Witterung – Lauf so schnell du kannst - Heike Ulrich - E-Book

Witterung – Lauf so schnell du kannst E-Book

Heike Ulrich

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  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

ER NIMMT WITTERUNG AUF – ER VERFOLGT – ER TÖTET! Dieser Roman schlägt den Spannungsbogen von Bad Arolsen nach Kassel, Leipzig und Warschau bis nach San Francisco und zurück: Der Mord an dem Steuerberater Walter Zeller und der Fund einer verstümmelten Frauenleiche, die in der Nähe der nordhessischen Kleinstadt Bad Arolsen an einer früheren Germanenkultstätte aufgefunden wird, führen den Ex-Fallanalytiker und Wahlleipziger HERIBERT FALK in die tiefsten Abgründe menschlicher Existenzen und in eine mehr als sieben Jahrzehnte zurückliegende dunkle Vergangenheit. Während sich Falk auf die Spuren eines Serientäters begibt, scheinen Geschichte und Mythen miteinander zu verschmelzen ...

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Seitenzahl: 454

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Für meine Tochter

Für diesen Roman habe ich wahre Ereignisse und reale Orte mit fiktionalen Elementen verwoben. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und keinesfalls beabsichtigt.Heike Ulrich

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2021 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com EPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8397-2

Heike UlrichWitterungLauf so schnell du kannst

Die einzige wirkliche Gefahr für den Menschen ist der Mensch.

PROLOG – Mai 1943 1

Igor fror und zitterte vor Aufregung. Doch mit seinen zehn Jahren gab er sich Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen.

Denn Zofias große, blaue Augen blickten gerade alarmiert zu ihm auf. Irgendwo knackte erneut ein Ast, dann war es wieder ruhig. Ihre Panik war unverkennbar, und ausgerechnet jetzt musste Igor darüber nachdenken, wie es möglich war, dass dieser Umstand ihr hübsches Gesicht derart entstellte, dass es zu einer Angstfratze mutierte. Zofia zitterte heftig, ihre Atmung ging stoßweise. Igor befürchtete, entdeckt zu werden. Es war zu laut für die bedrohliche Stille, die sich wie ein schweres, dunkles Tuch über ihnen ausbreitete.

Hoffentlich sah Zofia ihm seine Angst nicht auch so deutlich an! Er legte den Zeigefinger an seine Lippen. Sie nickte, und er sah, wie sie die Augen schloss und das aufkommende Wimmern unterdrückte.

Fast die ganze Nacht hatte das drei Jahre jüngere Mädchen still vor sich hin geweint und leise nach der Mutter verlangt. Dabei hatte es immer wieder trostsuchend das Gesicht in ein mit Spitze besetztes schwarzes Halstuch gedrückt, das Letzte, was der Kleinen von der Mutter geblieben war. Als sie mit dem Schluchzen gar nicht hatte aufhören wollen, hatte der Junge schüchtern nach ihrer kleinen Hand gegriffen und sie so lange gehalten, bis das Mädchen in den frühen Morgenstunden endlich in einen unruhigen Schlaf gefallen war. Da hatte auch Igor einen Moment die Augen geschlossen.

Genau wie Zofia wusste er nicht, wohin sie seine Mutter verschleppt hatten, geschweige denn, wo sein Vater war. Es herrschte Krieg – Warschau war von den deutschen Truppen besetzt, der Aufstand im Ghetto gerade niedergeschlagen. Er erinnerte sich genau an den letzten Moment ihrer flüchtigen Umarmung zum Abschied.

„Vergiss nie, wer du bist, mein Junge“, hatte seine Mutter geflüstert. „Du hast Eltern, die dich lieben. Dein Vater wäre stolz auf dich.“

Ein kleines, grünes Büchlein mit Goldbuchstaben hatte sie unauffällig in seine Jackentasche gleiten lassen.

„Da steht alles drin, hörst du? Und so Gott will, sehen wir uns alle bald wieder.“

Dann hatten die Soldaten sie weggezerrt. Die Mutter hatte nicht einen Moment den Blickkontakt zu Igor unterbrochen – ihn so lange angelächelt, bis er sie aus den Augen verloren hatte. Den Impuls, ihr nachzulaufen, hatte er unterdrückt. Was hätte es schließlich auch genützt? Doch dieses Lächeln von ihr, diese letzte Geste seiner Mutter, die ihn hatte aufmuntern sollen, tat weh, wann immer er daran dachte. Und er dachte oft daran.

Die deutschen Soldaten hatten ihn zusammen mit ein paar anderen Kindern zusammengetrieben und nach einer Art Ausmusterungsverfahren in einen dunklen Zugwaggon gesperrt. Was wohl mit den anderen geschehen war? Er wusste es nicht, auch nicht, wie lange sie nach Deutschland unterwegs gewesen und wie weit weg sie nun von seiner Heimatstadt Warschau waren, und genauso wenig wusste er, wie lange er hier nach der Ankunft an diesem Ort, oben auf dem riesigen Dachboden, zugebracht hatte – eingesperrt mit vier anderen Kindern, die alle jünger als er zu sein schienen.

Unten war es nach dem Fest immer stiller geworden. Doch plötzlich, gerade eben, war die Tür des Dachbodens aufgestoßen worden. Ein paar Männer, offensichtlich betrunken, hatten ihnen lachend bedeutet, dass die Nacht um war und nun ein schönes Spiel beginnen würde. Niemand von den anderen Kindern hatte das geglaubt, auch Igor nicht. Und die Gesichter von ihnen allen hatten vermutlich Bände gesprochen – zur kranken Freude dieser Erwachsenen, unter die sich plötzlich auch ein paar betrunkene, polnisch sprechende Frauen gemischt hatten. Unten im Hof hatten Autos gestanden. Man war mit ihnen zu einem Waldstück gefahren. Wieder war gelacht worden, und die Kinder hatten den Heiterkeitsausbruch der Erwachsenen nicht nachvollziehen können. Dann war ein Jagdhorn erklungen, und man hatte ihn und die anderen vier aufgefordert, in den Wald zu laufen, man würde ihnen, den kleinen Polacken, einen Vorsprung gewähren.

Niemals würde er diesen merkwürdig lauernden Gesichtsausdruck von einem der Männer vergessen, der plötzlich sein Maschinengewehr gehoben und dann ein paar Salven abgefeuert hatte. Da waren er und die anderen Kinder erschrocken in alle Richtungen auseinandergestoben. Igor hatte Zofias Hand gegriffen und das Mädchen mit sich fortgerissen. Nun kauerten sie zusammen im Gestrüpp hinter der großen Eiche.

Das Mädchen hatte sich dicht an ihn gekuschelt. Es zitterte immer noch, genau wie er. Ihre langen, blonden, geflochtenen Zöpfe lösten sich bereits auf und waren ganz schmutzig.

Die Morgendämmerung setzte gerade ein, und er wunderte sich über das Muttermal unterhalb ihres linken Auges. Warum war es ihm nicht schon vorher aufgefallen? Doch es war nicht wichtig. Er wandte sich ab und lauschte. Im Moment war alles mucksmäuschenstill. Niemand schien da zu sein, und doch spürte er das heranschleichende Böse.

Da, plötzlich – wieder ein knackender Ast! Dann war es totenstill, doch nur für einen Moment. Igor hörte deutlich das Atmen und die leisen, immer näher kommenden Schritte.

Aus dem gegenüberliegenden Gebüsch sprang plötzlich eine kleine Gestalt hervor – Marek! Er lief mit seinen krummen Beinchen, so schnell er konnte. Sein Gesicht war zu einer angstverzerrten Fratze erstarrt. Sofort folgte eine Bewegung! Igor hatte sie nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen. Dann sah er das auf Marek angelegte Gewehr, das sich immer näher in Igors Blickfeld schob, samt der Gestalt, die die Waffe hielt.

Paralysiert, unfähig zu irgendwas, hörte er überdeutlich ein metallisches Klicken und den Schuss und noch etwas anderes … ein tiefes lautes Grollen – im selben Moment! Dann sah er den gigantischen Schatten! Der Angriff folgte blitzschnell – ein Sprung, das Gewehr flog durch die Luft, Fleischfetzen wurden herausgebissen, gigantische Kiefer klappten immer wieder auf und zu, während der Mann schrille Schreie ausstieß, die etwas merkwürdig Groteskes – überhaupt nichts Menschliches – hatten und plötzlich in ein ersticktes Röcheln übergingen. Knochen knackten und wurden zermalmt. Nur kurz sah Igor den Sabber, der aus der Riesenschnauze tropfte, dann war der Schatten fort, und weiter weg schien sich ein ähnliches Szenario zu wiederholen, Schreie, Schüsse, unter die sich wieder das wütende Knurren mischte, wieder und wieder, bis der Wald endlich still wurde.

Igor und Zofia trauten sich kaum zu atmen und kauerten weiter im Gebüsch hinter der uralten Eiche. Der Junge sah überdeutlich, wie Zofias Halsschlagader hämmerte, und auch sein Herz wummerte. Er hörte den Widerhall, das rhythmische Rauschen in seinen Ohren.

Plötzlich, nicht weit weg von ihnen, bewegte sich etwas. Igor merkte alarmiert auf. Marek! Tatsächlich, er war es und schien unverletzt zu sein. Er blickte sich vorsichtig um und schlich zu ihnen hinüber. Auch die anderen beiden Kinder krochen zögernd aus ihren Verstecken. Man sah ihnen die Strapazen und den Schrecken des eben Erlebten deutlich an. Es war totenstill – nichts regte sich -, so als würde der Wald die Luft anhalten.

Doch eine Amsel begann plötzlich ihren einsamen Singsang, und nach und nach antworteten ihre Artgenossen. Die Kinder waren wie versteinert – betäubt, paralysiert –, unfähig, einen Gedanken zu fassen, geschweige denn zu verarbeiten, was sie gerade überall um sich herum im Gebüsch und auf dem Waldboden verstreut sahen – die abgebissenen Gliedmaßen ihrer Peiniger. Auf einem größeren Stein, der über und über mit Moos bedeckt war, lag, wie drapiert, ein abgetrennter Arm – das Gewehr immer noch in der verkrümmten Hand.

Igor wandte seinen Blick ab. Was für eine Kreatur konnte so etwas anrichten? Sie musste überirdische Kräfte haben und nicht von dieser Welt sein, wenn selbst Gewehrkugeln ihr nichts anhaben konnten. Er tastete vorsichtig nach dem Tagebüchlein seiner Mutter, als könnte es ihn beschützen. Ein Geräusch ließ die Kinder erschrocken zusammenfahren. Der gigantische Schatten, der sich auf dem hundert Meter entfernten Felsplateau deutlich abzeichnete, sah wie eine Versteinerung aus, die sich langsam im aufsteigenden Dunst des Waldes aufzulösen schien. Zofias Atem stockte – der Kopf dieser Kreatur glich plötzlich dem eines Menschen, nur einen winzigen Moment. Dann hatte der Dunst die Erscheinung, oder was immer es war, endgültig verschluckt. Wie war das möglich? Doch sie hatte keine Zeit, sich darüber schlüssig zu werden. Hinter ihnen knackten plötzlich Äste, und die Kinder drehten sich alarmiert um.

Zeitsprung – Gegenwart 2

Das Fiepen in seinen Ohren hatte den Pegel des gerade noch Erträglichen erreicht. Man hatte ihm gesagt, dass er Achtsamkeit üben sollte.

Heribert Falk nahm eine gemütlichere Sitzposition auf seiner Bank ein und schloss die Augen. Zu dumm, dass man bei all dem Übel auch noch eine posttraumatische Belastungsstörung bei ihm diagnostiziert hatte. Das war für ihn ein Schock gewesen – schließlich war er keine Memme!

Als das Dauerfiepen ihn nicht mehr hatte schlafen lassen, war ihm die Tinnitus-Klinik in Bad Arolsen von seinem HNO-Arzt empfohlen worden. Ein paarmal hatten sie ihn dort in einer Unterdruckkammer behandelt, und tatsächlich war der quälende Dauerton in seinem Kopf derzeit nicht mehr so präsent.

Er müsse begreifen, nicht der Tinnitus sei das Problem, sondern seine Haltung zu dem Problem, hatte ihm seine Therapeutin erklärt. Die konnte gut reden, aber vielleicht war ja was dran.

Heribert öffnete die Augen wieder und warf die Zeitung in den Papierkorb, der neben der Bank stand. Er hatte genug von kranken Arschlöchern!

Einen Moment ließ er seinen Blick über den Schloss-teich gleiten. Eine Schar Enten zog ihre Kreise, während sie gründelten. Wie friedlich es hier war! Die Sonne kam gerade heraus und ließ die kleinen Wellen, die die Enten hinterließen, aufblitzen. Es war April, und überall spross zartes Grün.

Aber auch jetzt spürte er dieses unangenehme innere Vibrieren. Er streckte seine Arme aus – auch die Hände zitterten. Das alles bloß wegen dieses Artikels in der Zeitung, den er gerade gelesen hatte. Und wie so oft stellte er sich auch jetzt die Frage: Wie konnte jemand zu solch einer Tat fähig sein? Es ging einfach nicht in seinen Kopf: Ein Achtjähriger und dessen Mutter waren am Frankfurter Hauptbahnhof von einem Migranten, der selbst Familienvater war, vor einen einfahrenden Zug geschubst worden – einfach so. Die Mutter hatte noch rechtzeitig aus dem Gleisbett entkommen können, während ihr Sohn vom Zug überrollt und tödlich verletzt worden war. Nur eine Woche zuvor hatte ebenfalls jemand, in einer anderen Stadt, eine junge Frau vor einen Zug geschubst. Auch für sie kam jede Hilfe zu spät, sie hinterließ Ehemann und ein Kind. Die Welt wurde immer verrückter – und brutaler. Wie sollte die Mutter des Achtjährigen weiterleben? Sie hatte doch alles mit ansehen müssen und war vermutlich bis zu ihrem Lebensende traumatisiert. Schon jetzt konnte er sich vorstellen, wie man derlei Tötungsdelikte wieder relativieren und psychische Probleme der Täter bemühen würde, während die Opfer kaum eine Stimme bekamen und schnell vergessen waren. Und was war mit den vielen anderen Zeugen, die diese grausamen Taten hatten mit ansehen müssen – vermutlich auch ein Leben lang seelengezeichnet! Seelengezeichnet, ja, genau das traf es. Wo hatte er diesen Begriff gehört? Ah ja, der Pfarrer hatte ihn bei der Beerdigung eines Kollegen benutzt, vor ein paar Jahren.

Seine Gedanken ließen sich nicht stoppen. All die Tötungsdelikte, die er als Fallanalytiker untersucht hatte, gaben sich wieder ihr Stelldichein. Er rief sich zur Ordnung und stoppte die Bilder.

Die operative Fallanalyse war ein spannendes Thema für ihn – GEWESEN. Nach fast zehn Jahren als Ermittler in Tötungs- und Sexualdelikten bei der Kripo in Frankfurt hatte er es kaum glauben können, als man ihn tatsächlich nach zermürbenden Auswahlverfahren für die jahrelange Weiterbildung zum operativen Fallanalytiker zugelassen hatte. Empathie, soziale Kompetenz, die Fähigkeit, fall­analytisch zu denken, und – nicht zu vergessen, Instinkt, Kreativität und Teamfähigkeit – waren unabdingbare Voraussetzungen, die man in diesem Bereich brauchte. Und diese Fähigkeiten waren ihm nach psychologischen Tests attestiert worden. Er war der Jüngste seines Lehrgangs gewesen.

Noch fasziniert von der dunklen menschlichen Seite, die einen Täter in die Lage versetzte, schrecklichste Taten zu begehen, hatte er begonnen, Tatort und Tathergang zu untersuchen, Fakten gesammelt und analysiert. Das Ziel: ein Täterprofil – welche Motivation trieb den Täter zu seinen Handlungen? Aus Schlussfolgerungen folgten Strategien, wie man des Täters habhaft werden konnte.

Heribert grinste schief – alles nur Arbeitshypothesen. Vielleicht waren sie wichtig. Doch nicht selten hatte er sich auf seinen Instinkt, auf seine Erfahrungen verlassen und war damit erfolgreich gewesen. Nichts gegen die Fallanalyse – bloß ohne Instinkt und Vorstellungskraft war sie in seinen Augen nur die Hälfte wert, war lediglich eine weitere Option, ein weiteres Hilfsmittel bei Tatermittlungen.

Wieder spulten sich filmische Endlosschleifen ab: Er sah die Hinterbliebenen der Mordopfer, wie sie zusammenbrachen – bei der Überbringung der schlechten Nachricht oder bei der Identifizierung ihrer Liebsten.

Wie oft hatten ihm da die richtigen Worte gefehlt – aber verdammt, was sollte man auch jemandem sagen, der einen nahestehenden Menschen auf dermaßen grausame Weise verlor? Irgendwann hatte dann eine merkwürdige Dunkelheit seine Seele eingeholt. Er hatte sich wie unter einem grauen Tuch gefühlt, das immer schwerer geworden war und ihn fast erdrückt hatte. Es war lähmend gewesen, während sein Tinnitus immer lauter geworden war.

Das Schlimme war, dass sich in einem harmlosen, freundlichen, ja sogar bemitleidenswerten Menschen eine Monstrosität verbergen konnte. Ein gewinnendes Lächeln sagte noch lange nichts über die Persönlichkeit aus, die sich dahinter verbarg. Er hatte es erlebt – hatte sie erlebt, Psychopathen, Narzissten, die täuschend echt Sozialkompetenzen vorspielten, ohne sie tatsächlich zu besitzen. Das alles machte die Angelegenheit ja auch so schwierig. Dieser Umstand hatte ihn zunehmend zermürbt und zum Schluss mutlos gemacht. Auch weil das personifizierte Böse manchmal mit unverhältnismäßig milden Strafen davonkam – in Ermangelung von Beweisen oder weil die einzelnen Behörden samt Spurensicherung schlampig zusammenarbeiteten. Auch dass Täter vorzeitig entlassen wurden oder aufgrund psychologischer oder fragwürdiger Gutachten freikamen – quasi auf die Gesellschaft losgelassen wurden –, war in seinen Augen falsch. So etwas war ein Experiment. Ein Experiment, das schiefgehen konnte. War dies der Fall, mussten es Unschuldige büßen. Das alles machte ihn wütend, wenn er daran dachte. Wozu die ganze Mühe überhaupt? Bis heute ertappte er sich dabei, wie er jede Person, die ihm begegnete, auf Charaktermerkmale scannte. Er konnte es nicht lassen.

Kurz – er hatte genug! Und das Beschäftigen mit den Abgründen der menschlichen Seele faszinierte ihn schon lange nicht mehr. Er war inzwischen dünnhäutig und immer weniger belastbar – wie jemand, der ein Lieblingsgericht zu oft genossen und inzwischen beim bloßen Gedanken daran einen Brechreiz bekam.

Plötzlich tauchte ein sportlicher, gut aussehender und sehr höflicher Mann vor seinem geistigen Auge auf – Abraxas Lemm! Dessen zahlreiche Opfer hatte man schrecklich entstellt aufgefunden. Es war sehr schwierig gewesen, ein Täterprofil zu erstellen.

Lemm hatte seine Opfer willkürlich ausgesucht, sie dann aber genau ausspioniert und zu Tode gefoltert. Anschließend hatte er die abgeschnittenen Gliedmaßen neu arrangiert und die Ermordeten grotesk zur Schau gestellt – wie ein Kunstwerk. Ein Kunstwerk des Grauens! Seine Tatorte waren sauber hinterlassen worden, sodass man zum Schluss vermutet hatte, dass es sich um einen Täter aus den Reihen der Kriminalpolizei handeln könnte.

Letztendlich hatte die Täterbeschreibung einer zufälligen Zeugin, die Lemm kurz an einem der Tatorte gesehen hatte, Heribert und seine Kollegen auf dessen Spur gebracht. Er war schockiert gewesen, über den Mann, der ihm und seiner Kollegin später beim Verhör gegenübergesessen hatte – eine Monstrosität mit freundlichem Durchschnittsgesicht.

Doch Lemms heimlicher und verschlagener Blick, mit dem er immer wieder die Kollegin gemustert hatte, war Heribert nicht entgangen. Lemm war tatsächlich in die Falle getappt, als die Kollegin später den Lockvogel gespielt hatte.

Nach Abraxas' Verhaftung war alles schnell gegangen. Dass ausgerechnet an einem seiner letzten Tatorte DNA-Spuren gesichert worden waren, war ein mehr als glücklicher Zufall gewesen. Der DNA-Abgleich war eindeutig gewesen, und Abraxas war beim nächsten Verhör dann auch nicht mehr der höfliche und harmlose Mann gewesen, als der er sich während der ersten Vernehmung noch theaterreif inszeniert hatte. Er war ausfallend geworden, und sein Gesicht war dabei zu einer abgrundtief bösen Fratze mutiert. Bestie! Heribert nickte und atmete geräuschvoll aus. Ja, genau das war er – eine Bestie! Eine Krebsgeschwulst an der Gesellschaft. Doch dieser Bastard saß jetzt, Gott sei Dank, im Knast. Wenn es nach Heribert gegangen wäre, hätten sie Lemm gleich eine Kugel in den Kopf jagen können. Doch vielleicht erledigte das ja noch einer seiner Mitinsassen im Gefängnis.

Heribert rief sich abermals zur Ordnung. Abstand! Noch drei Wochen Reha – er würde sie sich nicht mit solchen Gedanken vermiesen. Ab sofort würde er nur an schöne Dinge denken – Frauen zum Beispiel. Mit fünfundvierzig war er noch alleinstehend – die vermeintliche Unvereinbarkeit mit seinem Beruf! Doch er war entschlossen, neu durchzustarten und sein berufliches Know-how für die weniger nervenaufreibende Arbeit als Privatermittler zu nutzen! Er würde sich seine Fälle sorgfältig herauspicken. Denn was nützten ihm Reputation und Anerkennung, die er sowohl durch die Öffentlichkeit als auch Vorgesetzte erfuhr, wenn er keinen Sinn mehr in seiner Arbeit sah, sie ihn nicht mehr erfüllte, sondern – im Gegenteil – ihn zermürbte? Darüber konnte auch sein sicheres und passables Einkommen nicht hinwegtrösten. Für ihn war Schicht im Schacht. Er hatte bereits seiner Dienststelle das Kündigungsschreiben zugesandt.

Plötzlich dachte er an die kleine Dunkelhaarige von heute Morgen beim Frühstück. Wie herausfordernd sie ihn angelächelt hatte! Heribert wusste, dass Frauen ihn attraktiv fanden. Er war groß, immer noch durchtrainiert, und mit seinen blauen Augen konnte er Frauen in ‚Aufregung‘ versetzen. Schon früh hatte er die Wirkung eines charmanten Lächelns entdeckt. Er reckte sich genüsslich – die kleine Schwarze, heute Abend war sie fällig, heute Abend würde er sie mal ganz genau unter die Lupe nehmen!

Er hielt sein Gesicht in die Frühlingssonne – das Leben konnte schön sein.

Als sein Handy klingelte, ignorierte er es. Was hatte seine Therapeutin noch mal gesagt? Richtig, „Achtsamkeit!“ Ganz genau – Achtsamkeit war der Schlüssel zu seinem neuen Leben.

3

„Juna, beeil dich!“

„Bin gleich fertig, Mama!“ Die Kleine stellte die Zahnbürste in ihr Glas und sauste aus dem Bad. Schnell die Jacke, den Ranzen und los. Ihre Mutter wartete bereits ungeduldig an der Tür.

Michaela Schubert musterte ihre Tochter. Seit der Scheidung von Robert, ihrem Mann, verhielt sich Juna merkwürdig introvertiert. Michaela machte sich Sorgen. Robert nahm es mit den Zeiten, die er mit seiner Tochter verbringen sollte, nicht so genau, und Michaela hatte ihn mehr als einmal um Verbindlichkeit gebeten. Es machte sie wütend, wenn Juna auf ihren Vater wartete, nur um enttäuscht zu werden. Und sie hasste Roberts fadenscheinige Entschuldigungen, die alles noch schlimmer machten. Robert lebte seit zwei Jahren in Ägypten und arbeitete dort als Ingenieur bei einer Baufirma. Sie strich Juna übers Haar.

„Weißt du was, am Wochenende machen wir zwei etwas richtig Schönes – du darfst entscheiden, wie findest du das?“

Das Mädchen strahlte. „Au ja, Mama!“

Unten, vor dem Wagen, wartete bereits Rebecca, Junas neue Schulfreundin. Alles war seit der Scheidung neu. Die Schule, die Wohnung und Michaelas Arbeitsstelle.

Sie startete den Motor und blickte in den Rückspiegel.

„Ihr zwei kommt, wie abgesprochen, nach der Schule zum Frauenhaus. Es sind nur wenige Meter. Ihr kommt nicht herein, sondern wartet gegenüber bei der Bäckerei. Dann fahren wir zusammen nach Hause, okay?“

Die Mädchen nickten, und Michaela sauste los. An ihrem ersten Arbeitstag als Sozialarbeiterin in einer Einrichtung für verfolgte und misshandelte Frauen mochte sie nicht zu spät kommen – heute würde Frank Lindner, der mit ihr bereits vor Wochen das Einstellungsinterview geführt hatte und ihr neuer Chef war, ihr das gesamte Team vorstellen. Sie spürte den Anflug einer plötzlichen Panik, doch sie ging vorbei.

4

Er rappelte sich hoch und sprang von der Krankenhausbahre, stieß die Pflegekraft beiseite, schlug den verdutzten Wachmann nieder und rannte weiter. Er registrierte, dass jemand aufschrie und dass sich der Wachmann wieder aufrappelte, doch Abraxas hatte im Gefängnis trainiert und war gut in Form. Auf jeden Fall besser als der alte Sack, der ihn bewachen sollte. Jetzt musste er nur noch den schmalen, langen Flur entlang, dann war er am Ausgang. Warum zum Teufel musste ihm diese fette Kuh ausgerechnet jetzt den Weg versperren und auch noch dermaßen laut kreischen? Er schubste sie grob zur Seite. Als sie jedoch anfing, um Hilfe zu schreien, drehte er um, packte sie und schlug ihren Kopf mehrmals gegen die Wand. Na bitte, endlich war sie still – das hatte Spaß gemacht! Wie gerne hätte er die fette Sau noch zusammengetreten. Schade, doch dafür war jetzt keine Zeit. Er konnte sich später immer noch irgendwo an irgendwem abreagieren. Der Gedanke hatte etwas Beflügelndes, und ein Gefühl von Freude durchströmte ihn plötzlich, als er den Ausgang passierte.

Er sprintete weiter in Richtung Parkplatz zum ausgemachten Treffpunkt. Wo zum Henker stand der Wagen? Konnte man sich denn auf niemanden mehr verlassen? Sein Kopf ruckte herum – ja, das war schon besser und klang wie Musik in seinen Ohren! Das schwarze BMW-Cabriolet bog gerade mit quietschenden Reifen um die Ecke, und Abraxas hastete los, als die Autotür bereits aufflog. Er stieg ein und stutzte enttäuscht, während der Fahrer das Gaspedal durchtrat. Abraxas wurde in den Sitz gepresst. Einem Automatismus folgend, stemmte er sich gegen die Schwerkraft und zog die Wagentür zu, während er dem Fahrer einen vorwurfsvollen Blick zuwarf.

„Ich dachte, mich holt ’ne Möse ab?“

„Bitte was?“ Der Kopf des Fahrers ruckte herum und blickte Abraxas einen winzigen Moment geringschätzig an.

Lemm machte eine obszöne Geste. Der Mann nickte genervt. „Später, alles zu seiner Zeit, okay?“

Abraxas merkte auf, alles zu seiner Zeit? Er rückte seine Brille zurecht und musterte den Fahrer abschätzend. Machte sich diese Schwuchtel etwa über ihn lustig? Sein Blick fiel auf die gepflegte Hände, und der Gedanke war sofort da – wie schön es sein könnte, ihm die Fingernägel herauszuziehen, einen nach dem anderen, ganz langsam. Er schloss die Augen und gab sich für einen Moment dieser angenehmen Vorstellung hin, während der Polizeifunk gerade die Flucht eines Serienmörders durchgab.

Abraxas verzog das Gesicht, während er sich die Kanüle aus seinem Arm zog. Anschließend presste er Zeige- und Mittelfinger auf seine Armbeuge und warf seinem Fahrer einen auffordernden Blick zu.

Der reagierte prompt. „Im Handschuhfach ist Pflaster.“

Abraxas verarztete sich. Sein Blick fiel auf die Packung Zigaretten, die auf der Ablage lag.

„Scheiße, keine Zigarillos?“

„Gedulde dich, die bekommst du später.“

Abraxas griff nach der Zigarettenschachtel, zündete sich eine an und inhalierte tief.

Sichtlich genervt suchte er einen anderen Sender. Ein alter Vicky-Leandros-Schlager dudelte etwas von einem Theo, der nach Lodz fuhr oder so.

Durch den Rauch musterte Lemm eine ganze Weile den Fahrer. Dieses Abschätzen hatte etwas Gefährliches. Es glich dem Lauern eines Raubtieres. Doch der Mann am Steuer schien diesen Umstand überhaupt nicht zu bemerken. Wusste diese Pfeife überhaupt, wer gerade neben ihm saß? Lemm gab ein verächtliches Geräusch von sich, nahm noch einmal einen tiefen Zug von seiner Zigarette und blies den Rauch in Richtung seines Nachbarn, dann ließ er den Stummel aus dem Spalt der heruntergelassenen Fensterscheibe gleiten.

„Du hast recht, alles zu seiner Zeit, alles zu seiner Zeit!“

Er grinste und spürte sofort dieses angenehme Gefühl, diese heftige Adrenalinausschüttung – so wie sie ein Jäger kurz vor dem entscheidenden Schuss verspürte. Euphorisch summte er den Schlager im Radio mit, den zunehmend genervten Gesichtsausdruck des Fahrers ignorierend. Sollte er sich doch ärgern!

Aus der Ferne hörte man plötzlich Polizeisirenen. Augenblicklich gab der Fahrer Gas und raste in die Dunkelheit einer Unterführung, während Abraxas in seinen Sitz gedrückt wurde und vergeblich versuchte, sich umzudrehen.

5

Sie hielt sich am Waschbecken fest, um nicht umzufallen, und blickte ihr Spiegelbild an. Michaela sah es selbst – sie sah schrecklich aus.

„Nimm dich zusammen“, flüsterte sie, „du ziehst den Job durch!“

Sie kämpfte gegen den plötzlichen Schwindel an und gegen das heftige Gefühl, bewusstlos zu werden. Ausgerechnet in diesem Moment betrat Sigrid Klossek, die Teamleiterin, den Waschraum der Toilette.

Sie warf Michaela einen besorgten Blick zu.

„Ist Ihnen nicht wohl, kann ich irgendetwas für Sie tun, Frau Schubert – wollen Sie vielleicht nach Hause gehen?“ Michaela riss sich zusammen und zwang sich zu einem Lächeln.

„Nein, nein, alles gut. Kleiner Migräneanfall, es geht gleich wieder, habe schon eine Tablette eingenommen.“

Sigrid nickte. „Oje, Sie Arme, das kenne ich.“ Damit suchte sie die Toilettenkabine auf.

Michaela betupfte sich schnell das Gesicht mit kaltem Wasser und ließ den Wasserstrahl über ihre Handgelenke laufen.

Immer noch raste ihr Puls.

Sigrid kam von der Toilette zurück, trat zum Waschbecken und wusch sich die Hände, während sie Michaela über den Spiegel mitfühlend anlächelte.

„Also, dann bis gleich.“

Michaela nickte und erwiderte das Lächeln. „Ja, bis gleich.“

Sigrid verließ den Raum, und Michaela betrat hastig eine der Toilettenkabinen und verschloss sie – dann sackte sie zusammen und bekam einen Heulkrampf. Ihr ganzer Körper schüttelte sich. Sorgfältig verschlossene Erinnerungen – Flashbacks – jagten plötzlich wieder und wieder durch ihren Geist und quälten sie. Sie versuchte, es zu kontrollieren, doch es gelang ihr nicht. Dann bekam sie Schüttelfrost. Die Luft schien verbraucht, und sie atmete heftig, während ihre Hände zu kribbeln begannen. Dann musste sie sich übergeben. Nach einer scheinbar endlosen Zeit wurde ihr Atem ruhiger, und die Panik legte sich allmählich. Sie überlegte fieberhaft – was konnte sie tun? Aufgeben? Das kam nicht infrage! Sie überlegte weiter. Niemand außer Sigrid Klossek hatte ihren Zustand bemerkt. Weder ahnte sie den wahren Grund noch wussten die anderen etwas. Was also diese Sorge betraf –, war alles bestens.

Dann fiel ihr etwas ein. Sie zog ihr Handy aus der Handtasche. Nach einem Moment des Zögerns tippte sie eine Nummer ein, und als sich eine Stimme meldete, löste sich alles. Nicht ein einziges Mal wurde sie unterbrochen – dann hörte sie eine lange Weile nur zu, während sie sich allmählich beruhigte. Zum Schluss bedankte sie sich und drückte die Aus-Taste. Das hatte gutgetan, sie fühlte sich leichter und gestärkt. Noch einen Moment, dann würde sie nach draußen gehen und sich weiter um die traumatisierten Frauen und deren Kinder kümmern. Sie würde ihr altbewährtes Pokerface aufsetzen, doch dabei sehr wachsam sein. Es gab eine Lösung. Diesmal war sie im Vorteil. Gleich war Mittag, dann war sowieso für heute Dienstschluss – Juna und Rebecca würden draußen warten. Sie putzte sich die Nase, legte neues Make-up auf und atmete tief durch, dann verließ sie den Toilettenraum.

6

Eine heruntergekommene Villa, die aus der Welt gefallen zu sein schien und mit Efeu überwuchert war, kam in Sicht.

„Na endlich“, Abraxas' Laune war auf dem Tiefpunkt, „kannst du mir mal sagen, warum wir uns nicht versteckt haben – warum sind wir nicht nachts weitergefahren?“

Der Fahrer antwortete nicht.

„He? Ich meine nur, anstatt das Risiko einzugehen, von den Bullen erwischt zu werden!“

„Was beschwerst du dich, ist doch alles gut gegangen, oder?“

Abraxas' Kopf ruckte herum.

„Was ich mich beschwere? Was ich mich beschwere?! Ist das dein Ernst? Wir sind dem Bullenauto nur ganz knapp entkommen – das beschwere ich mich! Anfänger!“

Abraxas griff nach der Zigarettenpackung und zündete sich eine an. Ein schmiedeeisernes Tor öffnete sich und schloss sich sofort wieder, nachdem der Wagen die Einfahrt passiert hatte und nun den schmalen Kiesweg entlangfuhr. Der Fahrer verlangsamte das Tempo und hielt schließlich an. Abraxas schaute ihn fragend an, als er ein leises Summen vernahm. Das Vibrieren kam vom unteren Teil des Wagens. Die seitlichen Büsche und das Haus, alles glitt plötzlich nach oben weg, während sie offensichtlich mit einer Art Aufzug nach unten fuhren. Etwas später vernahm Abraxas das Summen eines Mechanismus, und etwas rastete ein.

Der Fahrer startete den Wagen erneut und fuhr von der Plattform herunter.

Abraxas blickte sich um. Sie befanden sich in einer Art unterirdischer Halle. Er beobachtete, wie die Plattform langsam nach oben schwebte und die Deckenöffnung wieder verschloss. Weiter ging die Fahrt – einen schmalen Tunnel entlang, der in einem großen Raum, einer Art Kellergewölbe, endete. Neben einem alten, roten Lieferwagen kam der BMW zum Stehen, und nach einem kurzen Moment des Innehaltens grinste der Mann Abraxas vielsagend an. Der reckte sich und grinste zurück.

„Na gut, sieht so aus, als wäre meine Flucht geglückt.“

7

Der Kriminaltechniker verschloss den Beutel, in der sich die Finger- und Fußnägel befanden, die der Täter seinem Opfer während der Folterung herausgerissen hatte.

Er wartete, bis Kriminalhauptkommissar Witzbold das Telefonat beendete, das über den Festanschluss des Getöteten gerade hereingekommen war.

Witzbold machte sich eine Notiz und blickte dann sein Gegenüber fragend an.

„Wir sind hier fertig und schaffen den Mann jetzt in die Gerichtsmedizin. Den abgeschnittenen Zeigefinger haben wir allerdings nirgends finden können. Vielleicht hat ihn der Täter als Trophäe mitgenommen.“

Witzbold nickte nachdenklich und betrat die Terrasse. Die beiden Kriminaltechniker hoben die Leiche des etwa Sechzigjährigen, der immer noch im Garten neben seinem Swimmingpool lag, auf die Bahre.

Witzbold wendete sich ab und marschierte zum Ausgang – auch für ihn gab es hier zunächst nichts mehr zu tun.

„Herr Witzbold, können Sie schon Näheres sagen?“

Die junge Reporterin der hiesigen Lokalzeitung versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken, als der Kripo­beamte, der gerade dabei war, in seinen Wagen einzusteigen, sich ihr zuwandte. Auch ihr Kollege war am Feixen.

Witzbold war längst an die Wirkung gewöhnt, die sein Name auf andere ausübte. Schon in der Schule hatte man gelacht, wenn sein Name, Olav Witzbold, bei der Anwesenheitsfeststellung aufgerufen wurde. Er hatte sich angewöhnt mitzulachen – jeden Morgen –, so lange, bis sich seine Mitschüler an seinen ungewöhnlichen Namen gewöhnt und dieser seine Attraktion verloren hatte. Doch es gab Schlimmeres – zum Beispiel, wenn man Annegret Schweinebraten hieß. Die schöne Kollegin war ihm vor zwei Jahren über den Weg gelaufen. Inzwischen waren sie seit über einem Jahr verheiratet. Alle möglichen Kombinationen ihrer Namen waren sie durchgegangen: Schweinebraten-Witzbold, Witzbold-Schweinebraten oder doch nur Witzbold oder Schweinebraten?

Olav Schweinebraten – damit hatte er sich überhaupt nicht anfreunden können. Gott sei Dank war seine Angetraute unkompliziert und hieß nun ebenfalls Witzbold.

Er musterte die Reporterin einen Moment, bevor er antwortete.

„Zu den laufenden Ermittlungen kann ich Ihnen derzeit nichts sagen. Wir müssen noch die gerichtsmedizinischen Untersuchungen und Auswertungen abwarten.“

„Verstehe. Können Sie uns denn wenigstens den Namen des Getöteten nennen, und gibt es bereits einen Verdacht hinsichtlich eines Täters?“

Olav antwortete zögernd: „Bei dem Getöteten handelt es sich um den sechzigjährigen, alleinstehenden Walter Zeller, der hier aus Wolfhagen stammt und vermutlich auch hier in seinem Haus getötet wurde.“

Er nickte dem Reporterduo knapp zu und bestieg seinen Wagen.

8

Heribert Falk öffnete langsam die Augen und reckte sich. Das Fiepen in seinen Ohren war leise – noch. Eine Hand legte sich auf seinen Bauch.

Anita lächelte verschlafen, drängte sich an ihn und nuschelte, während ihre Hand unter die Bettdecke glitt: „Herr Kommissar, ich glaube, ich muss von Ihnen noch mal ganz genau durchsucht werden.“

Er grinste. „Hauptkommissar, wenn ich bitten darf.“

Sie lachte und gab ihm einen Kuss. „Na gut, Herr Hauptkommissar.“

Die dunklen Locken hingen ihr zerzaust ins Gesicht. Anitas ganze Erscheinung, wie sie lächelte, wie sie ihren Kopf beim Lachen nach hinten warf und dabei ihre großen Zähne entblößte, die Grübchen in ihren Wangen – das alles übte einen ungemeinen Reiz auf ihn aus.

Er zog sie an sich. „Aber zuerst muss ich dich verhaften.“

„Au ja – und verhören und anschließend bestrafen.“ Sie kicherte.

Er spürte ihre Rundungen und ihre geschickten Hände, die zaubern konnten. Es war ihr letzter gemeinsamer Tag. Sein Verlangen war unbezwingbar, als sein Smartphone summte.

Verdammt, wer zum Teufel musste ausgerechnet jetzt stören? Das heiße Pochen in seinen Lenden war fast schmerzhaft. Doch es war gar nicht sein Handy, das summte. Er sah, wie Anita nach etwas tastete, das kurz darauf im Sektkübel neben dem Bett landete. Er hörte noch das leise Platschen, und augenblicklich verstummte das Summen.

Am nächsten Tag verstaute Heribert seine Reisetaschen im Kofferraum seines CLK’s. Die Zeit hier war wie im Flug vergangen. Das mit Anita war, was es gewesen war – Sex. Sie hatten sich wie zwei gute Freunde verabschiedet – Anita war glücklich verheiratet.

Den ärztlichen Befund verstaute er in der Ablage. Und los! Heribert startete seinen Wagen und freute sich auf sein Zuhause in Markkleeberg bei Leipzig. Er war inzwischen ein Wossi, ein Wessi, der sich vor fast zehn Jahren für den Osten Deutschlands entschieden hatte – für Leipzig. Das heißt, zunächst war er zum Landes­kriminalamt nach Dresden versetzt worden. Er hätte sich zwar dagegen wehren können, doch er hatte dieses Angebot begrüßt. Allerdings war ihm Dresden unwirklich, irgendwie tot vorgekommen, und er hatte sich nicht einleben können. Wann immer es die Zeit erlaubt hatte, war er seinem Einzimmerappartement entflohen und nach Leipzig gefahren. Leipzig, die lang unterschätzte Stadt, die immer schöner wurde. Heribert liebte die vielen kleinen Cafés und Pâtisserien – manche mit eigener Kaffeerösterei, und gelegentlich versackte er am Wochenende in einer der gemütlichen Kneipen auf der „Karli“, der Karl-Liebknecht-Straße – eine der Amüsiermeilen Leipzigs. Heribert grinste in sich hinein: Sachsen, wo die hübschen Mädchen auf den Bäumen wachsen – das wusste doch jeder.

Später hatte er direkt in Leipzig gearbeitet. Man hatte ihn versetzt, auf eigenen Wunsch. Er bewohnte ein gemütliches Historiendenkmal aus der Kaiserzeit – eine sanierte Dreizimmeraltbauwohnung in Markkleeberg, mit Seeblick von der Terrasse. Alles noch günstig erworben – damals, doch diese Zeiten waren vorbei. Markkleeberg gehörte genau genommen nicht zu Leipzig und wehrte sich bis heute entschieden gegen die Eingemeindungsbestrebungen. Heribert war es egal, er fühlte sich dort sauwohl – eingemeindet oder nicht, für ihn war Markkleeberg Leipzig, doch das behielt er für sich.

Sein Smartphone summte.

„Na endlich“, meldete sich eine männliche Stimme, „Mensch, Berti, ich versuche dich schon seit drei Tagen zu erreichen.“

„Botho! Was gibt’s denn so Dringendes?“

„Ich brauche deine Hilfe. Etwas sehr Unangenehmes.“

„Aha?“

„Ja, vor drei Tagen ist mein Steuerberater bei sich zu Hause ermordet aufgefunden worden. Ich war mit ihm in meinem Kasseler Geschäft verabredet gewesen. Als er nicht kam und ich ihn auch auf dem Handy nicht erreichen konnte, habe ich bei ihm zu Hause auf dem Festnetz angerufen. Da hatte ich plötzlich einen Kripobeamten am Telefon!“

„Botho, ich bin nicht mehr im Dienst, das weißt du doch.“

„Ja, ich weiß. Ich will dich als Privatschnüffler engagieren – vielleicht auch zu meinem Schutz.“

„Schutz – was, wieso Schutz?“

„Jemand verfolgt mich, und das nachdem mein Steuerberater ermordet wurde, das ist doch irgendwie merkwürdig, findest du nicht?“

„Nicht unbedingt.“

„Bitte, Berti, tu deinem alten Freund den Gefallen!“Heribert seufzte. „Wo bist du denn?“

„Ich habe in meinem Leipziger Geschäft nach dem Rechten gesehen und komme gerade wieder in Kassel an.“

„Und ich befinde mich auf dem Rückweg von meiner Reha nach Leipzig und bin nicht so weit weg von Kassel. „Bist du im Geschäft?“

„Nein, zu Hause.“

„Okay, bin gleich da.“

In Bothos Stimme war die Erleichterung deutlich zu hören.

„Danke!“

Es waren fast immer dieselben Erinnerungen, die aufblitzten. Hier war er geboren und aufgewachsen.

Später, nach dem Gymnasium und seiner Zeit in Frankfurt, war er wieder hierher zur Kripo nach Kassel versetzt worden – für zwei Jahre.

Heribert blickte in den Rückspiegel – ein Porsche fuhr ihm dicht auf, drängelte eine Weile und hupte dann. Früher hätte es ihn geärgert, doch er blieb ruhig, setzte den Blinker und bog ab, auf die Wilhelmshöher Allee.

Sofort eröffnete sich der weite Blick auf Kassels Wahrzeichen, den Herkules und die dazugehörigen künstlichen, treppenartig angelegten Kaskaden, die Heribert aus dieser Entfernung nur erahnen konnte und die sich nach unten vor dem Schloss Wilhelmshöhe in ein großes Auffangbecken stürzten. Die kupferne Skulptur, die den griechischen Halbgott Herakles darstellte und über und über mit Grünspan überzogen war, stand auf einer Pyramide, die wiederum auf einem Oktogon stand.

Das gesamte Bauwerk ragte über siebzig Meter in die Höhe. Es war beeindruckend – immer wieder –, besonders bei Sonnenschein, wenn das Bauwerk sich aus dem üppigen Grün des Parks erhob, so wie jetzt. Doch wenn die Figur des Herakles – dunkel wie ein Schatten – durch leichte Nebelschwaden waberte, fühlte sich Heribert in die Welt griechischer Mythen versetzt, die von Helden und Göttern flüsterte. Wieder bog er ab, auf das Königstor, jetzt musste er noch einmal nach rechts, dann war sein Ziel erreicht.

Während er nach einem Parkplatz Ausschau hielt, dachte er plötzlich an Anne, mit der er fast sieben Jahre liiert gewesen war. Einmal, noch in ihrer Kennenlernzeit, waren sie, nachdem alle Kneipen bereits dichtgemacht hatten, die Herkuleskaskaden hinaufgelaufen – sexuell aufgeladen und ziemlich betrunken. Der Sonnenaufgang hatte das Schloss Wilhelmshöhe in oranges Licht getauft. Kein Verkehr hatte sich unten auf den Straßen geregt. Alles war still und friedlich gewesen, eben ein anbrechender Tag. Anne hatte ihn von hinten umarmt und eine ganze Weile mit ihm auf die schlafende Stadt geblickt – da hatte er sie „gefragt“. Etwas später waren sie zusammengezogen. Doch das alles schien eine Ewigkeit her zu sein. Heribert war nach Dresden versetzt worden, und Anne hatte nicht mitgewollt.

Er stellte den Motor ab und blickte sich zufrieden um. Sein Wagen stand direkt vor der Altbauvilla seines Freundes Botho Lange – Glück musste man haben, bei der Knappheit von Parkplätzen.

Der Türöffner summte. Ayumi stand oben am Treppenaufgang. Sie sah blass aus und deutete höflich eine Verbeugung an. Dann machte sie eine einladende Geste, dass er ihr folgen sollte. „Danke, dass du gekommen bist.“ Sie drehte sich nach ihm um und lächelte knapp.

Während Heribert ihr folgte, bewunderte er heimlich ihre schlanke, hochgewachsene Gestalt. Sie trug ein kurzärmeliges T-Shirt und eine weite, lange Leinenhose – alles in Schwarz, so wie immer. Es betonte ihren blassen, feinen Teint.

Vor ein paar Jahren hatten sein Freund und Ayumi Jónsdóttir sich während der „dokumenta 14“, gleich am ersten Tag bei der Eröffnung, kennengelernt. Diese Veranstaltung war die weltweit berühmteste Kunstausstellung für zeitgenössische Kunst, die alle fünf Jahre in Kassel stattfand und ganze hundert Tage dauerte.

Botho hatte Heribert erzählt, dass Ayumi Isländerin, ihre Mutter allerdings Japanerin war. Er schwärmte von ihrer Intelligenz, von ihrer Zurückhaltung – einer Zurückhaltung, die seinen Jagdtrieb beflügelt hatte. Ihre Eigenwilligkeit und Selbstbestimmtheit reizten und forderten ihn immer wieder aufs Neue heraus.

Heribert hatte es nicht glauben können. Sein Schulfreund war doch ein bequemer Typ, ein fauler Sack und vor seinem Zusammentreffen mit Ayumi ausschließlich mit Frauen zusammen gewesen, die sich anzupassen pflegten. Nie musste er sich bemühen. Schließlich war der Tisch reichlich gedeckt – Frauen machten es ihm leicht, diesem charmanten und verwöhnten, dabei nie ganz erwachsen gewordenen Einzelkind reicher Eltern.

Okay, Ayumi war also besonders, wenn nicht gar speziell, und dieser Umstand übte auch auf Heribert einen gewissen Reiz aus.

Wenn sie sprach – gepflegt mit nordischem Akzent –, gestikulierte sie lebhaft mit den Händen. Dann bekamen ihre grünen Augen so einen Schimmer und ruhten konzentriert auf ihrem Gegenüber, wenn sie zuhörte.

Das Einzige, das Ayumis asiatische Wurzeln offenbarte, waren ihre hohen Wangenknochen und ihr glattes rabenschwarzes Haar, das sie kurz trug – und natürlich ihr Vorname und die Angewohnheit, niemandem die Hand zu geben. Stattdessen deutete sie zur Begrüßung oder beim Abschied traditionell japanisch lediglich eine höfliche Verbeugung an.

Heribert unterdrückte sein Faible für sie – schließlich war sie die Frau seines Freundes.

Unter dem Pseudonym „Fin Wala“ veröffentlichte Ayumi Krimis, die in Island spielten, inzwischen sogar übersetzt wurden und sich auch in Deutschland gut verkauften. Ziemlich harte und verstörende Brocken, wie Heribert fand. Wie konnte so ein zartes Wesen derartige Schreckensszenarien entwerfen? Sie hatte über Heriberts konsternierten Gesichtsausdruck gelacht.

„So zart bin ich gar nicht, und sag mir jetzt bitte nicht, dass du noch nie Gewaltfantasien hattest – gerade in deinem Job.“

„Schon“, hatte Heribert eingeräumt, „besonders von Menschen, die es verdient hätten. Doch wenn man dich anschaut, traut man dir solche Fantasien einfach nicht zu.“

Sie hatte mokant gelächelt und sich Tee nachgeschenkt.

„Glaub mir, es ist für mich ein reines Vergnügen, diese Tasse Tee zu genießen, während ich“, sie hatte eine ausladende Geste gemacht, „inspiriert durch meine Umgebung, hier oben“, sie hatte auf ihren Kopf gedeutet, „meine Geschichte für den nächsten Roman weiterspinne und dabei nach Belieben Morde begehe. Es macht Spaß, probier‘s aus.“ Genüsslich hatte sie einen Schluck von ihrem Tee genommen und ihn vielsagend angeschaut.

Heribert hatte höflich gelächelt und ihr seine Eindrücke aus der Gerichtsmedizin erspart – all die Körper von Menschen, die aufgrund von massiver Gewalteinwirkung und Brutalität zu Tode gekommen waren, von den Geruchserlebnissen ganz zu schweigen. Ihm drehte sich bereits der Magen um, wenn er nur daran dachte.

Er musste plötzlich grinsen, während er Ayumi folgte. Ausgerechnet Botho, der Kunstbanause, hatte sich diesen besonderen „Leckerbissen“ an einem Ort geangelt, wo ihn normalerweise keine zehn Pferde hinbekamen. Hundert Tage „dokumenta“ und noch mal weitere hundert Tage, und die beiden hatten in Reykjavik Ringe getauscht. Tja, Liebe auf den ersten Blick, das schien es tatsächlich zu geben.

Irritiert registrierte Heribert das leicht aufsteigende Gefühl von Neid und unterdrückte es sofort, während er sich schämte und plötzlich die Stimme von seinem Schulfreund aus dessen Arbeitszimmer hörte. Botho beendete offensichtlich gerade ein Telefonat. Die Tür wurde geöffnet.

„Da bist du ja, alter Freund.“

Botho klopfte Heribert auf die Schulter und schob ihn ins Arbeitszimmer.

Ayumi lächelte. „Tee?“

Heribert nickte. „Sehr gern, danke.“

Botho setzte sich und legte die Füße auf seinem Schreibtisch ab. Heribert platzierte sich ihm gegenüber und musterte ihn. Es war nicht zu übersehen, wie angespannt sein Freund war. Er sah merkwürdig verbraucht, fast alt aus. Vielleicht dachte Botho dasselbe auch von ihm – sie beide waren gleichaltrig, fünfundvierzig Jahre.

Botho holte zwei Gläser hervor und schenkte sich aus einer bauchigen Flasche Branntwein ein.

Heribert lehnte ab, als er auch ihm einschenken wollte. „Ich muss noch fahren. Also, leg los.“

Botho kippte das Glas hinunter und schenkte sich umgehend nach.

„Vor drei Tagen ... ich hatte gerade den Wagen geparkt und bin noch ein Stück gelaufen. Es war schon spät.“

„Wie spät?“

Heribert griff nach dem gelben Block auf dem Schreibtisch und machte sich Notizen.

„Das weiß ich nicht genau. Ich denke, vielleicht so gegen Mitternacht.“

„Du warst genau um ein Uhr zehn zu Hause“, meldete sich Ayumi und servierte den Tee. Dann setzte sie sich auf das Sofa, das am Fenster stand, und fuhr fort: „Das weiß ich deshalb so genau, weil ich noch an meinem Roman gearbeitet hatte und gerade dabei war, den Rechner herunterzufahren.“

„Also, ich hatte schon vorher das Gefühl, dass jemand meinem Wagen folgt“, erklärte Botho. „Dann dachte ich mir, dass es vielleicht nur Einbildung sei. Ich parkte, stieg aus, und als ich Schritte hinter mir hörte, blieb ich stehen. Es war plötzlich ganz still. Ich blickte mich um, niemand schien da zu sein. Ich muss sagen, das war irgendwie unheimlich. Ich fühlte mich beobachtet. Als ich weiterging, verfolgten mich auch die Schritte wieder. Ich ging immer schneller, und die Schritte beschleunigten sich ebenfalls. Dann war ich an unserer Haustür. Ich öffnete sie und verschloss sie sofort, machte aber kein Licht und beobachtete den Gehweg. Eine dunkle Gestalt – vermutlich ein Mann – tauchte nach einer Weile auf, blieb kurz stehen und ging dann weiter ... zügig weiter.“

Heribert blickte von seinem Schreibblock auf. „Okay, das klingt jetzt nicht so verdächtig oder irgendwie gefährlich.“

„Das dachte ich auch“, erwiderte Botho, „doch dann klingelte immer wieder das Telefon. Wenn wir das Gespräch entgegennahmen, war niemand dran.“

„Wie sah denn dein Verfolger aus?“

„Keine Ahnung! Es war ja dunkel. Allerdings schien er zu rauchen, denn ich sah die Rauchfahne.“

Heribert nickte nachdenklich. „Wenn du jemandem etwas antun wolltest, würdest du dann rauchen? Das klingt mir zu gemütlich.“

Botho zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht wollte dir jemand Angst einjagen“, meldete sich Ayumi, „gesetzt den Fall, du wurdest tatsächlich verfolgt.“ Und nach einer Pause fuhr sie fort: „Ich konnte diese Person etwas besser sehen.“

Botho blickte sie erstaunt an.

„Ja! Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich gehört habe, und schaute dann aus dem Fenster. Doch du warst schon im Haus, aber ich habe die Gestalt gesehen, deutlich, als sie unter der Laterne stand.“

Heribert stutzte. „Unter der Laterne – wieso stand sie unter der Laterne?“

„Die Person hat sich einen Zigarillo angezündet, keine Zigarette.“

„Wieso angezündet? Botho sagt doch, dass die Person bereits am Rauchen war.“

„Das stimmt vermutlich auch, denn ich sah, wie sie etwas wegwarf. Doch die Person zündete sich erneut einen Zigarillo an – ich sah es deutlich, als das Feuerzeug auf­flammte. Es war eins von diesen Dingern – Gasfeuerzeuge oder so, die eine riesige Flamme erzeugen.“

Sie stand auf, lehnte sich an die Wand, direkt gegenüber dem Schreibtisch, und blickte auf die Männer hinab, während sie ihre Arme verschränkte.

„Die Person war männlich – etwa 1,75 bis 1,80 Meter groß.“ Sie stutzte. „Irgendetwas war allerdings merkwürdig – vielleicht sein Gang, ich weiß es nicht mehr genau, denn ich habe dem Ganzen ja keinerlei Bedeutung beigemessen.“

Heribert nickte und dachte nach, während er einen Schluck von seinem Tee nahm.

„Ist dir sonst noch was aufgefallen?“, wollte er von Ayumi wissen.

Ayumai dachte nach. „Er trug einen Trenchcoat.“

„Farbe?“

Ayumi zuckte mit den Schultern. „Wie sehen Trench­coats aus – auf jeden Fall war es kein Beige, vielleicht Schwarz, vielleicht Dunkelblau, das konnte ich nicht genau sehen. Und er trug ein rotes Halstuch.“

„Und weiter? Haarfarbe, Alter, andere Auffälligkeiten?“, wollte Heribert wissen.

Ayumi dachte nach.

„Er hat zu mir kurz hinaufgeschaut – er ist Brillenträger, und seine Haare sind vielleicht hell, vielleicht aber auch grau, keinesfalls schwarz.“

„Würdest du sein Gesicht wiedererkennen?“

Ayumi schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, es war ja nur ein kurzer Moment, und so gut war das Licht dann doch nicht. Keinesfalls war er schmächtig oder so, nicht dick, vielleicht sportlich.“

„Alter?“

Ayumi zuckte mit den Schultern und schwieg.

„Okay. Noch was – warum habt ihr nicht gleich die Polizei verständigt?“

Ayumi und Botho stutzten gleichzeitig und warfen ihm dann einen konsternierten Blick zu.

Heribert winkte ab. „Dummer Gedanke.“

„Allerdings“, schnaufte Botho. „Was hätten wir denn sagen sollen? Es ist doch nicht verboten, hinter jemandem herzugehen oder vor einem Haus sich eine anzuzünden.“

„Ihr könntet natürlich eine Anzeige gegen Unbekannt aufgeben, wegen der Anrufe“, erklärte Heribert.

Er hob jedoch sofort abwehrend die Arme, als er erneut den mehr als skeptischen Blick seines Freundes auffing. „Schon gut – vermutlich wird auch das nichts bringen.“

„Genau!“ Botho goss sich vom Branntwein nach, und Heribert registrierte Ayumis kritischen Blick.

Doch Botho ignorierte ihn, kippte das Glas hin­unter und fuhr fort: „Aber verstehst du jetzt meine Sorge? Dies alles ist an dem Tag passiert, als man die Leiche meines Steuerberaters gefunden hat.“

„Wie heißt der?“

„Zeller, Walter Zeller.“

Heribert notierte den Namen.

„Könnte es sein, dass dein Steuerberater in irgendeine unseriöse Geschichte verwickelt ist?“

Botho zuckte mit den Achseln: „Woher soll ich das denn wissen? Und selbst wenn, was hätte das mit mir zu tun?“

Heribert verschränkte die Hände hinterm Kopf und dachte laut nach: „Solange man das Motiv von Walter Zellers Mörder nicht kennt, bleibt natürlich alles spekulativ. Zeller könnte nämlich auch bloß das zufällige Opfer eines Einbruchs mit Todesfolge geworden sein, und so gesehen könnte sich das mit deinem nächtlichen Verfolger dann auch relativieren.“

„Relativieren?“

„Na ja, ich meine, dein nächtlicher Verfolger – der ging vielleicht wirklich nur, wie schon erwähnt, zufällig hinter dir her.“

„Glaube ich aber nicht!“

Bothos Einwurf klang fast bockig.

Heribert fixierte ihn eine Weile, während er versuchte, sich einen Reim auf die ganze Sache zu machen. Wieso ging Botho so fest davon aus, dass sein nächtlicher Verfolger etwas mit dem Tod seines Steuerberaters zu tun haben musste?

„Okay, Botho, erstens, welches Motiv könnte denn jemand haben, dir aufzulauern, und zweitens – warum sollte Zellers Mörder sich ausgerechnet auch für dich interessieren?“

Botho blickte seinen Freund ratlos an und zuckte mit den Schultern. „Ich dachte, du könntest es vielleicht herausfinden.“

„Ich?!“

„Könnte es etwas mit dem neuen Geschäft zu tun haben?“, meldete sich Ayumi und sah ihren Mann alarmiert an.

Heribert horchte auf und blickte zwischen Botho und Ayumi hin und her.

„Moment mal – neues Geschäft? Was für ein neues Geschäft denn? Reichen dir die beiden Geschäfte in Kassel und Leipzig nicht mehr?“

Eigentlich war sein Einwand scherzhaft gemeint, doch Heribert selbst hatte bemerkt, wie forsch er geklungen hatte – fast vorwurfsvoll.

Botho lachte. „Nein!“

Das konsternierte Gesicht seines Freundes schien ihn zu belustigen. „Und ja, tatsächlich eröffne ich in den nächsten Monaten ein neues Geschäft in Polen – genauer gesagt, in Warschau.“

„Und das erfahre ich von dir so ganz nebenbei? Ich bin dein bester Freund, Botho!“

Botho musterte Heribert spöttisch. „Verzeih, alter Freund, ich hätte dich natürlich vorher um Genehmigung bitten sollen!“

Heribert mochte es nicht, wenn Botho ihn „alter Freund“ nannte – es hatte etwas Altbackenes und passte irgendwie nicht zu dessen sonstigen Sprachgepflogenheiten.

„Alter Freund ... welche Art von Geschäft ist das denn in Warschau?“

„Genau wie hier. Kinder- und Jugendbekleidung. Die Umsätze brummen, und ich möchte gern weiter expandieren.“

„Mit einem eigenen Label“, ergänzte Ayumi, „das war meine Idee.“

Heribert nickte und dachte einen Moment nach, bevor es heikel wurde. „Okay, bist du in irgendeine krumme Sache verwickelt, Botho? Nimm’s mir nicht übel, aber ich muss dich das fragen.“

Einen Moment wirkte Botho unentschlossen, und Heribert ahnte, dass er den Finger in die richtige Wunde gelegt hatte, als er die Blicke, die Botho und Ayumi miteinander austauschten, bemerkte und Botho zögernd antwortete: „Na ja, weißt du, ich habe ein paar Leute in Warschau, also, wie soll ich sagen ... na ja ... geschmiert, damit ich dort mein Geschäft eröffnen kann, verstehst du? Das ist inzwischen nämlich gar nicht mehr so einfach. Und ein gelegentlicher Geldumschlag hier und da ist dort normales Prozedere.“

Heribert stutzte. „Ach ...“

Ayumi machte plötzlich ein verärgertes Gesicht.

„Ja, allerdings! Ich war von Anfang an dagegen und habe dich gewarnt. So ein System darf man doch nicht noch unterstützen. Und es ist ja dann auch alles andere als glatt gelaufen.“ Sie blickte zu Heribert. „Botho hat sich mit so einem Typen von der städtischen Baubehörde rumärgern müssen!“

Sie warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu. „Kosalski hieß der, oder so – stimmt’s?“

„Kowalski“, erwiderte Botho.

„Genau, Kowalski!“ Sie fuhr fort: „Der konnte nämlich seinen Rachen nicht vollkriegen – hat alles verzögert. Botho war immer wieder gezwungen, sein Portemonnaie aufzumachen!“

Heribert nickte. „Okay, er hat euch also auf eine subtile Weise erpresst.“

„Ja, kann man so sagen, das war wirklich ärgerlich“, erklärte Ayumi und blickte Botho vielsagend an.

Der machte eine wegwerfende Geste. „Es ist aber alles inzwischen geklärt. Ich habe die bittere Pille geschluckt.“

„Ach“, Heribert räusperte sich und konnte die Ironie in seiner Stimme nicht ganz unterdrücken, „sozusagen für das höhere Ziel! Okay, ich hoffe, ihr wisst, dass Bestechung auch in Polen eine Straftat ist?“

Er sah, wie Botho Ayumi einen schuldbewussten Blick zuwarf.

„Aber gut, ich will kein Moralapostel sein. Also, wenn dir weiter niemand einfällt, der dir übel mitspielen könnte, was soll ich dann für dich tun? Ich bin nicht mehr im Dienst.“

„Ja, Berti, du sagtest es bereits. Mehrmals!“

Botho schien genervt und zögerte einen Moment, dann beugte er sich vor und trommelte seine Finger gegeneinander, bevor er weitersprach.

„Kennst du zufällig einen gewissen Kriminalhauptkommissar Witzbold?“

Heribert schüttelte zögernd den Kopf.

„Nein, an so einen Namen würde ich mich, glaube ich, erinnern. Wieso?“

„Er ist der Ermittler in der Mordsache und möchte mich befragen – übermorgen. Ich dachte, du kannst mich vielleicht begleiten. Dann können wir uns eventuell ein besseres Bild machen und herausfinden, ob wir – also Ayumi und ich – in Gefahr sind oder ob an meinen Befürchtungen tatsächlich gar nichts dran ist. Vielleicht rückt dieser Witzbold ein paar Informationen heraus – so von Kollege zu Kollege, verstehst du?“

„Von Kollege zu Kollege? Ich glaube, du träumst. Botho, ich sagte dir doch, ich bin nicht mehr im Dienst! Der rückt bei mir keinen Furz an Information heraus, das darf er auch gar nicht, denn …“

„Ich bezahle dich natürlich“, warf Botho ein.

Heribert wollte etwas einwenden, doch Botho wehrte es ab.

„Keine Widerrede, Berti. Ich zahle dir pro Tag“, er dachte kurz nach, „fünfhundert Euro plus Spesen, wenn du der Sache auf den Grund gehst und mich zur Kripo begleitest. Und du ziehst, bis alles geklärt ist, bei uns ins Gästezimmer.“

„Wie stellst du dir das vor? Ich habe zu Hause noch Sachen zu erledigen.“

„Dann erledige das, und dann kommst du zurück – wird ja nicht Wochen dauern, vermute ich.“

Heribert zögerte und fragte sich, was für Informationen sich sein Freund eigentlich erhoffte, dann nickte er zustimmend.

„Na gut, reicher Mann. Abgemacht – Personenschutz und ein bisschen herumschnüffeln. Von irgendetwas muss der Mensch schließlich leben.“

Draußen, unter der Laterne, suchte er später den Bürgersteig ab und wurde tatsächlich fündig. An der Mauer, die Bothos Grundstück zu seinem Nachbarn abgrenzte, fand er den Stummel eines Zigarillos mit weißer Spitze. Ayumi blickte ihn erstaunt an, als er wieder vor der Tür stand und um ein Plastiktütchen bat.

9

Gestern hatte es geregnet, doch heute würde es ein schöner Tag werden. Durch die Nebelschleier drangen die ersten Sonnenstrahlen. Vom Tau war die Wiese noch feucht und roch würzig. Silbrige Wasserperlchen auf kleinen Spinnennetzen blitzten plötzlich überall auf. Was für ein Zauber, hätte seine Mutter, Gott hab sie selig, vermutlich jetzt gesagt. Ein schlechtes Gewissen beschlich ihn. Denn seine Mutter und er hatten es gut miteinander gehabt – das beste Verhältnis überhaupt, ein Herz und eine Seele, wie man so schön sagte. Nur als es mit ihr zu Ende gegangen war, hatte er, das einzige Kind seiner Mutter, ihr nicht beistehen können – oder wollen. Seinen Vater hatte er nie kennengelernt und so gesehen auch nie vermisst.

Er pfiff vor sich hin, während er seine beiden Möpse von der Leine ließ. Sie versuchten, Schritt mit ihm zu halten, fingen aber bald an zu japsen, und Lude verlangsamte seine Schritte, während er die Umgebung aufmerksam absuchte. Außer ihm schien noch niemand im Park unterwegs zu sein, keine anderen Hundebesitzer – erstaunlich.

Er zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Er war zufrieden, die Geschäfte liefen gut – sehr gut sogar. Langsam konnte er sich zur Ruhe setzen. Nur, wer konnte seinen Platz einnehmen? Er war unverheiratet, und Kinder waren nicht vorhanden. Jedenfalls keine, von denen er gewusst hätte.

Er brauchte jemanden, dem er vertrauen konnte – es musste jemand mit Grips sein, kein Besserwisser. Gehorsam und jung musste er sein – Jan Husemann zum Beispiel! War der eine gute Idee? Er dachte einen Moment nach. Es würde sich zeigen – nur nichts überstürzen.