Wissenschaftsfeindlichkeit – Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer -  - E-Book

Wissenschaftsfeindlichkeit – Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer E-Book

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Beschreibung

Beiträge von: Hans-Peter Brenner, Joachim Hösler, Klaus Müller, Monika Münch-Steinbuch, Claudius Vellay, Werner Zimmer-Winkelmann

Weitere Themen: Koalitionsverträge in Berlin und Graz; EU-Impfstrategie und Big Pharma; AUKUS: Bündnis gegen China; Der Aufstieg der Partei der Arbeit (Belgien), KPÖ-Bashing der »linksliberalen« Medien; 50 Jahre Berufsverbote; 125 Jahre Wilhelm Hammann; Liam O’Flaherty und der irische Freistaat; Ayn Rand und die Philosophie der Gier; Tagungsberichte

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Seitenzahl: 280

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Marxistische Blätter 1_2022

Der Hase und die Energiekonzerne

Lothar Geisler

In gemeinsamer Sache

Große Nachfrage

Neues Gesicht – neuer Service

Ein Prospekt des PapyRossa Verlages …

Abo-Kampagne: »Marxismus für die A-Klasse«

Jetzt auch auf Instagram

Die Rubrik »Rezensionen«

Aktuelles

Neoliberale Ladenhüter im Gepäck – »Aufbruch« der Ampel-Koalition

Beate Landefeld

Die Axt im Rentenwald

Manfred Sohn

Doppelter Sprengsatz für Friedens- und Umweltpolitik

Bernhard Trautvetter

AUKUS – neuer Aufmarsch gegen China

Stefan Kühner

Umbruch in Graz

Fokus auf die alltäglichen Sorgen

Anne Rieger

Das Elend des Antikommunismus

Eine Presseschau von Manfred Mugrauer

Thema: Wissenschaftsfeindlichkeit

Editorial

Philosophische Grundlagen marxistischer Wissenschaftsauffassung

Claudius Vellay

Pandemie, Politik und Profit

Monika Münch-Steinbuch

Klio ist nicht blind

Zwei Beispiele zur Wissenschaftsfeindlichkeit in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft

Joachim Hösler

Kritik der nutzentheoretischen Grundlagen der Neoklassik

Klaus Müller

Das Elend der Gruppendynamik

Werner Zimmer-Winkelmann

Wissenschaft zwischen Marx, Murks und Musk.

Über die Klassenfunktion der Wissenschaft – insbesondere des Marxismus.

Hans-Peter Brenner

Positionen

50 Jahre »Berufsverbote« – Tradition, Betroffenheit, Perspektive

Lothar Letsche

»Eine erstaunliche Geschichte« – Der Aufbruch der belgischen Partei der Arbeit

Gille Feyaerts

Die EU-Impfstoffstrategie im Dienste von Big Pharma

Marc Botenga (MdEP)

Tagungsberichte

Workshop Tätigkeitstheorie und Kulturhistorische Schule

Raheb Balkhi

ZAKO/ver.di: »Solidarität ist unsere Alternative«

Ulrich Schneider

Nicht Abgrenzung, sondern »mit dem ganzen Hegel« über ihn hinaus?

Eva Niemeyer

Dokumentation

Wilhelm Hammann: Kommunist – Lehrer – »Gerechter unter den Völkern«

»Widerstand gegen Aufrüstung und Krieg – Aufbruch für Abrüstung und Frieden«

www.friedensratschlag.de

Literatur

Liam O’Flaherty und der irische Freistaat

Jenny Farrell

Von Orks und Helden –

Ayn Rands Philosophie der Gier

Holger Wendt

Es schrieben diesmal

Impressum

Der Hase und die Energiekonzerne

Lothar Geisler

Oh, wie ich es satthabe! Wann immer ich mit dem Auto unterwegs sein muss, und an einer Tankstelle vorbeikomme, starre ich auf den Dieselpreis. Und wann immer er am Tag unterhalb meiner Schmerzgrenze liegt, spurte ich an die Zapfsäule – egal wie leer der Tank ist. Das Problem: trotz Mischpreis im Tank muss ich meine Schmerzgrenze ständig nach oben anpassen.

Und jetzt dieser Brief meines Gasversorgers, zu dem ich – dem Rat von »Verbraucherschützern« folgend – nach intensiver Internetrecherche gewechselt war. Stolz wie Oskar über das rechnerisch Eingesparte. Bereits im Juli wurde ich über eine Erhöhung von 3,94 Cent auf 6,78 Cent pro Kilowattstunde informiert. Und jetzt: 9,84 Cent. Steigerungsrate: 250 Prozent! Entspricht beim Verbrauch in unserer Altbauwohnung 1180 € Mehrkosten im Jahr. Zusätzlich zu den Preissteigerungen, die jede/r von uns beim Obst- und Gemüsehändler, Fleischer, Bäcker oder bei der Wohnungsmiete, Versicherungsbeiträgen und städtischen Gebühren zu schultern hat. Dagegen können Berufstätige allein in den Tarifrunden nicht ankämpfen. Und wir Rentner:innen schon gar nicht. Das Ampelversprechen »Keine Rentenkürzungen« ist längst vor dem Amtsantritt der neuen Regierung als Lüge entlarvt. 5,2 Prozent vorläufige Inflation sind bereits die reale Kürzung der Renten, Löhne und Gehälter.

Jedem individuellen Versuch, den drohenden Löchern in der eigenen Haushaltskasse durch permanente »Schnäppchenjägerei« oder gar Konsumverzicht gegenzusteuern, sind Grenzen gesetzt. Angesichts der aktuellen (Preis-)Treibjagd läuft man Gefahr – wie in dem bekannten Märchen – als »Hase oeconomicus« von einem eingespielten Igel-Pärchen hin- und hergehetzt zu werden, oder gar zu Tode. Hier der Igel »Energiewirtschaft« als Hauptpreistreiber. (Denn das sind die Energiekonzerne. Egal was sie uns weismachen wollen und unter welchem »Sachzwang«-Gestrüpp sie sich verkriechen.) Dort die Igelin »Regierung« mit ihrer Steuerpolitik, die ihren geliebten Partner (und alle seine Klassenkameraden) verständnisvoll entlastet, wo es nur geht. Und uns armen Hasen weiter das Geld aus der Tasche zieht. Z. B. durch eine CO2-Zusatzsteuer, die sie uns zudem als effektiven Klimaschutz schmackhaft machen will. Den Ärmsten finanziell und rechtlich so unter die Arme zu greifen, dass niemandem das Gas oder der Strom abgedreht und die Wohnung gekündigt wird, ist ein Gebot der Stunde. Grundsätzlich ändern würde es allerdings nichts. Die Preistreiber könnten ungebremst weitermachen wie bisher.

Genug also mit diesem »Hase-und-Igel«-Spiel und der Almosen-Politik. Kein Mensch ist ein »Homo oeconomicus«. Niemand, der kein Ausbeuter ist, muss – Gott und Marx sei Dank – wie Kapitalisten denken. Deren »Philosophie der Gier«1, die dem ganzen »Neoliberalismus« zugrunde liegt, ist unmenschlich und nicht die unsere. Und von einer Regierung, die sich nicht nur vom Volk wählen lässt, sondern auch dessen Interessen wirklich vertreten will, kann man mit gutem Recht verlangen, dass sie die Preistreiber-Konzerne stoppt. Das wäre vernünftig. Die kleine DKP fordert das nun. Ihre Mitglieder wollen mit einer Kampagne »Energiepreisstopp jetzt!« von Januar bis Mai 2022 auf die Straße gehen. Damit sollen Menschen ermutigt werden, sich gegen die Energiekonzerne und die einseitige Abwälzung von Krisenlasten zu wehren, so der Parteivorsitzende Patrik Köbele.

Das wäre dann ja mal echter Verbraucherschutz, wenn … ja, wenn es gelingt, dass diese Idee, auch wirklich »die Massen ergreift«.

1 Siehe den Beitrag von Holger Wendt über Ayn Rand und die Philosophie der Gier in dieser Ausgabe, S. 123 f.

Große Nachfrage

Die Beilagen unserer Zeitschrift entwickeln sich zu einem gefragten (Bildungs-)Material. Besteller:innen sind Einzelpersonen, Parteigliederungen der Linkspartei und der DKP, linke Gewerkschafter:innen-Netzwerke oder verschiedene Lese- und Bildungszirkel. Allein der Beitrag von Cheng Enfu zu »500 Jahre Sozialismus« erreichte eine Vertriebsauflage von 450 Exemplaren. Wir mussten ihn nachdrucken lassen. Bei einer Veranstaltung zu »100 Jahre KP China« wurden zusätzlich rund 100 Exemplare von der DKP Berlin als Werbematerial für die Marxistischen Blätter verteilt. Dafür ein dickes Dankeschön.

Neues Gesicht – neuer Service

Wegen der Corona-Pandemie sind nun schon im zweiten Jahr fast alle großen Präsenzveranstaltungen ausgefallen, bei denen wir durch Buchverkäufe die Marxistischen Blätter finanziell stützen wollten. Bleibt nur der Online-Handel. Silberstreif am Horizont: Unser Web-Shop www.neue-impulse-verlag.de hat im Herbst 2021 ein neues Gesicht bekommen, ist klarer gegliedert und besser lesbar. (An ein paar Stellen muss noch gearbeitet werden.) Neu ist vor allem unser Direktservice: seit 1. Dezember liefert unser Vertragspartner bestellte Bücher mit Lieferschein direkt an unsere Kund:innen. Bestellungen bis 13.00 Uhr gehen am gleichen Tag noch auf den Postweg. Das verkürzt Lieferzeiten und spart in unserem (Ein-Mann-)Verlag Arbeit, Kosten und Verpackungsmaterial. Rechnungstellung und Lieferung aller Eigenproduktionen erfolgt wie bisher durch den Neue Impulse Verlag.

Nicht vergessen: Jede Buchbestellung unterstützt die Marxistischen Blätter.

Ein Prospekt des PapyRossa Verlages …

liegt der Inlands-Abo-Auflage dieser Ausgabe bei. Wir bitten um Beachtung.

Abo-Kampagne: »Marxismus für die A-Klasse«

Weniger öffentliche Veranstaltungen heißt auch: weniger Möglichkeiten, für unsere Zeitschrift zu werben und neue Abonnent:innen zu gewinnen. Dem müssen wir – Verlag und Leserschaft gemeinsam – in den kommenden zwei Jahren bis zum 60. Geburtstag der Marxistischen Blätter mit mehr Konzentration auf die Gewinnung neuer Abonnent:innen entgegensteuern. Ein erster Schritt: unsere neue Bestell-Postkarte für kostenlose Probe-Exemplare, die dieser Ausgabe beiliegt. Wenn jede/jeder Abonnent:in im persönlichen Arbeitsumfeld nur einen Menschen davon überzeugt, ein Probeexemplar zu bestellen, kommen wir einen kleinen Schritt vorwärts.

Jetzt auch auf Instagram

Dank eines jungen Genossen und Freundes der Marxistischen Blätter werben wir jetzt auch auf Instagram für unsere Zeitschrift und die Bücher unseres Verlages. Während seines Praktikums im Verlag hat er unseren Insta-Auftritt entworfen und umgesetzt. Dafür ein dickes Dankeschön, Cristian. An dieser neuen Baustelle wird kontinuierlich weitergearbeitet. Siehe: https://www.instagram.com/marxistische_blaetter/

Die Rubrik »Rezensionen«

…fehlt in dieser Ausgabe, – nur in dieser. Versprochen. Sie ist der außergewöhnlichen Arbeitsbelastung des dafür verantwortlichen Redakteurs zum Opfer gefallen. Auf »Literatur« muss deshalb niemand verzichten. In zwei Beiträgen setzen sich Jenny Farrell und Holger Wendt ausführlich mit dem Werk des Iren Liam O’Flaherty sowie der US-Amerikanerin Ayn Rand auseinander.

Neoliberale Ladenhüter im Gepäck – »Aufbruch« der Ampel-Koalition

Beate Landefeld

Vor der Nikolauswoche, in der die neue Bundesregierung ins Amt kommen sollte, erwischte die 4. Welle der Corona-Pandemie die »regierungsfähigen« Parteien auf dem falschen Fuß. Gerade noch hatte der geschäftsführende Gesundheitsminister Spahn (CDU) es für möglich erklärt, die »epidemische Notlage von nationaler Tragweite« auslaufen zu lassen. Der Ruf der FDP-Führer nach einem deutschen »Freedom-Day« hallte noch in den Ohren. Da löste ein neues »Infektionsschutzgesetz« der Ampel die »epidemische Notlage« ab. »Generelle Lockdowns« seien nicht mehr nötig, hieß es, während die Infektionszahlen rasch anstiegen. Die CDU/CSU nutzte die Fehleinschätzung, um zur frischgebackenen Oppositionspartei aufzulaufen: Mitten in der 4. Welle den »Instrumentenkasten« zu reduzieren, sei verantwortungslos.

Freilich hatten bis dahin weder Michael Kretschmer (CDU) noch Markus Söder (CSU), deren Länder niedrige Impfquoten und die höchsten Hospitalisierungsraten aufwiesen, den »Instrumentenkasten« der epidemischen Notlage genutzt. Die Drohung, das Infektionsschutzgesetz im Bundesrat zu kippen, ließen CDU/CSU erst fallen, nachdem die Ampel zugesagt hatte, es zeitnah mit den Ministerpräsidenten gemeinsam zu überprüfen. »Aushandlungsprozesse« nach diesem Muster könnten bald zur Regel werden. Der designierte Kanzler Scholz hielt sich bei dem Schlagabtausch zurück. Lindner und die FDP prägten die Covid-19-Strategie der neuen Regierung.

Schon im Herbst hatte das »Sondierungspapier« von SPD, Grünen und FDP herbe Enttäuschung bei Jugendorganisationen, Sozialverbänden, Klimaschützern, Gewerkschaften und zahlreichen Wähler:innen von Grünen und SPD ausgelöst. In ihm waren alle grundlegenderen ökologisch-sozialen Reformversprechen, die über singuläre Zugeständnisse wie den Mindestlohn von 12 Euro hinausgingen, kassiert. Hartz4 hatte man einfach in »Bürgergeld« umbenannt und der »Freiheitspartei« FDP zuliebe selbst das Tempolimit fallengelassen. Die Begründung für das Umschmeicheln der FDP gab Habeck: Diese Partei habe den »weitesten Weg« zur Ampel zurückzulegen.

Narrativ der »Fortschrittskoalition«

Die Ampelparteien erfanden das gemeinsame Narrativ, eine »Fortschrittskoalition« zu sein, nicht nur für die nächste Legislaturperiode, sondern »für ein Jahrzehnt der sozialen, ökologischen, wirtschaftlichen, digitalen und gesellschaftlichen Erneuerung« (Sondierungspapier). Die im 177 Seiten starken Entwurf des Koalitionsvertrags vereinbarten Hauptvorhaben sind die beiden »großen Transformationen« Digitalisierung und Klimaschutz.1 Die Ministerposten waren bei Redaktionsschluss noch nicht endgültig verteilt. Scholz war als Kanzler gesetzt, vorgesehen waren Lindner für Finanzen, Habeck für Wirtschaft und Klimaschutz, Baerbock für die Außenpolitik.

Die Digitalisierung soll die staatliche Verwaltung modernisieren, Genehmigungsverfahren beschleunigen und private Innovationen »entfesseln«. Nach neoliberaler Ideologie steht der Staat dem bisher im Wege. Die in Aussicht gestellten segensreichen Wirkungen der Digitalisierung reichen von »mehr Bürgernähe« und einer effizienteren Verwaltung bis zur besseren Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen. Doch standen Absichtserklärungen eines schnellen Breitbandausbaus auch schon in den Koalitionsverträgen von 2009, 2013 und 2018. Trotzdem blieben die meisten ländlichen Räume abgehängt und übermittelten während der Coronakrise die Gesundheitsämter ihre täglichen Daten dem Robert-Koch-Institut mit Faxgeräten.

Beim Klimaschutz stehen die Dekarbonisierung und der massive Ausbau erneuerbarer Energien im Vordergrund. Realistischerweise soll der (nicht zuletzt wegen der Elektromobilität) in Zukunft stark ansteigende Strombedarf übergangsweise auch durch den Bau »moderner Gaskraftwerke« gedeckt werden. Den Kohleausstieg strebt die Ampel »idealerweise bis 2030« an, statt wie bisher 2038. Bis 2030 sollen 80 Prozent des Strombedarfs aus erneuerbaren Energien kommen, 2045 soll Klimaneutralität erreicht sein. Absichtserklärungen, die in der BRD besonders hohen und derzeit rasant steigenden Strom- und Heizkosten zu senken, fehlen auch nicht. Doch erst 2023 soll die EEG-Umlage wegfallen. Der im Wahlkampf versprochene »soziale Ausgleich« (Klimageld) bleibt im Koalitionsvertrag ein bloßes, abstraktes Bekenntnis.

Staatliche Investitionen und Anreize des Staats für mehr private Investitionen sollen die beiden großen Transformationen befeuern. Das könne den konjunkturellen Aufschwung nach der Coronakrise verstärken und insgesamt die Wettbewerbsfähigkeit der Exportnation Deutschland erhöhen. Man stelle die Weichen dafür, dass die »soziale Marktwirtschaft« in eine »sozial-ökologische Marktwirtschaft« übergehe. Der Koalitionsvertrag befinde sich auf dem 1,5-Prozent-Pfad des Pariser Abkommens.

Möglich, dass das für die Ziele der Energiewende gilt. Vom Willen zu einer ernsthaften Verkehrswende ist dagegen wenig zu spüren. Zwar bekennt man sich zum Ausbau der Schiene, aber im Zentrum der Dekarbonisierung des Verkehrs steht klar die Förderung des Individualverkehrs. Bis 2030 sollen auf Deutschlands Straßen 15 Millionen vollelektrische Pkw rollen. Die nötige Ladesäuleninfrastruktur will der Staat überall dort schaffen, wo private Investoren es nicht tun. Der Koalitionsvertrag liebt das Wort »Markthochlauf«. Deutschland soll Leitmarkt für Elektromobilität werden, Zentrum für Forschung, Fertigung und Recycling von Batteriezellen, globaler Standort für Halbleiterindustrien und nicht zuletzt Leitmarkt für Wasserstofftechnologien.

Die Koalition will jährlich 400 Tausend Wohnungen bauen, ein Viertel mit Sozialbindung. Mietpreisbremsen sind vorgesehen, ein Mietstopp nicht. Ein einmaliger Bonus von 1 Milliarde geht an Pflegekräfte in Krankenhäusern. Gut so, aber nötig wäre die dauerhaft gute Entlohnung, um genug Personal zu gewinnen. Angekündigt ist eine Kindergrundsicherung. Es soll Lockerungen geben, die nichts kosten: die Streichung des § 129a, mehr Minderheitenschutz, weitere Diskriminierungsverbote. Cannabis wird legalisiert, das Wahlalter soll auf 16 sinken. Bei der Migration werden Familiennachzug, Aufenthaltserlaubnis und Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erleichtert.

In »sozialliberaler Tradition«?

Bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags prophezeite Lindner, Olaf Scholz werde ein »großer Kanzler« werden. Er versprach Bildungsförderung zur Einlösung des »Aufstiegsversprechens«. Die FDP, die das Bildungsministerium übernehmen will, knüpfe damit an eine gute »sozialliberale Tradition« an.2 Mit dem Vergleich irrt der 1979 geborene Lindner. Das kräftepolitische Umfeld der kurzen, »sozialliberalen Reformära« der Regierung Brandt/Scheel 1969 bis 1974 war ein völlig anderes als das heutige.

Damals ging ein Zwang zur Anpassung und zu Reformen des staatsmonopolistischen Kapitalismus von der Systemkonkurrenz mit dem sozialistischen Lager, vom Zusammenbruch des Kolonialsystems und von einer starken demokratischen außerparlamentarischen Opposition (APO) im Inneren aus. An der Ablösung von 20 Jahren CDU-geführter Regierungen, an der Bildungsreform, an einem Ende des Kalten Krieges und dem Übergang zur Entspannung waren Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre auch relevante Teile der Bourgeoisie interessiert. Die FDP unter Walter Scheel reflektierte die Wechselstimmung dieses Teils der herrschenden Klasse.

Seit der Weltwirtschaftskrise 1974/75 und im Zuge des Neoliberalismus erleben wir ein Roll-Back der damals erkämpften Reformen, mit Ausnahme von »Kulturreformen«, die mit der Macht des Monopolkapitals vereinbar sind und die sich der Neoliberalismus einverleibte, um für die neuen akademischen Mittelschichten attraktiver zu werden. In den 40 Jahren Neoliberalismus veränderten sich die Kräfteverhältnisse national und international grundlegend zu Lasten der Lohnabhängigen. Lohnabhängige und Gewerkschaften wurden sozial und politisch in die Defensive gedrängt. Erhebliche Teile leben heute in prekären Verhältnissen. Dagegen war der Neoliberalismus für Vermögensbesitzer, Großaktionäre und Reiche eine einzige Erfolgsgeschichte.

Dass das neoliberale Regime die Widersprüche des Kapitalismus nicht löst, sondern nur auf höherer Stufe reproduziert, weiß man spätestens seit der Krise 2008. Nach der Krise ging der Welthandel zurück. Die Investitionszurückhaltung blieb. Der angehäufte Reichtum floss wieder in Finanzmärkte statt in Realinvestitionen. Die Kaufkraft blieb schwach. All das hängt damit zusammen, dass Konjunkturkrisen die akkumulierten Disproportionen heute nicht mehr bereinigen. Die Notenbanken stützen mit der Null-Zins-Politik die Vermögenspreise. Gehen sie gegen die Inflation vor, riskieren sie einen Crash. In der Coronakrise 2020 ff. setzt sich die Krise von 2008 fort.

Die internationale Lage ist heute geprägt durch den Abstieg der USA als Hegemonialmacht des Westens und den Aufstieg des Südens, vor allem Chinas. Von dem Bestreben des US-Imperialismus, die Regeln der Weltwirtschaft auch in Zukunft allein zu bestimmen, gehen Tendenzen zur Blockbildung und zum Protektionismus aus. Immer neue Sanktionen, das Schüren von Spannungen, Provokationen und Aufrüstung zielen primär auf die Einkreisung und Eindämmung Chinas und Russlands.

Der Koalitionsvertrag 2021 mit der Überschrift »Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit« wird von drei Parteien getragen, die den Neoliberalismus in der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich mit vorangetrieben haben. Die FDP leitete mit dem Lambsdorff-Papier 1982 das Ende der sozialliberalen Koalition und den Seitenwechsel zu Helmut Kohl ein. Die Grünen als Partei der wachsenden neuen Mittelschichten engagierten sich in den 1980er Jahren in der Friedensbewegung und tendierten zu Koalitionen mit der SPD. In den Schröder/Fischer-Regierungen 1998-2005 mauserten sie sich zur neoliberalen NATO-Partei.

Neoliberal und NATO-treu

Den Weg zur NATO-Partei hatte die aus der Arbeiterbewegung kommende SPD mit dem Godesberger Programm bereits 1959 vollzogen. Die Agenda 2010 der Regierung Schröder/Fischer besiegelte den Übergang zum Neoliberalismus. Die Agenda kostete die SPD im Laufe der Zeit die Hälfte ihrer Wähler:innen, während die Grünen ihre Mittelschichtenklientel in das Bündnis mit dem Monopolkapital »mitnehmen« konnten und zunehmend als Juniorpartner der CDU fungierten. Es hätte an ein Wunder gegrenzt, wenn diese Parteien 2021 etwas anderes zuwege gebracht hätten als neoliberalen »Fortschritt«. Bemüht, einzelne Auswüchse des Neoliberalismus abzumildern oder umzubenennen, behalten sie die Grundrichtung bei und versuchen sogar, die bereits gescheiterte Politik mit altbekannten neoliberalen Ladenhütern zu »boostern«.

So soll bei der Rente (wieder einmal) eine teilweise »Kapitaldeckung« eingeführt werden. Man will »Pilotprojekte« für die weitere Flexibilisierung der Arbeitszeit anstoßen. Minijobs und Niedriglohnsektor sollen erhalten bleiben. Pläne, den Bahnkonzern zu zerschlagen, wurden durch die sofortige Mobilisierung der Eisenbahnergewerkschaft gerade noch verhindert. »Dennoch heißt es für uns: Vorsicht an der Bahnsteigkante«, schreibt die EVG. Auch hier drohte Ausgliederung. »Was die Pläne für die Deutsche Bahn konkret bedeuten, werden wir in den kommenden Monaten sehen. Die EVG ist sehr wachsam und wir werden diesen Prozess sehr kritisch begleiten.«3 Immerhin zeigt das Handeln der EVG, dass die Rolle der SPD-Führung als Transmissionsriemen von Monopolinteressen in die Arbeiterklasse sich auch mal ausbremsen lässt.

Alle Vorhaben der neuen Regierung stehen unter Finanzierungsvorbehalt. Ab 2023 soll die »Schuldenbremse« wieder gelten und will man auch in der EU für die Rückkehr zur sogenannten »Stabilitätspolitik« sorgen. Investitionen will man mit Hilfe der Förderbanken, durch Kreditaufnahme von Staatsbetrieben und Mobilisierung von privatem Kapital finanzieren. Steuererhöhungen für Reiche lehnt die FDP strikt ab. Finanzminister Lindner sorgt für Kontinuität in der Umverteilung von unten nach oben. Unter neoliberalem Vorzeichen bringt der objektiv arbeitssparende technologische Fortschritt der Digitalisierung nicht mehr freie Zeit für die Lohnabhängigen, sondern längere Arbeitszeiten, mehr Prekarisierung, Erwerbslosigkeit und Unsicherheit.

Für mehr Unsicherheit sorgt zugleich die angedrohte Außenpolitik der Ampel. Ziel sei »eine souveräne EU als starker Akteur in einer von Systemkonkurrenz und Unsicherheit geprägten Welt«. Die EU solle zum »europäischen Bundesstaat« entwickelt werden. Im Verein mit dem »transatlantischen Wirtschaftsraum« wolle man »globale Standards setzen«. Das Investitionsabkommen EU-China ist dagegen auf Eis gelegt. Die EU-Militarisierung, die Aufrüstung im Rahmen der NATO oder komplementär zu ihr sollen weitergehen, inklusive »atomarer Teilhabe« und bewaffneter Kampfdrohnen.

Im Vordergrund der verkündeten »wertebasierten Außenpolitik« stehen nicht Frieden und Entwicklung, sondern universelle Menschenrechte. Denen wolle man weltweit Geltung verschaffen, während real der Ausbau der Festung EU das Wohlstandsgefälle sichert. Interessengeleitete selektive Wahrnehmung, Doppelstandards, Feindbildpflege, Hetze, Interventions- und Sanktionspolitik sind vorprogrammiert. Was wir dagegen brauchen sind friedliche Koexistenz und internationale Kooperation zur Bewältigung weltweiter Krisen und globaler Menschheitsprobleme. Die Mittel, die die Aufrüstung verschlingt, werden überall für Investitionen in Gesundheit, Umwelt und Entwicklung gebraucht. Dafür wird der Klassenkampf von unten sorgen müssen.

1 Koalitionsvertrag: »Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit«, Berlin 2021. Aus Gründen der Lesbarkeit verzichten wir beim Zitieren auf Seitenangaben.

2 Anspielung auf Hildegard Hamm-Brücher (FDP), 1969-1972 Staatssekretärin im Bildungsministerium

3 https://www.evg-online.org/meldungen/details/news/deutsche-bahn-wird-nicht-zerschlagen-evg-koalition-muss-mehr-schiene-wagen-9324/

Die Axt im Rentenwald

Manfred Sohn

Wer nach einem alten Wahlversprechen »Mehr Demokratie wagen« in den 1970ern selbiges erwartet hatte, sah sich bald enttäuscht. Es kamen massenhaft Berufsverbote und Gesinnungsschnüffelei. Nun heißt es »Mehr Fortschritt wagen«. Insbesondere zukünftige Rentner:innen haben also allen Grund zu erfahrungsgestützter Skepsis.

Die Koalitionsverhandlungen zeichneten sich zwar durch weitgehende öffentliche Abschottung aus. Hinsichtlich der Zukunft der Altersvorsorge war aber leider auch eine dröhnende Stille seitens der Gewerkschaften zu vernehmen, obwohl bereits im Sondierungspapier Mitte Oktober die Grundzüge der gemeinsamen Vorhaben auf diesem Feld deutlich wurden. Das hatte bei früheren Angriffen auf die Grundpfeiler der seit 1957 in (West-)Deutschland geltenden Alterssicherung noch anders ausgesehen: Sowohl die Heraufsetzung des gesetzlichen Renteneintrittsalters von 65 auf jetzt 67 Jahre als auch der Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung der Rente, d. h. die Teilfinanzierung durch Riester- und Rürup-Verträge, die mit Steuergeldern gepampert allein von den abhängig Beschäftigten zu stemmen war und ist, hatten noch sofortigen und erbitterten Widerspruch der DGB-Gewerkschaften gefunden. Davon war in dem guten Monat zwischen Sondierungspapier und Koalitionsvertrag nichts zu spüren.

Für kommende Rentner:innen ist das kein gutes Zeichen. Es droht eine Grundkonstellation, durch die wesentliche Ziele der FDP, aufgrund der Transmissionsriemen der »Grünen« vor allem in die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und der SPD in die traditionellen Industriegewerkschaften hinein, geschluckt werden.

Zu den Kernanliegen der Liberalen, zu ihrer Auffassung von »Fortschritt« gehört die Durchlöcherung der seit 1957 bestehenden Rentenkonstruktion. Deren Hauptpfeiler besteht seit dem in der Presse damals so benannten »Rentenkrieg« in der Umlagefinanzierung, die es übrigens in der DDR von Anbeginn an gab. Das bedeutet: Abzüglich einer sehr geringen Verwaltungsgebühr werden die Rentenbeiträge der aktiv tätigen Arbeiter und Angestellten zusammen mit dem ebenso hohen Beiträgen der Unternehmen, bei denen sie in Lohn und Brot stehen, an die Rentner entsprechend ihren vorherigen Einzahlungen weitergeleitet. Das treibt seit Jahrzehnten allen Börsianern Tränen in die Augen: Milliarden, nein, Billionen Euro fließen so an den Kapitalmärkten vorbei direkt aus den Geldbörsen der aktiv Beschäftigten in die ihrer alt gewordenen Kolleginnen und Kollegen!

Zwar verspricht der Koalitionsvertrag, es werde »keine Rentenkürzungen und keine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters geben«. Aber gleich nach dieser Zusicherung kommt der Satz, der schon im »Sondierungspapier« stand und eigentlich bei den Gewerkschaften dazu hätte führen müssen, die Sturmglocken zu läuten: »Um diese Zusage generationengerecht abzusichern, werden wir zur langfristigen Stabilisierung von Rentenniveau und Rentenbeitragssatz in eine teilweise Kapitaldeckung der gesetzlichen Rentenversicherung einsteigen.« Konkretisiert wird das durch die Sätze: »Diese teilweise Kapitaldeckung soll als dauerhafter Fond von einer unabhängigen öffentlich-rechtlichen Stelle professionell verwaltet werden und global anlegen. Dazu werden wir in einem ersten Schritt der Deutschen Rentenversicherung im Jahre 2022 aus Haushaltsmitteln einen Kapitalstock von 10 Milliarden Euro zuführen. … Wir werden der Deutschen Rentenversicherung auch ermöglichen, ihre Reserven am Kapitalmarkt reguliert anzulegen.« Als Trostbonbon nach diesem Axthieb gegen das Umlageverfahren wird nachgereicht: »Die umlagefinanzierte Rente wollen wir durch die Erwerbsbeteiligung von Frauen und älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie die erwerbsbezogene und qualifizierte Einwanderung stärken.«

Skandalös ist schon die Lesart, »Generationengerechtigkeit« mit dem Begriff der »Kapiteldeckung« zusammenzubinden. Generationengerecht wäre es, die Umlagefinanzierung – die seit 1957 dynamisiert, also an die Lohnentwicklung angepasst ist – zu stärken, statt sie auf diese Weise weiter substanziell zu schwächen.

Denn es ist ja nicht so, dass hier eine Marginalie beschlossen worden wäre. Die genannten 10 Milliarden sind eben ausdrücklich nur ein »erster Schritt«, dem ab 2023 weitere folgen sollen – in nach oben offenen Größenordnungen. In der Wochenzeitung »unsere zeit« hatte der langjährige Betriebsrat und IG-Metaller Reiner Heyse bereits im am 11. November auf die langfristigen Folgen dieser Weichenstellung hingewiesen. Durch die Tatsache, dass demnächst einige geburtenstarke Jahrgänge in den Ruhestand gehen, wird es – da beißt keine Maus den Faden ab – zu Mehrausgaben der Rentenkassen kommen. Heyse macht klar: »Und zusätzlich zu dieser Mehrbelastung sollen noch Unsummen in Kapitalmärkte gepumpt werden. Die an Aktienmärkten angelegten Spargelder sind langfristig gebunden. Nicht ein Cent wird zur Bewältigung der Mehrbelastung in den kommenden 20 Jahren beitragen. Daraus einen Weg zur langfristigen Stabilisierung von Rentenniveau und Rentenbeitragssatz zu machen, ist hirnrissig und dreist.« Er verweist auch darauf, dass durch die – übrigens seit langem von der FDP geforderte – neue Möglichkeit der Deutschen Rentenversicherung, ihre Reserven am Kapitalmarkt anzulegen, die Krisenanfälligkeit des gesamten Alterssicherungssystems wachsen wird.

Die Möglichkeiten der Staaten – auch des deutschen –, Geld aus dem Nichts zu schöpfen, sind begrenzt. Die Milliarden an Steuergeldern, die in den »Kapitaldeckungsfonds« gepumpt werden, stehen weder für Infrastrukturprojekte noch für Konsumbelebung zur Verfügung. Sie werden die heraufziehende Rezession also vertiefen. Die Möglichkeit »Reserven am Kapitalmarkt anzulegen« wird weitere Nebenwirkungen haben – zum Beispiel auf den Immobilienmärkten. Denn dort angelegte Rentengelder werden dazu beitragen, Immobilienpreise und damit die Mieten weiter in die Höhe zu treiben. Sie konterkarieren damit die schönen Versprechungen, durch den Bau »von 400.000 Wohnungen im Jahr« Mietpreise effektiv zu senken.

Auf zwei weitere Aspekte soll hier noch kurz eingegangen werden. Gegenüber dem Sondierungspapier neu ist (neben der amüsanten Selbstverständlichkeit, der Kapitaldeckungsfond solle »professionell« verwaltet werden) die Maßgabe, diese Gelder »global« anzulegen. Das folgt einem Kommentar der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (FAZ) vom 10. November, in dem es unter der Überschrift »Die Chancen der Aktienrente« unter anderem heißt: »Die deutschen Renten aber sind an die Löhne gekoppelt, sie profitieren nicht zwingend von der globalen Dynamik.« An anderer Stelle dieses Kommentars wird geschwärmt vom »wirtschaftlichen Nachholbedarf in vielen Weltregionen«, der dort zum »Wachstum des Produktivkapitals« führe, von der die hiesigen »Altersvorsorgesparer« profitieren »dürften«. Das bedeutet im ökonomischen Kern aber nichts anderes, als dass per Kapitalmärkten versucht werden soll, Mehrwert aus anderen Weltregionen abzuschöpfen, um ihn – nach Abzug ordentlicher Provisionen für diejenigen, die diesen Prozess organisieren – zur sozialpolitischen Absicherung der eigenen imperialen Heimatbasis umzuleiten. Es ist also der Versuch eines alternden und stagnierenden imperialistischen Landes, von höheren Ausbeutungsraten in noch jüngeren und unverbrauchten Ecken des Globus zu profitieren. Ob diese Rechnung eines neuen Rentenimperialismus aufgehen wird, ist fraglich – der Versuch aber ist bemerkenswert und wird globale Spannungen in der weiteren Perspektive wahrscheinlich nicht dämpfen, sondern befeuern.

Neu gegenüber dem Sondierungspapier ist im Koalitionsvertrag schließlich die Ankündigung, »den sogenannten Nachholfaktor in der Rentenberechnung rechtzeitig vor den Rentenanpassungen ab 2022 wieder« zu aktivieren. Das bedeutet verminderte Rentenleistungen ab dem nächsten Jahr, weil so, wie die FAZ am 25. November richtig schreibt, »die Rentner zwar weiterhin vor sinkenden Bezügen geschützt« würden, aber eben »später fällige Erhöhungen entsprechend geringer« ausfallen werden, wenn »in einer Krise Löhne und Gehälter sinken«. Nullrunden werden so zum Standardfall werden und die von der Europäischen Zentralbank angekündigte Linie, gegenüber der sich etablierenden Inflation von fünf Prozent untätig zu bleiben, wird die durch die früheren Maßnahmen von SPD und Grünen eingeleitete Renten-armut auf weitere Kreise ausdehnen.

Diese weiteren Kreise werden nicht nur die heutigen Rentner oder die von morgen, sondern vor allem die von übermorgen sein. Der im Koalitionsvertrag bemühte Begriff der »Generationengerechtigkeit« ist vor allem deshalb so verlogen, weil die Hauptleidtragenden dieser von der neuen »Fortschrittsregierung« vorgenommenen Weichenstellung in der Alterssicherung vor allem die heute zwischen 30 und 50 Jahren alten Berufstätigen sein werden. Ihnen wird jetzt schon der Gürtel ihrer alten Tage enger geschnallt.

Umso wichtiger ist es, durch Aufklärung und Widerstand aller Altersschichten aus der scheinbaren Gesetzmäßigkeit auszubrechen, dass man immer dann, wenn SPD und Grüne zusammen regieren, Axthiebe gegen das Umlageverfahren und die Stabilität der gesetzlichen Rente gibt.

Doppelter Sprengsatz für Friedens- und Umweltpolitik

Bernhard Trautvetter

Die bisherige Ausblendung der Klima- und Umweltschädigung durch das Militär findet im Koalitionsvertrag ihre Fortsetzung. Sie macht die offiziell ausgegebenen Ziele der Klimapolitik unglaubwürdig. Die bisherige Gewichtung der Militärausgaben von deutlich über 50 Milliarden Euro1 beträgt circa das 22-fache des bisherigen Umweltetats des Bundes. Dieses Missverhältnis bedeutet eine immense Vergeudung von Ressourcen, von Kreativität und eine enorme Doppelbelastung, sowohl für den Frieden als auch für die Umwelt. Die neue Koalition will die alte zerstörerische Politik fortsetzen und sogar verschärfen. Der rot-schwarze Vertrag von 2017 besagte noch: »Damit die Bundeswehr die ihr erteilten Aufträge in allen Dimensionen sachgerecht erfüllen kann, werden wir den Soldatinnen und Soldaten die bestmögliche Ausrüstung, Ausbildung und Betreuung zur Verfügung stellen …« Im Regierungsalltag stieg dann der Militärhaushalt von circa 43 Milliarden US-Dollar auf fast 53 Milliarden US-Dollar, also um mehr als zwanzig Prozent.2 Der aktuelle Ampel-Koalitionsvertrag schreibt fest: » … im Rahmen des Internationalen Krisen- und Konfliktmanagements, die auf dem Völkerrecht insbesondere der Beschlüsse der VN basieren, hat die Landes- und Bündnisverteidigung an Bedeutung gewonnen. Beide Aufgaben sind durch die Bundeswehr gleichermaßen zu erfüllen. Die Bundeswehr muss entsprechend ihres Auftrages und ihrer Aufgaben bestmöglich personell, materiell sowie finanziell verlässlich ausgestattet werden.« Zum einen täuscht der Vertrag vor, die Auslandseinsätze der Bundeswehr bewegten sich im Rahmen des Völkerrechts, obwohl Nato-Kriegshandlungen auch unter Bundeswehrbeteiligung zwischen dem Golf und Nordafrika mit dem Friedensgebot des Völkerrechts brechen.3 Zum anderen eröffnen unkonkrete Formulierungen, die Planung weiter gesteigerter Hochrüstung der Bundeswehr. Die mehr als 50 Milliarden für das Militärministerium entsprechen sehr genau den notwendigen Investitionen für die Klimaschutz-Planungen der Ampel-Koalition.

Während die Regionen, in denen Nato-Streitkräfte zum Einsatz kamen und kommen, sich im Stadium des Zerfalls befinden4, formuliert der Ampel-Koalitionsvertrag: »Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Internationalen Sicherheit. Wir verbessern ihre Ausrüstung wie auch die der Bundeswehr.« Diese Mittel für Aufrüstung werden auch weiterhin für Bildungs-, Gesundheits-, Ökologie-, Infrastruktur- und Sozialpolitik fehlen. Dagegen Druck aufzubauen ist die Aufgabe der Linken, der Friedens-, der Ökologie- sowie der Gewerkschaftsbewegung.

Die doppelte Gefährlichkeit des Koalitionsvertrages für das Klima – das internationale wie das ökologische – ergibt sich auch aus den Aussagen zur Außenpolitik in Europa: Im Rot-Schwarzen Koalitionsvertrag strebten die Parteien noch ›gute Beziehungen zu Russland‹ an. Der Ampel-Koalitionsvertrag verlangt nun eine ›kohärente‹ Politik gegenüber Russland. Damit verlässt die Ampelkoalition den Vertrag zur Deutschen Einheit von 1990, in dessen Präambel Deutschland auf eine Friedenspolitik festgelegt wird, die die Sicherheitsinteressen aller Staaten Europas, also auch Russlands berücksichtigt. Konkret wirft der Vertrag einseitig Russland vor, in der Krim-Krise internationales Recht gebrochen zu haben. Erneut übergeht auch dieser Text die Rolle westlicher Kräfte beim Staatsstreich in der Ukraine, der dieser Krim-Krise vorausging. Dabei wurde eine so genannte ›Übergangsregierung‹ unter Bruch der Verfassung installiert. Diese pro-westliche Administration hat die Spannungen gegenüber dem russischen Bevölkerungsanteil der Ukraine u. a. mit sprachpolitischer Diskriminierung gesteigert. Der Koalitionsvertrag dient in der Übernahme der Nato-Propaganda weder dem Frieden, noch der Nachhaltigkeit in Europa und der Welt.

Fatal ist auch die im Koalitionsvertrag vereinbarte Bewaffnung von Bundeswehrdrohnen. Diese Waffen senken die Schwelle zur Anwendung von Gewalt und damit zur Eröffnung von Kriegshandlungen. Schon ihr bisheriger Einsatz hat zu mehr zivilen als militärischen Todesopfern geführt. Die Formulierung des Koalitionsvertrages, die Kampfdrohnen sollen »unter Berücksichtigung von ethischen und sicherheitspolitischen Aspekten« eingesetzt werden, sind als Beschwichtigung von Kritikern gedacht. Der Koalitionsvertrag will die Nato-Fähigkeitsziele erfüllen. Konkret heißt das laut Nato-Generalsekretär Stoltenberg: »Wir haben uns darauf geeinigt, mehr schwere Mittel mit mehr High-End-Fähigkeiten bereitzustellen. Die Streitkräfte müssen neue und bahnbrechende Technologien in vollem Umfang nutzen, um sicherzustellen, dass wir unseren technologischen Vorsprung aufrechterhalten. Auch dies ist ein zentraler Aspekt der Zusammenarbeit in der NATO: Wir haben uns auf bestimmte Fähigkeitsziele geeinigt und die Bündnispartner erfüllen diese Ziele. Das ist auch einer der Gründe, warum wir die Verteidigungsausgaben weiter erhöhen müssen.«5

Das Konzept umfasst auch die weitere Nuklear-Rüstung, für die der Vertrag Tür und Tor offen hält – Zitat: »Solange Kernwaffen im Strategischen Konzept der NATO eine Rolle spielen, hat Deutschland ein Interesse daran, an den strategischen Diskussionen und Planungsprozessen teilzuhaben.« Damit ist auch der Plan sanktioniert, rund zehn Milliarden für 45 US-amerikanische F 18- Atombomber auszugeben, die alleine für die Führung eines Atomkrieges, also für das finale Inferno bestellt werden. Sie sollen ›einsatzfreudigere‹ neuartige Nuklearsprengköpfe, die im Lauf der Legislaturperiode auch in Deutschland gelagert werden sollen, in (russische) Angriffsziele transportieren. Der Koalitionsvertrag enthält bezeichnenderweise keine Zustimmung zum Atomwaffenverbotsvertrag und keine Kritik an den Nuklearplanungen der Nato.

Zur Erinnerung: Die Militärminister der Nato beschlossen Mitte Oktober 2021 einen von ihnen so genannten ›Masterplan‹ für ein mögliches Vorgehen gegen Russland, der mit den Vokabeln ›Sicherheit‹ und ›Verteidigung‹ geschmückt ist, obwohl er sogar die Option eines nuklearen Erstschlages beinhaltet, um, wie es heißt, Russland abzuschrecken. Die Nato-Strategie nimmt zunehmend auch die Atommacht China ins Visier. Die vertraulichen Elemente des Masterplans gehen mehreren Berichten und dem Dlf-Interview mit Annegret Kramp Karrenbauer6 vom 21.10.2021 zufolge über die bestehenden regionalen Planungen der Strategen hinaus: Die Nato erklärt, sie bereite sich darauf vor, auf Angriff in der Ostseeregion und im Schwarzmeerraum möglicherweise auch mit Atomwaffen, durch Cyberkriegs-Angriffe im Internet oder durch Weltraum-gestützte »Operationen« zu antworten. »Wenn es zu einem derartigen Großkonflikt kommt, sind Aktivitäten im gesamten Operationsgebiet erforderlich«, sagte ein hochrangiger US-Regierungsvertreter. »Es könnten verschiedene Dinge gleichzeitig passieren, und das erfordert eine ganzheitliche Planung«.7

Der ehemalige hohe Nato-Beamte Shea erläuterte in diesem Zusammenhang: Die »Russen machen einige beunruhigende Dinge, sie üben mit Robotern und Hyperschall-Marschflugkörpern …«8 Die eskalierenden Ausführungen der letzten Militärministerin von Rot-Schwarz zu nuklearen Optionen9 sind mitnichten allein ihre persönlichen Gedankenspiele, wie der SPD-Fraktionsführer Rolf Mützenich mutmaßt.10

Schon 2017 veröffentlichte die Kalkarer Nato-Strategieschmiede JAPCC nach ihrer Essener Spitzenkonferenz zur ›Abschreckung‹: »Mit der Hypothese, … dass es zu viele Grauzonen gibt, etwa wenn die Berufung auf Artikel 5 Nato-Vertrag nicht eindeutig ist (z. B. bei einem gravierenden Cyberangriff auf ein Mitglied durch einen bekannten Gegner), kam die Forderung auf, dass die NATO-Strategie eine Verstärkung der konventionellen Abschreckung durch eine umfangreiche Aufstockung glaubwürdiger, nach vorne verlegter Streitkräfte benötigt. Dies wäre jedoch rein fiskalisch kostspielig. Alternativ könne eine Senkung der Nuklearschwelle und die Wiederherstellung von nuklearen Potentialen mittlerer Reichweite in Betracht gezogen werden.«11 Hier fordern Nato-Strategen klar die Eröffnung eines Atomkrieges ein, d. h. den atomaren Erstschlag. Dies passt zu ähnlichen Dokumenten: Auf der ›Ouvert Defense‹-Website finden wir diese brandgefährliche Position: »Da der Verdacht im Raum steht, dass sich nukleare Sprengköpfe in Kaliningrad befinden, ist eine schnelle Operation zur Zerstörung der russischen Startrampen zwingend. In diesem Fall könnte der Einsatz polnischer Kräfte für spezielle Operationen – SOF – eine Option sein. … Eine zweite Methode wäre ein präventiver Raketenangriff auf Stellungen und Silos, … einschließlich des Kaliningrader Magazins für Atomwaffen.«12

Vor diesem Hintergrund sind die kritischen Worte der verteidigungspolitischen Sprecherin der LINKS-Fraktion im Bundestag, Kathrin Vogler völlig berechtigt: »Was für eine mörderische Logik steckt in dem Satz des NATO-Pressestatements zum Beginn des ›Steadfast Noon‹-Manövers: › … Angesichts des sich verschlechternden Sicherheitsumfelds in Europa [ist] ein glaubwürdiges und geeintes Nuklearbündnis unerlässlich‹. Das heißt nichts anderes, als dass die NATO mit der Vernichtung ganz Europas droht, weil das Verhältnis zu Russland so schlecht ist. Das kommt dabei heraus, wenn man das Militär Außenpolitik machen lässt. … Nur eine Bombe, nur ein Atomschlag reicht aus, um ein nukleares Inferno auf dem europäischen Kontinent zu entfachen und die NATO ist offenbar immer noch bereit, den ersten Schritt zu tun. Um diese Bedrohung ein für allemal aus der Welt zu schaffen, hat die UNO den Atomwaffenverbotsvertrag verabschiedet. Diese mörderischen Waffen gehören abgeschafft! Wir erwarten, dass die neue Bundesregierung die historische Chance ergreift und umgehend diesem Vertrag beitritt …«13

Jüngst führte die Nato das Atomkriegsmanöver ›Steadfast Noon‹ unter anderem unter Beteiligung der Bundeswehr durch.14 Hierbei flogen Kampfbomber nicht nur der Nato-Atomstaaten, sondern auch z. B. der Bundesluftwaffe, Italiens und Polens laut Szenario Angriffe mit den in Europa stationierten US-Nukleararsenalen, die kurz vor dem Ersatz durch ›einsatzfreudigere‹ Systeme stehen.15

Dieses ›Sicherheitspolitik‹ genannte atomare Himmelfahrtskommando ist nicht nur wegen seiner Lebensbedrohung intolerabel, sondern auch wegen der Finanzlöcher, die es schon ohne Atomkrieg in den Staatsetat reißt und wegen der ökologisch nicht hinnehmbaren Ressourcenvernichtung: »Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind lebt unter einem nuklearen Damoklesschwert, das an einem seidenen Faden hängt, der jederzeit zerschnitten werden kann durch Zufall, Fehlkalkulation oder Wahnsinn.«16

Echte Friedens- und ökologische Politik vertragen sich nicht mit den Planungen und Strategien der Militärs.

Jetzt kommt es darauf an, dass die Friedens- und die Ökologiebewegung sowie alle wirklichen Fortschrittskräfte die Opposition gegen den Ampel-Regierungskurs von der Straße her organisieren. Für die LINKE bedeutet das, die Spektren, die in der LINKEN zusammengekommen sind, auf eine breite Bündnisarbeit in diesem Sinn auszurichten.