerden ist unerbittlich an die Leiblichkeit gebunden und deshalb prinzipiell von Einschränkungen, einem Nachlassen der Kräfte und dem Verlust des Nutzwertes für den gesellschaftlichen Fortschritt, von Entkräftung und letztlich auch Verfall betroffen. Was soll das für einen Sinn haben? Und wie können sich unter diesen Voraussetzungen positive Altersbilder entwickeln? Versagensangst und Scham sind es, die die Alten angesichts der verkabelten und mit allen Finessen einer ständig sich erneuernden Technik bewaffneten Jugend befallen.

In einer Welt ewiger Tüchtigkeit findet deshalb Alter schwerlich einen Platz. Es sei denn, es ist mit Macht, Einfluss und Geld verbunden. Umso mehr wird der Jugend und dem Kind hofiert. Eine Gesellschaft, die Spitzenleistungen, Kraft und den faustischen Menschen prämiert, die dem Jugendkult huldigt und die Kindheit verklärt, muss sich mit Altwerden, das ein schrittweises Abschiednehmen vom Getriebe der Welt bedeutet, offenkundig schwer tun. Dabei gewinnt das Leben im Altwerden erst seine Abrundung und Vollendung. Zum Werden gehört das Vergehen. Das Leben wird endlich nach Hunderttausenden von Jahren in einem zunächst formalen Sinne vervollständigt. Der Lebenskreislauf wird endlich geschlossen. Ein großartiger Erfolg moderner Gesellschaften. Auch wenn, wie der römische Philosoph Seneca es in seiner Schrift »De brevitate vitae« betont, dass Leben nur dann kurz sei, wenn man die Zeit nicht nutze.

Welche Anstrengungen auch unternommen werden: Das Alter verwandelt uns, wie unterschiedlich wir ansonsten auch sein mögen. Der Körper wird langsamer, wie schnell auch der Geist noch schaltet. Die Langlebigkeit hat Auswirkungen auf die Gesellschaft als ganze. Die Sinnfindung bekommt, wenn man das Altern moderner Gesellschaften von den persönlichen Befindlichkeiten ablöst, eine epochale Dimension. Braucht die moderne Gesellschaft, die sich so mit Haut und Haaren dem Steigerungsimperativ, dem »Schneller, Höher, Weiter« und den Maßstäben der Produktivität verschrieben hat, nicht ein Moratorium? Ist die moderne Welt nicht in einen Erschöpfungszustand hineingeraten, der allerorten sichtbar wird? Knirscht es nicht, wo immer man genauer hinhört, im Gebälk und in den Fundamenten unserer Gesellschaft? Und beschädigt die radikale Ausbeutung der Erde und die rigorose Auspressung des Menschen für ein mysteriöses Zukunftsglück nicht die Grundlagen dieses Traums – und die Lebenswelt künftiger Generationen? Hat, mit anderen Worten, die Weltgesellschaft nicht ihre Grenzen erreicht, und steuert sie nicht anstelle einer Vollendung einem Crash entgegen?

Unsere Zivilisation wird als Alters-, als Langlebigkeitsgesellschaft einen anderen Weg zu nehmen versuchen. Einer Welt, die der Maßlosigkeit, dem Wachstums- und Steigerungsrausch verfallen ist und darum das Altern, dessen Charakteristika Nachlassen und Schwäche sind, schlechtredet, mag das Beschwören eines solchen Korrektivs exotisch und verwegen erscheinen. Ist aber die Vorstellung einer altersbedingten Weltmäßigung angesichts einer ihre eigenen Grundlagen verzehrenden Welt nicht plausibel? Plausibel und gleichzeitig weltfremd? So weltfremd, wie ein solcher Gedanke in einer auftrumpfenden und das Schwache verachtenden Welt nur sein kann?

Das Altwerdenkönnen ist, so meine Annahme, keine sinnlose und der Verschwendung zugeeignete Zeit, sondern ein großartiges, ein segensreiches Geschenk, das eine Befriedung des gelebten Lebens und ein Vordringen der Mäßigung und Genügsamkeit ermöglicht. Es initiiert inmitten der Gesellschaft eine mit dem Wachstum der Lebenserwartung wachsende Besinnung auf eine Lebensweise, die dem Druck der Zeit entgegensteht. Und das im Nachlassen und Schwächerwerden sich verbergende Weltfremde und -mäßigende ist vielleicht das Weltnotwendige. Die Langlebigkeitsgesellschaft führt nicht zum demografischen Untergang, sondern ist letztes und wünschenswertestes Stadium einer demografischen Evolution, in das früher oder später hoffentlich auch die gesamte Weltbevölkerung einmündet. Das wollen die folgenden Annäherungen zu zeigen versuchen. Annäherungen, die notgedrungen angesichts des täglich fortschreitenden Älterwerdens, auch von mir, unfertig und zuversichtlich zugleich sind.

1Geschenktes Leben

Müsste ich mit einem Wort zu sagen versuchen, was die folgenreichste Neuerung der letzten Jahrhunderte sei, so würde ich ohne Zögern das Wachstum der Lebenserwartung nennen. Die Umbrüche, die sich seit dem Beginn der Moderne in der europäischen Gesellschaft ereignet haben, sind ohne diese demografische Entwicklung nicht denkbar. In den letzten zwei Jahrhunderten hat sich die Lebenserwartung des Europäers mehr als verdoppelt, in den letzten 150 Jahren verdreifacht. Während der Eintritt der Massen in die Geschichte und die revolutionären Umstürze des vergangenen und des vorvergangenen Jahrhunderts als epochale und die Geschichte der Neuzeit prägende Ereignisse gesehen werden, wird der Eintritt des massenhaften Alterns in die Weltgeschichte und die erstmals für so viele Menschen mögliche »natürliche« Beschließung des Lebens in seiner geschichtlichen Bedeutung nicht gewürdigt, sondern in einer Mischung von Aufregung und Untergangsphantasien beklagt. An einer Hand abzählbar sind die Stimmen, die im Altern eine Erfolgsgeschichte unserer Zivilisation sehen und die aktuellen Debatten auf die glückhaften Umstände dieses Erfolges einstimmen.

Auftritt der Langlebigen

Der Auftritt der Langlebigen auf der Weltbühne, diese, wie die Amerikaner sie nennen, Langlebigkeits-Revolution ist freilich unmerklich, Altersfeinde sagen: schleichend. Deshalb das Dämmerlicht. Aber Tag für Tag werden die Europäer älter. Tag für Tag gewinnen wir, die Schweizer und die Deutschen und die Europäer, sechs Stunden Lebenserwartung, das sind Jahr für Jahr drei Monate. Das Durchschnittsalter der Weltbevölkerung beträgt dreißig, jenes in West-Europa über achtzig Jahre. Immer mehr Menschen sterben eines natürlichen Todes. Gleichzeitig werden wir weniger. Europa wächst nicht an Köpfen, aber an Jahren. Ein Mädchen, das heute hier geboren wird, wird fast neunzig Jahre alt werden. Würde man die länderspezifischen Lebenserwartungen auf der Welt in einer dreidimensionalen Relief-Karte darstellen, Europa wäre gebirgig, der Großteil der Welt flach.

Dieses imposante Wachstum der Lebenserwartung ist, wenn es nicht in seinen Kosten aufgerechnet wird, in seiner individuellen und gesellschaftlichen Bedeutung marginalisiert und negativ besetzt. Die erreichten Lebensjahre erscheinen nicht als Zeit der Reife, sondern des Unglücks, das Gebirge bietet keinen Schutz, sondern wirft dunkle Schatten. Gewiss, Altern ist auch eine Zeit der Melancholie, der Mühsal und Pein. Nicht immer eine wohltuende Gabe, sondern häufig ein Danaergeschenk. In langen Zeiträumen allerdings entfernt sich der Tod mit dem Anwachsen der Lebensspanne. Er wird zurückgedrängt. Dieses Zurückdrängen hat Implikationen. Die erreichte Langlebigkeit wartet mit neuen Sachlagen und Herausforderungen auf. Die mit der Verdopplung der Lebenserwartung gewonnenen Jahre eröffnen indes ein großes, in der bisherigen Geschichte ohne Beispiel aufbrechendes Lebenszeitfenster. Das Leben gewinnt eine neue Gestalt, die noch der Bearbeitung harrt. Eine lange und immer noch länger werdende Zeit, die sich wie ein unbekanntes Land vor uns auftut, eine Fristerstreckung. Ein Altern, das ein rätselhafter Nicht-Ort bleibt. Versehen mit einer Landkarte, in der die Orte, die Höhen und Tiefen noch nicht kartografiert sind. Ein Nicht-Ort, der lediglich dadurch gekennzeichnet ist, dass ihn alle früher oder später erreichen werden. Denn alle werden älter und wollen noch älter werden. Aber wofür?

Der gleitende Nachen

Nichts gibt diese Dehnung der Lebensspanne besser wieder als Arnold Böcklins zwischen 1880 und 1886 in fünf Versionen entstandene »Toteninsel«: ein Bild, das eine aus dem Meer aufragende felsige Insel zeigt, die mit Trauerzypressen bewachsen ist und in die Grabkammern eingelassen sind. Ein Nachen mit einer geheimnisvollen, weißen, aufrecht im Bug stehenden Gestalt gleitet auf die Insel zu. Das Ziel ist deutlich sichtbar: das Nichts des Todes, eine schwarze Gruppe von Bäumen, ein Loch, auf das sich der Nachen, in dem sich überdies noch ein Sarg und ein Ruderer befinden, schwerelos zubewegt, ohne dass der Fährmann sich selber abmüht. Die Überfahrt selbst war zu Zeiten Böcklins kurz. Heute ist sie von immer ausgedehnterer Dauer. Die mit dem gleitenden Nachen symbolisierte Überfahrt dauert von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat, von Stunde zu Stunde länger. Und immer mehr Generationen sind gemeinsam unterwegs.

Die Spanne zwischen Leben und Tod war in früheren Zeiten kurz, das Leben unvollständig. Ein Teil, das Alter wurde ihm wie weggerissen und erhielt seine Weihe erst in einer anderen Welt. Dieser Welt hat etwas gefehlt, was die andere Welt zusammenzufügen schien. Erst in der Moderne wird das Leben gegenüber der Vormoderne vervollständigt und in einem vorerst formalen, biologischen Sinne ganz. Die in einer barbarischen Weltgeschichte verlorene Zeit wurde in weniger als zwei Jahrhunderten aufgeholt und der biologisch möglichen Lebenszeit entgegengetrieben.

Die weiße Gestalt im Fährboot von Böcklin hat ihr Gesicht vom Betrachter abgewandt. Sie erscheint wie erstarrt im Angesicht des Endes. Eine Apokalypse im Stillstand. Aber das Gleiten ist das Neue, nicht das Sterben. Sterben müssen alle. Lang zu leben war ein Geschenk für wenige. Wir werden heute alle so alt wie früher ausgesuchte Einzelne. Das Gleiten dauert immer länger. Ein Gleiten, das es in der Vormoderne nur in Ausnahmefällen gab. Das Altern nimmt heute fast einen Drittel der Lebenszeit ein. Historisch ohne Beispiel dehnen sich die gewonnenen Jahre. Und ohne Beispiel ist die Zeit, die gewonnen wurde und weiterhin gewonnen wird.

Das Leben verändert sich mit der Dehnung der Lebensspanne. Die bisherige Gestalt nimmt eine neue Form an. Die Lebensphasen sind ja keine gleichwertigen und eigenschaftslosen Dimensionen. Das in der Zeit gelebte Leben ähnelt eher einer Sonate mit unterschiedlichen Sätzen und Tempi. Der Schlußsatz mit den gewonnenen Jahren hat zweitausend Jahre gefehlt. Die geschenkten Jahre sind noch wie Notenblätter ohne Noten, die ihrer Bearbeitung harren. Schon Versuche, das neue und lange Altern terminologisch zu benennen, sind vielfältig. Man behilft sich mit einem dritten Alter, mit »Best-Agern« und »Silver-Agern«, mit einer »Generation plus«, einem »Golden Age«, den, wenn man das neue Altern meint, »Midlife-Boomern« oder schlicht Seniorinnen und Senioren. Auch diese Schwierigkeit verweist auf einen Vorgang, der epochal neu und entsprechend schwer wägbar ist.