Liebe. Schmerz. Tod. - Liv Morus - E-Book

Liebe. Schmerz. Tod. E-Book

Liv Morus

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Beschreibung

Journalistin Elisa Gerlach hat genug von der Liebe, nachdem sie ihren Freund in flagranti mit einer anderen erwischt hat. Hals über Kopf verlässt sie Hamburg, als ein Studienfreund ihr einen Job bei der Morgenzeitung in München anbietet. In der neuen Redaktion muss sie sich vor dem Chefredakteur und den Kollegen beweisen und stürzt sich nach einem Todesfall bei einer Gasexplosion in die Recherche. Für Kriminalhauptkommissar Henri Wieland scheint es sich dabei um einen Routinefall zu handeln, bis ein Mord geschieht, der seine persönlichen Dämonen auf den Plan ruft. Elisas eigenwillige Recherchen nerven ihn, doch als sie dem Mörder gefährlich nahe kommt, muss Henri handeln ...

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Über das Buch

Journalistin Elisa Gerlach hat genug von der Liebe, nachdem sie ihren Freund in flagranti mit einer anderen erwischt hat. Hals über Kopf verlässt sie Hamburg, als ein Studienfreund ihr einen Job bei der Morgenzeitung in München anbietet. In der neuen Redaktion muss sie sich vor dem Chefredakteur und den Kollegen beweisen und stürzt sich nach einem Todesfall bei einer Gasexplosion in die Recherche.

Für Kriminalhauptkommissar Henri Wieland scheint es sich dabei um einen Routinefall zu handeln, bis ein Mord geschieht, der seine persönlichen Dämonen auf den Plan ruft. Elisas eigenwillige Recherchen nerven ihn, doch als sie dem Mörder gefährlich nahe kommt, muss Henri handeln ...

Über die Autorin

Liv Morus wuchs im Rheingau auf. Heute lebt sie mit ihrer Familie in der Nähe von München, wo auch ihre Krimireihe um Journalistin Elisa Gerlach und Kriminalhauptkommissar Henri Wieland angesiedelt ist. Mehr auf www.livmorus.de.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Prolog

Kennt jemand auch nur eine einzige Liebesgeschichte, die wirklich gut ausgegangen ist? Adam und Eva? Romeo und Julia? Prinz Charles und Lady Di? Brad und Angelina? Dass ich nicht lache! Niemals war die große Liebe für die Ewigkeit.

Ich dachte immer, wir wären die Ausnahme. Bei uns wäre es anders. Unsere Liebe wäre etwas Besonderes. Du warst das Beste, was mir passieren konnte. Du hast das Beste in mir geweckt. Du hast mich angesehen und du hast erkannt, was sonst keiner gesehen hat. Sogar ich selbst habe daran geglaubt, dass ich so bin wie ich bin. Du und ich – mehr brauchten wir nicht, um glücklich zu sein! Dachte ich ...

Bis ich euch vorhin zusammen gesehen habe. Ein kurzer Blick und mein Herz ist zerbrochen. Ich wusste nicht, dass Liebe so wehtun kann! Dass sie einen nicht nur glücklich macht, sondern auch unfassbar verletzt! Was soll ich jetzt tun? Wie soll ich weitermachen, als sei nichts geschehen?

Ich muss weg von dir, aber ich kann nicht. Ich möchte mit dir reden, aber ich kann nicht. Ich will dir wehtun, wie du mir wehgetan hast, aber ich kann nicht. Der Schmerz zerreißt mich. Was soll ich tun? Ich muss etwas tun ...

Elisa schreckte aus dem Schlaf hoch. Wo war sie? Was war passiert? Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Dämmerlicht. Die Erinnerung kam zurück. Die nächtliche Fahrt auf der verlassenen Autobahn. Das monotone Motorengeräusch, das sie hatte schläfrig werden lassen. Der Parkplatz an der Raststätte. Der unbequeme Sitz des Transporters, auf dem sie sich zusammengerollt hatte.

Der Klingelton ihres Handys drang in Elisas Bewusstsein. War sie davon wach geworden? Sie tastete nach der Tasche, die im Fußraum lag, und zog das Handy heraus. Es war Sasha.

»Ja?« Elisas Stimme klang noch schlaftrunken. Sie räusperte sich.

»Wo bist du?«, fragte ihre Schwester.

»Irgendwo zwischen Göttingen und Kassel.«

Elisa richtete sich im Sitz auf. Draußen dämmerte es bereits, die Sonne würde bald aufgehen.

»Das hab ich mir gedacht. Der Transporter steht nicht mehr vor dem Haus.« Sasha schluckte hörbar. »Du bist schon losgefahren ...«

»Ich konnte nicht schlafen.«

Und ich hasse tränenreiche Abschiedsszenen ...

»Dann hättest du auch mitkommen können«, meinte Sasha. Sie war mit ein paar Freunden auf die Reeperbahn gegangen. Für sie war es ein ganz normaler Samstagabend gewesen.

»Mir war nicht danach.«

»Ich hätte dich gern zum Abschied gedrückt«, sagte Sasha. Ihre Stimme wackelte verdächtig. Gleich würde sie losheulen.

»Sasha! Mach es mir doch nicht noch schwerer!«

»Gute Fahrt«, schluchzte Sasha und legte auf.

Eigentlich war Elisa immun gegen das Weinen ihrer kleinen Schwester, aber jetzt spürte sie selbst Tränen in sich aufsteigen. Hatte sie doch überstürzt gehandelt? Innerhalb von zwei Tagen hatte sie ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt und war nun dabei, alles was ihr lieb und wichtig war, hinter sich zu lassen. Sie konnte nicht wegen Sasha bleiben, sie musste weg aus Hamburg. Weg von allem, was mit Carsten zu tun hatte. Sie wollte ihm nie wieder begegnen, nie wieder mit ihm sprechen, durch nichts an ihn erinnert werden ...

Elisa krümmte sich über dem Lenkrad zusammen. Die Tränen liefen über ihre Wangen. Einige tropften direkt auf ihre alte Jeans. Sie zitterte, obwohl sie sich zum Schlafen eine Fleecejacke über das T-Shirt gezogen hatte. Den ganzen letzten Tag war sie so damit beschäftigt gewesen, ihren Umzug zu organisieren, dass sie kaum an Carsten gedacht hatte, doch jetzt war alles wieder da. Die Verzweiflung. Die Enttäuschung. Die Wut. Ihre Trauer. Elisas Tränen flossen unablässig weiter.

Plötzlich klopfte jemand an die Windschutzscheibe. Elisa zuckte zusammen. Sie hob den Kopf und fuhr erschreckt zurück. Vor dem Transporter stand ein Koloss von einem Mann mit wettergegerbtem Gesicht und grauen Haaren, seine massige Figur wirkte bedrohlich. In der Nacht hatte es Elisa für eine gute Idee gehalten, den Transporter sichtgeschützt zwischen einigen großen LKWs abzustellen. Nun wurde ihr bewusst, dass es tatsächlich niemand bemerken würde, wenn der Mann sich ihr näherte. Hatte sie die Türen wirklich verschlossen?

»Du musst keine Angst haben!«, rief er und machte ihr damit noch mehr Angst. Sie sah, dass die Fahrertür des LKWs, der direkt gegenüber von ihrem Transporter parkte, offen stand. In der Windschutzscheibe hing ein Nummernschild mit dem Namen Ronny. Warum schlief der Kerl nicht wie alle anderen auch? Würde sie jemand hören, wenn sie laut schrie? Elisa sah unauffällig zu den anderen LKWs. Kein Lebenszeichen.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte der Mann. Elisa hatte Mühe, ihn durch die Scheibe zu verstehen. Er musterte sie und fragte noch mal: »Ist alles in Ordnung?«

Das klang nicht bedrohlich. Auch der Blick aus seinen hellblauen Augen war eher mitfühlend. Neugierig. Ronny sah nicht aus wie ein Gangster, der im nächsten Augenblick über sie herfallen würde.

»Warum weinst du, Mädchen?«, fragte er.

Mädchen?!?

Elisa war über dreißig! Wie alt mochte er sein? Über fünfzig? Über sechzig?

»Ich tu dir nichts, Mädchen. Willst du ’nen Kaffee?«

Er hatte einen Becher in der Hand, den er in ihr Sichtfeld hob. Elisa schüttelte den Kopf. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Wenn du das Fenster aufmachst, muss ich nicht so schreien!«, rief Ronny durch die Scheibe. Er deutete zu den anderen LKWs. »Die Jungs werden sauer, wenn ich sie wecke.«

Elisa schätzte die Entfernung zur Raststätte ab. Falls er ihr zu nahe kam, würde sie lossprinten. Er war breit gebaut, er sah nicht gerade wie der geborene Läufer aus. Sie musste einfach Abstand halten. Elisa griff nach ihrer Tasche und schob die Tür auf. Sie ließ sich vom Sitz gleiten.

»Ich muss mal zum Waschraum.«

Sie verschloss die Tür des Transporters. Aus der Nähe sah der Mann plötzlich harmlos aus in seinem karierten Flanellhemd. Elisa war sogar ein Stück größer als er.

»Hast du Liebeskummer?«, fragte Ronny unvermittelt.

»Wenn ein hübsches Mädchen weint, ist doch meistens einer von uns Jungs schuld daran.«

Elisa sah erstaunt zu ihm. Der kräftige Trucker war ein Frauenversteher. Wie hatte sie vor ihm Angst haben können?

»Mein Freund hat mich betrogen. Ich hab ihn mit einer Kollegin im Bett erwischt.«

Elisa sah Carsten und Suki wieder vor sich, wie sie engumschlungen in seinem Bett lagen. Wie Carsten mit einer Hand durch Sukis Haare gefahren war und mit der anderen über ihren nackten Körper – genau wie er es immer bei Elisa gemacht hatte. Sukis Lachen hallte immer noch in Elisas Kopf nach.

»Scheiße.« Ronnys Gesicht verzog sich, die Falten hingen allesamt nach unten.

»Du sagst es.«

Ronny deutete mit dem Kopf auf den Transporter.

»Deshalb fährst du weg? Ziehst du um wegen ihm?«

»Er war mein Chef. Ich kann nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten.«

»Nee, klar ...« Er trank einen Schluck Kaffee. »Was machst du dann?«

»Ich hab einen neuen Job am anderen Ende der Republik.«

»Krass.«

»Ja, das ist wirklich krass.«

Plötzlich so weit weg von zu Hause zu sein. Ganz allein.

»Was hat dein Freund dazu gesagt?«

»Carsten? Keine Ahnung! Ich habe nicht mehr mit ihm geredet seit ...« Elisa brach ab und kaute auf ihrer Lippe. »Er hat ein paarmal angerufen. Aber ich bin nicht drangegangen. Was gibt es da noch zu reden? Es ist aus.«

»Das tut mir leid, Mädchen.« Ronny lächelte Elisa unbeholfen zu.

»Ich heiße Elisa.«

Sie gab ihm die Hand.

»Ronny.« Er räusperte sich. »Ich kann mir denken, wie beschissen es dir jetzt geht. Ich war mal verheiratet, ist ’ne Weile her. War damals schon mit dem Truck unterwegs. Hat mir nicht gefallen, dass ich meine Frau immer wieder allein lassen musste, aber was will man machen? Auf jeden Fall kam ich eines Tages früher nach Hause als geplant. Da hab ich sie mit ’nem anderen Kerl im Bett erwischt. Hat sich rausgestellt, dass sie mich schon länger betrogen hat. Mit dem und mit anderen.«

»Das tut mir leid«, sagte Elisa. Ronny zuckte mit den Schultern und trank einen Schluck Kaffee. »Wenn du jetzt nicht mehr mit ihr verheiratet bist, dann hast du ihr wohl auch nicht verzeihen können?«

»Nee! Hab mich scheiden lassen. Jetzt bin ich besser dran!«

»Wirklich?«

»Klar. Ich kenne hier und da ein paar Mädchen, bei denen ich vorbeischaue, wenn mir danach ist. Nichts Festes, nichts Kompliziertes.«

»Nichts, was einem wehtun kann?«

»So ungefähr.«

Ronny nickte.

»Wie lange dauert es, bis es nicht mehr wehtut?«

»Schon ’ne Weile. Es kommt darauf an, wie viel du noch an ihn denkst.« Er deutete mit dem Kopf zum Transporter. »Wenn du wegfährst, ist’s leichter.«

»Das ist der Plan.« Elisa merkte selbst, dass ihr Lächeln verunglückte.

Ronny betrachtete sie und trank dann seinen Becher in einem Zug leer.

»Der Typ muss ein Idiot sein.«

»Danke, Ronny, das ist lieb.«

Er knüllte den Becher in der Hand zusammen.

»Tja, ich muss dann mal los. Geht’s jetzt besser?«

»Ja, irgendwie schon. Danke.«

»Mach’s gut!«

»Du auch.«

Er stieg in den LKW. Elisa ging hinüber zur Raststätte. Sie suchte den Waschraum auf. Als sie in den Spiegel über dem Waschbecken sah, musste sie unwillkürlich lachen. Sie selbst sah weitaus furchterregender aus als Ronny. Sie kippte sich einen Schwall kaltes Wasser ins Gesicht und trocknete sich mit ein paar Papierhandtüchern ab. Zum ersten Mal seit zwei Tagen verspürte sie Hunger. Im Selbstbedienungsrestaurant der Raststätte, das um diese Uhrzeit wie ausgestorben war, kaufte sie sich eine Nussschnecke, die überraschend lecker war. Nachdem sie sie verschlungen hatte, holte sie sich an der Theke noch einen Becher Kaffee.

Draußen wurde es immer heller, der Himmel war wolkenlos, die Sonne würde bald aufgehen. Es sah nach einem weiteren heißen Sommertag aus.

Elisa ging nicht auf direktem Weg zum Transporter zurück, sondern drehte mit ihrem Kaffeebecher in der Hand eine Runde über den Parkplatz. An der Auffahrt zur Autobahn zeigte ein Schild die Entfernungen zu den großen Städten an der Strecke an. Elisas Ziel war die letzte Stadt in der Liste: München 500 km. Und zum ersten Mal dachte sie nicht mehr an das, was passiert war, sondern an das, was auf sie zukam. Ihr neues Leben.

Henri war eingedöst – das war ihm noch nie passiert, wenn er eine Frau nach Hause begleitet hatte. Meistens stellte er sich schlafend, bis sie irgendwann eingeschlafen war, dann schlich er sich aus der Wohnung.

Alicia schlief tief und fest an seine Schulter geschmiegt. Im Dämmerlicht, das durch das offene Fenster fiel, betrachtete er ihr hübsches Gesicht. Sie hatte eine Stupsnase und sinnliche Lippen. Dunkelblonde Locken umrahmten ihr Gesicht.

Sie passte genau in Lenz’ Beuteschema; lieb und süß. Henris Kollege war es gewesen, der sie in der Kneipe, in der sie kellnerte, angesprochen hatte, doch sie hatte sich mehr für Henri interessiert und sehr offensichtlich mit ihm geflirtet. Lenz hatte sich nach einer Weile zurückgezogen, weil er angeblich nach seinem arthritisgeplagten Vater schauen musste. Obwohl sie eigentlich weggegangen waren, weil ihm zu Hause die Decke auf den Kopf gefallen war.

Henri sah sich um, wie er sich an einem Tatort umsah, wenn er mehr über das Mordopfer oder den Mörder erfahren wollte. Alicias Einzimmerappartement war klein, doch sie hatte das Beste daraus gemacht. Die Wände waren in warmen Gelbtönen gestrichen und ein Wandtattoo verkündete in geschwungener Schrift My home is where my heart is. Ein Paravent trennte das Bett und den Kleiderschrank vom übrigen Raum ab. Es war aufgeräumt – auch in der kleinen Kochnische –, wirkte aber nicht penibel ordentlich. Auf den bunten Sofakissen lag eine aufgeschlagene Zeitschrift, auf dem Tischchen stand eine verschnörkelte Kaffeetasse. Es war gemütlich bei Alicia.

Und Henri hatte viel Spaß mit ihr gehabt. Mehr als mit jeder anderen, mit der er geschlafen hatte, seit Lenz ihn vor ein paar Monaten – um genau zu sein, an Claires und Henris Hochzeitstag – in einen seiner Single-Clubs geschleppt hatte. Doch als er Alicia nun ansah, empfand er gar nichts.

Was ist mein Problem?

Sie war vielleicht ein bisschen zu jung für ihn, sie studierte noch – Medizin, wenn er sie richtig verstanden hatte. Aber abgesehen davon war sie eine liebenswerte und attraktive Frau. Sie war an ihm interessiert und hatte durchblicken lassen, dass sie mehr suchte als eine kurze Affäre. Mehrmals hatte sie betont, dass sie normalerweise nicht gleich mit jeder neuen Bekanntschaft ins Bett ging. Sie war ein anständiges Mädchen, eines mit dem man eine gemeinsame Zukunft planen konnte. Und doch ließ sie ihn kalt.

Was stimmte mit ihm nicht? Warum konnte er sich nicht auf sie einlassen? Warum fühlte er nichts? War seine Liebe erschöpft? Hatte man nur ein bestimmtes Maß an Liebe für ein Leben zur Verfügung?

Oder waren es die vielen Mordfälle, bei denen sich herausstellte, dass das Tatmotiv letztendlich Liebe war? Liebe in all ihren Facetten. Besitzergreifende Liebe. Egoistische Liebe. Hoffnungslose Liebe. Selbstzerstörerische Liebe. Einseitige Liebe. Enttäuschte und verletzte Liebe, die sich in ihr Gegenteil verkehrte, in Hass.

Ganz am Anfang, als Henri in die Mordkommission gekommen war, hatte ein erfahrener Kollege geschätzt, dass über 80 Prozent der Mordfälle, die sie untersuchten, Beziehungstaten waren. Nach all den Jahren war Henri überzeugt davon, dass der Anteil der Morde aus verletzter und verletzender Liebe noch viel höher anzusetzen war. 90 Prozent oder mehr.

Henri zog langsam seinen Arm unter Alicia weg und schob stattdessen ein Kissen unter ihren Kopf. Sie lächelte im Schlaf, wurde aber nicht wach. Henri sammelte seine Kleider vom Boden auf und beobachtete Alicia, während er hineinschlüpfte. Nach seiner Erfahrung war das der kritische Moment. Wenn sie jetzt aufwachte, würde es peinlich werden. Doch Alicia schlief tief und fest.

Henri hatte vorgesorgt. Als sie gefragt hatte, ob er noch ein Glas Wein trinken wollte, hatte er bereits seinen Bereitschaftsdienst erwähnt. Jetzt riss er ein Blatt von einem Post-it-Block auf ihrem Schreibtisch und kritzelte eilig eine kurze Nachricht. Muss zu einem Einsatz! Danke für die schöne Nacht!

Henri klebte das Post-it an den Paravent, sodass Alicia es gleich sehen konnte, wenn sie aufwachte. Sie war so intelligent, dass sie schnell erkennen würde, dass Henri sie nicht wiedersehen wollte. Aber das hatte er auch nie behauptet. Er hatte ihr nichts vorgespielt.

Er zog die Wohnungstür leise hinter sich ins Schloss und lief die Treppe hinunter. Wohin jetzt?

Henri wusste, dass er nun – nach dem leichten Halbschlaf neben Alicia – nicht mehr ohne die Hilfe einer Schlaftablette würde einschlafen können. Tabletten kamen jedoch nicht infrage, denn er hatte nicht gelogen, als er von seiner Rufbereitschaft gesprochen hatte. Er musste jederzeit einsatzbereit sein. Henri warf einen Blick auf die Uhr, als er hinaus auf die Straße trat. Die Dämmerung wich bereits dem Tag, es würde nicht mehr lange dauern, bis die Sonne aufging. Alicia wohnte nicht weit vom Olympiapark entfernt. Er konnte eine Runde laufen gehen. Wer wusste schon, ob und wann er während des Bereitschaftsdienstes dazu kam?

Im Auto hatte er immer eine Tasche mit Sportsachen, verschiedene Schuhe und Klamotten fürs Laufen und für das Basketballtraining beim Polizeisport. Den Wagen hatte er in der Nähe von Alicias Kneipe stehen lassen. Sie wohnte nicht weit entfernt davon. In wenigen Minuten war er dort und zog sich im Auto um. Seine Laufuhr und den iPod mit seiner Laufliste hatte er nicht dabei, aber das störte ihn nicht. Es ging ums Laufen, nicht darum, einen Strecken- oder Geschwindigkeitsrekord zu brechen. Am Sonntagmorgen war es ruhig in der Stadt, am lautesten waren Henris Gedanken, als er durch die Straßen Richtung Olympiapark lief. Warum zerbrach er sich nach einem netten One-Night-Stand den Kopf über die Liebe? Warum konnte er sich nicht einfach von diesem überbewerteten Konzept verabschieden und ein bisschen Spaß haben? Henri war genervt von seiner eigenen Grübelei.

Doch es dauerte nicht lang, bis er in seinen regelmäßigen Laufrhythmus verfiel und seine Gedanken sich aus ihren festen Mustern lösten, frei herumschwirrten und schließlich neue Ideen produzierten. Beim Laufen fügten sich oft die Puzzleteile in seinem Kopf neu zusammen und brachten ihn der Lösung eines Falles näher.

Nur dass er gerade keinen offenen Fall hatte, den er dringend lösen sollte. Sie hatten ihren letzten Fall vor ein paar Tagen aufgeklärt. Eine junge Frau hatte ihrer Großmutter einen Bärlauchsalat vorgesetzt und dafür versehentlich – zumindest sagte sie das – giftige Herbstzeitlose verwendet. Die alte Frau war wenige Stunden nach dem Essen verstorben. Diesmal war es Dr. Vogel, der Rechtsmediziner gewesen, der die Puzzleteile zusammengesetzt hatte, nachdem der Hausarzt keine Todesursache hatte feststellen können. Henri und sein Team hatten nur die Aussagen aller Beteiligten aufgenommen und waren noch dabei, die Informationen für die Staatsanwaltschaft aufzubereiten. Er war froh, dass er nicht derjenige war, der entscheiden musste, ob die junge Frau zur Verantwortung gezogen werden würde.

Als Henri am Park ankam, war es bereits hell. In wenigen Augenblicken würde die Sonne zu sehen sein. Henris Schritte waren inzwischen vollkommen regelmäßig, er hatte seinen Laufrhythmus gefunden. Er lief in Richtung See, bog dann aber links ab und folgte dem Weg hinauf auf den Olympiaberg. Er wollte zusehen, wie die Sonne über München aufging. Es war ein klarer Tag, er konnte bis weit in die Berge schauen.

Henri blieb stehen und streckte sich. Von hier oben sah die Stadt so friedlich aus, doch er wusste es besser. Dort unten gingen Menschen aufeinander los und töteten einander, vollkommen egal wie idyllisch die Sonne vom Himmel schien. Man konnte nur hoffen, dass nicht heute schon wieder jemand durchdrehte und einen anderen ermordete. Ob aus Liebe oder warum auch immer.

Sonntag

D er Raum drehte sich um Carina. Ihr wurde schwarz vor Augen. Schwindel erfasste ihren ganzen Körper. Sie klammerte sich an die Armlehnen des Schreibtischstuhls. Für einen Moment ließ das Schwindelgefühl nach, um gleich darauf mit heftiger Übelkeit zurückzukommen. Carina würgte und schnappte mühsam nach Luft. Atmen! Atmen!

Dann war die Schwindelattacke so plötzlich vorbei, wie sie gekommen war. Die Übelkeit ebbte ab, zurück blieb ein Gefühl der Benommenheit. Gierig atmete Carina ein, doch die abgestandene Luft im Arbeitszimmer schmeckte schal, als sei sämtlicher Sauerstoff verbraucht.

Carina zog sich an der Tischplatte hoch. Ihre Beine zitterten. Als sie das Fenster kippte, kam von draußen drückend schwüle Luft herein. Es knisterte, als seien die Luftmoleküle elektrostatisch aufgeladen. Die Spannung in der Luft war greifbar. Ein kaum spürbarer Windhauch brachte die Schmetterlinge in Bewegung, die an dem bunten Mobile an der Decke flatterten. Sie sank auf den Stuhl zurück.

Der Stapel mit den unkorrigierten Heften auf der linken Seite des Schreibtischs schien immer noch riesengroß zu sein. Rechts lagen die Hefte, die sie schon durchgesehen hatte. Eigentlich hatte Carina mit den Aufsätzen bereits am Vortag fertig sein wollen, doch als Adrian am Telefon so verzweifelt klang, hatte sie ihm ein Treffen im Café nicht abschlagen können. Auch wenn es ihr nicht so schien, als könne sie ihm wirklich helfen. Sie konnte nichts tun, außer ihm zuzuhören und ihn in den Arm zu nehmen.

Und jetzt saß sie in der Hitze da mit dem verbleibenden Heftstapel. Carina seufzte. Die Schwindelattacke hatte sämtliche Energie aus ihr herausgesaugt. Sie brauchte dringend einen Koffeinschub, um ihren Kreislauf wieder in Schwung zu bringen. Der Wunsch nach einem Kaffee war so stark, dass Carina meinte, den Geruch wahrnehmen zu können. Dabei hatte sie es so lange ohne Kaffee ausgehalten.

Nein, sie würde nicht schwach werden. Sie richtete sich auf und straffte die Schultern. Kein Kaffee. Sie würde auch ohne auskommen.

Carina stand auf und ging in die Küche. Sie trank ein Glas Wasser. Ob sie sich eine weitere Tasse von diesem widerlichen Tee aufbrühen sollte? Judith sagte immer: »Viel hilft viel«. Aber sie hatte leicht reden. Dieser Tee löste Brechreiz aus. Allein der Gedanke an den bittersüßen Geschmack ließ Carina schaudern.

Sie ging zurück ins Arbeitszimmer, setzte sich an den Schreibtisch und zog entschlossen das nächste Heft vom Stapel. Emily Jacobi. Das versprach zumindest eine unterhaltsame Lektüre. Emily hatte eine überbordende Fantasie. Schon nach dem dritten Satz musste Carina schmunzeln. Die Heldin von Emilys Geschichte hatte große Ähnlichkeit mit ihrer Schöpferin. Sie war genauso pfiffig und vorlaut. Sie aß pausenlos Zimtwecken, genau wie die Figuren in Emilys letztem Aufsatz, und Carina konnte das schwedische Kleinstädtchen, das Emily beschrieb, mit den roten Häusern und den konkurrierenden Kinderbanden deutlich vor sich sehen. Vielleicht würde Emily sich freuen, wenn sie ihr das Wort falunrot beibrachte. Sie nahm es mit solchen Dingen sehr genau.

Von draußen war das Greinen eines Babys zu hören. Carina musste nicht aufstehen und durch das Fenster hinunterschauen. Sie wusste, dass die junge Mutter aus der Erdgeschosswohnung ihr acht Wochen altes Baby im Kinderwagen zum Schlafen in den Garten hinausgeschoben hatte und dass es sich nun bemerkbar machte, weil es Hunger hatte. Carina hatte schon öfter verstohlen hinter dem halb vorgezogenen Vorhang beobachtet, wie das Baby im Schatten der Kastanie gestillt wurde. Die Mutter hob es aus dem Wagen, küsste das Baby und drückte es an sich, bis es genug von ihren Zärtlichkeiten hatte und immer dringender nach einer Mahlzeit verlangte. Beim Trinken legte das Baby eine Hand auf die Brust der Mutter, während sie mit der freien Hand sanft über seinen Hinterkopf strich – ein Anblick, der Carina so berührte, dass sie schon mehrmals davon geträumt hatte.

Carina spürte, wie sich ein Schweißtropfen zwischen ihren Brüsten bildete. Es war heiß. Das Greinen des Babys war verstummt. Carina griff nach dem Stift, um falunrot auf den weißen Korrekturrand zu schreiben.

Plötzlich zerriss ein Knall die sonntägliche Stille. Carina zuckte zusammen. Mit der Stiftspitze hinterließ sie eine fahrige Spur quer über Emilys ausladender Schrift. Das war kein Donner gewesen, obwohl bei diesem schwülen Wetter jederzeit mit einem Gewitter zu rechnen war. Der Knall war lauter gewesen als ein Donner. Lauter und unheilvoller. Das war eine Explosion. Als hätte sich die unheimliche Spannung, die in der Luft lag, entladen. Ganz in ihrer Nähe.

ELYSIUM stand in schwarzen Metalllettern an der Hauswand. Es war keine der typischen alpenländischen Schreibschriften, die Elisa im Vorbeifahren an einigen anderen Häusern gesehen hatte. Haus Gundula, Ludwigslust – das waren geschwungene, verspielte Schriftzüge. Elysium war dagegen in geradlinigen, eleganten Großbuchstaben geschrieben.

Elysium – die Insel der Seligen. Elisa hatte die Fotos in der Mail überflogen, den unterschriebenen Mietvertrag an die angegebene Nummer gefaxt und keinen weiteren Gedanken daran verschwendet. Doch nun wurde sie neugierig. Sie sah an der Fassade nach oben. Die beiden Dachgauben, die sie erkennen konnte, gehörten vermutlich zu der Wohnung, die sie gemietet hatte. Das Haus war weiß gestrichen und von einer weiß getünchten Mauer umgeben. Zu beiden Seiten der Eingangstür rankten sich Rosenstöcke an Spalieren an der Hauswand empor. Elisa konnte vom erhöhten Sitz des Transporters erkennen, dass hinter der Mauer auf der linken Seite des Eingangs ein farbenfroher Rosengarten angelegt war.

Sie stopfte den Stadtplan in ihre ausgeleierte Umhängetasche und stieg aus. Rechts des Eingangs stand ein Mülltonnenhäuschen hinter der Mauer, daneben führte ein kleiner Weg an der Hauswand entlang zu einem Carport. Elisa klingelte. Eine große, grauhaarige Frau öffnete die Tür. Sie mochte in den Sechzigern sein.

»Ich bin Elisa Gerlach.«

Die Augen der Frau, die von einem ungewöhnlichen Veilchenblau waren, leuchteten auf und sie lächelte herzlich. Sie trat einen Schritt auf Elisa zu und griff nach ihren Händen.

»So früh habe ich Sie noch nicht erwartet! Sie hatten immerhin mehrere hundert Kilometer zurückzulegen. Wann sind Sie losgefahren, Sie Ärmste?! Sie müssen ja die halbe Nacht durchgefahren sein! Oder haben Sie unterwegs übernachtet? Und dann so ganz allein zu fahren ...«

Musste die Frau niemals Luft holen?

»Kommen Sie bitte herein, Elisa. Ich darf doch Elisa zu Ihnen sagen, ja? Ich heiße Karen. Kommen Sie!« Sie zog Elisa ins Haus, ohne mit dem Reden aufzuhören. »Sie müssen erschöpft sein nach der langen Fahrt. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Einen Kaffee? Tee? Wasser?«

Karen klang nicht bayrisch. Ihr Hochdeutsch hatte einen plattdeutschen Tonfall, wie er Elisa aus dem Norden vertraut war.

»Danke, im Moment nicht.« Elisa hatte die Kaffeepausen, die sie auf der Fahrt gemacht hatte, am Ende nicht mehr gezählt. Immer wieder hatte sie angehalten, um mit einem neuen Koffeinschub gegen die Müdigkeit anzukämpfen.

»Dann zeige ich Ihnen das Haus. Kommen Sie!«

Karen zog Elisa an der Hand hinter sich her durch eine Diele, von der auf der rechten Seite jeweils eine Treppe nach oben und eine Treppe nach unten abzweigte. Geradeaus stand eine Wohnungstür sperrangelweit offen.

»Wir wohnen hier unten im Erdgeschoss und im ersten Stock«, erklärte Karen. »Ich zeige Ihnen gleich alles, dann kennen Sie sich aus. Haben Sie keine Hemmungen, Sie dürfen gern durch die Wohnung gehen, wenn Sie in den Garten möchten.«

Sie betraten einen großen Raum, der mit einer cremefarbenen Sitzgruppe und einer Kommode nur sparsam möbliert war. Durch die bodentiefen Fensterscheiben konnte Elisa auf eine breite Veranda und einen gepflegten Garten hinaussehen. Überall lagen Bücher- und Zeitschriftenstapel. Keine Illustrierten, sondern Sach- und Fachblätter aus verschiedenen Themenbereichen – Spektrum der Wissenschaft, GEO, Science, Essen & Trinken.

»Hier ist das Klavierzimmer mit der Bibliothek und dahinter der Wintergarten.« Karen deutete auf eine Schiebetür, die halb offen stand. Elisa sah einen schwarzen Flügel. »Ich habe Ihnen ja geschrieben, dass ich Klavierlehrerin bin. Hier unterrichte ich meine Schüler. Das wird Sie nicht stören, wenn Sie tagsüber bei der Zeitung sind. Sie werden bei der Morgenzeitung anfangen, nicht wahr? Wir haben die Morgenzeitung abonniert. Wenn Sie wollen, können Sie sich gerne ein paar Ausgaben anschauen.« Karen klopfte auf einen Zeitungsstapel, den sie auf dem niedrigen Wohnzimmertisch vorbereitet zu haben schien, setzte dann aber gleich ihre Führung fort. »Da ist das Esszimmer und hier ist die Küche.«

Im Esszimmer stand eine lange Tafel vor einem großen Buffet voller Porzellan und Gläser. Wie im Wohnzimmer waren Möbel und Textilien in hellen Farben gehalten. Elegant und stilvoll wie der Schriftzug an der Hauswand.

Ein zeitloses, überaus geschmackvolles Elysium.

Die Küche war groß und gut ausgestattet. Genügend Einbauschränke boten Stauraum, sodass die Arbeitsflächen nicht vollgestellt waren wie in Carstens Yuppie-Küche, in der es schon schwerfiel, Platz für ein kleines Brett zu finden, wenn man eine Zwiebel schneiden wollte.

»Durch die Glastür kommt man in den Gemüsegarten. Ich habe dort viele Kräuter angepflanzt. Wenn Sie wollen, können Sie sich gern bedienen. Petersilie, Schnittlauch, Salbei, Thymian ...«, zählte Karen auf, unterbrach sich jedoch selbst, als schnelle Schritte auf der Treppe laut wurden. »Das wird mein Sohn sein«, erklärte sie und rief dann laut: »Bärchen! Kommst du eben mal?«

Bärchen war eine groteske Verniedlichung, denn der Mann, der gleich darauf den Raum betrat, war so groß, dass er den Kopf einziehen musste, um nicht am Türstock anzustoßen.

»Ich möchte dir unsere neue Mieterin vorstellen. Das ist Elisa Gerlach. Vielleicht könntest du ihr beim Ausladen helfen? Sei doch so nett!« Sie wandte sich wieder an Elisa. »Große Möbelstücke werden Sie nicht mitgebracht haben, die Wohnung ist ja möbliert. Aber vielleicht haben Sie schwere Umzugskisten?«

Sie gaben sich die Hand, während Karen noch redete. Bärchens Blick scannte Elisa und blieb kurz an ihrer zerrissenen Jeans und der abgenutzten Tasche hängen. Elisa waren seine extrem dunklen Augen und der dezente dunkle Bart am Kinn aufgefallen. Und der unfreundliche Blick, mit dem er sie musterte. Sie antworteten gleichzeitig.

»Ich muss sofort los. Vielleicht kann Anna euch helfen«, sagte er.

»Ich habe nicht viel, nur einen Sessel«, sagte Elisa.

»Na dann ...« Er griff nach einem Autoschlüssel, der auf der Kommode lag, und wandte sich an seine Mutter. »Ich melde mich. Bis später.«

»Bis später, Bärchen.«

Er verzog das Gesicht, sagte aber nichts und verschwand. Karen zuckte mit den Schultern.

»Gehen wir nach oben.«

Im ersten Stock blieb sie nicht stehen, sondern wies nur kurz auf die Wohnungstür am Treppenabsatz.

»Hier sind unsere Schlafzimmer. Ihre Wohnung ist ein Stockwerk weiter oben, Elisa. Kommen Sie!« Auf der zweiten Treppe wurde Karen langsamer und atmete hörbar, doch dann waren sie im Dachgeschoss angelangt. Als Karen die Wohnungstür öffnete, blickte Elisa in einen hohen, lichtdurchfluteten Raum. Vom Dachgiebel, der sich als dicker Holzbalken längs durch das Zimmer zog, fielen die Dachschrägen nach unten. Zum Boden hin war darunter noch so viel Platz, dass bequem ein Sofa und Einbauschränke an der linken Wand und eine Küchenzeile an der hinteren Wand Platz fanden. Durch zwei breite Gaubenfenster fiel der Sonnenschein in den Raum. In der Mitte stand ein Tisch mit vier Stühlen. Erst als Elisa ein paar Schritte in den Raum hinein gemacht hatte, sah sie die verglaste Dachgaube auf der rechten Seite, die den Blick auf eine kleine Dachterrasse freigab.

»Ein toller Raum!«

»Mein verstorbener Mann war Architekt. Das war sein Atelier«, erklärte Karen. »Er hat das Haus selbst entworfen.«

Karen deutete auf die Dachschrägen neben der großen Gaube. »Hier am Schreibtisch können Sie sich einen Arbeitsplatz einrichten, wenn Sie möchten. Das WLAN-Passwort habe ich auf dem gelben Klebezettel aufgeschrieben. Und auf der anderen Seite finden Sie den Schlafraum und das Bad.«

Durch das vorgelagerte Bad entstand ein kleiner Flur zum Schlafzimmer. Es gab keine Tür, die den Schlafbereich abgrenzte. Die ganze Wohnung war ein riesiger Raum, der durch die Dachgauben und die Abmauerung zum Bad in mehrere Bereiche unterteilt war.

Elisa machte einen Schritt hinaus auf die Dachterrasse, auf der ein kleiner Tisch und zwei Klappstühle standen. Im ersten Stock zog sich ein Balkon über die ganze Hausbreite und bildete das Dach für die Veranda im Erdgeschoss.

Auch Karen trat nach draußen. Im Garten erklang lautes Gebell. Ein Border Collie sprang auf dem Rasen in der Mitte des Gartens herum und bellte zu ihnen herauf.

»Das ist Luna. Dann kann Anna nicht weit sein«, sagte Karen und rief laut: »Anna!«

»Was ist?« Die Stimme kam aus dem Kirschbaum in der Ecke des Gartens.

»Komm mal raus! Unsere neue Mieterin ist da!« An Elisa gewandt erklärte sie: »Anna ist meine Enkelin. Sie verbringt die meiste Zeit in ihrem Baumhaus.«

»Ich kann euch sehen«, verkündete Anna.

Elisa beugte sich nach vorn und erkannte durch eine Lücke im Laub das Baumhaus, das in der Baumkrone fest eingewachsen war. Es musste sich schon geraume Zeit in diesem Baum befinden. Ein Teenager mit dunklen Haaren streckte den Kopf durch den Eingang, von dem eine Strickleiter nach unten hing. Luna sprang noch immer zwischen Rasenmitte und Strickleiter hin und her.

»Komm runter, Anna. So kannst du Elisa nicht begrüßen!«

»Kann ich schon!« Annas Stimme klang bockig.

»Lassen Sie sie«, sagte Elisa zu Karen und winkte zu dem Mädchen hinüber. »Ich sehe dich, Anna. Freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin Elisa.«

»Schön.« Anna verschwand wieder im Baumhaus.

»Es ist im Moment etwas schwierig mit ihr«, sagte Karen. »Dabei ist sie so ein liebes Mädchen.« Sie zuckte mit den Schultern und ging wieder hinein. »Hier auf dem Tisch liegt Ihr Schlüssel. Ich hoffe, die Wohnung entspricht Ihren Vorstellungen.«

»Mehr als das. Sie ist sehr schön!«

Karen lächelte zufrieden.

»Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit in unserem Haus. Sagen Sie Bescheid, wenn Sie etwas brauchen.«

Sie wandte sich zur Tür.

»Danke. Das ist sehr freundlich. Es sieht so aus, als hätte ich alles, was ich benötige.«

Die Wohnung war schöner als sämtliche Wohnungen, in denen Elisa jemals gewohnt hatte. Das war schon mal ein gutes Omen. Wenn jetzt noch alles mit dem neuen Job glattging ...

Hoffentlich kein Kind. Hoffentlich kein Kind. Wie ein Mantra gingen die Worte durch Henris Kopf, als er seinen Wagen vor der Polizeiabsperrung parkte. Zwei große Feuerwehrlöschzüge versperrten die Straße. Henri sah keinen Rauch, die Häuser, die er im Blickfeld hatte, waren unversehrt, doch mehrere Feuerwehrmänner liefen zwischen dem Eingang eines weißen Bungalows und den Löschzügen hin und her.

Wenn Henri zu einem Tatort gerufen wurde, war er durch die Kollegen der Zentrale meistens vorgewarnt. Sie gaben weiter, was sie erfahren hatten: ein Toter mit Schussverletzung, ein Sturz aus dem Fenster, eine Messerstecherei. Doch hier hatte es gebrannt und keiner hatte ihm sagen können, was ihn erwartete. Als die Feuerwehrleute einen Toten in den Trümmern des Hauses gefunden hatten, war die Polizei verständigt worden, aber niemand wusste, ob es noch mehr Leichen gab. Und Kinderleichen waren das Schlimmste.

Als Henri ausstieg, bremste Lenz hinter ihm. Obwohl er früher nach Hause gegangen war als Henri, sah er mit den dunklen Ringen unter den Augen aus, als hätte er die Nacht durchgemacht.

»Sollte Tanja nicht kommen?«

Lenz schloss das Fenster und stieg aus.

»Hat niemanden für die Kinder.«

Ihre Kollegin war vor Kurzem von ihrem notorisch fremdgehenden Mann geschieden worden, der sich seither nicht mehr verpflichtet fühlte, spontan auf die gemeinsamen Kinder aufzupassen, wenn Tanja während der Bereitschaft einen kurzfristigen Einsatz hatte.

»Hast du schon erfahren, was hier los ist?« Henri machte eine vage Kopfbewegung zu den Feuerwehrwagen.

»Ich weiß nur, dass von einem Toten die Rede war.«

»Gehen wir rein.«

Sie zeigten dem Uniformierten an der Absperrung ihre Dienstausweise und schlüpften unter dem rot-weißen Band durch. Die Haustür stand offen, noch immer war nichts von einem Brand zu sehen.

»Henri Wieland! Lange nicht gesehen, Herr Hauptkommissar!«

Gregor Huber stand auf einmal auf der Türschwelle. Mit dem Feuerwehrkommandanten hatte Henri vor einigen Monaten bei einem Brand am Schlachthof zu tun gehabt. Sie schüttelten sich die Hand.

»Ist besser, wenn wir uns nicht sehen, Gregor. Es gibt jedes Mal Tote.«

Gregor nickte Lenz kurz zu. »So wie hier.«

»Ist der Brand gelöscht?«

»Das war keine große Sache. Sieht nach einer Explosion am Gasherd in der Küche aus. Wir waren schnell vor Ort und konnten das Feuer löschen, bevor es auf andere Räume übergegriffen hat.«

»Ein Toter, stimmt das?«

»Ja. Der Leichnam ist ziemlich stark verbrannt, laut Rechtsmediziner sehr wahrscheinlich ein Mann.«

Also kein Kind.

»Demnach ist Dr. Vogel schon da?«, fragte Lenz.

»Vor zehn Minuten gekommen.«

»Wissen wir, wer hier wohnt?«, fragte Henri.

»Die Nachbarin, die uns alarmiert hat, hat gesagt, dass das Haus einem Ehepaar namens Hildebrand gehört.«

»Ihr habt ganz sicher nur einen Leichnam gefunden?«

»Wir haben das ganze Haus durchsucht, da ist sonst niemand. In der Küche gibt es auch keine Trümmer, unter denen noch jemand liegen könnte. Soll ich euch den Brandort zeigen?«

Henri nickte. Sie zogen Plastiküberzieher an und folgten Gregor ins Haus. Der Bungalow war L-förmig angelegt. Gregor deutete auf die Treppe neben der Haustür.

»Nach oben geht’s zu den Schlafzimmern. Links ist das Wohnzimmer, wir müssen geradeaus.«

Sie betraten ein großes Esszimmer, dessen antike Möbel im hinteren Teil stark verrußt waren. Durch die Tür zur Küche musste es heftig gequalmt haben. Henri sah hinüber zu der Fensterfront, die auf eine große Terrasse und einen noch größeren Garten hinausging. Im Rasen war ein Pool eingelassen, der sommerlich leuchtete.

»Nicht schlecht, die Hütte«, meinte Lenz.

»Die Nachbarin hat gesagt, dass der Besitzer Zahnarzt ist«, sagte Gregor und verbesserte sich, als sein Blick auf den Leichnam am Küchenboden fiel: »... war.«

Henri betrachtete den Toten. Seine sterblichen Überreste. Er mochte die Floskel nicht, aber hier passte sie. Die Arme waren vor dem Brustkorb in Boxerpose angewinkelt. Das Feuer hatte nicht sämtliches Fleisch vernichtet, an den Knochen hingen teilweise Klumpen schwarz verkohlten Gewebes. An den Oberarmen war die Haut verbrannt, darunter hatten sich die Muskeln zusammengezogen, Henri konnte einzelne Muskelfasern erkennen. Er holte tief Luft und sah sich im Raum um.

Die Wucht der Explosion hatte den Fensterstock aus der Wand gerissen. Wo vermutlich eine Spüle gewesen war, klaffte ein großes Loch in der Wand. Das Feuer hatte rings um die Kochstelle in der Mitte des Raumes gewütet. Von der Kücheneinrichtung war nicht mehr viel übrig außer ein paar angebrannten Metalltöpfen und einer Pfanne, die von der Explosion neben das Loch in der Wand auf den Boden geschleudert worden sein musste. Der Tote lag zwischen den Überresten des Kochblocks und der offenen Hauswand. Es roch nach verkohltem Metall und verbranntem Gewebe. Alles war mit feuchtem schwarzem Ruß bedeckt.

»Wissen wir sicher, dass es sich um den Besitzer des Hauses handelt?«, fragte Henri. Dr. Vogel, der Rechtsmediziner, der den Toten untersuchte, stand auf und begrüßte Henri und Lenz. Wie immer machte er seinem Namen alle Ehre, indem er beim Sprechen seinen langen dünnen Hals nach vorn schob und nervös hin- und herwackelte.

»Natürlich sind wir nicht sicher, dass der Tote Dr. Hildebrand ist. Erst die Obduktion kann eine hundertprozentig einwandfreie Identifikation ermöglichen. Das muss Ihnen doch klar sein, so wie der Körper aussieht.«

Henri wagte einen Blick auf das Gesicht des Toten. Lippen und Nase waren verbrannt, die Zähne zwar verrußt, aber noch als solche zu erkennen. Um die Augenhöhlen waren einzelne Muskelfasern erhalten, die sich über die Wangenknochen bis zum Kiefer spannten. In den Augenhöhlen lagen dunkle Klumpen, wahrscheinlich die Augäpfel. Die Haare waren vollständig verbrannt, der Schädel glänzte schwarz.

Wie eine ägyptische Mumie.

»Ich muss seine Zähne untersuchen«, sagte Dr. Vogel. »Wenn er Zahnarzt ist, wird es irgendwo Unterlagen über seine eigenen Zähne geben.«

Ob er sich selbst die Zähne untersucht hatte? Oder hatte man als Zahnarzt einen Kollegen des Vertrauens, den man aufsuchte? Bei dem man vielleicht mit genauso mulmigem Gefühl im Wartezimmer saß wie Henri erst vor ein paar Wochen, als er zur mehr als zwei Jahre überfälligen Zahnkontrolle gegangen war ...

»Und wenn die Zähne nicht weiterhelfen, muss ich eine DNA-Probe nehmen. Sagen Sie den Kollegen von der Spurensicherung, dass sie unbedingt hier im Haus DNA-Proben zum Abgleich nehmen müssen.«

Lenz verdrehte die Augen.

»Das machen die Jungs automatisch, Dr. Vogel«, sagte Henri beschwichtigend. »Sie scheinen aber jetzt schon zu der Annahme zu neigen, dass es sich bei dem Toten um einen Mann handelt?«

»Natürlich ist das noch keine hundertprozentig sichere Erkenntnis ...«

»Natürlich nicht«, warf Lenz ein.

Dr. Vogel blinzelte irritiert und sein Kopf wackelte noch stärker als vorher hin und her, doch er fuhr unbeirrt fort: »... aber die Größe des Beckenknochens deutet darauf hin, dass wir es mit einem Mann zu tun haben.«

»Ich schätze mal, dass Sie auch noch nichts dazu sagen können, ob die Explosion beziehungsweise der Brand die Todesursache war, oder?«, fragte Lenz spitz.

»Selbstverständlich nicht!« Dr. Vogel war entrüstet. »Jetzt auch nur eine Vermutung in diese Richtung auszusprechen wäre hochgradig unseriös. Da müssen Sie wirklich die Obduktion abwarten.«

Er beugte sich über den Leichnam und setzte die Untersuchung fort.

»Wir untersuchen die Statik. Es scheinen keine tragenden Wände beschädigt zu sein, aber wir müssen sichergehen«, sagte Gregor und stieg durch das Loch in der Wand nach draußen. Glassplitter und verkohlte Trümmerteile knirschten unter den Sohlen seiner schweren Stiefel. Henri und Lenz blieben an der Tür stehen. Der Boden war noch nass vom Löschwasser. Wenn sie sich den Brandort näher ansahen, würden sie unweigerlich Spuren zerstören, von denen es ohnehin nur wenige gab. So wenig der Rest des Hauses abbekommen hatte, so zerstörerisch war das Feuer in der Küche gewesen.

Lenz warf einen Blick auf die Leitung, die neben dem Kochblock aus dem aufgeplatzten Parkett herausragte und rief nach draußen: »Gregor! Ist jemand auf die Idee gekommen, das Gas abzustellen?«

»Schlauberger!«, kam es von draußen zurück. Sie hörten das dröhnende Lachen von mehreren Feuerwehrmännern. »Wir haben das Gas angelassen, weil wir heute gegrillte Kommissare essen wollen. Was glaubst du denn?«

»Man wird ja wohl mal fragen dürfen«, verteidigte sich Lenz.

»Gibt’s hier was zu lachen?«

Hinter Henri und Lenz tauchte das Team von der Spurensicherung auf. Die Kollegen trugen weiße Schutzanzüge und große Metallkoffer, in denen sich ihre Ausrüstung befand. Henri musste zweimal hinschauen, um einzelne Personen zu erkennen, nur bei einem war das nicht schwer. »Arnie« Arnold, von dem keiner wusste, wie sein Vorname wirklich lautete, war ein Koloss von einem Mann. Groß und muskelbepackt, sein Schutzanzug drohte an mehreren Stellen zu platzen. Er schüttelte Henri die Hand, als ob er einen Pumpenschlegel bediente.

»Habt ihr gute Stimmung?«, erkundigte er sich laut lachend und ließ den Blick bereits aufmerksam durch den Raum gleiten. Bei dem verbrannten Körper stockte er kurz. »Lustig sieht das nicht aus.«

»Ist es auch nicht.«

Henri fasste kurz zusammen, was sie bisher in Erfahrung gebracht hatten. Sie traten zur Seite, um die Kollegen in die Küche zu lassen.

»Wir schauen uns oben um.«

»Ist gut, dann steht ihr hier nicht im Weg«, meinte Arnie, während er eine Kamera aus einem der Koffer nahm.

Henri und Lenz gingen die Treppe hoch in den ersten Stock, den das Feuer nicht erreicht hatte. Vom Treppenabsatz führten offene Türen in zwei Schlafzimmer. Das größere Zimmer verfügte über einen begehbaren Kleiderschrank, der sowohl Damen- als auch Herrenbekleidung enthielt.

»Sieht nach teuren Marken aus«, meinte Lenz, als er einen Blick auf die Etiketten geworfen hatte.

»Zahnärzte zählen immer noch zu den Besserverdienern.« Henri zog sich Gummihandschuhe an und öffnete den Spiegelschrank über dem Waschbecken im Bad. »Ausschließlich Damenpflegeprodukte.«

Durch das Fenster erkannte Henri einen Zaun auf der gegenüberliegenden Straßenseite und dahinter hohe Bäume; die Idylle des Nymphenburger Schlossparks mit blauem Himmel und strahlendem Sonnenschein. Das Wetter scherte sich nicht um den Tod.

Henri sah sich das Schlafzimmer näher an. Die Bezüge des ungemachten Doppelbettes waren mit winzigen rosa Blümchen bedruckt und Kissen in verschiedenen Rot- und Rosatönen stapelten sich am Kopfende. Auf der Kommode neben dem Bad lagen Unmengen von Schmuck und an den cremefarbenen Wänden hingen zarte Pastellbilder.

Das zweite Schlafzimmer wirkte dagegen nüchtern. Schwarz-weiße Bettwäsche, ein schwarzes Bettgestell, weiße Wände – lediglich ein paar gerahmte Fotografien von Segelbooten brachten an einer der Wände etwas Farbe in den Raum. Lenz kam aus dem kleinen Bad, das zu diesem Zimmer gehörte.

»Ausschließlich Herrenpflegeprodukte«, sagte er.

Henri musterte die zusammengeknüllte Bettdecke.

»Wir können wohl von getrennten Schlafzimmern ausgehen.«

»Sieht so aus.«

»Vielleicht kann uns die Nachbarin, von der Gregor gesprochen hat, mehr sagen.«

»Idealerweise hat sie außerdem eine Vermutung, wo sich die Dame des Hauses aufhält.«

Lenz warf noch mal einen kurzen Blick in das größere Schlafzimmer, bevor sie zurück zur Treppe gingen.

»Ganz schön rosa. Da würde ich auch die Flucht ergreifen.«

»Keine vorschnellen Schlussfolgerungen«, meinte Henri. »Warten wir erst ab, was wir über den Zustand dieser Ehe erfahren.«

»Solange kannst du mir ja erzählen, wie es um den Zustand deines Liebeslebens bestellt ist«, meinte Lenz beiläufig. »Hattest du noch einen schönen Abend?«

Henri winkte ab.

»Die war doch ganz süß«, meinte Lenz.

»Schon ...«

»Dir ist echt nicht zu helfen, weißt du das?«, setzte Lenz an. »Was ist denn mit dir los? Der Kleinen stand auf der Stirn geschrieben, dass sie mit dir ins Bett wollte!«

»Schon ...« Henri grinste schief.

»Ach so.« Lenz schüttelte den Kopf. »Was ist dann dein Problem? Die war doch zum Verlieben!«

Er blieb auf der Treppe stehen und sah Henri fragend an. Henri zuckte mit den Achseln.

»Ich glaube, ich kann mich nicht mehr verlieben.«

»Nur weil Claire ...«

Plötzlich stand Tanja in der Eingangstür des Bungalows.

»Hi, Jungs!«, sagte sie atemlos. »Da bin ich!«

»Tanja!«, bemerkte Lenz geistreich.

»Was ist mit deinen Kindern?«, fragte Henri.

»Ich hab sie zu meinen Eltern gebracht.«

»Das wäre nicht nötig gewesen. Wir sind zu zweit, das reicht. Es ist noch gar nicht abzusehen, ob das überhaupt ein Fall für uns ist. Kann auch ein Unfall am Gasherd sein.«

»Oder Suizid. Oder eine manipulierte Gasleitung. Man kennt das ja.« Tanja zückte ihr Notizbuch. »Dann bringt mich mal auf den aktuellen Stand.«

Elisa ließ sich auf einen der Klappstühle fallen. Sie setzte die Wasserflasche an und trank sie leer, ohne abzusetzen. Sasha musste den Kasten Mineralwasser für sie in den Transporter gestellt haben, als sie ihr beim Einladen geholfen hatte. Elisa schloss die Augen und lehnte sich zurück. Die Sonne schien ihr warm ins Gesicht. Insekten brummten um sie herum und Vögel zwitscherten in den Bäumen.

Im Baum knackte ein Zweig. Elisa spähte durch die Augenlider. Karens Enkelin beugte sich aus der Öffnung des Baumhauses und sah zu ihr hinüber. Der Hund, der sich unten am Baumstamm hingelegt hatte, hob den Kopf.

»Bist du fertig mit Ausladen?«, fragte Anna.

»Fast.« Ein paar Kisten noch und der große Sessel. Den konnte Elisa nicht allein die Treppe hochtragen. Karen machte zwar einen rüstigen Eindruck, aber das Gewicht des Sessels konnte sie ihr nicht zumuten. Nachdem Bärchen ihr seine Hilfe verwehrt hatte, blieb nur noch das Mädchen. Elisa richtete sich auf, doch Anna war schon wieder im Inneren des Baumhauses verschwunden.

»Kannst du mir mit dem Sessel helfen, Anna?«, rief Elisa laut.

»Mmh«, kam es unbestimmt zurück.

Schwierige Phase. Dann eben nicht. Vielleicht konnte sie den Sessel erst mal unter den Carport stellen. Möglicherweise ließ sich Bärchen später für einen kleinen Nachbarschaftsdienst erweichen. Elisa stand auf. Arme und Beine schmerzten gleichermaßen, die Arme von den schweren Kisten, die Beine von den vielen Treppenstufen.

Großvaters alter Lederlesesessel stand ganz hinten im Transporter. Das Erinnerungsstück hätte sie niemals zurückgelassen. In diesem Sessel hatte Großvater gesessen und vorgelesen. Mal für alle seine Enkel, mal für Elisa allein. Er war immer für sie da gewesen, wenn ihre Eltern im Hotel eingespannt waren. Wenn Elisa an ihn dachte, dann sah sie ihn in seinem Lieblingsmöbelstück vor sich. Sie schob den Sessel zur Tür. Mit Sashas Hilfe hatte sie ihn hineinbekommen, allein würde sie ihn nicht hinausbekommen. Also erst mal das Fahrrad und die letzten Kisten. Elisa hob das alte Hollandfahrrad vom Sperrmüll heraus. Jasper hatte es mit einer neuen Bremse versehen und generalüberholt, von Elisa stammte die knallrote Lackierung. Rasende Feuerwehrreporterin war Carstens Bezeichnung für sie gewesen, als er bei der Abendzeitung begonnen hatte.

»Cooles Rad.«

Elisa zuckte zusammen. Sie hatte Anna nicht kommen hören. Wie ein Schatten stand sie auf einmal hinter Elisa. Sie trug schwarze Jeans, ein schwarzes T-Shirt und schwarze halbhohe Stiefel. Bei den Temperaturen musste ihr wahnsinnig heiß sein. Ihre schwarz gefärbten Haare waren wirr hochgesteckt, nur ihre braunen Augenbrauen verrieten ihre eigentliche Haarfarbe. Die dunklen Augen wurden durch Lidstriche und schwarzen Lidschatten betont. Es war schwer, ihr Alter zu schätzen. Vierzehn, fünfzehn vielleicht.

»Ist mein zuverlässiger Begleiter, der mich überall hinbringt.« Auch wenn das Rad schon alt war, hatte Elisa noch nie eine Panne damit gehabt.

»Hast du gar kein Auto?«

Elisa schüttelte den Kopf. Anna warf einen Blick in den Transporter.

»Sieht schwer aus, der Sessel.«

»Ist er auch. Kannst du mir helfen?«

Anna nickte. Sie sah schmächtig aus, aber sie packte kräftig mit an, als sie den Sessel aus dem Transporter hoben. Selbst ihre Fingernägel waren schwarz lackiert. Mit der Stiefelspitze stieß Anna, die vorging, die angelehnte Haustür auf. Sofort schlüpfte der Hund zwischen ihren Füßen nach draußen.

»Luna!«, sagte sie leise, aber in strengem Ton. »Geh wieder ins Haus.«

Mit eingezogenem Schwanz verschwand der Hund im Wohnzimmer. Elisa und Anna schleppten den Sessel die Treppe hoch.

»Sehr nett, dass du mir hilfst«, sagte Elisa. »allein könnte ich das Ding nie ins Dachgeschoss befördern.«

»Mmh«, machte Anna.

Schweigend legten sie die restlichen Stufen zurück. Elisas Wohnung war inzwischen vollgestellt mit Umzugskartons, Taschen und Plastikboxen. Sie stellten den Sessel neben dem Sofa ab.

»Danke.«

»Mmh.«

Anna wandte sich bereits zur Tür. Ihre schweren Stiefel polterten auf der Treppe. Unten steckte Karen den Kopf aus der Wohnzimmertür.

»Das ist aber nett, dass du Elisa hilfst, Anna. Wollt ihr eine kleine Erfrischung? Ich habe Saft gemacht.«

»Sind noch nicht fertig«, verkündete Anna in einem Tonfall, in dem ein klares Nerv nicht mitschwang.

Sie lief zum Transporter und belud sich mit einem Umzugskarton.

»Geht’s?«, fragte Elisa. Anna nickte bloß und stieg die Treppe hoch.

Eine Viertelstunde später war der Transporter leer.

»Jetzt habe ich doch Durst. Probieren wir mal Omas Saft«, sagte Anna. Elisa folgte ihr in die Wohnung im Erdgeschoss. Karen erwartete sie draußen auf der Veranda, wo sie Gläser und eine große Karaffe auf den Tisch gestellt hatte. Anna ließ sich neben Karen auf das Rattansofa fallen, Elisa nahm einen der Sessel.

»Eis?«, fragte Karen.

»Ja, bitte. So kalt wie möglich.«

Elisa trank einen großen Schluck Saft. Frisch gepresst – Elisa schmeckte Orangen, Grapefruit und Kiwi heraus.

»Lecker.«

»Ein paar Vitamine können Sie bestimmt gut gebrauchen«, sagte Karen und lächelte. Anna verdrehte die Augen.

Die Veranda nahm fast die gesamte Hausbreite ein, daneben lag ein Wintergarten. Der Balkon spendete Schatten, während der Rest des Gartens in der Sonne lag. In der Mitte ein gepflegter Rasen, dahinter bunte Blumenrabatten, rechts der große Kirschbaum, links eine glyzinienbehangene Pergola, davor ein gemauerter Grill.

Spießige Idylle. Schöne spießige Idylle.

Karen folgte Elisas Blick.

»Das hat alles mein verstorbener Mann entworfen. Er hat sich gern mit schönen Dingen umgeben.«

Und mit schönen Menschen. Karen war auch im Alter noch attraktiv. Sie hatte graue Haare und faltige Haut, doch ihre aufrechte Haltung und der klare Blick verrieten viel Energie.

»Sie fangen gleich morgen bei der Zeitung an?«

»Ja, um neun.«

»Dann sind Sie wegen des Jobs in den Süden gekommen?«

»Genau.« Elisa fragte zurück. »Sie hören sich selbst auch nicht gerade wie eine Original-Münchnerin an?«

Karen lächelte.

»Nein. Ich komme aus Hamburg, genau wie Sie.«

»Ich habe nur in den letzten Jahren in Hamburg gelebt. Aufgewachsen bin ich an der Nordsee. Meine Eltern haben ein Hotel in Sankt Peter-Ording. Sie sind dagegen eine echte Hanseatin, oder?«

»Durch und durch. Ich lebe zwar seit über vierzig Jahren hier, aber meinen Dialekt werde ich nie ablegen. Das ist immer noch meine Heimat.« Karen kicherte wie ein kleines Mädchen. »Deshalb habe ich Sie auch ausgesucht.«

Karen hatte auf Elisas eiliges Such-Inserat in der Online-Mietbörse geantwortet und ihr die Wohnung angeboten. Nachdem sich sonst niemand gemeldet hatte, hatte Elisa sofort zugesagt. Sie brauchte ein Dach über dem Kopf. Und dieses schien nicht das schlechteste zu sein. Dafür konnte sie gern bei Karen ein paar Heimatgefühle wecken. Elisa gratulierte sich selbst dazu, dass sie unter der Überschrift Nordlicht sucht Wohnung in München inseriert hatte.

»Ihr Jobwechsel kam sehr plötzlich, wenn Sie sich erst vorgestern nach einer Wohnung umgesehen haben?«, bohrte Karen weiter.

»Ein Studienkollege arbeitet in der Redaktion der Morgenzeitung. Über ihn habe ich die Stelle kurzfristig bekommen.«

»Sie sind wohl nicht gebunden, wenn Sie eben mal ans andere Ende der Republik ziehen können?«

Anna verdrehte wieder die Augen, aber sie sagte immer noch nichts.

»Nein, bin ich nicht«, sagte Elisa knapp.

»Dann ist das hier ein richtiger Neubeginn für Sie«, fasste Karen zusammen und strahlte Elisa an.

»Kann man so sagen«, meinte Elisa. »Neue Stadt und neuer Job.«

»Und vielleicht eine neue Liebe?«

Karen kicherte wieder und zwinkerte Elisa zu.

»Oma, das ist echt peinlich!«, sagte Anna, bevor Elisa etwas erwidern konnte, und stand auf. Sie knallte ihr Glas auf das Tablett und stapfte die breite Treppe hinunter in den Garten. Luna folgte ihr und ließ sich unter dem Kirschbaum nieder, während Anna auf der Strickleiter nach oben in ihr Baumhaus stieg.

»Ich muss jetzt mal weiter auspacken.« Elisa stellte ihr Glas auf das Tablett und stand auf. »Danke für den Saft.«

Von der Nachbarin hatten Henri und Lenz erfahren, dass der Zahnarzt Adrian Hildebrand hieß. Er hatte mit seiner Frau Judith bereits in dem Bungalow gewohnt, als sie selbst mit ihrem Mann vor über zehn Jahren nebenan eingezogen war. Anfangs hatten sie engeren Kontakt gepflegt, doch die kinderlosen Hildebrands hatten sie sich zurückgezogen, als die Nachbarn gleich mehrfach Nachwuchs bekamen. Sie beschwerten sich zwar nicht über das Kindergeschrei im Garten, aber man merkte doch, dass es sie störte. Seither gingen die Nachbarn höflich miteinander um, der Kontakt beschränkte sich auf freundliches Grüßen und ab und zu ein kurzes Gespräch am Gartenzaun. Wie es um die Ehe der Hildebrands bestellt war, konnte man vom Gartenzaun aus nicht erkennen. Die Nachbarin wusste nicht mit Sicherheit, wo Judith Hildebrand sich zurzeit aufhielt, aber sie vermutete, dass sie im Fitnessstudio war, denn sie hatte das Haus am Vormittag mit einer großen Sporttasche unter dem Arm verlassen.

Tanja hatte bei ihrer Überprüfung des Obergeschosses das Kursprogramm von Lady Fit gefunden. Ein Anruf ergab, dass Judith Hildebrand tatsächlich dort trainiert, das Studio aber vor etwa einer Viertelstunde verlassen hatte.

»Dann dürfte sie gleich hier sein«, meinte Lenz. »Falls sie nicht noch etwas anderes vorhat.«

»Warten wir draußen.« Henri ging zur Haustür.

»Ich frage mal nach, ob Dr. Vogel oder Arnie schon was Neues für uns haben«, meinte Tanja und verschwand Richtung Küche.

Henri und Lenz verließen das Haus, um an der Gartenpforte zu warten. Die Feuerwehrfahrzeuge waren weg. Hinter der Absperrung standen einige Schaulustige. Ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen drängte sich nach vorn.

»Was ist denn passiert?«, fragte sie. »War das eine Explosion, der Knall, den wir gehört haben?«

Henri nickte.

»Das ist richtig. Es gab eine Explosion. Mehr können wir im Moment noch nicht dazu sagen. Wir müssen Sie alle jetzt bitten, weiterzugehen und Platz für die Einsatzkräfte zu machen.«

Henri sprach laut und bestimmt. Die meisten trollten sich, nachdem an der Hausfront sowieso nichts zu sehen war. Ein paar Leute blieben jedoch nach einigen Schritten wieder stehen und warfen ihnen weiter neugierige Blicke zu. Das blonde Mädchen diskutierte mit zwei Jungen in ihrem Alter. Henri sah ein silbernes Cabrio in die Garageneinfahrt einbiegen, ein Porsche 911.

»Das könnte sie sein. Versuch du, die restlichen Leute auch noch loszuwerden. Ich rede mit ihr.«

Lenz winkte den Streifenbeamten, der an der Tür stand, zu sich und gemeinsam gingen sie auf die verbliebenen Schaulustigen zu. Henri lief zu dem Cabrio, das vor der Garage angehalten hatte. Eine schlanke Frau stieg aus und sah sich mit gerunzelter Stirn um.

»Was ist denn hier los?«, fragte sie Henri, als er sie erreicht hatte. Ihre langen roten Haare glänzten in der Sonne und sie roch frisch geduscht.

»Sind Sie Judith Hildebrand?«

»Ja, die bin ich.« Ihre Schultern strafften sich.

Henri zückte seinen Ausweis.

»Henrik Wieland, Kriminalpolizei. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass sich in Ihrem Haus eine Explosion ereignet hat ...«

»Eine Explosion? Aber es ist doch gar nichts kaputt!« Sie musterte die Hausfassade von oben bis unten.

»Hinten in der Küche ...«

Wieder fiel sie Henri ins Wort.

»Wie ist das denn passiert? War es eine Gasexplosion?«

»Es sieht ganz danach aus. Unsere Experten untersuchen gerade die Küche. Wissen Sie, wo Ihr Mann sich in den letzten Stunden aufgehalten hat?«

»Nein. Er hat noch geschlafen, als ich gegangen bin. Ich weiß nicht, was er vorhatte. Vielleicht ist er zum Segeln gegangen.«

Henri sah den Leichenwagen der Gerichtsmedizin die Straße entlang auf sie zufahren und beeilte sich zu sagen: »Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass wir einen stark verbrannten Leichnam in der Küche gefunden haben. Die Möglichkeit besteht, dass es sich dabei um Ihren Mann handelt.«

»Adrian? Adrian soll tot sein?« Ihre Stimme wurde ganz hoch und dünn.

»Die Identifikation ist schwierig und wahrscheinlich erst durch eine Zahn -oder DNS-Untersuchung bei der Obduktion zweifelsfrei möglich. Aber wenn nicht noch andere Personen Zugang zu Ihrem Haus haben, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um Ihren Mann handelt, sehr hoch.«

»Andere Personen? Nein ... niemand ... Es kann nur Adrian ...« Sie schlug die rechte Hand vor den Mund. Ihr schmaler Ehering glänzte in der Sonne. »Oh, mein Gott!«, flüsterte sie. »Adrian ist tot.«

»Mein herzliches Beileid, Frau Hildebrand.«

Keine Routine der Welt konnte das Gefühl der Hilflosigkeit verhindern, das Henri in diesem Moment immer überwältigte. Was konnte man jemandem Tröstliches sagen, der gerade erfahren hatte, dass er einen geliebten Menschen verloren hatte?

Die Mitarbeiter der Rechtsmedizin hoben den Transportzinksarg aus dem Wagen und trugen ihn zur Eingangstür.

Schlechtes Timing. Ganz schlechtes Timing.

Judith Hildebrand schien Dr. Vogels Mitarbeiter zunächst nicht wahrzunehmen, doch als sie realisierte, was die beiden Männer trugen, stieß sie einen Schrei aus und stürzte sich auf den Sarg.

»Nein! Nein! Nein!«, schrie sie. »Adrian!«

Die Schaulustigen, die von Lenz und dem Beamten weggeschickt worden waren, hörten ihre Schreie und drehten sich sofort wieder um. Henri war mit wenigen Schritten bei Judith Hildebrand und zog sie sanft am Arm von dem Sarg weg. Er bedeutete den Mitarbeitern von der Rechtsmedizin mit einer energischen Kopfbewegung, schnell im Haus zu verschwinden.

»Nein! Nein! Nein!«, schrie Judith noch immer. Sie wollte den Männern folgen, doch Henri hielt sie fest.

»Sie können nicht in die Küche gehen, Frau Hildebrand.« Mit einem Blick auf die neugierigen Leute vor dem Haus schob er sie hinein, zog sie aber gleich in den Wohnzimmerbereich. Er machte die Zimmertür fest hinter sich zu, so dass sie nicht sehen würde, wenn man den Leichnam im Sarg aus dem Haus trug.

»Setzen Sie sich, Frau Hildebrand.«

Sie ließ sich auf einen der braunen Ledersessel sinken. Alle Energie war aus ihrem Gesicht gewichen, die Schultern hingen nach unten und sie starrte auf den Boden.

»Warum lassen Sie mich nicht ...«, begann sie, doch dann brach ihre Stimme.

»Ich möchte Ihnen diesen Anblick ersparen. Behalten Sie Ihren Mann lebendig in Erinnerung, so wie Sie ihn kannten.«

Sie beugte sich nach vorn, ihre Schultern bebten und die langen roten Haare fielen wie ein Vorhang über ihr Gesicht. Es sah aus, als krümme sie sich vor Schmerzen. Schließlich begann sie, mit dem Oberkörper langsam vor und zurück zu wippen.

»Frau Hildebrand?«

Sie reagierte nicht.

»Möchten Sie mit meiner Kollegin sprechen oder mit einem unserer Psychologen?«

Manchmal wollten Frauen lieber mit einer Frau reden, aber Judith schien alles egal zu sein. Sofern sie Henris Worte überhaupt wahrnahm.

»Frau Hildebrand, gibt es jemanden, den wir für Sie anrufen können, der Ihnen beisteht? Verwandte oder eine Freundin?«

Keine Antwort. Nur stetiges Auf- und Abwippen, begleitet von einem monotonen Wimmern.

Carina packte den Heftstapel in ihre große Ledertasche. Endlich fertig! Ihr Kreislauf war zwar wieder stabil, aber sie schwitzte. In der Wohnung war es unerträglich schwül. Michael hatte sich mit dem Kicker auf den kleinen Balkon gesetzt. Carina holte sich ein Glas Wasser und ging hinaus zu ihm.

»Ich bekomme hier keine Luft. Gehst du mit zu einem Spaziergang im Park?«

»Ich habe vorhin schon eine Runde gedreht, als ich die Zeitung geholt habe.« Michael sah kurz auf. »Aber ich komm noch mal mit, wenn du willst ...«

»Nein, nein, lies nur deine Zeitung. Ich werde nicht lange gehen, ich brauche einfach bloß ein bisschen frische Luft.«

Michael nickte und vertiefte sich wieder in den Kicker. Carina schlüpfte in ihre Sandalen und lief die Treppe hinunter. Noch bevor sie die Haustür öffnete, hörte sie draußen laute Kinderstimmen. Auf der wenig befahrenen Straße war immer etwas los, hier trafen sich die Kinder aus der ganzen Nachbarschaft zum Spielen. Diesmal waren es Emily, Moritz und Nico, die auf ihren Rollern um die Wette fuhren.

»Hallo, Frau Engl!«, rief Emily sofort, als sie Carina sah. Manchmal fand Carina, es wäre besser, nicht so nah bei der Schule zu wohnen, wenn sie am Nachmittag beim Einkaufen oder auf der Straße Schülern oder – noch schlimmer – deren Eltern begegnete. Bei Emily war es in Ordnung. Sie plauderte immer kurz mit ihrer Lehrerin, tauchte dann aber auch bald wieder in der Kindermeute unter. Jetzt kam sie mit fliegenden Zöpfen auf Carina zugefahren.

»Frau Engl, wissen Sie, was bei Hildebrands passiert ist? Sie sind doch mit denen befreundet.«

»Bei Hildebrands?« Carina hatte auf einmal ein ungutes Gefühl im Bauch.

»Ja. Haben Sie denn nicht den lauten Knall gehört? Und die Feuerwehr?« Emily schaute sie aus weit aufgerissenen blauen Augen an. »Haben Sie wirklich nichts gehört?«

»Doch ...« Nach dem lauten Knall hatte erst mal Stille geherrscht, kurz darauf war das Martinshorn zu hören gewesen, doch Carina hatte vom Fenster aus keinen Brand oder Rauch ausmachen können. »Ich wusste nicht, dass bei den Hildebrands was passiert ist. Warst du dort? Weißt du mehr?«

»Sie haben uns weggeschickt. Es waren ganz viele Feuerwehrleute da ...«

»Aber das Haus ist nicht kaputt«, mischte sich Moritz ein, der mit seinem Roller neben Emily gestoppt hatte. »Man konnte gar nichts sehen.«

»Wisst ihr, ob jemand verletzt wurde?«, fragte Carina. Was war mit Judith und Adrian?

Die Kinder zuckten mit den Achseln.

»Keine Ahnung.«

»Habt ihr einen Krankenwagen gesehen?«

»Nein. Nur Feuerwehr und Polizei. Und noch ein paar Leute ohne Uniformen.«

»Und so ein Auto mit ganz schwarzen Scheiben«, ergänzte Moritz.

Carina schluckte.