Wo ist dieses Glück noch mal? - Gerda Stauner - E-Book

Wo ist dieses Glück noch mal? E-Book

Gerda Stauner

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Beschreibung

Als Enni in das Haus ihrer verstorbenen Großtante zieht, ahnt sie noch nicht, welche Überraschungen das Dorfleben für sie bereithält. Sie hat München verlassen, um in der Oberpfalz ihr Glück zu finden. Zu ihrem Erstaunen ist das gar nicht so einfach, zumal ihr Freund Alexander weiterhin das Großstadtleben genießt - ohne Enni. Ihr Sandkastenfreund Tobias würde ihr gerne näherkommen, doch das Gerücht um eine angebliche Affäre ihrer Großtante kommt Enni in die Quere. Das Leben auf dem Land ist ziemlich kompliziert. Oder doch nicht?

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Seitenzahl: 316

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Gerda Stauner

Wo ist dieses Glück noch mal?

Roman

Zum Buch

Dem Glück hinterherDie Grafikdesignerin Enni nutzt das unerwartete Erbe ihrer Großtante Monika, um München den Rücken zu kehren und in Waidmannsthal in der Oberpfalz neu anzufangen. Drei Jahre zuvor hatte sie, und nicht ihre Eltern, Monikas Haus geerbt. Nun möchte Enni die Stadt verlassen, um finanziell unabhängiger zu sein. Sie kündigt ihren festen Job, macht sich selbstständig und zieht in das geerbte Haus, wobei ihr Freund Alexander weiterhin in München lebt. Tobias, ein Freund aus Kindheitstagen, lenkt sie ab und sie fühlt sich schon bald zu ihm hingezogen. Doch von einer Affäre will dieser nichts wissen und aus den Gerüchten um ihre Großtante wird Enni auch nicht schlauer. Außerdem funktioniert die Fernbeziehung mit Alexander leider nicht so harmonisch wie geplant. Das Experiment Landleben droht zu scheitern, doch so schnell gibt Enni nicht auf.

Gerda Stauner lebt in Regensburg, ist aber auf dem Land aufgewachsen. Mittlerweile fährt sie regelmäßig zum Schreiben in ihre alte Heimat zurück und geht dort oft im Wald spazieren. Dabei entstehen die Figuren und Handlungen ihrer Geschichten. Literarisch widmete sie ihrer Heimat bereits eine dreibändige Familiensaga. Die Autorin schreibt Romane, Hörspiele und Theaterstücke und hostet einen Podcast. Gerda Stauner wurde für ihr literarisches Schaffen mit dem Regensburger Kulturförderpreis ausgezeichnet und war für ihre Arbeit mit Kindern in der Leseförderung für den Deutschen Engagement Preis nominiert.

Impressum

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © DoraZett / stock.adobe.com

ISBN 978-3-7349-3160-4

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

November

Die Wohnung sieht aus, als würden sie sich trennen. Enni hat ihre Habseligkeiten feinsäuberlich in Umzugskartons gepackt, hat ihre Hosen, Kleider, Pullover und ihre Wäsche in den beiden großen Koffern verstaut und ihre Lieblingstassen und -schalen aus dem Küchenregal genommen, in altes Zeitungspapier eingeschlagen und in einen Karton gelegt. Die restlichen Küchenutensilien bleiben in der Wohnung, die Alexander weiterhin unter der Woche bewohnen wird. Für die beiden leer stehenden Zimmer hat er zwei Untermieter gefunden, einen jungen Mann aus Indien, der in der Softwarebranche arbeitet und nebenher studiert, und eine Studentin aus Irland. Die Möbel wurden bereits gestern von einer Umzugsfirma abgeholt und nach Waidmannsthal gebracht.

Obwohl Enni weiß, dass es keine wirkliche Trennung ist, fällt es ihr dennoch schwer aufzustehen, die Kartons und Koffer zum Leihauto zu bringen, die Tür hinter sich zu schließen und loszufahren. Vor fünf Jahren, kurz nach ihrem 30. Geburtstag, ist sie hier eingezogen und hat sich von Anfang an sehr wohlgefühlt. Die ersten Jahre hatte sie noch zwei Mitbewohnerinnen, die aber beide auszogen sind, kurz nachdem sie Alexander kennengelernt hatte. Und da dieser gerade auf Wohnungssuche war, zog er vor anderthalb Jahren kurz entschlossen ein. So ist aus der WG eine Paarwohnung geworden. Und jetzt ändert sich wieder alles. Schon irgendwie verrückt, denkt Enni und schüttelt den Kopf.

Für sie beginnt ein neuer Lebensabschnitt, und der Blick auf die Uhr vertreibt das Gefühl, eine Brücke hinter sich abzubrechen. In drei Stunden wird es dunkel sein, und sie möchte noch vor Anbruch der Dämmerung im Haus ankommen.

Vielleicht hätte sie auf Alexanders Vorschlag eingehen und gemeinsam mit ihm am Wochenende nach Waidmannsthal fahren sollen. Doch Enni kann es kaum erwarten, ihr neues Leben in dem kleinen Dorf zu beginnen, sodass sie abgewunken hat. Alexander wird in drei Tagen nachkommen, und bis dahin möchte sie das Haus so gemütlich wie möglich herrichten. Ein halbes Jahr lang hat sie darauf hingearbeitet, die Stadt endlich hinter sich zu lassen. Nun ist es so weit.

München ist im Herbst, wie wahrscheinlich jede andere Großstadt auch, eine trostlose Angelegenheit. Sobald sich die letzten sonnigen Spätsommertage verabschieden, übernimmt der graue Alltag die Regie. Der wiederkehrende Regen wäscht die letzten bunten Blätter von den Bäumen und übersät damit die Radwege. Enni muss dann immer höllisch aufpassen, dass sie bei einem unerwarteten Bremsmanöver nicht stürzt. Obwohl es ihr eigentlich etwas peinlich ist, setzt sie seit einigen Jahren im Herbst einen Fahrradhelm auf, was sie schon mehrmals bei einem Sturz vor einer Gehirnerschütterung bewahrte.

Nachdem sie sich endlich in Bewegung gesetzt hat, fällt es ihr nicht mehr schwer, das Auto zu beladen. Als alle Kisten und Koffer verstaut sind, geht sie noch einmal in die Wohnung, um einen letzten Blick darauf zu werfen. Bevor sie dann endgültig die Tür hinter sich zuzieht, prüft sie ihr Erscheinungsbild im Spiegel neben der Garderobe. Der dunkle Pony lugt unter ihrer Mütze hervor, und tiefblaue Augen strahlen sie an. Ennis Wangen leuchten heute ganz von selbst und ohne dass sie Rouge aufgelegt hätte. Ihr Gesicht hat immer noch eine sommerliche Bräune, und ihre ausdrucksstarken Augenbrauen hat sie gestern extra noch in Form gebracht. Ihre Nase ist für ihren Geschmack etwas zu schmal, aber Alexander liebt es, mit seinem Zeigefinger über deren Rücken zu fahren und am Ende die Nasenspitze anzustupsen. Der helle Wollmantel wirkt sehr elegant, und sie ist sich nicht sicher, ob diese Art von Outfit für das Landleben geeignet ist. Ihre schwarzen Lederstiefel haben zumindest ein sehr dickes Profil, und man kann mit ihnen auch auf matschigen Wegen laufen.

Enni ist ein wenig nervös, weil sie den Stadtverkehr hasst. Noch dazu, wenn sie diesen am Steuer eines Autos bezwingen muss. Zum Glück kommt sie frühzeitig los und läuft nicht Gefahr, in den Feierabendverkehr zu geraten. Vorsichtshalber gibt sie den Zielort in das Navi ein, klemmt das Handy dann an die dafür vorgesehene Halterung am Armaturenbrett und startet den Wagen. Wenigstens muss sie nicht mit einem Kleintransporter durch die Stadt kurven. Die Umzugskartons und Koffer passen in einen Mittelklassewagen. Alexander wird das Auto am Sonntag wieder zurück nach München fahren und beim Verleiher abgeben.

Beim Ausparken übersieht Enni beinahe einen Fahrradfahrer in dunkler Regenkleidung, der ohne Licht fährt. Sie bremst scharf, der Motor stirbt ab, und der Fahrradfahrer zeigt ihr den Mittelfinger.

»Idiot«, murmelt sie, streicht nervös ihren schwarzen Pony glatt und startet das Auto erneut. Dann vergewissert sie sich, dass die Straße frei ist, und fährt endlich los.

Zehn Minuten lang kurvt sie durch ihr Viertel, dann erreicht sie den Mittleren Ring und nimmt bald darauf die A9 in Richtung Norden. Nun, da sie den Stadtverkehr hinter sich hat, entspannt sie sich ein wenig. Die vor ihr liegende Strecke ist sie als Kind schon oft mit ihren Eltern gefahren, und die Namen der Ortschaften, die auf den blauen Tafeln an den Autobahnausfahrten stehen, sind ihr immer noch vertraut.

Mit ihrem Vater wetteiferte sie damals darum, wer schneller wusste, welches Dorf oder welche Stadt auf dem nächsten Schild geschrieben stand. Garching, Eching, Allershausen, das war einfach gewesen. Doch ab der Holledau mussten sie auf die A93 abfahren, und dort wurde es dann schon schwieriger. Wolnzach, Elsendorf, Siegenburg und dann kam Regensburg, und sie überquerten die Donau. Auch Enni ist nun an dieser Stelle angekommen, und wenige Ausfahrten später verlässt sie die Autobahn. Ab hier ist es nur noch ein Katzensprung nach Waidmannsthal.

Als Kind hat Enni ihre Ferien oft bei ihrer Großtante Monika in dem kleinen Dorf verbracht. Anders als in München unterlag das Leben auf dem Land keinem durchgetakteten Zeitplan. Morgens klingelte kein Wecker, sondern die durchs Fenster fallenden Sonnenstrahlen und das Krähen eines Hahns ließen die kleine Enni wach werden. Anstelle eines schnellen Frühstücks in der engen Küche der Münchner Wohnung ging sie bei Monika mit ihrem Kakao nach draußen und begrüßte die Schmetterlinge und Bienen, die auf der Wiese hinterm Haus umherschwirrten. Mittags holte sie nicht der 12-Uhr-Glockenschlag an den Esstisch, sondern der Hunger war bei der Großtante der Gradmesser dafür, wann gegessen wurde. Die Nachmittage verbrachte das Mädchen meist lesend oder schaute gelegentlich das Ferienprogramm im Fernsehen, anstelle an ihrem Schreibtisch Hausaufgaben zu machen. Und abends trieb sie nicht ihre Mutter ins Bett, sondern die Müdigkeit. Ihre Großtante ließ sie einfach Kind sein und versuchte nicht, sie in ein enges Korsett aus Pflichten und Regeln zu stecken. Es war eine Mischung aus Respekt vor den Wünschen eines kleinen Mädchens und Vertrauen darauf, dass die kleine Enni genau wissen würde, wo ihre Grenzen lagen, die Monikas Handeln damals geleitet haben.

Mit ihrem Heranwachsen waren die Besuche auf dem Dorf immer seltener geworden, und nach einem Streit der Eltern mit Monika brach der Kontakt komplett ab. Dann verstarb ihre Großtante ganz unerwartet, und kurz darauf kamen Ennis Eltern ums Leben, und nun hat sie gar keine Verwandten mehr. Ohne Alexander würde sie sich sehr alleine fühlen. Aber die Familie ihres Freundes hat sie vom ersten Moment an herzlich aufgenommen, und Enni ist sehr glücklich darüber. Nur die strikte Weigerung von Alexanders Eltern und seiner Schwester Paula, ihn Alex zu nennen, irritierte sie anfangs etwas. Mittlerweile ist sie selbst dazu übergegangen, ihren Freund bei seinem vollen Namen zu nennen, weil ihr die Abkürzung ebenfalls nicht mehr passend erscheint.

Das Klingeln ihres Handys reißt Enni aus ihren Gedanken. Es dauert einen Moment, bis sie es schafft, das Gespräch über die Freisprechanlage anzunehmen.

»Hallo?«, fragt sie daher gehetzt.

»Mein Herz«, wird sie von ihrem Freund begrüßt. »Alles in Ordnung bei dir? Du klingst etwas gereizt.«

»Hallo, Alexander. Sorry, das Leihauto ist noch ungewohnt für mich, und ich musste erst mal checken, wie die Freisprechanlage funktioniert …«

»Ich hatte dir ja angeboten, mit dir zusammen am Wochenende nach Waidmannsthal zu fahren«, unterbricht er sie. »Aber du wolltest ja unbedingt heute schon los.«

»Mach dir keine Sorgen«, beschwichtigt sie ihn. »Ich krieg’ das hin.«

»Bist du schon da?«

»Fast. Ich bin gut durchgekommen und werde gleich das Dorf erreichen.«

»Okay, das ist super«, freut er sich. »Ich muss jetzt leider zu einem Termin. Wir telefonieren später noch mal. Mach’s gut, mein Herz!«

»Du auch«, erwidert Enni und legt auf.

Seit knapp zwei Jahren sind sie und Alexander nun das perfekte Paar. Beide sind sportlich, dunkelhaarig und haben blaue Augen. Da ihr Freund einen halben Kopf größer ist als Enni, fühlt sie sich bei seinen Umarmungen sehr geborgen und lehnt sich gerne an seine Schulter. Auch ihre berufliche Karriere in der Werbebranche haben beide bisher immer zielstrebig verfolgt. Alexander arbeitet für ein großes Marketingunternehmen und ist für die strategische Planung zuständig. Enni ist Grafikerin und hat sich vor wenigen Monaten selbstständig gemacht, was ihr Alexander anfangs auszureden versuchte. Doch mittlerweile hat er sich mit diesem neuen Konzept angefreundet, zumal Enni dadurch räumlich flexibler wurde.

Enni fährt den letzten Hügel hinunter, passiert einen verlassenen Einödhof, der etwas versteckt liegt und von dornigem Gestrüpp eingewachsen ist, und durchquert dann ein Waldstück. Kurz darauf öffnet sich vor ihr ein kleines Tal, und die letzten Sonnenstrahlen fallen von Westen her auf das kleine Dorf, dessen Häuser sich einen imaginären Flusslauf entlang reihen. Wahrscheinlich hat die Eiszeit dieses Tal vor langer Zeit geformt, und Menschen haben nach und nach dem umliegenden Wald die Fläche abgetrotzt, um dort Häuser zu bauen und Felder anzulegen, vermutet Enni. Ringsum ist der Ort jedenfalls von dichten Wäldern umgeben, und die Wipfel wiegen sich nun ganz sacht im Wind.

In Waidmannsthal gibt es 17 Straßen, ein Feuerwehrhaus, eine Kirche, neben der die 100-jährige Dorflinde steht, und das alte Schulhaus, in dem aber keine Kinder mehr unterrichtet werden und stattdessen sechs Wohnungen untergebracht sind. Dort leben zumeist alleinstehende Soldaten der US Army, die es sich leisten können, außerhalb des ans Dorf angrenzenden Truppenübungsplatzes zu wohnen. Angehörige der Army, die ihre Familien und Kinder mit nach Deutschland gebracht haben, leben etwas abseits des Ortes in einer extra für die Gäste aus Übersee errichteten Siedlung, und Enni staunte nicht schlecht, als sie diese letzten Sommer zufällig entdeckte. Vor den Häusern, die sich an der Straße aneinanderreihten wie gleichförmige Perlen an einer Kette, parkten dicke SUVs und andere, aufgeblasene Autos, die man in einem kleinen Dorf nicht vermuten würde. Enni fühlte sich damals ein bisschen wie in der Kulisse der Wisteria Lane aus der Serie Desperate Housewives.

Um den alten Dorfkern herum sind in den letzten Jahrzehnten einige Siedlungen entstanden, die sich links und rechts vom Tal in die hügelige Landschaft erstrecken. Viele der neueren Häuser haben keinen Keller, weil der Boden undurchlässig und felsig ist und jeder Meter in die Tiefe harte, schweißtreibende Arbeit bedeutet und der Natur nur mit viel Mühe abgerungen werden kann. Vermutlich gibt es deshalb auch verhältnismäßig viele Hochbeete in den Gärten der Dorfbewohner, da es leichter ist, das Gemüse dort zu kultivieren.

Der letzte Tante-Emma-Laden hat vor über zwei Jahrzehnten zugesperrt, Jahre vorher haben schon die zwei Wirte aufgegeben und ihre Lokale dichtgemacht. Wichtige Besprechungen werden im Feuerwehrhaus abgehalten, dessen Mannschaftsraum locker für die immer weniger werdenden Interessierten ausreicht, die sich für die Dorfbelange einsetzen. Es gibt zwei aktive Vereine im Ort, den Obst- und Gartenbauverein und die Freiwillige Feuerwehr. Die Mitgliederzahlen bleiben erstaunlicherweise konstant, auch wenn sich immer weniger Dorfbewohner bei den Sitzungen blicken lassen.

Als die junge Frau von der Hauptstraße abbiegt, strahlt ihr das kleine Häuschen, ihr neues Zuhause, schon entgegen. Sie muss unweigerlich an ihre Großtante und die unbeschwerten Ferientage ihrer Kindheit denken, die sie hier zusammen verbracht haben. Damals war das Dorf für sie wie ein großer Abenteuerspielplatz, und Enni spürte, dass sie überall sicher war. Jeder im Dorf wusste, dass sie zu Monika gehörte, und hatte ein Auge auf sie. Im Dorf schaute jeder auf jeden. Das war damals so üblich. Und dennoch war Monika nicht Teil dieser natürlichen Gemeinschaft. Sie wurde geachtet und respektiert, stand jedoch immer ein wenig außerhalb.

Enni dachte damals, dass es vielleicht am Dialekt lag. Monika redete meist hochdeutsch, konnte sich aber auch jederzeit ihrem Gegenüber anpassen und bairisch sprechen. Sie war eine beliebte Lehrerin gewesen, und es kam häufig vor, dass ihr Kinder selbst gepflückte Blumen oder ein Stück Kuchen vorbeibrachten. Enni wurde dann etwas neidisch, weil sie zum einen selbst gerne eine solche Lehrerin gehabt hätte und zum anderen die Aufmerksamkeit ihrer Großtante nicht teilen wollte. Doch Monika schaffte es immer, allen ein gutes Gefühl zu geben. Sie lud die Kinder einfach in den Garten ein, und zusammen spielten sie dann UNO oder ein anderes Kartenspiel, bis es Abend wurde und die kleinen Besucher nach Hause mussten.

Enni fährt in die Seitenstraße ein und stellt kurz darauf den Motor ab. Das Erste, was ihr auffällt, als sie die Autotür öffnet, ist die absolute Stille, die sie umgibt. Doch bei genauerem Hinhören nimmt sie das Rauschen der nahen Bäume wahr. Hat sie dieses Geräusch jemals in München gehört?

Sie lädt zuerst die beiden Koffer aus und geht zum Briefkasten, der etwas windschief gleich neben der Straße steht. Als sie sich bückt, um nachzusehen, ob Post gekommen ist, fallen ihr die dunklen Haare ins Gesicht, und sie überlegt, wo sie die Haargummis verstaut hat.

Das Häuschen ihrer Großtante, das nun ihres geworden ist, erstrahlt nach dem neuen Anstrich weißer als wahrscheinlich je zuvor. Enni muss an die Persil-Werbung aus ihrer Kindheit denken, als sie nun darauf zugeht. Vielleicht hätte sie doch einen anderen Ton wählen sollen? Zumindest ist sie mit der Farbe der Fenstereinfassungen zufrieden. Der Maler hat exakt den Ton der Haustür getroffen, die in einem neutralen Anthrazit gehalten ist.

Sie stellt die beiden Koffer auf dem rohen Beton vor dem Eingang ab und sucht in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Überall um sie herum liegen Blätter der alten Linde, die direkt vor dem Haus, aber auf Gemeindegrund steht. Die Großtante hat im Herbst immer einen großen Haufen aus den heruntergefallenen Blättern gemacht, in den Enni voller Freude gehüpft war. Auf sie wirkt der gewaltige Nachbar nun wie ein Wächter, der sich beschützend an der Zufahrt postiert hat, um ungebetene Gäste abzuwehren. Der Baum ist eine schöne Erinnerung an Monika und die gute Zeit, die Enni hier in den Ferien verbrachte. Jetzt, im November, hat die Linde ihr Blätterkleid fast verloren, und ihr Anblick ist nicht ganz so majestätisch wie im Frühjahr oder Sommer, doch wie immer wärmt ihr Anblick Ennis Herz.

Die Haustür ist zweimal abgesperrt, und Enni muss sich mit der Schulter kräftig dagegenstemmen, damit sie aufgeht. Der Monteur hat beim Einbau etwas von einem einbruchsicheren Mechanismus erwähnt und von Magneten, die die Tür automatisch ins Schloss ziehen. Enni dachte damals, dass eine einfachere Ausführung auch reichen würde, denn was gab es bei ihr und Alexander schon zu holen?

Dann endlich ist sie in ihrem neuen Heim angekommen. Sie stellt die beiden Koffer im Flur ab, geht in die Küche und blickt aus dem Fenster. Die Sonne ist gerade dabei, hinter dem Waldstück im Westen zu verschwinden, und lässt die ganze Umgebung in einem warmen Abendrot erstrahlen. Ihr wird klar, dass sie diesen Blick schmerzlich vermisst und sich gleichzeitig sehr darauf gefreut hat.

Enni setzt Wasser auf, holt die vom Umbau verbeulte Dose mit Kaffeepulver aus dem Küchenschrank und gibt drei Löffel davon in die French Press, die sie schon während der ganzen Renovierungszeit zuverlässig mit Kaffee versorgt hat. Nach wenigen Minuten gießt sie das kochende Wasser in die Kanne, drückt dann den Filter nach unten und nimmt die alte Kaffeetasse ihrer Großtante vom Regal. Sie gießt das dampfende Getränk ein, legt ihre kalten Finger um den Becher und geht wieder zurück zum Fenster. Die Sonne ist gerade im Begriff, hinter einem Hügel zu verschwinden, und für Enni gibt es in diesem Augenblick nichts anderes als die warme Tasse in ihren Händen, den Geruch von Kaffee in ihrer Nase und die flammenden Farben vor ihrem Fenster. Als die Sonne ganz verschwunden ist und Enni mit ihren Gedanken wieder zurück bei der Liste an Dingen, die sie heute noch erledigen will, spürt sie, wie kalt ihr ist.

Bei der Renovierung des Häuschens haben Alexander und sie sich für eine neue Heizungsanlage entschieden, die praktischerweise mit dem Internet verbunden ist und über das Handy gesteuert werden kann. Sie hätten nun ein Smarthome, hatte ihr Freund gewitzelt, als sie beide die Heizungs-App auf ihren Handys installierten. Nun holt sie ihr Telefon aus der Tasche und gibt den entsprechenden Befehl ein, um den Brenner einzuschalten und das Haus zu heizen. Das hätte ich auch schon vor meiner Abfahrt von München aus erledigen können, denkt sie. Dann wäre es jetzt schön warm, und ich müsste nicht frieren.

Sie sucht in ihrer Handtasche nach einem Haargummi, um endlich die störenden Haare aus dem Weg zu haben, findet aber nur ein runzeliges Gummiband, das für den Augenblick reichen muss.

Nachdem alle Kartons und ihre beiden Koffer auf die richtigen Zimmer verteilt sind, überprüft Enni, ob alle Möbelstücke angekommen sind. Das Bett, Kissen und Decken sind wie gewünscht im Schlafzimmer unter dem Dach. Es fehlt nur noch die Bettwäsche, die in einer Kiste daneben darauf wartet, ausgepackt zu werden, dann könnte sie sich hineinkuscheln. Aber noch hat sie einiges zu tun, bis sie in einen hoffentlich wohligen Schlummer sinken und die erste Nacht in ihrem eigenen Haus verbringen darf.

Neben dem Bett, an der Wand zum Badezimmer, steht der Holzschrank, der den Transport aber nicht so gut überstanden und an einem Seitenteil eine dicke Schramme hat. Enni ärgert sich ein wenig und fügt der Liste an Dingen, die sie in den nächsten Tagen erledigen muss, einen Anruf bei der Umzugsfirma hinzu. Sie macht mit dem Handy ein Foto des Schadens und geht in den angrenzenden Wohnbereich. Dort haben sie die Holzdecke herausnehmen und das Zimmer bis zu den Dachbalken öffnen lassen. Das Raumgefühl ist herrlich. Die dadurch gewonnene Höhe lässt das Zimmer luftig und leicht wirken, und die dicken, grob gezimmerten Balken vermitteln gleichzeitig Wärme und Geborgenheit.

Sie muss plötzlich daran denken, wie sie sich früher immer mit Tobias im Dachboden versteckt hat. Der Junge war der einzige ihrer Spielkameraden aus dem Dorf, der sie nicht auslachte, weil sie hochdeutsch sprach. Was ist wohl aus ihm geworden? Während der Renovierung ist er ihr jedenfalls nicht über den Weg gelaufen, und Enni vermutet, dass er weggezogen ist.

Da fällt ihr ein, dass sie im Haus noch fast keine Deckenlampen installiert haben und es draußen schon so gut wie dunkel ist. Nur im Bad und in der Küche gibt es bereits Lampen. Sie blickt sich im Wohnzimmer um und findet die Stehlampe, die sie aus München mitgebracht hat. Für heute Abend muss diese als Lichtquelle im ersten Stock reichen. Enni stellt die chromfarbene Leuchte mit den beiden verstellbaren Milchglaseinsätzen mitten ins Zimmer und sucht nach einer passenden Steckdose. Dann rutscht sie die Lampe näher an die Wand, damit sie später nicht über das Kabel stolpert, und schaltet sie ein. Zusätzlich öffnet sie noch die Tür zum Bad und schaltet dort ebenfalls das Licht an, damit es heller wird.

Der viereckige Holztisch und die gepolsterten Stühle stehen schon fast an ihrem richtigen Platz, Enni rückt sie nur um wenige Zentimeter von der Dachschräge weg, damit man sich nicht den Kopf anschlägt, wenn man aufsteht. Das Bücherregal ist genau richtig platziert, und gleich daneben warten die vier Kisten mit Büchern darauf ausgepackt zu werden. Doch das hat noch Zeit. Im Großen und Ganzen ist Enni zufrieden und froh darüber, dass sie einen Plan gemacht und alles genau für die Umzugsfirma eingezeichnet hatte. Das erspart ihr nun die Mühe, sich mit falsch abgestellten Möbeln herumplagen zu müssen.

Gerade als sie nach unten gehen und nachsehen will, was sie heute Abend essen könnte, klingelt es an der Haustür. Enni schreckt zusammen. Das Geräusch ist noch ungewohnt für sie. Alexander hat darauf bestanden, einen neuen Türöffner mit Sprechanlagen einbauen zu lassen, damit er nicht immer nach unten laufen muss, wenn jemand klingelte. Der neue Klingelton hört sich anonym und fremd an, und Enni vermisst das durchdringende Geräusch der alten Glocke. Sie überlegt kurz, ob sie zur Sprechanlage gehen soll, entscheidet sich aber dagegen. Den ersten Besuch im Haus möchte Enni lieber selbst an der Haustür begrüßen.

Auf dem Weg nach unten stellt sie erleichtert fest, dass es langsam wärmer wird. Die Heizung funktioniert also, und da das Haus nicht allzu groß ist, wird es sicher bald richtig kuschelig sein. Im Erdgeschoss gibt es außer der Küche, deren Einrichtung sie von der Großtante übernommen haben, noch ein kleines Arbeitszimmer und ein Gästezimmer. Ein kurzer Blick in diese beiden Räume hat Enni bereits gezeigt, dass auch dort die Möbel richtig verteilt wurden, und einige Kisten darauf warten, ausgepackt zu werden. Im Keller gibt es einen Heizungsraum, einen Abstellraum und die frühere Waschküche. Dort würde Enni gerne eine Sauna einbauen lassen, doch Alexander ist strikt dagegen, da dies energietechnisch eine Katastrophe wäre und sie im Moment dafür kein Geld übrighaben. Grundsätzlich gibt sie ihm recht. Aber da sie ansonsten sehr darauf achtet, ihren ökologischen Fußabdruck so klein wie möglich zu halten, würde sie hier gerne eine Ausnahme machen. Es geht um ihr persönliches Wohlergehen, und gedanklich sammelt sie bereits Argumente, wie sie ihr Vorhaben doch noch durchsetzen kann, sobald es auf dem Konto wieder besser aussieht.

Als Enni am Eingang angekommen ist, möchte sie die Tür schwungvoll öffnen und ihren ersten Besuch, wer auch immer es sein mag, freudig begrüßen. Doch schon wieder ist ihr der Magnet im Weg, und sie muss fest am Griff ziehen, damit sie aufmachen kann. Fast wäre ihr bei der Aktion die Tür aus der Hand gefallen und gegen die Wand geknallt, doch im letzten Moment kann Enni sie gerade noch festhalten. Zu ihrer Liste an Dingen, die sie unbedingt erledigen muss, fügt sie noch einen Baumarktbesuch hinzu, wo sie einen Türstopper besorgen will.

»Hoppla, das wäre beinahe schiefgegangen«, hört sie einen Mann mit leicht eingesunkenen Schultern sagen, dessen Umrisse sie dank der Straßenlaterne sehen kann, die ihn von schräg hinten anleuchtet. Aber da es am Haus noch keine Außenbeleuchtung gibt, liegt sein Gesicht im Schatten. Die Stimme kommt Enni zwar bekannt vor, sie kann sie im Augenblick aber nicht einordnen.

»Äh, ja«, stammelt sie und überlegt fieberhaft, wer da so unvermutet vor ihrer Tür stehen könnte. Während der Renovierung haben Alexander und sie ab und zu mit den Nachbarn gesprochen, die gerade in einem der angrenzenden Gärten zu tun hatten oder auf der Straße vorbeigekommen sind. Offiziell vorgestellt hat sich bei diesen Gelegenheiten niemand, sie haben nur ein wenig geplaudert. Enni hat sich vorgenommen, das zu ändern und während der nächsten Tage eine Begrüßungsrunde durch die Nachbarschaft zu machen, auch wenn ihr Gefühl sagt, dass das hier eigentlich nicht üblich ist.

»Ich habe gesehen, dass in der Küche Licht brennt und wollte fragen, ob ihr etwas braucht«, kommt es nun zurück. Keine Begrüßung, kein Hallo.

Enni hat sich wieder gefasst, streckt die Hand aus, um den Mann förmlich zu begrüßen und stellt sich vor: »Ich heiße Enni und bin heute eingezogen. Alexander, mein Freund, kommt am Wochenende nach.«

»Weiß ich schon. Ich bin Paul von nebenan. Wir haben uns bereits kennengelernt«, antwortet der Mann, drückt beim Händeschütteln fest zu und tritt dann näher an die Haustür heran. Das wenige Licht, das von der Küche in den Flur fällt, reicht aus, und Enni erkennt nun ihren Nachbarn wieder, mit dem sie im Sommer ab und zu von Garten zu Garten gesprochen hat. Er ist schon im Ruhestand, daran kann sie sich wieder erinnern. Mit seinen grauen Haaren und den Pantoffeln an den Füßen wäre es aber auch so leicht zu erraten.

»Hallo, Paul. Möchtest du reinkommen und dich umsehen?«, bietet sie freundlich an.

Pauls Blick fällt auf die fehlende Lampe im Flur, und er meint, er würde schnell Werkzeug holen und ihr dann helfen, einige Leuchten im Haus aufzuhängen, wenn sie dies möchte. Enni nickt nur, und schon ist der alte Mann auch wieder verschwunden. Unschlüssig bleibt sie einen Augenblick in der offenen Tür stehen, doch dann wird ihr kalt, sie lässt nur einen kleinen Spalt für Paul offen und geht in die Küche. Dort setzt sie Wasser auf, um Tee zu machen. Zwar steigt die Temperatur langsam, aber ihr ist immer noch ein wenig kalt.

Dann sucht sie in den Kisten im Arbeitszimmer nach einer Lampe, die in den Flur passen könnte, und geht zurück in die Küche, um den Tee aufzugießen. Kurz darauf ist Paul mit einem grauen Werkzeugkasten zurück und klopft, bevor er die Küche betritt.

»Da bin ich wieder. Wo soll ich anfangen?«

»Ich dachte mir, wir trinken vielleicht erst mal einen Tee zusammen?«

»Das können wir später machen. Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen«, gibt er zurück und zwinkert Enni dabei zu.

»Vielen Dank für deine Hilfe. Wenn du magst, kannst du diese Lampe im Flur aufhängen. Dann fällt es mir künftig leichter, meine Besucher zu erkennen«, antwortet sie und zeigt auf die Leuchte. Sie zwinkert nun ebenfalls, und das Eis zwischen ihnen ist gebrochen.

Eine Stunde lang arbeiten sie Hand in Hand. Enni hat während der Renovierung ab und zu mitgeholfen und einigen Handwerkern als Handlangerin gedient. Mittlerweile ist sie einigermaßen fit im Umgang mit Werkzeugen aller Art und legte sogar ihre Ehrfurcht vor Strom ab, weil der Elektriker ihr genau zeigte, auf was sie achten muss. Es wäre für sie also kein Problem, die Lampen selbst zu montieren und anzuschließen. Aber Pauls Angebot kam so unerwartet, dass sie gar nicht daran gedacht hat, es abzulehnen.

»So, fertig«, meint Paul, als alle Lampen im Erdgeschoss montiert sind. »Brauchst du sonst noch Hilfe?«

»Nein danke«, antwortet die junge Frau. »Du hast schon mehr als genug getan.«

»Ich helfe gerne. Für Monika habe ich auch kleinere Reparaturen erledigt. Im Gegenzug hat sie bei mir im Haus hin und wieder nach dem Rechten gesehen.«

»Echte Nachbarschaftshilfe.«

»Eher Hilfe unter Freunden.«

»Ich wusste gar nicht, dass ihr mehr als Nachbarn wart.«

»Das hat sich mit der Zeit so ergeben«, gibt der alte Mann zurück. »Monika war ihr ganzes Leben lang eine selbstständige Frau und wollte meine Hilfe lange nicht annehmen. Aber mit dem Alter veränderte sich unser Verhältnis. Wir wurden nicht jünger und hatten beide irgendwann keine Familie mehr …«

Dann bricht er ab und blickt Enni in die Augen, um zu sehen, ob er einen wunden Punkt bei ihr getroffen hat. Doch die junge Frau lässt sich nichts anmerken, verdrängt ihr schlechtes Gewissen und packt Pauls Werkzeug weg.

»So, und nun haben wir uns eine Tasse Tee verdient«, sagt sie dann munter, geht in die Küche und kocht noch einmal Tee, weil der andere kalt geworden ist.

Paul möchte noch etwas antworten, nickt dann aber zustimmend und folgt ihr.

»Mutig von dir, von München in dieses kleine Dorf zu ziehen«, eröffnet Paul das Gespräch, als sie anschließend mit dampfenden Tassen auf der Eckbank sitzen. »Deine Tante war sehr stolz auf dich und dein selbstbestimmtes Leben in der großen Stadt.«

»Großtante«, erwidert Enni.

»Was?«

»Ach, egal«, gibt sie zurück.

»Jedenfalls hat Monika oft von dir gesprochen«, meint Paul und rührt Zucker in seinen Tee.

»Wirklich? Das hätte ich nicht vermutet«, antwortet Enni verblüfft. »Ich dachte immer, sie hat kein Interesse an mir. Oder besser gesagt, hatte kein Interesse …«

Paul blickt auf, nachdem Enni nicht weiterspricht. Dann widmet er sich wieder seinem Tee, rührt weiter in der Tasse und überlegt.

»Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Zumindest hat sie nie so was in der Richtung zu mir gesagt. Ich glaube, Monika mochte die Vorstellung von dir als Stadtmensch, obwohl sie selbst in München nicht glücklich geworden wäre.«

»Das kann ich mir auch nicht vorstellen. Sie war ein Naturmensch. Kannte jede Blume und jeden Strauch und erklärte mir mit einer Engelsgeduld, welcher Vogel gerade im Busch vor dem Haus saß oder wie der Schmetterling hieß, dem ich hinterherjagte. Leider habe ich all das wieder vergessen. In München braucht man dieses Wissen nicht.«

»Warst du denn dort glücklich?«, will Paul plötzlich wissen.

»Gute Frage. Ich hatte ja keine Alternative, nachdem ich nicht mehr hierher zu Monika fahren konnte. Also war ich wohl glücklich. Aber als ich dann zum ersten Mal mit meinem Freund wieder im Dorf war und eine Ahnung davon bekam, wie wir hier leben könnten, war es um mich geschehen. Der Alltag in der Stadt engt einen auf so viele verschiedene Arten ein, und hier fühlt sich alles viel freier an.«

»Ja, da hast du vermutlich recht.«

»In der Stadt wird man oft nicht einmal von seinen Nachbarn gegrüßt. Und hier winkt einem jeder Autofahrer zu, auch wenn man gar nicht weiß, wer im Fahrzeug sitzt.«

»Scheint so, als ob dir das gefällt.«

»Ja, während des Umbaus habe ich zu schätzen gelernt, welche Vorteile es hat, in einem kleinen Ort zu leben, wo sich die Menschen noch wirklich kennen und auf Augenhöhe begegnen.«

»Vielleicht vermutete Monika, dass es so sein würde. Sie hat dir das Haus ja ganz bewusst vererbt.«

»Ja, das war wirklich komisch damals. Meine Eltern konnten gar nicht glauben, dass ich die Erbin sein sollte. Und nun sind sie auch nicht mehr da …«

Enni stockt erneut und ringt um Worte. Doch Paul lenkt geschickt auf ein anderes Thema über.

»Ihr habt hier alles ganz schön umgekrempelt. Es freut mich aber sehr zu sehen, dass ihr die Seele des Hauses erhalten habt.«

»Meinst du die Küche?«, fragt Enni und blickt sich um. Der Boden ist im Schachbrettmuster gefliest, die Wände sind beigefarben getüncht, und kurz unter der Decke verläuft eine altmodische Borte in dunklem Rot. An der einen Wand steht ein altes Küchenbuffet, das abgebeizt und neu geölt wurde. An der anderen Wand sind eine Emailspüle und ein alter Holzofen mit Backröhre zu finden, der zusätzlich über zwei elektrische Platten verfügt, in der Ecke steht ein neuer, beigefarbener Kühlschrank im Retrodesign. Schräg gegenüber ist eine Eckbank zu finden, auf der sich die beiden niedergelassen haben, ein Holztisch und zwei Stühle stehen davor. In diesem Raum haben Alexander und Enni so gut wie nichts verändert, nur die Möbel etwas aufgehübscht und alles gründlich gereinigt. Sogar die alten Tischdecken haben sie behalten und vorerst im Schrank verstaut.

»Du hast recht. Die Küche ist wirklich der gemütlichste Raum im Haus. Deshalb haben wir auch beschlossen, alles soweit wie möglich beim Alten zu belassen und nur ganz wenige Dinge auszutauschen.«

»Den Kühlschrank zum Beispiel«, ergänzt Paul.

»Ja, der alte war ja wirklich nicht mehr zu gebrauchen. Der hat eher geheizt, als gekühlt«, lacht Enni.

»Was ist eigentlich aus Monikas Sachen geworden? Habt ihr sonst noch etwas aufgehoben?«

»Irgendwo müsste noch eine Kiste mit ihren persönlichen Dingen sein. Meinst du etwas Bestimmtes?«

»Nein«, antwortet der alte Mann schnell. »Ich dachte nur, das Haus war ja voll mit ihren Möbeln, Bildern, Büchern und Fotos.«

»Ich kann dir bei Gelegenheit die Sachen zeigen, die wir aufgehoben haben. Allerdings habe ich gerade den Überblick verloren, wo wir sie hin gepackt haben …«

»Lass mal«, unterbricht Paul sie. »Es ist nicht wichtig.«

Eine Weile sitzen sie beide nur da und schauen auf ihre Teetassen.

»Waidmannsthal ist gar nicht so langweilig, wie du vielleicht denkst«, meint Paul in die Stille hinein. »Früher gab es hier regelmäßig Schlägereien zwischen amerikanischen Soldaten und den Burschen aus dem Dorf. Damals war hier ein legendärer Klub, der bei den GIs sehr beliebt war. Er hieß Die schwarze Katze. Es geht immer noch das Gerücht um, dass Elvis Presley sich hier auch geprügelt hat.«

»Nie und nimmer!«

»Doch, das stimmt wirklich! Hat Monika dir nichts davon erzählt?«

»Monika? Was hat sie damit zu tun?«

»Sie war doch Lehrerin. Und eine Zeit lang hat sie für die Amerikaner gedolmetscht. In der Zeit, als Elvis in Grafenwöhr stationiert war, hat sie ab und zu für die Armee übersetzt.«

»Wirklich? Das wusste ich gar nicht«, erwidert Enni. »Hat sie auch für Elvis gedolmetscht?«

»Na klar! Er war ganz vernarrt in deine Tante und wollte keine andere Übersetzerin.«

»Jetzt übertreibst du aber.«

»Was glaubst du, wieso er sich in der Schwarzen Katze geprügelt hat? Wegen Monika!«

»Nie im Leben!«, ruft Enni nun ungläubig. »Du schwindelst mich an!«

»Wenn du meinst«, antwortet Paul, und seine Augen leuchten. »Ich glaube, es gibt so einiges über deine Tante, das dich überraschen würde.«

Damit steht er abrupt auf, sucht sein Werkzeug zusammen und verabschiedet sich mit einem Nicken. An die etwas raue und gleichzeitig herzliche Art der Menschen hier werde ich mich wohl erst gewöhnen müssen, überlegt Enni, als sie alle Lichter löscht und nach oben geht. Der Tag war lang, und obwohl ihr Magen knurrt, will sie nur noch ins Bett. Kurz bevor ihr die Augen zufallen, fragt sie sich noch, was sie in ihrer ersten Nacht im neuen Haus wohl träumen wird. Die Geschichte mit Elvis hat sie dabei längst wieder vergessen.

Schon bevor der Wecker klingelt, ist Enni wach. Sie liegt noch mit geschlossenen Augen da und versucht, den Raum um sich herum zu erspüren. Ob sie etwas geträumt hat, weiß sie nicht mehr. Wohl aber, dass sie nicht in München, sondern in ihrem eigenen Haus aufgewacht ist. Wie schon gestern bei ihrer Ankunft irritiert sie die Stille. Vor dem Schlafengehen hat sie noch ihr Fenster gekippt, doch auch draußen ist alles ruhig. Bevor sie die Augen öffnet, versucht sie, sich den Raum vorzustellen, in dem sie liegt, die Lage des Fensters zu erahnen, die Neigung der Dachschräge, die Himmelsrichtung, in die ihre Beine zeigen. Enni kommt vollkommen zur Ruhe und fragt sich, ob sie den Zustand erreicht hat, von dem ihre Meditationslehrerin in München immer gesprochen hat. In die eigene Mitte kommen.

Dann endlich macht sie die Augen auf und stellt verblüfft fest, dass sie mit ihren Vorstellungen falschlag. Das Fenster befindet sich viel weiter links, die Tür ein Stückchen weiter rechts, und die Neigung des Daches ist viel flacher, als sie gedacht hat. Einzig die Himmelsrichtung stimmt. Ihre Füße zeigen nach Norden, und wenn sie den Kopf nach rechts dreht, kann sie durch das Fenster bereits die Sonne erahnen, die noch hinter den Baumwipfeln schlummert, aber ihre Ankunft bereits durch einen hellen Schleier über dem dunklen Wald ankündigt.

Sie tappt ins Bad und stellt dort freudig fest, dass die Fußbodenheizung den kleinen Raum bereits gut aufgewärmt hat. Enni genießt es, mit den nackten Füßen über die warmen Fliesen zu laufen, und würde gerne noch länger dort verweilen und sich eine ausgiebige Morgentoilette gönnen, aber es ist noch so viel zu tun im Haus, und deshalb verschiebt sie das Verwöhnprogramm auf den Abend. Zähneputzen und Haare zum Dutt binden müssen reichen. Zurück im Schlafzimmer zieht sie die Klamotten von gestern an und sucht im Koffer nach dicken Wollsocken. Leider gibt es den Luxus einer Fußbodenheizung nur im komplett neu sanierten Bad, der Rest des Hauses wird nach wie vor über Heizkörper vorsorgt, die unter den Fenstern angebracht sind. Dann steckt sie ihr Handy in die Hosentasche und geht in die Küche, um Kaffee zu kochen und zu frühstücken. Nachdem sie gestern das Abendessen ausfallen ließ, ist der Hunger nicht mehr zu ignorieren. Aus München hat sie Müsli, Milch, Brot und Marmelade mitgebracht und freut sich nun auf ihr Frühstück. Während das Wasser kocht, schaltet sie den Flugmodus ihres Handys aus, und sofort erscheinen drei Nachrichten von Alexander. Sie hat gestern einfach vergessen, sich bei ihm zu melden. Obwohl es noch ein bisschen früh ist, ruft sie ihn sofort zurück. Dazu muss sie allerdings noch mal nach oben ins Badezimmer gehen. Das ist der einzige Ort im Haus, an dem sie Empfang hat. Der Telefonanbieter hat es noch nicht geschafft, den neuen Router wie versprochen zu liefern, und deshalb gibt es im Haus auch noch kein WLAN.

»Enni? Ist etwas passiert?«, begrüßt er sie etwas verschlafen.

»Nein, alles gut. Tut mir leid, dass ich mich jetzt erst melde. Ich hatte gestern im Haus so viel zu tun und bekam später dann auch noch Besuch. Da habe ich total vergessen, mich bei dir zu melden«, gibt sie kleinlaut zurück.

»Schon in Ordnung. Ich dachte mir, dass du viel um die Ohren hast. Wer war denn bei dir?«