Wissen. Macht. Angst. - Liv Morus - E-Book

Wissen. Macht. Angst. E-Book

Liv Morus

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Beschreibung

Ein Teilnehmer der Münchner Herz-Tage, einer Fortbildungsveranstaltung für Mediziner, wird tot im Garten des Kongresshotels aufgefunden. Kriminalhauptkommissar Henri Wieland bekommt bei den Ermittlungen Unterstützung von Reporterin Elisa Gerlach, nachdem sich herausstellt, dass der Tote kein Arzt war, sondern Journalist. Er war einem Korruptionsfall in der Pharmaindustrie auf der Spur. Elisa nutzt ihre Pressekontakte, um seine Recherche nachzuvollziehen. Henri stößt mit seinem Team dagegen auf eine Mauer des Schweigens. Doch dann wird der Täter nervös ...

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Über das Buch

Ein Teilnehmer der Münchner Herz-Tage, einer Fortbildungsveranstaltung für Mediziner, wird tot im Garten des Kongresshotels aufgefunden. Kriminalhauptkommissar Henri Wieland bekommt bei den Ermittlungen Unterstützung von Reporterin Elisa Gerlach, nachdem sich herausstellt, dass der Tote kein Arzt war, sondern Journalist. Er war einem Korruptionsfall in der Pharmaindustrie auf der Spur. Elisa nutzt ihre Pressekontakte, um seine Recherche nachzuvollziehen. Henri stößt mit seinem Team dagegen auf eine Mauer des Schweigens. Doch dann wird der Täter nervös ...

Über die Autorin

Liv Morus wuchs im Rheingau auf. Heute lebt sie mit ihrer Familie in der Nähe von München, wo auch ihre Krimireihe um Journalistin Elisa Gerlach und Kriminalhauptkommissar Henri Wieland angesiedelt ist. Mehr auf www.livmorus.de.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Prolog

Zehn Monate vorher

»Wir haben ein Problem!« Die Tür des Besprechungsraums klappte zu. Die Gespräche der anderen fünf verstummten.

»Wir haben doch keine Probleme«, – polterndes Lachen –, »höchstens Herausforderungen.«

»Dir wird das Lachen vergehen, wenn du hörst, was ich gerade erfahren habe.«

»Ach ja? ... Was denn?«

»Das Sanivocumab scheint langfristig nicht das zu halten, was die ersten Tests belegt haben.«

»Was soll das heißen?!?«

»Dass die anfänglich festgestellten positiven Ergebnisse sich über einen längeren Zeitraum nicht bestätigen. Im Durchschnitt haben die Patienten der Testgruppe keine besseren Werte als die der Vergleichsgruppe.«

Betretenes Schweigen. Eine Fliege surrte wieder und wieder gegen die Fensterscheibe.

»Ist das das offizielle Ergebnis der letzten Testphase?!?«

»Nein ... das ist eine inoffizielle Information des Studienleiters. Er hat mich angerufen, um mir mitzuteilen, dass die Studienergebnisse ... äh ... nicht ganz unsere Erwartungen erfüllen werden.«

Verlegenes Räuspern.

»Kein Mensch wird bereit sein, so viel Geld für eine Therapie zu bezahlen, die wirkungslos ist. Kein Patient und keine Krankenkasse.«

»Von wirkungslos kann nicht die Rede sein! Die Testphase 1 hat eindeutig bewiesen, dass das Sanivocumab einen positiven Effekt erzielt!«

»Aber was nützt das, wenn sich der positive Effekt schon nach einem Jahr in Luft auflöst?«

»Ich fasse es nicht! Wir haben so viel Zeit und Geld in die Entwicklung dieses Wirkstoffs gesteckt!! Das kann doch nicht alles umsonst gewesen sein!!!«

»Lasst uns nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen. Nur weil dieser erste Langfristtest nicht das gewünschte Ergebnis bringt, heißt das nicht, dass alles, was wir bisher erreicht haben, ungültig ist. Vielleicht kamen bei dem Test mehrere ungünstige Faktoren zusammen, die das Ergebnis verfälscht haben. Ist denn die Größe der Testgruppe und der Vergleichsgruppe überhaupt aussagekräftig?«

»Eigentlich schon ...«

»Aber man weiß natürlich nicht, inwieweit andere Erkrankungen bei den untersuchten Personen das Ergebnis verfälschen. Es gibt genug Fälle, bei denen nachfolgende Studien gezeigt haben, dass das erste Studiensetting fehlerhaft war.«

»Mit diesem Auftragsforschungsinstitut haben wir bisher nur gute Erfahrungen ...«

»Ich sage ja nicht, dass es an dem Institut liegt. Die können schließlich auch nicht in die Testpersonen reinschauen. Manchmal gibt es noch andere Umstände, die ein Testergebnis beeinflussen. Ich weigere mich, von heute auf morgen den Glauben an all das Gute, was wir mit diesem Medikament für die Menschen bewirken können, aufzugeben.«

»Ja ... nein ... es wäre natürlich schade ...«

»Es wäre nicht nur für die Patienten schade, die das Medikament brauchen, sondern auch für unser Unternehmen und alle Mitarbeiter.« Den spöttischen Unterton konnte keiner überhören. »Wir brauchen dringend ein neues Flaggschiff. Die Generika bringen uns nicht annähernd so viel Gewinn, wie wir erhofft hatten.«

»Wird dieses ... sagen wir ... Zwischenergebnis ... die Zulassung des Wirkstoffs beeinträchtigen?«

»Ich denke schon. Man wird mindestens eine weitere Testphase verlangen.«

»Eine weitere Testphase?!? Das wäre der Supergau für die Einführung! Unsere PR-Kampagne läuft bereits. Natürlich unauffällig und zurzeit noch unabhängig von unserem Medikament, aber zeitlich genau auf die Einführung und die dann einsetzende Werbekampagne abgestimmt. Wenn sich der Start verzögert, dann haben wir unser ganzes Pulver umsonst verschossen.«

»Wir haben Artikel platziert, wir sind in Kontakt mit führenden Medizinern ...«

»Ich weiß, ich weiß ...«

»Wir können uns jetzt keinen Abbruch leisten!«

»Aber ... wir wollen doch auch nicht ein ... äh ... wirkungsloses Medikament auf den Markt bringen ...?«

»Natürlich nicht! Nur so lange nicht zweifelsfrei bewiesen ist, dass das Sanivocumab keinen Nutzen für die Patienten hat, wäre es ein Verbrechen, die Entwicklung einzustellen. Wir lassen die Studie weiterlaufen, um valide Daten über einen möglichst langen Zeitraum zu erhalten. Und parallel führen wir das Medikament ein. Wie die Studienphase 1 gezeigt hat, hat es ja durchaus einen großen Nutzen für die Patienten.«

»Aber mit dem aktuellen Studienergebnis werden wir keine Zulassung für den Wirkstoff bekommen ...«

Das Surren der Fliege gegen die Fensterscheibe war das einzige Geräusch, das zu hören war.

»Ich werde das regeln.«

»Wie willst du das machen?«

»Ich spreche mit meinem Freund. Da lässt sich bestimmt was machen.«

»Ist er dir einen Gefallen schuldig?«

»Nein, das nicht ...« Kurzes Schweigen. »Vielleicht brauchen wir etwas Geld, um ihm seine Entscheidung zu versüßen. Können Sie spurlos ein nettes Sümmchen abzweigen?«

»Kein Problem.«

»Gut, dann machen wir es so.« Demonstrative Pause. »Ich verlasse mich darauf, dass das, was wir gerade besprochen haben, in diesem Raum bleibt. Sonst ist mit erheblichem Schaden für das Unternehmen und somit für jeden einzelnen von uns zu rechnen. Haben wir uns verstanden?«

Niemand sagte etwas.

»Haben wir uns verstanden?«

Zögerliches Nicken, zustimmendes Gemurmel, hastiges Zusammenschieben von Unterlagen und eiliges Stühlerücken. Es schien, als flüchteten alle aus dem Raum.

Kapitel 1

Maja Johansson nickte dem Taxifahrer zu, umfasste den Griff ihres Trolleys und zog ihn zum Eingang des Pistorius. Das Hotel lag keine fünf Fahrminuten vom Verlag entfernt, das Taxi war vollkommen überflüssig gewesen, doch ihre Verlegerin hatte darauf bestanden. Dabei hätte Maja gern bei einem Spaziergang frische Luft geschnappt. Am Morgen war sie vom Flughafen direkt zum Verlag gefahren und hatte die Sonne den ganzen Vormittag nur durch die Scheiben des Besprechungsraums gesehen.

Das Hotel lag direkt am Englischen Garten, Maja sah hohe Bäume hinter dem Gebäude. Dort konnte sie sich später noch die Füße vertreten. Jetzt hatte Maja erst mal Hunger. Die Butterbrezeln, die ihr während des Gesprächs im Verlag angeboten worden waren, hatten nicht lange gesättigt.

Vor dem Eingang tummelten sich jede Menge Raucher. Viele hielten Unterlagen in der Hand, die meisten trugen Anzug oder Kostüm, alle hatten ein weißes Namensschildchen an der Kleidung. Aufgeklappte Plakatwände und rote, herzförmige Luftballons verkündeten, dass gerade die ersten Münchner Herz-Tage im Pistorius stattfanden.

Maja folgte der Spur der Luftballons in die Hotelhalle, in der ähnlich viel los war wie vor der Tür. Sie bahnte sich mit dem Trolley im Schlepptau einen Weg durch das Gedränge zur Rezeption.

»Herzlich willkommen im Grandhotel Pistorius«, sagte eine junge blonde Frau zu ihr und lächelte Maja freundlich an. »Was kann ich für Sie tun?«

»Meine Verlegerin hat ein Zimmer für mich reservieren lassen. Auf den Namen ... Marie Larsen.«

Die junge Frau sah in ihren Computer und nickte kurz darauf bestätigend.

»Wenn Sie sich bitte hier eintragen würden, Frau Larsen?«

Sie schob einen Block mit Anmeldeformularen und einen Stift über den Marmortresen. Maja füllte die nötigen Felder aus.

»Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise.«

Der Ton der Frau war sanft, ihr Interesse wirkte echt.

»Ja, vielen Dank.« Maja legte den Stift auf den Block und schob ihn über den Tresen zurück. »Wäre es möglich, jetzt noch einen Imbiss zu bekommen?«

Es war kurz nach drei, das Mittagsbuffet war vermutlich schon abgeräumt worden.

»Natürlich. Wenn Sie möchten, lasse ich Ihren Koffer auf Ihr Zimmer bringen und Sie können sofort ins Restaurant gehen.«

Maja ließ ihren Blick durch die Halle schweifen. Die Menschenmenge unter dem gigantischen Kronleuchter in der Hallenmitte wurde immer größer. Das altehrwürdige Gebäude schien aus allen Nähten zu platzen.

»Gibt es irgendwo einen Ort, wo nicht so viel los ist?«

Die blonde Frau lächelte.

»Das sind die Teilnehmer der Herz-Tage, eine Fortbildungsveranstaltung für Mediziner. Im Moment ist gerade Kaffeepause, aber die Meute wird sich gleich wieder in den Saal zurückziehen.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich würde Ihnen den Rosengarten empfehlen. Dort dürften Sie um diese Uhrzeit ungestört sein.«

»Das klingt gut.«

Die Rezeptionistin deutete auf einen Flur zu ihrer Linken.

»Wenn Sie hier entlang gehen, stoßen Sie auf eine Glastür, die hinaus in den Garten führt. Ich kümmere mich um Ihr Gepäck und schicke sofort jemanden, der Ihre Bestellung aufnimmt.«

»Vielen Dank.«

Maja nahm die Tasche mit ihren Unterlagen und stellte den Trolley seitlich neben der Rezeption ab. Sie folgte dem gebogenen Flur und trat durch die Glastür hinaus ins Freie. Auch draußen hielten sich einige Mediziner auf, doch die meisten machten sich gerade auf den Weg zurück ins Gebäude. Die Kaffeepause schien vorbei zu sein.

Der Rosengarten musste schon vor langer Zeit angelegt worden sein. Strauchrosen, Stammrosen und kleine Hecken bildeten eingewachsene Nischen, überall blühte es und der Duft, den die Rosen verströmten, war intensiv. Die Vögel zwitscherten, der Garten war eine friedliche Oase, in der man den Alltag vergessen konnte. Bequem anmutende Loungemöbel luden zum Hinsetzen ein. Maja wählte eine kleine Sitzgruppe in der Sonne mit einem Tisch, an dem sie sowohl essen als auch arbeiten konnte.

Kaum hatte sie sich niedergelassen, erschien ein Kellner und brachte ihr die Speisekarte. Sie entschied sich für Penne Arrabiata und einen kleinen Salat. Und dazu ein Glas Sekt. Sie hatte schließlich etwas zu feiern. Ihre Verlegerin wollte nach dem großen Erfolg von Majas erstem Buch eine ganze Reihe von Frauenporträts in Romanform herausgeben.

Sie hatte grundsätzlich alle Persönlichkeiten, die Maja vorgeschlagen hatte, interessant gefunden, doch besonders begeistert war sie von der Idee gewesen, gleich den nächsten Roman Püppi zu widmen. Während des Gesprächs war Maja jedoch klargeworden, dass sie niemals über ihre Großmutter schreiben könnte, ohne sie bloßzustellen.

Die Verlegerin hatte keine Ahnung, was die Frauen verband. Sie sah nur ihre beeindruckenden Persönlichkeiten und Lebensgeschichten; die ungewöhnliche Rolle, die sie alle vortrefflich ausgefüllt hatten. Doch Maja stand ihnen nahe – zumindest Püppi und Denise. Sie hatte eine persönliche Beziehung zu ihnen. Es war eine Sache, Denise zu interviewen und über sie zu schreiben, aber eine ganz andere, sich mit Püppis komplexer Persönlichkeit auseinanderzusetzen. Das Porträt über Denise war rundum gelungen. Wenn Maja an den Erfolg anknüpfen wollte, dann musste sie über jemand anderen schreiben. Vielleicht über Frances. Warum eigentlich nicht? Sie konnte nach New York fliegen und noch einmal mit ihr sprechen. Wie das alles gewesen war, als sie damals ihr Unternehmen aufgebaut und zum Florieren gebracht hatte. Darüber würde Frances nur zu gern mit ihr reden. Oder wie wäre es mit Amber? Oder June? Mit beiden stand sie in regem Kontakt. Es war beeindruckend zu sehen, wie sie ihr Leben auf den Kopf gestellt hatten. Starke Frauen, genau wie Denise ...

Maja lehnte sich zurück und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen, während sie über die Porträtreihe nachdachte. Ihre Verlegerin machte ihr keine Vorgaben, aber wenn sie sich in zwei Tagen mit der Lektorin traf, wäre es gut, bereits eine konkrete Vorstellung von der Fortsetzung ihrer Reihe entwickelt zu haben.

»Was soll das?«, hörte Maja aus weiter Ferne. Sie öffnete die Augen, doch niemand außer ihr selbst hielt sich im Rosengarten auf.

»Sind Sie verrückt geworden?«

Die Stimme kam von oben. Maja legte den Kopf in den Nacken und sah am Gebäude hoch. Pflanzen, die über die Betonbrüstung herunterhingen, verrieten, dass sich auf dem Dach eine begrünte Terrasse befinden musste. Maja sah einen Arm in der Luft, dann noch einen. Was ging dort vor? Sie beugte sich nach vorn, konnte aber nicht mehr sehen.

»Lassen Sie mich los!« Die Stimme war voller Panik. »Hilfe!«

Auf einmal stürzte ein Körper über die Brüstung, ein Mann in dunkler Kleidung. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Maja hielt die Luft an, sie wusste nicht, ob sie oder der Mann geschrien hatte. Das Geräusch, als der Körper am Boden aufschlug, war grässlich; er prallte seitlich auf, der Kopf zerschellte, Knochen brachen. Maja sah instinktiv nach oben, als sie auf der Dachterrasse eine Bewegung wahrnahm, doch da war nur für einen kurzen Augenblick eine Hand zu sehen, dann nichts mehr. Sie schluckte. Der Mann lag etwa dreißig Meter von ihr entfernt am Boden, er war auf dem gepflasterten Weg aufgeschlagen, der vom Garten um das Hotel herum zum Haupteingang führte. Nichts hatte seinen Aufprall gebremst. Ihm war nicht mehr zu helfen.

»Penne Arrabiata und ein kleiner Salat«, sagte der Kellner plötzlich neben Maja und stellte einen Teller mit dampfenden Nudeln vor ihr auf den Tisch. Sie würgte, sprang auf und erbrach sich mitten in die herrlich duftenden Rosen.

Kapitel 2

Lenz sah hoch, als Tanja das Büro betrat. In den Händen hielt sie zwei Kaffeetassen. Seit Henri im Urlaub war, kam sie mehrmals am Tag bei Lenz vorbei, brachte ihm Kaffee mit und setzte sich zum Reden auf Henris Platz.

»Kaffee?«, fragte sie auch diesmal. Es war bereits die dritte Tasse an diesem Tag. Lenz würde in der Nacht nicht zum Schlafen kommen, doch er nickte bereitwillig. Tanja stellte die Tasse vor ihm ab und nahm gegenüber auf Henris Stuhl Platz.

»Freust du dich, wenn Henri morgen wieder da ist?«, fragte Tanja.

Nicht, wenn du dann nicht mehr so oft zum Kaffeetrinken rüberkommst.

»Ich bin froh, dass wir keinen neuen Fall bekommen haben«, wich Lenz aus. Seit Mitternacht hatte das Team Bereitschaft. Roman Richter, Polizeioberrat und Henris direkter Vorgesetzter, hatte sich im Vorfeld heftig echauffiert, als Henri seinen Urlaub um einen Tag verlängern wollte, weil er Karten für Aida in der Arena von Verona ergattert hatte, und somit erst nach Beginn der Bereitschaft zurückkommen würde. Anscheinend hatte Roman Lenz nicht zugetraut, die Leitung einer Ermittlung zu übernehmen. Lenz würde ihm nicht sagen, dass er selbst erleichtert war, dass es nicht dazu gekommen war.

»Du hättest das genauso im Griff gehabt wie Henri.«

»Meinst du?«

Lenz hatte Zweifel, doch Tanja lächelte ihm aufmunternd zu.

»Davon bin ich überzeugt.«

»Du wärst viel besser geeignet, eine Ermittlung zu leiten.«

Tanja zog die Brauen hoch.

»Weil ich die Leute besser als du herumkommandieren könnte?« Sie lachte. »Mag sein. Aber einer Teilzeitkraft werden sie nie so eine Verantwortung geben.« Tanja klang bitter, das Lachen war aus ihrem Gesicht verschwunden. Sie leerte ihre Kaffeetasse und sah auf die Uhr.

»Weil Teilzeitkräfte immer viel zu früh nach Hause gehen müssen. So wie jetzt.«

»Ich dachte, die Kinder sollten mit deinen Eltern verreisen, während der Kindergarten geschlossen ist?«

»Das war der Plan. Tatsache ist aber, dass meine Eltern beide mit einer heftigen Sommergrippe im Bett liegen und die Ferienwohnung in Kärnten abgesagt ist.«

»Und jetzt sind die Kinder bei deinen Eltern? Obwohl sie krank sind?!«

»Nein, heute sind sie bei ihrem Vater. Ich konnte Marco überreden, dass er sie zu sich holt, aber er wird sie bald heimbringen, weil er dann zur Arbeit muss.« Tanja strich über den Rand der Kaffeetasse. »Ich hoffe, dass er die Kinder morgen wieder nimmt. Deshalb sollte ich jetzt pünktlich zu Hause sein.«

Tanja stand auf. Im gleichen Moment klingelte Lenz' Telefon. Er warf einen Blick auf das Display.

»Die Einsatzzentrale.«

Tanja sank zurück auf Henris Stuhl. Lenz nahm den Hörer.

»Albrecht.«

Der Kollege am anderen Ende hielt sich nicht mit Förmlichkeiten auf.

»Sturz von der Dachterrasse des Hotels Pistorius. Übernehmt ihr das?«

»Tot?«

Das Lachen klang wie der Motor eines alten Mofas.

»Sonst hätte ich nicht bei euch angerufen!«

»Mord oder Selbstmord?«

»Keine Ahnung. Das dürft ihr herausfinden. Braucht ihr die Adresse?«

»Pistorius? Das ist am Englischen Garten, oder?«

»Genau. Die Rechtsmedizin ist verständigt, die Kollegen haben vor Ort alles abgesperrt.«

»Okay, wir sind gleich da.«

Lenz legte auf. Tanja sah ihn fragend an.

»Ein Toter am Hotel Pistorius. Sturz von der Dachterrasse.«

»Mord oder Selbstmord?«

Lenz zuckte mit den Achseln.

»Keine Ahnung.« Er stand auf. »Ich sag Marius Bescheid.«

Tanja folgte ihm in das Büro, das sie sich mit Marius teilte. Der Kollege saß mit gefurchter Stirn vor dem Computer.

»Kann mir mal einer sagen, wie man in so einer bescheuerten Tabelle die Spalten vergrößert?«

»Wir haben einen neuen Fall.«

Sofort hatte Lenz Marius' volle Aufmerksamkeit, die Tabelle war vergessen.

»Wer? Was? Wo?«

»Sturz von der Dachterrasse des Hotels Pistorius.«

Marius griff nach seinem Handy und stand auf.

»Okay, fahren wir. Was ist mir dir, Tanja? Musst du nicht heim?«

»Doch.« Sie zögerte. »Aber ich hab' jetzt ein schlechtes Gewissen, wenn ich nicht mit euch zum Tatort fahre. Wenn Henri auch nicht da ist.«

»Unsinn«, sagte Lenz. »Es reicht völlig, wenn Marius und ich erst mal hinfahren und uns anschauen, um was es geht. Wenn es ein Selbstmord war, ist der Fall schnell erledigt. Dafür brauchen wir nicht mit dem ganzen Team anrücken.«

»Und wenn es kein Selbstmord war?«

»Das sehen wir dann.«

Tanja sah noch nicht überzeugt aus.

»Fahr' nach Hause, Tanja. Ich ruf dich an, sobald wir mehr wissen.«

»Außerdem können wir auch Henri anrufen«, warf Marius ein. »Er müsste bereits auf dem Rückweg von Verona sein. Wenn sie heute Morgen nach dem Frühstück losgefahren sind, kommen sie bestimmt bald zu Hause an.«

Lenz nickte. Irgendwie war es beruhigend zu wissen, dass Henri demnächst wieder in greifbarer Nähe sein würde. Auch wenn er das niemals vor den Kollegen zugeben würde ...

Kapitel 3

Elisa freute sich auf Sashas Besuch. In ein paar Stunden würde sie ihre Schwester am Bahnhof abholen. Sie hatten sich seit fast zwei Monaten nicht mehr gesehen, seit Elisa von Hamburg nach München gezogen war. Zwar telefonierten sie täglich miteinander, aber das war nicht das Gleiche.

Sasha wollte mindestens eine Woche bleiben. Tagsüber musste sie wie Elisa arbeiten – sie hatte von mehreren Manuskripten gesprochen, die sie redigieren sollte. Doch abends konnten sie gemeinsam losziehen und zusammen die Stadt erkunden. Oder im Garten sitzen und einfach nur reden. Na ja ... wahrscheinlich würde Sasha auch einen Blick auf Henri werfen wollen ...

Elisa zwang ihre Gedanken zurück zu dem Text, den sie schrieb. Sie hatte für die nächsten Tage einige Artikel im Voraus produziert, damit sie dem Chefredakteur etwas anzubieten hatte, ohne Überstunden machen zu müssen, wenn Sasha da war. Es gab genug Themen, die sie vorbereiten konnte. Gerade arbeitete sie an einem Porträt aus ihrer neuen Serie über Menschen, die zwar nicht prominent, aber aus dem Münchner Alltag nicht wegzudenken waren. Sie hatte einen der Bademeister im Michaelibad interviewt. In der letzten Woche war es für den August ziemlich verregnet gewesen. Erst an diesem Tag war die Sonne wieder hinter den Wolken aufgetaucht. Wenn das Sommerwetter zurückgekehrt war, würde André das Porträt über den Bademeister vielleicht schon in der nächsten Wochenendausgabe veröffentlichen wollen.

Die Geschichten des Bademeisters hätten für mehrere Artikel ausgereicht. Bereitwillig hatte er Elisas Fragen beantwortet und bald war es nur so aus ihm herausgesprudelt. Von den Mutproben auf dem Zehnerturm, den Drogen im Sand des Beachvolleyballfeldes oder dem Loch in der Trennwand zum FKK-Bereich. Die Fotos, die Lena gemacht hatte, mussten kleiner ausfallen, damit Elisa mehr Text auf der Seite unterbringen konnte.

Jette Jasmund, Elisas Kollegin in der Stadtredaktion, ging von hinten an ihrer Tischgruppe vorbei und ließ sich mit einem theatralischen Seufzer auf ihren Platz gegenüber von Elisa fallen.

»Schreibst du schon wieder eins von deinen öden Porträts?«

Wie immer hatte sie einen Blick auf Elisas Bildschirm geworfen.

»Nein«, antwortete Elisa freundlich. »Ich schreibe eins von meinen interessanten Porträts.«

»Dass ich nicht lache. Diese Leute sind so langweilig! Trambahnfahrer, Bäcker, Stadtführer; wen interessiert das denn?«

»Die Leser.«

Seit sie in der Wochenendausgabe Elisas Porträts abdruckten und auf den Zeitungskästen dafür warben, waren die Verkaufszahlen gestiegen. Jette hielt das für einen Zufall, aber André Sievers war überzeugt davon, dass Elisas Artikel der Zeitung zu neuer Popularität verhelfen würden.

»Pfff«, machte Jette. »Ich finde, dass wir so eine Serie mal mit richtigen Prominenten machen sollten. Das wäre ein echter Kracher!«

»Schlag es André doch mal vor!«, sagte Elisa mit scheinheiligem Lächeln.

»Mädels!«, mischte sich Dennis Thalhammer, der Leiter der Stadtredaktion, mit genervtem Unterton in ihr Gespräch. »Ich habe hier gerade etwas Neues reinbekommen. Ein Toter am Hotel Pistorius. Sturz von der Dachterrasse ...«

»Da bin ich draußen«, flötete Jette. »Für Tote ist die da zuständig.«

Sie wandte sich demonstrativ ihrem Bildschirm zu und ließ ihre langen blonden Locken als Sichtschutz vor ihr Gesicht fallen.

»Die da muss aber noch einen Text fertigschreiben«, widersprach Elisa.

Dennis seufzte.

»Das ist doch nichts Zeitkritisches. Komm schon, Elisa. Ich würde es ja selbst machen, aber ich muss jetzt zum Sport.«

»Zum Sport?!?« Jette tauchte hinter ihren Haaren auf. »Du? Seit wann gehst du zum Sport?«

Dennis war nicht nur übergewichtig; er war so fett, dass er kaum die Treppe hochgehen konnte, ohne in lautes Schnaufen auszubrechen. Es war schwer, sich ihn beim Sport vorzustellen.

»Sabine und ich gehen ins Fitnessstudio«, erklärte Dennis würdevoll und rückte das kreischend bunte Halstuch, das er um den Hals trug, zurecht. Elisa fragte sich, wo er die hässlichen Dinger, von denen er ein ganzes Sortiment hatte, kaufte. Es wäre schon eine große optische Verbesserung, einfach diese albernen Halstücher wegzulassen, doch Elisa hatte den Verdacht, dass Dennis sich damit wie ein Dandy fühlte. Er trug sie, seit sie ihn kannte. Über die Jahre hatten nur die Farben gewechselt. »Heute haben wir einen Termin zur Einweisung. Da kann ich auf keinen Fall zu spät kommen. Sabine bringt mich sonst um.«

Sabine war Dennis' Freundin. Sie war nicht ganz so dick wie er, aber auch ihr würde etwas Sport nicht schaden. Vermutlich hatte sie ihn dazu überredet.

»Das Pistorius liegt direkt auf deinem Heimweg, Elisa«, sagte Dennis. »Du schaust dich einfach kurz um, gibst Wolf ein paar Infos durch und dann bist du schon zu Hause.«

Elisa sah auf die Uhr. Sashas Zug kam erst in einigen Stunden an. Wenn sie zum Pistorius fuhr, konnte sie danach noch ihr Rad zu Hause abstellen. Und nachschauen, ob Anna, Karen und Henri zurück waren, bevor sie sich mit der Trambahn auf den Weg zum Bahnhof machte, um Sasha abzuholen.

»Meinetwegen. Wo ist denn dieses Hotel?«

»Direkt am Englischen Garten.«

Dennis zeigte es ihr auf dem Stadtplan. Elisa speicherte den Text über den Bademeister, fuhr den Computer hinunter und packte ihre Sachen zusammen. Im Hinausgehen informierte sie Wolf Borowsky, den Chef vom Dienst, dass sie ihm noch eine Kurzmeldung durchgeben würde. Je nach Brisanz des Falles für die Titelseite oder für den München-Teil.

»Nimm einen Fotografen mit!«, rief Wolf hinter ihr her.

Elisa ging zur Bildredaktion und sah schon von der Tür aus, dass Lena, die Fotografin, mit der sie am liebsten zusammenarbeitete, an ihrem Platz saß.

»Kommst du mit, ein paar Fotos schießen?«

Lena sah auf und lächelte, als sie Elisa erblickte.

»Was ist denn passiert?«

»Ein Toter nach dem Sturz von der Dachterrasse des Hotels Pistorius.«

»Mord oder Selbstmord?«

Elisa zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Wolf hätte gern ein Bild zum Text.«

Lena griff nach ihrer Kameratasche.

»Okay, ich komme mit. Aber es muss schnell gehen.«

»Das ist ganz in meinem Sinn.«

Kapitel 4

Henri warf einen Blick in den Rückspiegel. Anna schlief noch immer. Sie hatte ihren Kopf gegen ein Kissen gelehnt, das sie zwischen sich und das Fenster geklemmt hatte. Doch es war nicht ihr lautes Atmen, das man bis nach vorn hören konnte, sondern das von Luna, die hinten in ihrem Transportkäfig lag und geräuschvoll schnarchte.

»Schlafen sie beide?«, fragte Karen vom Beifahrersitz. Henri nickte seiner Mutter zu.

»Tief und fest. Willst du nicht auch ein bisschen die Augen zumachen?«

»Ich bin nicht müde.« Karen lächelte. »Ich sehe die ganze Zeit die grandiosen Bilder von gestern Abend vor mir und höre die herrliche Musik. Aida war eine großartige Idee von dir, Henri!«

»Nicht wahr?« Er grinste. »Wusste ich doch, dass das die perfekte Überraschung für euch ist!«

»Du hast es auch genossen, gib es zu!«

»Sehr sogar.« Henri summte ein paar Takte aus dem Triumphmarsch. »Aber das Schönste waren eure strahlenden Gesichter.«

»Anna war auch begeistert.« Karen schwieg für einen Moment. »Ich freue mich sehr, dass sie sich in diesem Urlaub so geöffnet hat. Es ist schön, sie wieder lachen zu hören.«

Henri nickte. Annas Lachen war auch sein persönliches Urlaubshighlight. Anfangs hatte er gedacht, es sei einzig und allein Elisa zu verdanken, dass Anna nicht mehr so verschlossen und abweisend war. Doch im Urlaub hatte sich gezeigt, dass sie auch Henri und Karen gegenüber offener wurde. Sie sprach über ihre Gefühle. Sie ließ sich auf gemeinsame sportliche Aktivitäten ein. Und sie trug nicht länger ausschließlich ihre schwarze Ledermontur. Sicher hatte auch die Hitze auf Elba dazu beigetragen, aber Henri war stolz, dass er sie zu ein paar hellen Tops und T-Shirts hatte überreden können.

»Es scheint, als könne sie ihre Trauer langsam überwinden.«

Anna hatte sich nach dem Unfalltod ihrer Mutter und ihres Bruders hinter einen nahezu undurchdringlichen Panzer aus schwarzer Kleidung und Make-up zurückgezogen und niemanden mehr an sich herangelassen. Seit dem Unfall waren über zwei Jahre vergangen.

»Falls wir nicht zu spät ankommen, könnte ich mit ihr in die Stadt gehen und noch ein paar Klamotten kaufen, bevor sie morgen nach Starnberg fährt. Ich glaube, im Moment wäre sie empfänglich dafür.«

»Das ist eine gute Idee. Morgen, wenn du wieder zur Arbeit musst, wirst du es nicht schaffen.«

Aus Karens Stimme klang kein Vorwurf. Sie war nur realistisch. Wenn Henri nach über zwei Wochen Urlaub zurück ins Büro kam, würde er am Nachmittag nicht früher gehen können. Immerhin schienen sie keinen neuen Fall hereinbekommen zu haben, sonst hätte Lenz sich längst gemeldet. Egal, ob Henri in Italien war oder nicht.

Vor dem Urlaub hätte Henri Elisa gebeten, mit Anna shoppen zu gehen, da sie sicher ein besserer Ratgeber war als er. Doch inzwischen wusste er, dass es gar nicht so sehr darauf ankam, Anna etwas zu empfehlen. Es war nur wichtig, sie in ihren eigenen Entscheidungen zu bestärken. Und das traute er sich zu, nachdem sie ihn auf Elba ins Vertrauen gezogen hatte über ihre Selbstzweifel, ihre Teenager-Sorgen und ihre erste Verliebtheit. Er fühlte sich seiner Tochter näher als jemals zuvor.

Außerdem wollte er nicht in Elisas Schuld stehen. Sie war die erste Frau seit Claires Tod, die wirkliche Gefühle in ihm geweckt hatte. Er hatte sie geküsst und sich für einen Moment der Hoffnung hingegeben, dass er mit ihr mehr haben konnte als mit all den One-Night-Stands, die er in den letzten Monaten gehabt hatte. Doch Elisa war Journalistin. Sie war in ihrer Redaktion für die Mordfälle zuständig, die Henri mit seinem Team aufklärte. Bei seinem letzten Fall vor dem Urlaub hatte er ihr vor der offiziellen Presseerklärung Informationen zukommen lassen, die sie nicht hätte haben dürfen. Henri hatte die halbe Nacht an der Pressemitteilung gearbeitet, als ihm klargeworden war, dass er in Teufels Küche kommen würde, wenn sein Vorgesetzter davon Wind bekam. Eine Beziehung mit Elisa wäre ein permanenter Eiertanz. Das konnte niemals gutgehen. Henri hatte in letzter Minute die Notbremse gezogen und Elisa gesagt, dass er nicht mehr wollte als eine Freundschaft. Immerhin wohnte sie bei ihnen in Karens Elysium. Sie war die Mieterin der Atelierwohnung im Dachgeschoss.

Elisas Enttäuschung war deutlich spürbar gewesen. Bis sie sich auf den Weg nach Elba gemacht hatten, war sie ihm ausgewichen. Inzwischen waren fast drei Wochen vergangen, in denen sie sich nicht gesehen hatten. Jetzt hatte sicher auch Elisa eingesehen, dass es besser war, auf Distanz zu bleiben.

Im Rückspiegel nahm Henri eine Bewegung wahr. Anna war aufgewacht und streckte sich.

»Sind wir schon in Deutschland?«, fragte sie.

Henri nickte. »Ja, wir sind auf der A8. Es dauert nicht mehr lange.«

»Cool.«

Anna nahm ihr Handy in die Hand. Karen drehte sich zu Anna um.

»Hat Elisa geschrieben, ob sie es geschafft hat, einkaufen zu gehen?«

»Elisa?«, fragte Henri gedehnt. »Hast du mit Elisa geschrieben?«

»Klar, Papa, was denkst du denn? Ich musste ihr doch erzählen, wie es auf Elba war! Wir haben uns jeden Tag geschrieben.«

»Jeden Tag?«

Anna hatte es nie erwähnt.

»Außerdem hat Elisa angeboten, dass sie den Kühlschrank für uns füllt«, warf Karen ein. »Da habe ich natürlich nicht nein gesagt. Es ist doch schön, wenn man aus dem Urlaub heimkommt und nicht gleich zum Einkaufen losrennen muss.«

»Sie hat geschrieben, dass sie heute Morgen noch vor der Arbeit einkaufen war und dass sie alles bekommen hat, was auf dem Einkaufszettel stand«, sagte Anna von hinten.

»Ihr habt ihr einen Einkaufszettel geschickt?!?«

»Warum denn nicht?« Karen sah Henri verständnislos an. »So kann ich heute gleich was Frisches zum Abendessen zubereiten. Ich denke, wir sollten Elisa zum Essen einladen, nachdem sie sich die ganzen zwei Wochen um das Haus und den Garten gekümmert hat. Als kleines Dankeschön.«

So viel zum Thema Auf-Distanz-bleiben.

Aber es hörte sich nicht so an, als sei Henris Meinung von Belang. Anna und Karen machten bereits Pläne, wie sie Elisa überraschen konnten.

»Falls sie ein ganzes Netz Zucchini gekauft hat, könnte ich als Vorspeise die Suppe machen, die Elisa so gern mag«, überlegte Karen.

»Und als Nachspeise die leckeren Schokoküchlein mit dem flüssigen Kern?«, fragte Anna.

»Die du so gern magst.« Karen lächelte. »Na gut, warum nicht?«

Anna lachte und umarmte Karen von hinten.

»Danke, Oma.«

»Ich hatte gedacht, wir könnten vielleicht ...«, setzte Henri an, als sein Handy klingelte. Es war Lenz. Henri nahm den Anruf an, verzichtete aber darauf, die Freisprechanlage zu benutzen.

»Hallo, Lenz!«

»Henri, seid ihr noch in Italien?«, fragte sein Freund und Kollege. Er klang atemlos.

»Nein, schon auf dem Heimweg. Ist was passiert?«

»Ein Toter am Pistorius. Von der Dachterrasse gestürzt.«

»Mord oder Selbstmord?«

»Ich fürchte, eher Mord. Kannst du kommen?«

Henri warf einen Blick auf das Navi.

»Wir sind in einer halben Stunde da. Was ist mit Marius und Tanja? Und Roman?«

»Roman ist bereits selbst im Urlaub, Tanja muss heim zu ihren Kindern, Marius ist mit mir hier am Pistorius. Ich dachte ... na ja ... ich dachte, es wäre besser, wenn du dir den Tatort auch anschaust. Es ist ja nicht weit von dir zu Hause ... du könntest nur mal kurz vorbeikommen.«

Lenz war ein hervorragender Ermittler, aber er war nicht der Typ, der gern die Verantwortung übernahm.

»Ich setze Anna und meine Mutter zu Hause ab, dann komme ich.«

»Danke!« Lenz klang erleichtert. Er legte auf.

»Musst du zu einem neuen Fall?«, fragte Anna.

»Ja, Lenz scheint Unterstützung zu brauchen.«

Henri sah zu Karen hinüber. Siehst du, sagte ihr Blick. Mit dem Shoppen würde es nichts werden.

Kapitel 5

»Reicht uns das?«

Elisa warf einen Blick auf das Display der Kamera, die Lena ihr hinhielt. Sie standen hinter der Absperrung, die die Polizei am Gehweg angebracht hatte, und konnten von dort zu dem weißen Pavillon schauen, der den Leichnam vor neugierigen Blicken von oben aus den Hotelzimmern schützen sollte. Mit ihrem riesigen Teleobjektiv hatte Lena sich von der Seite herangezoomt. Man sah auf dem Foto einen Haufen Polizisten, den Rechtsmediziner und Sanitäter, die den Körper am Boden verdeckten. Elisa legte den Kopf in den Nacken. Zehn Stockwerke. Wer von dort oben herunterfiel, wurde beim Aufprall sicher bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert.

»Mehr Details sollten wir unseren Lesern nicht zumuten.« Elisa musterte die Polizisten. Henri war nicht dabei, aber das hatte sie auch nicht erwartet. »Vielleicht erwischst du noch den Rechtsmediziner oder einen der ermittelnden Kommissare?«

»Wenn du mir sagst, welcher von denen das ist!?«

Elisa erkannte Lenz Albrecht, Henris Partner.

»Der Typ da rechts, nimm den auf. Und den Gerichtsmediziner, wenn er aufsteht.«

Lena sah durch den Sucher und drückte ein paarmal auf den Auslöser.

»Hab ich.«

»Hallo, Lena«, ertönte hinter ihnen eine tiefe Stimme.

Der Fotograf des Merkur tauchte neben ihnen an der Absperrung auf, ebenfalls mit einer Kamera mit großem Teleobjektiv ausgerüstet.

»Knut«, sagte Lena nur und runzelte die Stirn. Bis jetzt waren sie die einzigen Pressevertreter an der Absperrung gewesen, doch nun war ihr Vorsprung dahin. Knut Mahler nickte Elisa kurz zu und wandte sich dann zum Tatort. Im gleichen Moment stellten zwei Uniformierte eine Sichtschutzwand vor dem Toten auf, sodass Knut der Blick verstellt war. Lena grinste.

»Scheiße!«, fluchte Knut.

»Ich glaube, für mich ist hier nicht mehr zu holen«, sagte Lena zu Elisa. »Ich fahre zurück in die Redaktion.«

»Ist gut. Ich versuche, an einen der Polizisten heranzukommen.«

Lena nickte und wandte sich zum Gehen. Knut folgte ihr.

»Du, Lena ...«, hörte Elisa noch. Sie drehte sich zurück zum Tatort, doch nun war tatsächlich nicht mehr viel zu erkennen. Sie sah, dass Lenz sich mit dem Handy am Ohr immer weiter von dem Pavillon entfernte. An der Absperrung entlang folgte sie ihm. Als er gedankenverloren hochsah, winkte sie ihm zu. Lenz hatte das Gespräch beendet und kam zu ihr herüber.

»Hallo, Elisa. Woher haben Sie denn schon wieder erfahren, dass hier ein Mord geschehen ist?«

Sie lächelte.

»Hallo, Lenz. Die Buschtrommeln haben sich gemeldet, Sie wissen schon.«

Die Morgenzeitung hatte mehrere Informanten, die den Polizeifunk abhörten und sich jeden Tipp bezahlen ließen. Wenn sie wie in diesem Fall vor der Konkurrenz an einem Tatort eintrafen, war es das Geld wert.

»Demnach gehen Sie von Mord aus?«, fragte Elisa.

»Wir haben eine Zeugin, die eine Auseinandersetzung auf der Dachterrasse gehört zu haben scheint.« Er deutete mit dem Kopf nach hinten, wo am Rand eines prächtigen Rosengartens eine zierliche Frau mit dunkelblonden Locken auf einer Bank saß. Ein Sanitäter kniete vor ihr und sprach mit ihr. Sie sah ihn aus großen Augen an, der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Die Frau kommt mir bekannt vor«, meinte Elisa.

»Ach ja? Sie ist eine Autorin, aber mir hat ihr Name nichts gesagt. Marie Larsen.«

Lenz sah Elisa fragend an.

»Den Namen habe ich schon mal gehört.« Sie überlegte. »Mehr fällt mir aber gerade nicht dazu ein. Wer ist das Opfer?«

»Ein Mann. Er hatte keine Ausweispapiere bei sich. Es wird schwer werden, ihn zu identifizieren.«

Lenz verzog das Gesicht. Der Anblick des Toten musste furchtbar sein.

»Wie werden Sie ...«

Das Klingeln von Elisas Handy unterbrach sie. Sashas Name stand auf dem Display. Elisa wollte den Anruf wegdrücken, Lenz winkte ab.

»Gehen Sie nur dran.« Er hob die Hand zum Gruß, dann schien ihm etwas einzufallen. »Henri kommt übrigens auch gleich noch.«

Elisa spürte, dass sie rot wurde, doch Lenz ging bereits mit großen Schritten davon. Sie nahm den Anruf ihrer Schwester an.

»Bist du schon da, Sasha?« Sie hatte erst später mit ihr gerechnet.

»Nein, ich bin noch im Zug.«

Sasha redete leise und war schwer zu verstehen. Elisa war in Gedanken noch bei Lenz. Hätte sie mehr von ihm erfahren können? Sasha sprach weiter, ihre Worte kamen erst mit Verspätung bei Elisa an.

»Ich werde allerdings nicht in München bleiben, sondern nur umsteigen. Es tut mir leid, Elisa.«

»Was tut dir leid?!« Jetzt war Elisa ganz Ohr.

»Ich habe meine Pläne geändert. Ich komme dich ein anderes Mal besuchen.«

»Aber warum? Wenn du schon im Zug bist? Wo willst du hin?«

»Nach Triest ...«

»Nach Triest?!? Was willst du denn in Triest?«

»Ich habe die Chance, auf einem Frachtschiff mitzufahren. Bis zum Suezkanal. Vielleicht schau ich mir dann auch noch Ägypten an.«

»Wie kommst du denn plötzlich auf diese Idee?«

Sasha war impulsiv und änderte ihre Pläne gern mal, aber das war selbst für sie eine extreme Entscheidung.

»Ich habe hier im Zug einen Fotojournalisten kennen gelernt. Er will einmal um die ganze Welt reisen und darüber berichten. Für GEO oder so. Er hat mir von dem Schiff erzählt.«

»Du kannst doch nicht mit einem wildfremden Mann, den du gerade mal ein paar Stunden kennst, eine solche Reise machen, Sasha ...«

»Warum denn nicht? Er hat sich schon erkundigt. Bis zum Suezkanal ist noch eine Kabine frei, die ich haben kann. Meinem Chef ist es egal, ob ich die Manuskripte bei dir oder auf einem Schiff bearbeite. Warum sollte ich es also nicht tun?«

»Sasha ... du kennst den Typen doch gar nicht! Wie heißt er überhaupt?«

»Eric.«

»Eric und wie weiter?«

»Keine Ahnung. Das ist doch vollkommen egal!«

»Als deine große Schwester sehe ich das anders! Sasha, nach deiner schlechten Erfahrung mit dem Anwalt kann ich verstehen, dass du empfänglich bist, wenn ein Mann ...«

»So ist es nicht!«, unterbrach Sasha sie. »Weißt du, Elisa, so schlecht war die Erfahrung mit dem Anwalt gar nicht. Klar, er macht mir jetzt über meinen Chef das Leben schwer, aber abgesehen davon hat er mir eine wichtige Erkenntnis beschert.«

»Jetzt bin ich aber neugierig.«

»Durch ihn und seine Tochter habe ich gemerkt, dass ich bereit bin für eine Familie. Früher habe ich mir das nie vorstellen können. Aber es hat mir tatsächlich Spaß gemacht mit der Kleinen. Abgesehen davon, dass ihr Vater sich als Idiot entpuppt hat.« Sasha lachte kurz auf. »Grundsätzlich habe ich gemerkt, dass ich bereit bin, meine Single-Freiheit aufzugeben und eine Familie zu gründen.«

»Mit diesem Eric, den du seit ein paar Stunden kennst?!?«

»Nein, du Schaf! Ich weiß nicht mit wem, das wird sich zeigen. Ich weiß nur tief in mir drin, dass ich nicht allein alt werden möchte, dass ich eine Familie haben möchte. Am liebsten eine wie unsere mit ganz vielen Kindern.« Jetzt wurde Sashas Ton pathetisch. »Die Schiffsreise soll mein letztes großes Abenteuer sein. So eine Chance bekomme ich vielleicht nie wieder. Deshalb will ich es machen. Denk doch, wie viel Spaß wir auf unseren Reisen hatten. Wir sind in den Semesterferien monatelang herumgereist. Und jetzt? Jetzt habe ich maximal zwei Wochen am Stück Urlaub. Was kann man da schon von der Welt sehen? Vertrau mir, Elisa, es ist die richtige Entscheidung!«

»Du wirst dich von mir sowieso nicht aufhalten lassen, oder?«

»Richtig!« Sashas Grinsen war durch das Telefon zu hören. »Bist du sauer, dass ich nicht zu dir komme?«

»Ich hab mich auf dich gefreut ... aber nein ... sauer bin ich nicht. Ich vermisse dich nur!«

»Wir können genauso wie vorher telefonieren und schreiben.«

»Es würde mich beruhigen, täglich von dir zu hören.«

»In Bild und in Ton.« Sasha lachte. »Ich werde dich mit meinen Fotos so neidisch machen, dass du selbst losreisen wollen wirst.«

Elisa verspürte nicht das geringste Bedürfnis zu verreisen. Sie wollte heimisch werden in ihrem neuen Leben und Wurzeln schlagen.

»Könntest du vielleicht mit Mama und Papa reden und ihnen Bescheid geben?«, fragte Sasha.

»Nein, meine Liebe, das machst du schön selbst!«

Elisa lachte, Sasha fiel nur zögernd in ihr Lachen ein.

»Schade. Aber einen Versuch war es wert! Magst du nachher trotzdem kurz zum Bahnhof kommen? Dann kann ich dich drücken, wenn ich umsteige. Du hast doch gesagt, dass deine Redaktion nicht weit weg ist vom Bahnhof.«

»Das stimmt, aber ich bin gar nicht mehr im Büro. Ich bin gerade an einem Mordschauplatz und soll von dort berichten.«

»Ein Mord?«

»Ein Mann ist von einer Dachterrasse zehn Stockwerke in die Tiefe gestürzt worden.«

»Autsch!«

»Eine Zeugin hat eine Auseinandersetzung gehört. Sagt dir der Name Marie Larsen etwas?«

Sasha war Lektorin. Sie kannte die halbe Buchbranche.

»Natürlich, du kennst sie auch!«

»Ich?«

Elisa sah hinüber zu der Frau mit den dunkelblonden Locken, die noch immer auf der Bank saß und vor sich hinstarrte.

»Marie Larsen ist das Pseudonym von Maja Johansson. Erinnerst du dich nicht? Sie war öfter mit ihrer Großmutter bei uns im Hotel, als wir noch Kinder waren. Sie hat mit uns am Strand gespielt.«

»Maja?«

Elisa sah in ihrer Erinnerung ein schüchternes kleines Mädchen vor sich. Es war schwer, sie mit der Erwachsenen in Verbindung zu bringen, die höchstens vierzig Meter entfernt von ihr im Garten des Pistorius saß.

»Maja hat mir letztes Jahr ein Manuskript zur Prüfung geschickt. Ich fand es toll, mein Chef leider nicht. Wir haben es abgelehnt, aber ich habe Maja geraten, es unter einem Pseudonym zu veröffentlichen.«

»Warum?«

»Man konnte daraus Rückschlüsse auf ihre Familie ziehen. Vielleicht hast du davon gehört. Das zweite Leben. Ein Münchner Verlag hat es herausgebracht und es war sehr erfolgreich.«

»Ich erinnere mich. Das hat Maja geschrieben?«

»Ja, sie hat wirklich Talent. Und sie ist jetzt in einen Mordfall verwickelt?«

»Nicht verwickelt. Sie wurde Zeugin des Mordes, wenn ich das richtig verstanden habe.«

»Kümmerst du dich um sie?«

»Wenn sie mich lassen.«

»Wenn Henri dich lässt?«

»Er ist noch nicht aus dem Urlaub zurück.«

»Schade, dass ich ihn jetzt nicht kennenlerne. Aber aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben! Mach’s gut, Elisa!«

»Du auch!«

Kapitel 6

Henri nahm Anna in den Arm und drückte sie an sich.

»Tut mir leid, dass ich gleich wieder wegmuss. Lenz scheint meine Unterstützung zu brauchen.«

»Ist schon okay, Papa.«

»Hast du Lust, ein bisschen shoppen zu gehen? Du könntest dir noch ein paar Sommersachen kaufen, bevor du morgen nach Starnberg fährst.«

»Shoppen?«, fragte Anna gedehnt. »Allein macht das keinen Spaß.«

»Ich dachte nur, weil ...«

»Weil ich endlich mal was anderes als Schwarz anziehe?«

Henri nickte.

»Du hast mir doch auf Elba und in Verona schon was gekauft. Die Klamotten nehme ich mit nach Starnberg. Das reicht, um Oma und Opa eine Freude zu machen.«

Anna grinste. Auch Claires Eltern würden sich freuen, wenn Anna das ewige Schwarz ablegte. Henri zog sie noch mal an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Haare.

»Dann bis später!«

»Bis später!«

Sie hatten gemeinsam das Gepäck aus dem Auto ausgeladen. Karen war in der Küche verschwunden, steckte jetzt aber den Kopf um die Ecke. Sie hielt eine gut gefüllte Obstschale in der Hand.

»Schaut mal, Elisa hat sogar Obst gekauft und Blumen.«

Sie deutete zum Esstisch, auf dem eine Vase mit einem prächtigen bunten Strauß stand.

»Anna, geh doch mal hoch und lade Elisa zum Essen ein.«

»Ihr Rad stand nicht draußen.«

Also hatte auch Anna nach dem knallroten Fahrrad von Elisa Ausschau gehalten.

»Ich muss los«, sagte Henri. »Bis später.«

Es war nicht weit bis zum Pistorius. Henri hatte in wenigen Minuten die Isar überquert und in der Nähe des Hotels geparkt. Direkt davor war kein Parkplatz frei gewesen, die Einsatzwagen der Polizei versperrten die Zufahrt. Henri sah, dass seitlich neben dem Hotel eine Absperrung angebracht worden war, hinter der sich Schaulustige drängten. Er ging durch den Haupteingang hinein. Erst vor ein paar Monaten hatten die Kollegen der Mordkommission IV im Pistorius in einem rätselhaften Mordfall ermittelt, der nicht aufgeklärt werden konnte. Ein Gast war erschossen in einem der Wäschewagen aufgefunden worden, vom Täter fehlte bis heute jede Spur.

Henri selbst war noch nie im Grandhotel Pistorius gewesen und war beeindruckt, als er sich in der Halle umsah. Ein riesiger Kronleuchter, glänzender Marmorboden, schwere weinrote Samtvorhänge neben den hohen Fenstern, elegante weinrote Sessel und Sofas auf verschnörkelten Goldfüßen sowie eine ausladende Treppe mit geschwungenem Mahagonigeländer schienen den Betrachter ein Jahrhundert in der Zeit zurückzuversetzen. Nur die großen Plakatwände und die roten Luftballons, die auf die Münchner Herz-Tage hinwiesen, passten nicht ins Ambiente.

Henri steuerte auf die Rezeption zu, die sich hinter einer blankpolierten Marmortheke befand. Er zeigte den beiden Damen hinter der Theke seinen Ausweis und wurde durch einen Flur neben der Rezeption hinaus in den Garten geschickt. Auch wenn Henri dort noch nie gewesen war, war der Anblick eines Tatortes vertraut. Uniformierte Beamte und Sanitäter schwirrten durcheinander, daneben hatten die Kollegen von der Rechtsmedizin und der Spurensicherung bereits die Ermittlungen aufgenommen. Dort, wo der weiße Pavillon stand, musste der Tote liegen.

Lenz sprach gerade mit Dr. Vogel, dem Rechtsmediziner, der bereits dabei war, seine Tasche wieder einzupacken. Erleichterung zeichnete sich auf Lenz’ Gesicht ab, als er Henri erblickte.

»Henri!«

»Lenz, Dr. Vogel.«

Er schüttelte ihnen die Hand und begrüßte die anderen Kollegen mit einem Kopfnicken.

»Schauen Sie lieber nicht so genau hin, sonst vergeht Ihnen die Urlaubsbräune«, warnte Dr. Vogel Henri, bevor er sich an einen imaginären Hut tippte und verschwand.

Lenz sah Henri verlegen an.

»Tut mir leid, dass dein Urlaub so abrupt zu Ende ist, aber ich dachte ... du legst ja immer viel Wert drauf, den Tatort selbst zu inspizieren ...«

»Ist schon gut, Lenz.«

»War es denn nett auf Elba? Du siehst gut erholt aus.«

»Das bin ich auch. Es war vor allem schön, so viel Zeit mit Anna zu verbringen.«

Lenz nickte.

»Kann ich mir vorstellen.«

Henri wappnete sich für den ersten Blick auf den Toten und sah hinüber zum Pavillon. Die Masse aus Fleisch, Blut und ein paar herausstehenden Knochen hatte nicht mehr viel Menschliches. Henri sah schnell wieder weg, doch es wurde nicht besser, als sein Blick auf einem Schwall frisch Erbrochenem auf einem der Rosenbüsche landete.

»Das war die Zeugin«, erklärte Lenz, der Henri beobachtet hatte. Er deutete mit dem Kopf zu einer jungen Frau, die etwas abseits auf einer Bank saß und auf den Boden starrte. »Sie saß zum Essen hier, als der Typ runtergefallen ist.«

»Geht es ihr gut? Sie sieht ziemlich fertig aus.«

»Sie steht unter Schock. Ich konnte noch nicht zu ihr durchdringen, sie ist vollkommen paralysiert. Zu dem Kellner, der ihr das Essen rausgebracht hat, als es gerade passiert war, hat sie noch gesagt, dass da oben gekämpft wurde. Seither hat sie kein Wort gesprochen. Vielleicht willst du mal dein Glück versuchen?«

Henri nickte.

»Wissen wir schon mehr über das Opfer?«

»Nein. Er hatte nichts bei sich, mit was man ihn identifizieren könnte. Keine Ausweise und auch kein Namensschild von dem Medizinerkongress, der hier gerade stattfindet.«

»Muss ich sonst noch was wissen?«

»Die Kollegen, die zuerst vor Ort waren, haben gleich die Dachterrasse gesichert, aber dort wurden bis jetzt keine Spuren gefunden. Marius ist mit der Spurensicherung oben. Im Moment läuft der letzte Vortrag bei dem Medizinerkongress. Man hat die Veranstaltung nicht abbrechen wollen, solange nicht feststeht, dass das Opfer einer der Teilnehmer ist. Ich habe weitere Einsatzkräfte angefordert, denn wenn die Veranstaltung vorbei ist, brauchen wir massivere Absperrungen, denke ich.«

Henri nickte.

»Gut gemacht. Dann versuche ich es jetzt bei der Zeugin. Wie heißt sie?«

»Marie Larsen. Sie ist Gast im Hotel, hat kurz vor dem Mord eingecheckt und wollte gerade etwas essen.«

Lenz nickte mit dem Kopf zu einem Tisch, auf dem ein einsamer Teller voller Nudeln in roter Soße stand. Beim Anblick des Toten musste der Frau der Appetit vergangen sein.

Henri ging zu ihr hinüber.

»Frau Larsen?«

Sie reagierte nicht.

»Mein Name ist Henri Wieland. Ich bin Kriminalkommissar und ermittle in diesem Fall. Frau Larsen, können Sie mir ein paar Fragen beantworten?«

Immer noch keine Reaktion. Sie sah nicht mal hoch. Einer der Sanitäter trat zu Henri und zog ihn zur Seite.

»Wir haben ihr eine Beruhigungsspritze gegeben. Sie braucht dringend psychologische Betreuung.«

»Ich habe schon jemanden angefordert«, mischte sich Lenz ein, »aber das Psychologenteam ist wegen der Ferien und einem Krankheitsfall unterbesetzt.«

»Hast du es direkt bei Patricia Schröder versucht?«, fragte Henri. Mit Dr. Schröder hatten sie erst vor einer Weile zu tun gehabt.

»Bei ihr geht nur die Mailbox dran.«

»Versuch es noch mal! Sprech ihr eine Nachricht drauf!«

Lenz nickte.

»Wir müssen weiter«, sagte der Sanitäter. »Sie kümmern sich um sie?«

»Ja, das machen wir.«

Der Sanitäter verschwand, Lenz suchte die Nummer von Patricia Schröder aus seiner Anrufliste.

»Elisa ist übrigens hier«, sagte er zu Henri, während er wählte. »Dort drüben hinter der Absperrung.«

»Elisa?«

Henri drehte sich um und blickte über die Sichtschutzwand, die sie vor dem Toten in Richtung der Absperrung aufgestellt hatten, zur Straße. Er sah Elisa sofort, sie überragte die Personen um sie herum um einige Zentimeter. Ihr Anblick machte Henris Bemühungen der letzten Wochen, Elisas Bild aus seinem Kopf zu verdrängen, innerhalb von Sekundenbruchteilen zunichte. Er spürte plötzlich ein Kribbeln im Bauch und den heftigen Wunsch, sie in die Arme zu schließen. Erst jetzt, als er sie vor sich sah, wurde ihm bewusst, wie sehr sie ihm gefehlt hatte.

Nein!

Es hatte keinen Sinn. Er hatte lange genug darüber nachgedacht. Er würde sich nie wieder auf eine komplizierte Beziehung einlassen. Und mit Elisa würde es mehr als kompliziert werden, davon war er überzeugt! Er hoffte, dass sie befreundet sein konnten, schon allein, weil sie sich in Elysium oft genug über den Weg laufen würden. Aber alles andere würde nicht funktionieren.

Henri war selbst überrascht von der Intensität seiner Gefühle, aber es dauerte nur ein paar Augenblicke, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. Er würde Elisa freundlich, aber distanziert begegnen. Genau wie er es sich auf Elba überlegt hatte. Sie sollte sehen, dass er nichts gegen sie hatte, aber keinesfalls wollte er in ihr die Hoffnung wecken, dass er seine Meinung ändern könnte.

Elisa sprach gerade mit ein paar Presseleuten, Henri erkannte Harry Ewers und Knut Mahler vom Merkur. Als ob sie seinen Blick spürte, drehte sie sich plötzlich zu ihm und sah ihm direkt in die Augen. Es fühlte sich an wie ein Schlag in Henris Magengrube. Oder was auch immer sich an dieser Stelle in seinem Körper befand. Er blinzelte, nickte Elisa kurz zu und schaffte es dann, sich wieder zu Lenz zurückzudrehen.

Kapitel 7

Elisa fiel es nicht schwer, Henris Blick zu deuten. Er glaubte noch immer, dass ihr die Informationen, die er ihr geben konnte, wichtiger waren als er selbst. Daran hatten auch zwei Wochen Urlaub nichts geändert. Sie musste ihm zeigen, dass sie bereit war, Informationen mit ihm zu teilen, ganz ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Sie griff nach ihrem Handy.

Wie schade, dass dein Urlaub mit einem Mord endet, schrieb sie. Herzlich willkommen zurück zu Hause!

Sie schickte die Nachricht ab und sah, wie Henri gleich darauf sein Handy aus der Hosentasche zog. Er runzelte die Stirn, als er ihre Worte las.

Danke.

Das war alles, was er antwortete.

Brauchst du Informationen über die Zeugin?, schrieb Elisa schnell. Ich kenne sie persönlich.

Das war vielleicht etwas übertrieben, aber sie hatte immerhin in der Zwischenzeit ein bisschen gegoogelt und seit dem Gespräch mit Sasha einiges über Maja Johansson und ihre Familie herausgefunden.

Du kennst sie?!?

Henri sah Elisa fragend an. Sie nickte.

Lass uns in der Hotelhalle kurz reden.

Nicht vor den anderen Journalisten. Gute Idee. Elisa nickte Henri noch mal kurz zu, dann verabschiedete sie sich von den Reportern vom Merkur. Sie betrat das Pistorius durch den Haupteingang und sah Henri im gleichen Moment auf der gegenüberliegenden Seite der Halle hereinkommen. Sie trafen sich in der Mitte unter dem gewaltigen Kronleuchter.

»Hallo, Henri.«

»Elisa«, sagte er nur knapp. Keine Begrüßung, kein Smalltalk. Die Signale, die Henri sendete, waren eindeutig. »Woher kennst du Marie Larsen?«

»Sie kommt aus Hamburg. Mit ihrer Großmutter hat sie ein paarmal bei uns zu Hause Urlaub gemacht. Meine Eltern haben ein Hotel an der Nordsee. Wir haben zusammen am Strand gespielt, als wir noch Kinder waren.« Henri hörte Elisa aufmerksam zu. »Ihr richtiger Name ist Maja Johansson. Sie hat vor einer Weile bei einem Münchner Verlag ein Buch veröffentlicht, unter dem Pseudonym Marie Larsen. Aber es ist sicher nicht in ihrem Interesse, dass das Pseudonym gelüftet wird.« Elisa zögerte. »Sie scheint geschockt zu sein von dem, was sie gesehen hat, oder?«

»Sie spricht nicht mit uns. Die Psychologin vom Kriseninterventionsteam ist nicht greifbar. Könntest du vielleicht einen Versuch machen, sie zum Reden zu bringen?«

»Ich?!?«

»Vorausgesetzt, das Gespräch steht nachher nicht wortwörtlich in der Morgenzeitung.«

Elisa erwiderte Henris ernsten Blick.

»Sicher nicht. Es liegt mir nichts daran, eine alte Freundin der Familie vorzuführen oder ihre Geheimnisse aufzudecken. Sie ist sicher nur zufällig Zeugin des Mordes geworden.«

»Mag sein. Aber vielleicht hat sie etwas gehört oder gesehen, was für unsere Ermittlungen wichtig sein könnte.«

Elisa nickte. »Ich versuche es. Aber ich kann dir nichts versprechen.«

Henri durchquerte mit langen Schritten die Halle und einen kurzen Flur. Er hielt die große Glastür, die hinaus in den Garten führte, für Elisa auf und ließ sie hinaustreten.

»Schau nicht hin«, warnte er sie und verdeckte gleichzeitig mit seinem Körper den Blick auf den Toten, der auf dem Boden unter dem Pavillon lag.

Elisa sah nach vorn in Majas Richtung. Sie saß immer noch auf der Bank am Rand des Rosengartens und blickte starr vor sich hin. Elisa setzte sich neben sie auf die Bank und berührte sie am Arm.

»Maja«, sagte sie sanft. Henri war ein paar Schritte hinter Elisa stehengeblieben, aber sie wusste, dass er zuhörte. »Maja, kannst du mich hören?«

Auf ihren richtigen Namen schien Maja zu reagieren. Der Schleier vor ihren blauen Augen löste sich, ihr Blick wurde klar und richtete sich fragend auf Elisa.

»Erinnerst du dich an mich, Maja? Ich bin Elisa, Elisa Gerlach. Du hast früher öfter die Ferien mit deiner Großmutter bei uns im Hotel Wattenmeer in Sankt Peter-Ording verbracht.«

Maja zog eine Augenbraue nach oben.

»Du bist Sashas Schwester?«, fragte sie.

»Genau.« Elisa griff nach ihrer Hand und drückte sie.

»Was machst du hier?«, fragte Maja verwirrt.

»Oh, das ist eine längere Geschichte. Ich bin eigentlich Journalistin, aber jetzt bin ich hier, weil ich dich gesehen und erkannt habe. Du hast nicht mit den Polizisten geredet. Sie machen sich Sorgen um dich nach dem, was du erlebt hast.«

Augenblicklich wich sämtliche Farbe aus Majas Gesicht.

»Ich kann nicht darüber reden«, flüsterte sie und ihr Blick verschleierte sich von Neuem. »Es war so furchtbar! Dieses Geräusch werde ich nie vergessen, wie er auf dem Boden aufgeschlagen ist.«

Elisa strich mitfühlend über Majas Arm.

»Das war bestimmt schrecklich.«

Maja antwortete nicht. Sie starrte wieder auf den Boden, ihr Blick wurde trüb. Elisa legte den Arm um ihre Schultern. Sie spürte, dass Maja zitterte.

»Wenn du nicht darüber reden kannst, dann lass uns über etwas anderes reden«, sagte sie. »Was hat dich nach München geführt, Maja?«

Elisa betonte Majas Namen. Sie hatte vorher darauf reagiert, vielleicht würde sie es wieder tun.

»Warum bist du im Pistorius abgestiegen, Maja?«

In den blauen Augen zuckte es.

»Ich hatte heute ein Gespräch mit meiner Verlegerin«, sagte Maja leise.

»Dein Buch war ein großer Erfolg, herzlichen Glückwunsch!«

»Danke.« Maja lächelte und drehte sich zu Elisa. »Der Verlag deiner Schwester wollte es nicht annehmen.«

»Ich weiß. Sasha hätte es gern getan, aber ihr Chef wollte nicht.«

»Sie hat mir dafür einen guten Ratschlag gegeben.«

»Das Pseudonym?«

»Ja. Es ist sehr hilfreich ... manchmal ...« Maja brach ab und warf einen unsicheren Blick zu den Polizisten.

»Worüber hast du mit deiner Verlegerin gesprochen?«, fragte Elisa schnell, bevor sie wieder dichtmachte.

»Über mein nächstes Buch.«

»Eine Fortsetzung von Das zweite Leben?«

Maja sah Elisa neugierig an.

»Hast du es gelesen?«

»Sasha hat mir davon erzählt, es steht auf meiner Wunschliste.«

Maja lächelte.

»Nein, es wird keine Fortsetzung, sondern ein eigenständiger Roman. Aber es wird auch um eine starke Frau gehen. Meine Verlegerin lässt mir freie Hand. Übermorgen treffe ich mich mit der Lektorin. Bis dahin soll ich ein Exposé erarbeiten. Ich bin nicht sicher, ob ich das schaffe.«

Wieder ging ihr Blick hinüber zu dem weißen Pavillon.

»Bestimmt schaffst du das! Es wird dich einerseits ablenken und andererseits wird es dir helfen. Starke Frauen geben ihre Kraft weiter.«

»Meinst du? Im Moment fühle ich mich sehr schwach.«

»Das glaube ich dir«, sagte Elisa mitfühlend.

»Eigentlich wollte ich gerade etwas essen. Stattdessen musste ich mich übergeben.«

»Du kanntest den Mann nicht, oder?«

Konkrete Fragen provozieren konkrete Antworten.

Ein wertvoller Tipp von Carsten, der sich schon häufig bewährt hatte. So auch bei Maja.

»Nein. Nicht dass ich ihn wirklich gesehen hätte, aber ich kenne hier in München niemanden außer meiner Verlegerin und meiner Lektorin.« Sie warf Elisa ein kleines Lächeln zu. »Na ja ... und dich ... Ich habe ihn nur herunterfallen sehen.«

Ihr Gesicht verdüsterte sich. Sie schien wieder an das Geräusch zu denken, das sie beim Aufprall gehört hatte.

»Und davor? Hast du ihn oben auf der Dachterrasse gesehen?«, fragte Elisa eilig. Solange es Maja keine Probleme bereitete, über das zu sprechen, was vor dem Sturz passiert war, musste sie das Gespräch am Laufen halten. Maja überlegte.