Witwerverbrennung - Hanns Peter Zwißler - E-Book

Witwerverbrennung E-Book

Hanns Peter Zwißler

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Beschreibung

Johannes Boberg, Maschinenbauer mit Hang zur Präzision, erhält die Mitteilung, dass seine geschiedene Frau Kristina wohl als Geisterfahrerin auf der Autobahn Selbstmord verübt hat. Das setzt die folgenden Stunden in Gang, in denen Boberg Kristinas Zwillingsschwester anzurufen versucht, gleichzeitig die Anrufe seiner Mutter abwehrt, andere Anrufe tätigt, einen Hausmeister betrunken macht und einen aufgeschlitzten Teddybären in den Müllschlucker entsorgt. Boberg schwankt zwischen manchmal bizarren Erinnerungen, die meist um die Frauen in seinem Leben kreisen, und Reflexionen. Die Witwerverbrennung, die in seinem Fall angesetzt ist, zieht sich vom Nachmittag hin bis in den späten Abend. Ein souverän erzählter Roman mit hohem Unterhaltungswert.

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Hanns Peter Zwißler

Witwerverbrennung

Der Autor:

Hanns Peter Zwißler studierte Geschichte, Germanistik und Politik in Würzburg und war zuletzt stellv. Schulleiter eines Schweinfurter Gymnasiums.

Bisherige Veröffentlichungen: Lisa du schwarze Zypresse, Novelle. Der Bröll, Roman. Die winkende Katze, Roman. Uraufführung Mai 2011: Alles ist im Fluss.

Bei K&N erschienen (2011): Die Kunst des Scharfrichters und der Nutzen des Schafotts. („Die Kunst des Scharfrichters und der Nutzen des Schafotts“ war nominiert für den Sir Walter Scott Preis 2012, ausgeschrieben für herausragende historische Romane deutscher Sprache der Erscheinungsjahre 2010 und 2011. Unter 162 Einreichungen wurde der Roman von der Jury auf die Shortlist der zehn für den Preis vorgeschlagenen Romane gesetzt.)

Hanns Peter Zwißler

Witwerverbrennung

Roman

Königshausen & Neumann

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2013

Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier

Umschlag: skh-softics / coverart

Umschlagabbildung: Feuer © Stefan Körber #10336337 (fotolia.com)

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

ISBN 978-3-8260-5131-9

www.koenigshausen-neumann.de

www.buchhandel.de

www.buchkatalog.de

1

Boberg hatte zu ungewohnt früher Zeit sein Büro verlassen, weil er gedacht hatte, er könnte, bevor die Harley für Spätherbst und Winter eingemottet würde, noch einmal Motorrad fahren. Nicht die übliche Route Richtung Taubertal und weiter, dazu war es zu spät. Er wollte nicht durch die Nacht fahren, denn die Nacht, das ist statistisch erwiesen, ist des Bikers Tod. Also ...

... der Steigerwald. Oder die Hassberge.

Eher die Hassberge! Vom Steigerwald gibt es ein Steigerwaldlied, die Hassberge sind eher unbesungen. Mit einer Harley fährt es sich besser durch unbesungene Landschaften. Eine Harley hat ihren eigenen Sound. Dieser Ton prägt die Landschaften, durch die man fährt.

An Baltus vorbei! Baltus sitzt in seiner Portiersloge.

Man kann Baltus nur überlisten, wenn Baltus isst, wenn Baltus vor sich eine Styroporschachtel aufgeschlagen hat mit Reis und asiatischem Huhn süßsauer. Dann ist Baltus abgelenkt, indem er mit einer Miniplastikgabel hineinsticht in die Styroporschachtel. Ansonsten würde er zwei Finger an seine Mütze legen, um sie dann wie den Lauf einer Pistole auf Boberg auszurichten.

Herr Dr. Boberg ... Herr Doktor ... Herr Boberg ...

... denn Baltus ist ein Geschichtenerzähler. Er muss sich der Welt mitteilen. Ein netter Kerl eigentlich, aber unerträglich in seiner Nettigkeit. Eine geschwätzige Klette, die in der Lage gewesen wäre, sich Boberg bis hinaus in den Hof anzuheften.

Er redet gern von Thailand, wo er seine Urlaube verbringt.

Da müssen Sie auch mal hin, Herr Dr. Boberg.

Aber Boberg will nicht nach Thailand zu den Kindfrauen, deren sich Baltus dort bedient, er will Motorrad fahren. Haßberge, nicht Thailand!

Boberg stieg in seinen Wagen und startete. Er lag gut in der Zeit. Auch das Wetter schien halten zu wollen. Halb blau, halb grau der Himmel. Ein leichter Wind. Alles sprach gegen Regen. Die Wolken hatten Platz, davon zu ziehen.

In der Tiefgarage seiner Penthousewohnung hatte Boberg eine zusätzliche Parkbox angemietet. Eine für sich, eine für Kristina. Auf Kristinas Parkplatz war jetzt die Harley-Davidson geparkt, eine Maschine, technisch ausgereift und doch von tradierter Ästhetik. Keine Massenware, sondern Manufaktur. Alles für das Auge Wesentliche, Rohre und Krümmungen, in Chrom gegossen. Und poliert. Und immer wieder poliert. Schön stand sie da, die Harley-Davidson, im kahlen Beton der Tiefgarage. Massivster, schmuckloser Beton übrigens, der in den frühen 80er Jahren noch konzipiert gewesen war als Hausbunker, in Erwartung, der Kalte Krieg explodiere in ein atomares Inferno. Überall noch schwere Eisentüren, von einem Kind kaum zu öffnen. Man musste sich dagegen stemmen wie Boberg jetzt, um ins Treppenhaus nach oben zu gelangen, ins Foyer, wo Boberg von einer Lichtflut empfangen wurde, einer verschwenderischen Installation von Licht. Das hatte der Hausmeister in der letzten Eigentümerversammlung so durchgesetzt inklusive der Videoüberwachung neuralgischer Areale ... des Eingangsbereichs, des Foyers, der Treppenhäuser und des Aufzuges.

Wo man wegschaut, war sein Argument gewesen, ist Dunkelheit. Und wo Dunkelheit ist, da ist auch ein Graffito. Und wo das erste Graffito geduldet wird, sind die Wände schnell mit solchen Schmierereien überzogen. Oder inkontinente Passanten, denen es pressiert, huschen ins Haus und verkoten sich oder schlagen ihr Wasser ab. Oder rumänische Kinderbanden, die zum Betteln und Stehlen nach Mitteleuropa ausgeschickt sind, suchen nachts einen Unterschlupf und huschen, sagte der Hausmeister, wie die Ratten vom Licht ins Dunkle, wenn man ihnen das Dunkle lässt. Dagegen helfe nur, alles Dunkle abzuschaffen, indem man es ausleuchte.

Es hatte in der Eigentümerversammlung eine heftige Diskussion gegeben. Die Mehrheit der Eigentümer wollte videoüberwacht sein, die Minderheit nicht. Es gab Kostenargumente bezüglich der Installations- und Installationsfolgekosten. Es gab ökologisch bedingten Missmut gegen die Verschwendung von Energie zur Ausleuchtung in der Regel personenleerer Räume.

Boberg hatte gegen jegliche Überwachungspraxis protestiert. Man folgte seiner Argumentation nicht. Wer nichts zu verbergen habe, und Boberg hatte ja nichts zu verbergen, müsse Überwachung nicht fürchten. Und Boberg sei ja weder rumänisches Waisenkind noch Sprayer oder inkontinent. Gewiss nicht.

Jedenfalls hatte der Hausmeister seine Überwachungsinstallation zugestanden bekommen. Er hatte in den folgenden Wochen viel damit zu tun gehabt, sie technisch einzurichten. Und wer jetzt das Haus betrat, warf, selbst am hellichten Tag künstlich und rundum umleuchtet, keinerlei Schatten mehr und strebte mit völlig fahler, ausgeleuchteter Gesichtshaut der Treppe oder dem Aufzug zu, auf einen Videofilm gebannt und gespeichert.

Boberg hatte sich angewöhnt, in eine dieser montierten Kameras hineinzugrüßen. Er grüßte auch jetzt in der Andeutung eines leichten Winkens mit der rechten Hand. Zuerst wird die Hand ausgefahren, dann der Unterarm, ohne den Ellenbogen ganz zu strecken. Ein Winken, das sich optisch auf die Hand beschränkt. Das musste genügen, den Hausmeister bei guter Laune zu halten, unter dessen Videoüberwachung Boberg zu den Briefkästen schritt. Bobergs Briefkastenschlüssel klemmte. Boberg spürte den Widerstand. Es bestand die Gefahr, den Schlüssel zu überdrehen und das Schloss zu ruinieren, während der Hausmeister ruhigen Auges zusieht und sich werweißwas denkt. Natürlich denkt er sich nichts Gutes. Der da, wird er sich denken, dieser Herr Dr. Boberg will Diplomingenieur sein und scheitert an der Öffnung eines Briefkastens.

Dann aber gab das Schloss nach, die Türe klappte auf und Boberg rutschten sechs oder sieben Umschläge unterschiedlichen Gewichts und Formats entgegen. Natürlich ein Anakronismus im Zeitalter elektronischer Kommunikation! Dass überhaupt noch Briefe geschrieben wurden auf Papier wie zu Goethes Zeiten! Geschrieben, in Händen gewogen, gefaltet und eingetütet in Umschläge. Mit Zungenfeuchtigkeit verklebt, beschriftet und mit angeleckten Marken versehen. Zu einem Postkasten getragen, in einen Schlitz geworfen. In Postsäcken aufgefangen, zu Briefzentren transportiert, grobsortiert und feinsortiert verfrachtet an Zielorte. Und dann dieser Witz, dass sie einem Menschen übergeben werden, der sie bei Wind und Wetter auf langen Wegen austrägt, sommers wie winters, bei Gefahr des Ausrutschens auf Bananenschalen oder Hundescheiße im Sommer oder bei Eisglätte im Winter. Immer in Gefahr, Hundebestien ausgesetzt zu sein und gebissen zu werden. Blutvergiftung oder Tollwut. Und das alles ohne jegliche Hoffnung, es könnte unter all den verschickten Briefen, die Boberg jetzt in der Hand hielt, irgendetwas von wahrhaft persönlichem Wert sein. Nicht also Bobergs Lebensversicherung mit der Mitteilung des derzeitigen Rückkaufswertes, nicht dieser Geldfonds mit sensationellem Zinsversprechen, nicht diese Anschreiben herausgehobener Menschen, Gattinnen von Bundeskanzlern oder Bundespräsidenten, die einer Stiftung vorsitzen, Kinderkrebs oder Altersdemenz, von denen Boberg angesprochen wird als Lieber Herr Dr. Boberg, wieder ist bald ein Jahr vergangen und wieder wenden wir uns an Sie als treuen Helfer ... Briefe also, die sich in eine fiktive Biographie oder Wesensart Bobergs einzuschleichen versuchten, denn Boberg konnte sich nicht erinnern, je zum Kreis solcher Spender gehört zu haben.

Boberg war kein Lieber Herr Boberg! Mitnichten! Es wäre ihm peinlich, ein Lieber Herr Dr. Boberg zu sein.

Boberg nahm den Aufzug, da er auf keine potenziellen Mitfahrer traf. Ansonsten hätte er die Treppe genommen. Der Aufzug hatte in etwa Sarglänge und Sargbreite mit gerade noch Raum für eventuelle Sargträger, wenn sie sich schmal machten. Innen war er, anders als in Bobergs Firma, rundum mit Spiegeln ausgeschlagen. Man war zwar eingepfercht, hatte aber die Illusion der eigenen Vervielfältigung und damit räumlicher Weite. Man sah sich von vorne und von hinten. Zwei oder drei Mitfahrer, das kam einer Massenansammlung gleich.

Zwar schloss sich die Tür, aber der Lift bewegte sich nicht. Boberg vermutete eine Störung. Sie war bei dem technischen Stand des Aufzugsystems längst zu erwarten. Lift statt Licht! Boberg hatte in der Eigentümerversammlung dafür plädiert, das für die Hausbeleuchtung bewilligte Geld in die technische Aufrüstung des Aufzuges zu stecken. Er hatte sich aber mit seinen Ängsten gegen die Ängste derer, die für Licht und Videoüberwachung plädiert hatten, nicht durchsetzen können. Jetzt stand der Aufzug. Man hatte einen Alarmknopf zu drücken und auf jeden Fall Ruhe zu bewahren. Und den Ausflug mit der Harley konnte Boberg wohl vergessen.

Dann aber ruckelte es doch und Boberg wurde ohne Zwischenstopp ganz nach oben getragen. Und es hatte auch keine Zwischeneinsteiger gegeben, mit denen sich Boberg in den Spiegeln hätte spiegeln können.

Vor Bobergs Wohnungstür lag Werbematerial, das er mit dem Fuß beiseite schob. Also war doch einer ungehindert ins Haus eingedrungen und hatte seine Transporttasche vor den Wohnungstüren erleichtert. So viel ist klar: Den ganzen Licht- und Videoquatsch hätte man sich sparen können. Oder ... man kann auch den Hausmeister in Verdacht haben, mit solchen Leuten im Bunde zu sein. Gegen ein kleines Bakschisch vielleicht.

Boberg ließ die Wohnungstüre angelehnt, denn er wollte ja nicht bleiben. Er wollte nur in seine Ledermontur schlüpfen.

Die mitgebrachten Briefe warf er auf die Garderobenkonsole, als es hinter ihm schellte. Es schellte nicht von unten, vom Hausklingelbrett und der Sprechanlage her, sondern direkt an der Wohnungstür, obwohl Boberg in den ausgeleuchteten Fluren niemanden bemerkt hatte, der ihm aufgelauert haben könnte. Boberg zog die Türe auf. Er sah vor sich einen Mann in Zivil, in dem er sofort den Polizisten erkannte. Irgendetwas war Pose, berufstypische Haltung, wie sie in anderer Weise auch bei Hausierern, Sammelbüchsenpersonal des Roten Kreuzes oder Gasablesern ausgeprägt ist, sogar bei Bobergs Honigfrau, die halbjährlich vor seiner Tür stand, ein Kärrelchen mit Honigtöpfen nach sich zog und mit vertrauter, fast feenhafter Stimme sagte: So, da wären wir mal wieder. Und es schien, als hätte Boberg drei Wünsche frei.

Er hatte ihr immer wieder Honig abgekauft, obwohl er keinerlei Verwendung dafür hatte. Honig kommt in seinem Speiseplan nicht vor. Aber die Honigfrau ist die Honigfrau und eben nicht irgendwer. Man kann eine Fee nicht abweisen.

Auch ein Polizist an der Tür ist unabweisbar, selbst wenn er in Zivil und nur in etwa einsiebzig groß ist, Sommersprossen hat und leicht rötlich gekrauste Haare. Irgendwie genetisch Bauernbursche. Sieht harmlos aus, lässt aber auf Unannehmlichkeiten schließen.

Boberg hatte vor einigen Tagen den Überfall einer Horde von Glatzköpfen auf eine Dönerbude mitbekommen, gröhlende Gestalten wie aus dem Skizzenbuch der Weimarer Republik ... Deutsche also, von denen kein einziger auch bei gutem Willen in der Lage gewesen wäre, eine Dönerbude erfolgreich zu bewirtschaften. Das macht das Einreißen und Abfackeln von Dönerbuden leicht, zumal eine Dönerbude, von einem einzigen Türken verteidigt, eben Marktbude und keine osmanische Festung ist.

Und Boberg hatte über Handy die Polizei gerufen, die, Boberg hatte das nicht erwartet, schnell und durchsetzungsfähig zwischen die Glatzen und Springerstiefel hineinfuhr, sie auseinander sprengte, einige der Glatzen fliehen ließ, einen Glatzenkern aber einkreiste und so konsequent in Griff nahm, dass an ein Entfliehen nicht mehr zu denken war. Während nebenan die Dönerbude abbrannte. Es hatte eine Reihe anderer Zeugen gegeben, Passanten, neutrale Beobachter. Sogar Leute, die an der Dönerbude angestanden waren mit dem abgezählten Geld in den Fingern, Leute also, die dem Geschehen viel näher gewesen waren als Boberg. Aber gut! Boberg war eben der gewesen, der über sein Handy die Polizei gerufen hatte.

Jetzt bahnte sich eine zähe Zeugenvernehmung an mit Folgen, möglichen Ladungen vor Gericht oder ... er, Boberg, hatte vor zwei Tagen, er war in Gedanken gewesen, beim Ausparken einen blauen Fiat gestreift, vielleicht, und wenn, nur leicht, eher gefühlsmäßig, also ohne Kratzer und Spuren. Boberg war dennoch ausgestiegen und hatte sich die Möglichkeit, das Auto gestreift zu haben, besehen. Aber da war nichts, absolut nichts, so dass er wieder eingestiegen war, um mit gutem Gewissen davonzufahren.

Käme jetzt eine Anzeige wegen Fahrerflucht auf ihn zu? ... fatal! Das würde keinesfalls aufgewogen durch seinen Einsatz gegen brandstiftende Gewalt. Fahrerflucht ist der Ehrentod des Autofahrers. Diesem Kodex verhaftet, soll es schon Menschen gegeben haben, die bei minus 20 Grad so lange neben einem von ihnen angefahrenen Fahrzeug in Erwartung der Rückkunft seines Besitzers verharrten, bis bei ihnen der Erfrierungstod eingetreten war. Denn Lack ist Lack! Und Lack darf keinesfalls angekratzt sein. Der unangekratzte Lack ist das, was die Gesellschaft zusammenhält.

Boberg würde sich in einer der nächsten Zeitungsausgaben doppelt erwähnt finden. Namentlich als mutiger Bürger, Demokrat in Verteidigung der Demokratie und ihrer Werte gegen braune Horden, vielleicht sogar als Anwärter auf eine bürgerliche Verdienstmedaille, um sich diese an die Brust zu heften ... und auch in minderwertigster Gesellschaft, als anonymer Fahrerflüchtiger im Polizeibericht, dieser Auflistung von ansonsten Alkoholmissbrauch, Schlägerei, Körperverletzung, Kaufhausdiebstahl, versuchter Brandstiftung und Erregung öffentlichen Ärgernisses.

Boberg winkte ab, als der andere seine Dienstmarke ziehen wollte. Ich nehme an, sagte er, Sie sind von der Polizei.

Der andere hatte nichts dagegen, erkannt worden zu sein, und steckte seine Marke weg. Er stand, seiner Identität sicher, gefestigt und gedrungen vor Bobergs Tür. Sie sind Herr Boberg, sagte er. Dr. Rüdiger Boberg?

Boberg nickte und deutete zur Bestätigung dessen auf sein Türschild, was allerdings nichts beweist. Nichts ist austauschbarer als ein Türschild, das ja ohne jede Beglaubigung ist.

Der Polizist schien einen Schritt auf Boberg zugehen zu wollen. Oder war es nur eine Körperneigung?

Sie kommen wegen des Überfalls auf den Türkenimbiss?, sagte Boberg. Oder gibt es andere Gründe?

Andere Gründe, sagte der Mann, leider. Darf ich hereinkommen?

Boberg zögerte. Er hätte den Polizisten gern an der Tür abgefertigt gehabt. Dem Polizisten Eintritt zu lassen, brachte die Motorradtour in Gefahr. Im Herbst sind die Tage nicht lang. Und mit der Harley nur durch Würzburg spazieren zu fahren, von einer Straße in die andere, mit vielleicht dem Ziel, von jemandem oder irgendeiner auf der Maschine erkannt zu werden ... dieser Aufwand lohnte sich nicht. Man fährt ja mit heruntergeklapptem Visier. Also ...

Bitte, sagte Boberg mit knapper, notgedrungen einladender Handbewegung. Er hatte jetzt einen Begleiter, den er ins Wohnzimmer führte. Seinen Bikerausflug, diese letzte Ausfahrt in den Herbst, den konnte er jetzt vergessen.

Und wieder dieses Berufstypische! ... der schnelle und photographische Blick in Wahrnehmung von Bobergs Wohnverhältnissen, in der Ab- oder Einschätzung von Einkommen, Bildung, Beruf, Familienstand und häuslichen Umständen ... Wohnungsgröße, Mobiliar, Ordnung, Sauberkeit, kulturellen und anderen Accessoires. Langer, durchaus interessierter, ja nachdenklicher Blick auf Edvard Munchs Brückenbild DER SCHREI, ein Plakat, eine Reproduktion, die er und Kristina sich nach ihrem Norwegenurlaub in der Galerie der Stadt Stuttgart, Große Stuttgarter deutsche Munch-Ausstellung, gekauft hatten.

Sie kommen sicher nicht, um sich meine Wohnung anzusehen, sagte Boberg gereizt.

Nein, leider nicht. Es geht um Ihre Frau, Kristina Schöner.

Meine Ex-Frau, sagte Boberg schnell. Das ist meine Ex-Frau. Wir sind geschieden.

Haben Sie Kinder?, fragte der Mann.

Nein, keine Kinder. Wir haben uns scheiden lassen, bevor das in Frage kam.

Das erleichtert mir, sagte der Polizist, was ich Ihnen zu sagen habe.

Und das wäre?, sagte Boberg.

Wir nehmen an, sagte der Polizist, seinen Blick immer noch auf Munchs Bild gerichtet, wir nehmen an, aber die gerichtsmedizinischen Untersuchungen stehen noch aus, dass Ihre Frau ... Ihre Exfrau ... bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist.

Oh, sagte Boberg, und weil ihm dieses Oh so dürftig, so unangemessen vorkam, sagte er: Das tut mir Leid, gerade so, als hätte er diesem Polizisten sein Beileid auszusprechen gehabt.

Der Polizist nahm das ungerührt hin und schwieg.

Aber weil es sich in solcher Situation nicht schweigen lässt, sagte Boberg: Sind Sie sicher, dass es sich um meine ... meine Frau handelt? Wieder das Falsche ... das Kalte gesagt!

Alles spricht dafür, wenn auch letzte Zweifel noch auszuräumen sind, sagte der Polizist. Wir gehen davon aus, dass es kein blinder Unfall war. Der Unfall, so jedenfalls stellt es sich uns dar, scheint gewollt gewesen zu sein. Wir nehmen an, sagte der Polizist und fixierte Boberg auf Augenhöhe, dass ihre Frau ... Exfrau ... Opfer und Täterin in Einem war.

Wie das?

Eine Geisterfahrt, sagte der Polizist. Sie fuhr, sagte der Polizist, auf die Gegenspur der Autobahn auf. Es gab Fahrzeuge, die ihr noch ausweichen konnten. Dann aber hielt sie voll auf einen Lastzug zu. Das Auto Ihrer Frau wurde zermalmt, die Fahrerin eingeklemmt und ...es ging in Flammen auf. Insofern war eine sichere Identifizierung der Fahrerin an Ort und Stelle nicht möglich. Wir arbeiten daran.

Und da soll ich nun ...?

Nein! Das können wir voll und ganz der Gerichtsmedizin überlassen. Nein, nein! Sie würden ihre Frau ... ihre Ex-Frau auch nicht mehr erkennen. Es geht nur darum, Angehörige ausfindig zu machen, und da waren Sie, entschuldigen Sie, unsere erste Adresse.

Klar, sagte Boberg.

Sie waren immerhin mit ihr verheiratet, sagte der Polizist.

Ja, sagte Boberg, und, als sei er eine Erklärung schuldig, fünf Jahre.

Dass fünf Jahre keine Ewigkeit sind, schien auch der Polizist zu wissen. Und sonst? Hatte sie außer Ihnen niemanden? Vater ... Mutter ...?

Leider schon verstorben, sagte Boberg.

Geschwister...?

Eine Schwester, sagte Boberg. Eine Zwillingsschwester sogar.

Na dann, sagte der Polizist

Zweieiig, sagte Boberg.

Der Polizist tat so, als spielte das keine Rolle.

Wir haben allerdings den Kontakt zueinander verloren, aber ich weiß, sie wohnt oder wohnte in Baden-Baden. Sie heißt Franka ... Franka Schöner. Schöner war auch der Geburtsname meiner Frau.

Das haben wir schon ermittelt, sagte der Polizist.

Klar, sagte Boberg.

Wie wäre es, sagte der Polizist, wenn Sie die Übermittlung der schlechten Nachricht übernähmen. Sie stehen ... Sie standen der Schwester ihrer Frau doch immerhin näher als ich. Sie wissen vielleicht besser abzuschätzen ... die Worte besser zu treffen, die in einem solchen Fall zu sprechen sind. Meinen Sie nicht auch?

Boberg fühlte keinerlei Meinung. Aber, soviel war klar, dieser Auftrag, amtlich wie menschlich gesprochen, ließ sich nicht ablehnen. Hätte Boberg abgelehnt, hätte dies nur mit innerer Abgestumpftheit erklärt werden können, und der Polizist, in sein Revier zurückgekehrt, hätte geschildert, wen er da angetroffen hatte, einen Menschen, Mann namens Boberg, promoviert, Yuppie, Pseudodesignerwohnung, freilich völlig unbewohnbar ... abgebrüht, keine Regung der Anteilnahme, als habe ihm lediglich einer einen Kratzer ins Leben gefahren, mehr nicht, kein wirklicher Schaden! Ärgerlich nur, dass gewisse Umstände damit verbunden sind wie Leichenbürokratie, Schriftverkehr, Laufereien ...

Und Boberg nickte. Wenn ich die polizeiliche Arbeit damit entlasten kann, sagte er, werde ich meine Schwägerin zu erreichen versuchen.

Ich danke Ihnen, sagte der Polizist, Sie hören von uns, sobald wir letzte Gewissheit haben und die Leiche frei gegeben ist. Ich nehme an, das steht unmittelbar bevor.

Der Polizist sah offenbar seine Mission erfüllt und wandte sich zum Gehen. Dann zog er, als würde er gebremst, die Schulter hoch und kehrte, als sei er schon weit weg gewesen, wieder zurück. Er ließ seinen Blick noch einmal durch Bobergs Wohnung schweifen, deutete dann auf das Plakat und sagte. Munch. Der Kerl war genial. Der hat seiner Zeit ins Auge geschaut.

Der Schrei ... eine Frau ... welche Kreatur auch immer ... mit Augen, die nach außen kreisen, als hätte einer einen Stein in ihre Mitte geworfen und die Augenlider seien farblich explodiert.

Munch hatte wirklich was.

Als der Polizist gegangen war, hatte Boberg das Gefühl absoluter Unzulänglichkeit. Er war der Situation nicht gewachsen gewesen, in nichts. Er hatte sich idiotisch geäußert und zu keinem Gedanken gefunden, der einem Fremden, der eine solche Nachricht überbringen muss, mitteilbar gewesen wäre.

Dagegen die Klugheit des Polizisten. Er spricht, wo ihm die Worte fehlen, keine Dummheiten aus, sondern deutet auf ein Bild ... Munchs Schrei.

2

... Kristina vor den Schären Norwegens. Es gibt eine Fotografie von ihr, sie in Segeltuch gehüllt, hart im Wind, Haarsträhnen aus der Kapuze geblasen, wo sie sagt oder später behauptet hat, sie hätte gesagt: Hier möchte ich bleiben, hier möchte ich ein Haus.

... und Kristina in Berlin, Alexanderplatz, einem Bettler ein Geldstück zuwerfend. Aber neben den demütig aufgestellten Hut gezielt und auch daneben geworfen. Und vom Bettler danebengegriffen, so dass die Münze in den Rinnstein rollt und Kristina mit angespanntem Lächeln verfolgt, wie der Bettler ihrer Spende nachkriecht, um sie vor dem Abkippen in den Gulli noch abzufangen. Und Kristina sagt: Irgendetwas, sagte sie, muss er schon noch leisten. Umsonst kriegt er von mir nichts.

... und Kristina damals in Hamburg, als sie im Excelsior abgestiegen waren. Sie wollte Sankt Pauli erkunden, das Boberg schon kannte. Er war tagsüber für die Firma unterwegs gewesen, todmüde und eher aufs Excelsior geeicht, aber Kristina hatte ihn überstimmt. Wie aufregend! Ein Nachtspaziergang, nur ein kleiner Nachtspaziergang an den Huren und Freiern vorbei. Sie möchte sehen, wie sich dazwischen das menschliche Leben abspielt. Und sie fragt Boberg nach seiner Pufferfahrung. Na, sag schon ...

Boberg hätte jetzt auftrumpfen können, aber er war müde und entschied sich für die Wahrheit. Und, das spürte er sofort, Wahrheit kann oft dürftig sein. Nein, ihm habe zu Zeiten, als seine Phantasie danach stand, nicht der Mut gefehlt, sondern das Geld. Er habe seine sexuellen Bedürfnisse unentgeltlich zu befriedigen versucht. Freilich nicht immer erfolgreich, aber das lag an den Frauen. Von den Frauen, mit denen Boberg zu tun gehabt habe, habe es meist nichts umsonst gegeben. Geld ... oder Liebe! Das sei, behauptete Boberg, wie eine doppelläufige Flinte, die auf die Brust jedes Mannes gerichtet sei. Aber, wie gesagt, an Geld habe es ihm gefehlt ... an Liebe meist auch.

Du spinnst, sagte Kristina

Sie und Boberg gingen durch eine Landschaft aus blinkendem und zuckendem Licht, in dem sich Gesichter bewegten, als gingen sie wie bei Munch über Brücken. Kristinas Haut war eingetaucht in rotes, grünes und gelbes Emaille.

Kristina hatte darauf bestanden: Wir gehen jetzt da hinauf.

Und Boberg war mit ihr die Stiegen hinaufgestiegen in die erste Etage über mürbe getretene Treppenstufen. Boberg, der Techniker, sah die Gefahr, durchzubrechen und nahm Kristina, die hinter ihm ging, an der Hand. Er hatte das Zimmer im Voraus bezahlt für zwei Stunden, zahlbar an einer Art Durchreiche, in die er das Geld einem Nachtportier mit greisenhaft pockenarbigem Gesicht zugeschoben hatte im Austausch gegen einen Zimmerschlüssel.

Oben im Flur musste Boberg aufpassen, nicht zu stolpern, denn das Licht war gedimmt und der Bodenbelag aus abgewetztem Filz, ein räudiges Fell. Und Kristina hatte gesagt: Du wartest vor der Tür.

Boberg wartete vor der Tür, irgendwie der Öffentlichkeit ausgestellt. Er hörte aus den Nebenzimmern eindeutige Geräusche, bis ins Exstatische gesteigert. Er fand das in Ordnung. Jeder hat das Recht, einen Augenblick seines Lebens an nichts zu denken, weder an trübe Vergangenheiten noch an trübe Zukünfte. Der Geschlechtsverkehr ist meist das einzige Mittel, diese Dimensionen aus der erlebten Gegenwart zu verweisen.

Und dennoch hatte Boberg mit Prostitution keine Erfahrung. Er hätte sie haben können, zweifellos. In seinem Beruf, der ihn viel zum Reisen zwang, gehörten Damenhotelbesuche zur Gratifikation. Aber Boberg hatte diese Gratifikation nie in Anspruch genommen. Er pflegte tagsüber hart und konzentriert zu arbeiten und nachts zu schlafen. Oder zu liegen. In der Dunkelheit erschlossen sich ihm oft die kompliziertesten technischen Lösungen. Außerdem hatte Boberg das vage Gefühl, nicht die Prostituierte, die er in seinem Hotelzimmer empfangen würde, würde sein Opfer sein, sondern er das ihre.

Eine Nebentür ging auf. Eine junge Frau, die aussah wie Goyas nackte Maja, in ihrer Nacktheit stolz und kühn, belohnte Boberg mit einem strahlenden Blick. Der Freier, der ihr folgte, lächelte dumm und verlegen und suchte dadurch Bobergs Kumpanei. Jetzt, wo der Genuss so abrupt vorbei war, reute ihn sein Geld. Man sah ihm seine Beschämung an. Das bewies Boberg die Überlegenheit der Huren über ihre Freier. Sie sind ein von den Huren gekneteter Teig.

Der Freier verschwand und die nackte Maja winkte Boberg zu, wie einem nackter und charmanter nicht zugewunken werden kann. Doch als Boberg um Verständnis heischend abgewunken hatte, zerfiel ihr Gesicht in harte und gemeine Falten. Fuck yourself!

Dann hörte Boberg Kristina rufen. Auch die nackte Maja hatte diesen Ruf vernommen und verzog sich ins Nebenzimmer. Er griff zur Klinke und öffnete die Tür, die nicht, wie er angenommen hatte, nach innen, sondern nach außen aufging. Erst sah er Kristina nicht, dann sah er sie, wie er sie noch nie gesehen hatte. Kristina saß nackt auf dem Bett mit angewinkelt gespreizten Beinen. Das Licht im Zimmer war rot und blau gemischt. Man bewegte sich vom Roten ins Blaue und Kristinas Körper ging mit und sagte: Jetzt bin ich rot ... jetzt bin ich blau. Ihre nackten Schultern waren von Feuerflämmchen rötlich umflort, ihre kleinen Brüste lagen im Blau und warfen Schatten auf den ganzen Körper bis hinunter auf den steilen Einschnitt zwischen ihren Schenkeln.

Kristina sagte: Komm, mein Held, wie hättest du’s denn gerne? Auf was stehst du? Hier darfst du es sagen.

Aber Boberg hatte versagt. Vielleicht, weil er hinter der dünnen Trockenbauwand die nackte Maja wusste. Und jemandem, der so erfahren ist wie sie, dem kann man nichts vorspielen.

Boberg hatte die Aufforderung erhalten zu fordern. Ob er es spanisch will oder griechisch, französisch oder russisch. Er hätte auch gar nichts sagen müssen, da es hier nicht um Sprach-, sondern weit eher um Körperbeherrschung ging, um die plötzliche Beherrschung eines fremden Körpers, der bereit war, sich in dieser Situation selbst zu erkunden. Boberg hätte wortlos auf Kristina zugreifen können. Und Boberg waren solche Phantasien nicht fremd. Aber jetzt sollten sie losgelassen werden und ihr Gesicht zeigen, womöglich ihre Fratze. Und woher sollte Boberg wissen und die Sicherheit haben, was nach einer Stunde noch erlaubt und gewünscht ist. Vielleicht würde Kristina sich vorher schon verletzt und schreiend von ihm abwenden.

Und so war damals nichts zustande gekommen in diesem Stundenhotel, was nicht auch im Excelsior hätte vonstatten gegangen sein können. Boberg und Kristina waren nach diesem gescheiterten Versuch aus Blau und Rot herausgetreten in den trüben Flur mit seinem trüben Licht und dem räudigen Teppichboden, an dem schon Tausende von Freiersfüßen gekratzt hatten. Die Miete war schon bezahlt, man hätte sich, unter Hinterlassung des Zimmerschlüssel, an dem Portier vorbeischleichen können, ohne Mietpreller zu sein. Der aber schob seinen pockennarbigen Kopf durch das Fensterchen seiner Gelddurchreiche und sein Gesichtsausdruck zeigte, dass er trotz der Gleichgültigkeit, die sich abmalte in seiner Visage, alles zu wissen schien. Boberg fühlte sich wie ein Hochstapler, dem ein windiger und abgewrackter Portier auf die Schliche gekommen war.

Auch Kristina hatte ihre hochfliegende Stimmung verloren. Sie hatte nichts dagegen, direkt zum Excelsior zurückzukehren. Sie ging unter den Zurufen der Huren, die ihr und ihrer Haarfontäne galten, neben Boberg her, ohne seine Berührung und damit seinen Schutz zu suchen.

Boberg kannte nur einen einzigen Mann, der der Situation in dem Stundenhotel wie selbstverständlich gewachsen gewesen wäre, nämlich Breuer, Bobergs Freund Hartmut Breuer, der nach Brasilien ausgewandert war. Breuer wäre mit dieser Situation zurecht gekommen allein durch die Art der Neigung seines Kopfes, seines, wenn es sein musste, ins Melancholische gerückten Blicks oder sonstiger Körpersprache, dem plötzlichen Absenken seiner Schultern zum Beispiel. Breuer hatte diese Gabe, sich mit einer Geste, gewollt oder nicht, instinktiv eben, erotischen Situationen anzupassen, was ihm, Boberg, eher abging.

... und Kristina, im abgedunkelten Schlafzimmer liegend, in Tücher gewickelt wie eine Mumie. Verboten jede Bewegung, jedes laute Wort um sie herum. Lass mich in Ruhe ... lasst mich doch in Ruhe! Ihr glaubt mir ja sowieso nicht. Ihr nehmt es mir nicht ab! Aber es zerschlägt mir den Kopf ... ja, so ... so zerschlägt es mir den Kopf.

Kristina mit ihrer Migräne ... monatlich, wöchentlich.

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Boberg kannte gerichtsmedizinische Institute nur aus Kriminalfilmen. Sie befanden sich, wenn er den Filmen glauben sollte, warum auch nicht, immer in einem Tiefgeschoss oder Keller, etwa U3, in Richtung Unterwelt. Dort war eine eigene, technisch hochgerüstete, klinisch und metallisch saubere Welt im Kunstlicht, mit einer Wand aus Schubfächern, aus denen sich die dort eingelagerten Körper der Leichen ziehen ließen. Immer der gleiche Spannungshöhepunkt, wenn das Tuch von einem solchen Körper zurückgezogen und er in seiner ganzen Blutleere frei gelegt wird. Blutleere Brüste, blutleere Genitalien. Man darf sie zeigen, weil ihre erbärmlich anzuschauende Blutleere offenbar der Orientierung des Fernsehzuschauers und der gerichtsmedizinischen Wahrheitsfindung dient und nicht dem Voyeurismus des Publikums.

Die Gerichtsmediziner, auch die Gerichtsmedizinerinnen, sind versponnene Einzelgänger, was nicht nur in Fernsehfilmen logisch erscheint. Denn wer, wenn er im 9. Stockwerk eine Privatstation leiten dürfte, sozusagen an Licht und Luft und im Zentrum lebensrettender Operationen, wollte zu denen hinabsteigen, die in der Unterwelt leben, um sich an den Toten verdient zu machen.