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A wie Applaus, W wie Würde, T wie Taxifahrer, S wie Scham Cordula Stratmann zerpflückt Menschliches und Tägliches, Politisches und Persönliches – pointiert, hintergründig und bei allem Ernst mit dem nötigen Humor. Wann bitte soll man all die Fragen, die das Leben aufwirft, zu Ende denken? Kaum glaubt man, einen Schlussgedanken gefasst zu kriegen, da tut sich schon die nächste Frage auf. Schließlich dreht die Welt sich ständig weiter. Cordula Stratmann stellt sich der Herausforderung. Auf der Suche nach Antworten seziert sie Politisches, Alltägliches und zutiefst Menschliches. Sie denkt über die großen und kleinen Dinge unseres Daseins nach, über Ameisen und Elternliebe, über Diversität und Wokeness, über Vergeltung und Rucksäcke, über Selbstmitleid und Taxifahrer. Scharfsinnig und mitunter sehr ernsthaft bohrt sie dort nach, wo es wehtut, und lässt uns befreit auflachen, wo nur Frohsinn weiterhilft. Immer bekommen wir es bei ihren Grübeleien über uns Menschen und unser Herummenscheln in dieser Welt mit ihr höchstpersönlich zu tun, mit ihrer Erfahrung als konfliktgestählte Therapeutin, leidenschaftliche Mutter und originelle Komikerin. Ein selbst gestricktes ABC, das alle Denk- und Lebensfreudigen herzlich zum Nachsinnen einlädt: offen zeitkritisch, zeitlos tiefgründig, unverwechselbar wortgewaltig und vollerHumor.
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Seitenzahl: 196
Veröffentlichungsjahr: 2024
Wann bitte soll man all die Fragen, die das Leben aufwirft, zu Ende denken? Kaum glaubt man, einen Schlussgedanken gefasst zu kriegen, da tut sich schon die nächste Frage auf. Schließlich dreht die Welt sich ständig weiter.
Cordula Stratmann stellt sich der Herausforderung. Auf der Suche nach Antworten seziert sie Politisches, Alltägliches und zutiefst Menschliches. Sie denkt über die großen und kleinen Dinge unseres Daseins nach, über Ameisen und Eltern liebe, über Diversität und Wokeness, über Vergeltung und Rucksäcke, über Selbstmitleid und Taxifahrer.
Scharfsinnig und mitunter sehr ernsthaft bohrt sie dort nach, wo es wehtut, und lässt uns befreit auflachen, wo nur Frohsinn weiterhilft. Immer bekommen wir es bei ihren Grübeleien über uns Menschen und unser Herummenscheln in dieser Welt mit ihr höchstpersönlich zu tun, mit ihrer Erfahrung als konflikt gestählte Therapeutin, leidenschaftliche Mutter und originelle Komikerin.
Ein selbst gestricktes ABC, das alle Denk- und Lebensfreudigen herzlich zum Nachsinnen einlädt: offen zeit kritisch, zeitlos tiefgründig, unverwechselbar wortgewaltig und voller Humor
Cordula Stratmann
Grübeleien und Geistesblitze
Für meinen Sohn
Liebe Leserinnen und Leser!
Wahrscheinlich muss man für das Buch, wie Sie es jetzt in den Händen halten, eine Triggerwarnung aussprechen. Wir Menschen haben uns eine überfordernde, rücksichtslose Welt der Festlegungen, Schuldzuweisungen und Kontaktabbrüche gezimmert, in der wir alle ungeschützt auf unseren Schrecken sitzen bleiben und beinahe jeden anderen zu einem Gefährder erklären. Das macht uns immer empfindlicher – und somit wurden Triggerwarnungen erfunden, in der Hoffnung, sie könnten Schutz bieten.
Meine Befürchtung ist allerdings, dass wir damit einen weiteren Schritt in die Krankschreibung machen, dass wir uns mit unseren Empfindlichkeitsdiagnosen nicht retten, sondern schädigen, indem wir die Verbindung zueinander aufgeben und der Abschottung umso mehr Raum lassen.
Wir brauchen aber einander, niemand ist eine Insel und entwickelt sich alleine. Und für das Miteinander benötigen wir eine gewisse Robustheit und das Wissen darum, dass wir einander immer Zumutung und Lösung zugleich sind. Deshalb dürfen wir den Dialog nicht aufgeben, das Zuhören nicht, das Fragen, das Reiben. Und das gemeinsame Suchen.
Mein Buch soll eine Einladung dazu sein. Ich möchte durch mein »lautes« Nachdenken in Verbindung mit Ihnen treten, möchte Ihnen in die Rippen boxen und die Hand reichen, ich möchte Sie zum Lachen bringen und zum Kopfschütteln einladen, da, wo Sie meine Überlegungen vielleicht ja sogar hanebüchen finden. Denn mal taste ich mich vorsichtig durch ein Gedankendickicht, mal poltere ich drauflos und trete Ihnen womöglich auf die Füße, mal werden Sie mir zustimmen, ein anderes Mal werden Sie denken: Wie bitte? So ein Quatsch! Letzteres wünsche ich mir als einen Moment, da Sie sich von einem meiner Gedanken abgestoßen fühlen – hin zu einem klügeren, der mir nicht gekommen war.
Anstoß zum Weiterdenken, das möchten meine Texte sein.
Eine letzte Bitte habe ich:
Nehmen Sie also alles, was Sie anregt, und machen Sie damit, was Ihnen sinnvoll erscheint, aber verzichten Sie bitte darauf, mich für Äußerungen zu hassen, mit denen Sie nicht konform gehen. In diesen Fällen reicht es, meine Einladungen in Zukunft nicht mehr anzunehmen.
Nicht Kontroversen gefährden uns, sondern die Kriegserklärungen, die wir ihnen folgen lassen.
Und nun: Viel Spaß beim Erkennen, Verwerfen, Zustimmen, Ablehnen, Weiterdenken und Kichern.
Herzlich
Cordula Stratmann
Wo war ich stehen geblieben?
Kann einen verrückt machen, die Frage, oder? Wenn Sie ein nachdenklicher Mensch sind, einer von der Sorte, der sich schon mal an einem Loch in der Luft feststarrt, nachdem er es kurz zuvor hineingestiert hat, dann kennen Sie diesen Versuch, wieder anzuknüpfen.
Überhaupt, diese ganze Nachdenkerei. Die fliegt dich ja an, aus dem Nichts.
Du sitzt an der Bushaltestelle, lässt die Augen von der Leine, kreis kreis kreis, schlägst hart auf bei der Werbung für Slips am straffen Po eines Unterwäschemodels, rutschst in die Frage, auf was du selbst da gerade sitzt, und findest dich in Windeseile auf dem Themenschlachtfeld des Verfalls wieder, nickst dir selber zu beim Gedanken, dass nichts bleibt, wie es ist. Dann kommt der Bus, du steigst ein, hast, bis du Platz genommen hast, in verschiedene überwiegend grämliche Gesichter geschaut, beim Hinsetzen verhindern müssen, dass dir deine Unterlagen aus der prall gepackten Tasche rutschen, du legst endlich deine Hände auf der Tasche im Schoß ab, hebst den Blick, und in so einem Moment kommt sie wieder: Wo war ich stehen geblieben?
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, ich jedenfalls lebe viele Stunden meiner Tage in dem Gefühl, mit einem Gedanken nicht an sein Ende gekommen zu sein, teils, weil der Fortgang des Tages mich ablenkt, und zum großen anderen Teil, weil aus dem einen Gedanken schon der nächste kriecht, zudem meistens in eine Frage gewickelt. Mag sein, dass das am breiten Themenangebot liegt, über das mein Gehirn gerne herfällt.
Ich befinde mich ebenso in Grübeleien darüber, wie schnell das doch ging, dass junge Eltern ihre Kinder in geräumigen 50-m2-Wohnungen Küchedielebadbalkon, vorne am Rad befestigt, durch die Gegend ächzen, während ich gerade noch unseren Nachwuchs, in einer Plastikschale hinten auf den Gepäckträger geschnallt, über Kopfsteinpflaster gedonnert habe – das Zitat meiner Mutter im Kopf: »Schläge auf den Hinterkopf erhöhen das Denkvermögen.« Meine Mutter war Lehrerin.
Ich befinde mich also gleichermaßen in derlei Überlegungen, sowie ich angesichts eines jonglierenden Straßenkünstlers an der Ampel über die Einwanderungspolitik Deutschlands im Unterschied zu Panama gedanklich verschwinden kann. Oder mich von meinem Gehirn fragen lassen muss, wie demokratiefest ein Hundebesitzer sein mag, der vor mir mit seinem schwarz-rot-gelb gekleideten Golden Retriever über die Allee lustwandelt.
Undsoweiterundsofort.
Jeder frei flottierende Gedankenlauf stets unterbrochen von Zahlungsvorgängen im Supermarkt, von Grüßvorgängen auf der Straße, von eingehenden Handynachrichten, von Ankünften bei Terminen mit Betreten von Häusern, von hereinbrechender Nacht mit anschließendem Schlafvorgang, so halt.
Und bei Ihnen?
Wie denken Sie sich so durchs Leben?
Wie steht es um Ihre Nach-, Vor- und Nebendenklichkeit?
Wir sollten uns zusammentun. Alleine kommst du ja mit dem ganzen Schlamassel nicht zurecht. Aber manchmal oder immer häufiger kannst du dir sämtliche Verwirrtheiten auch nicht mehr von irgendjemandem aus deinem Umfeld erklären lassen. Der sitzt vielleicht neben dir mit ebenfalls offenem Mund und zuckt mit den Schultern, wenn du ihn fragst, wie du das mit der kulturellen Aneignung denn nun im Detail verstehen sollst. Nachdem du zunächst gedacht hast, du hättest es verstanden.
Ach, ich habe so viele Fragen. Unerheblich, welcher ich den Vortritt lasse. Hier hatte sich gerade die nach der Aneignung nach vorne gedrängelt. Sie wechseln ständig die Prioritätenfolge und ziehen neue nach sich. Ein Geziehe und Gezerre ist das unter den Fragen, da machen Sie sich kein Bild von.
Ich beginne den Tag mit einer Tageszeitung, die aufgrund einer Abonnierung zuverlässig allmorgendlich unseren Briefkasten und dann den Frühstückstisch belegt. Damit ist mit einem Handstreich beschrieben, wie mein Schädel des Morgens die Rutsche ins Sonstwo nimmt.
Heute, ich habe mir das nicht ausgesucht:
Heute verriet mir die soeben erwähnte Tageszeitung, dass es in Amerika mittlerweile Studierende gibt, die, der Cancel Culture folgend, kein Sushi mehr essen.
Und kennen Sie das, dass Sie von mancher Begegnung mit der Welt, es mag Folge abrupter Überforderung sein, in entfesseltes Gelächter ausbrechen müssen?
Ich las die Zeilen über die Sushi meidenden amerikanischen Studierenden und fühlte mich köstlich unterhalten.
Geht schon wieder los. Diese Zeile schreibe ich gerüttelt von Ganzkörperlachen.
Gut, aber irgendwann, jetzt zum Beispiel, endet dieser Heiterkeitsausbruch, und ich komme nicht umhin, gewahr zu werden, dass die Welt es gar nicht gut mit mir meinte, als sie mir zu Beginn des Tages einen großartigen Scherz schenkte.
Die meinen das ernst.
Mit dem Sushi.
Die essen das nicht mehr.
Weil.
Moment. Kleine Pause. Ich war noch nicht ganz ausgelacht. Das ist das Schöne daran, wenn du Komikerin bist. Du hast einfach länger und öfter Spaß als der Durchschnitt. Herrlich. Die essen kein Sushi mehr. Brüller.
Ich geh mal gerade die Wäsche aus dem Trockner holen. Bin noch nicht wieder in der Lage, mich hier ernsthaft mit dem Thema der Cancel Culture zu befassen. Mein Gehirn liefert mir jetzt erst mal Angebote, die ich als alberner Mensch ungern ablehnen möchte – ich frage mich zum Beispiel umgehend, wohin demnächst mit den vielen, vielen Hunden und Katzen und anderen Haustieren, die alle keine Aufnahme in menschlichen Haushalten mehr finden, weil eben, geht ja nicht.
Aneignung von Tieren. Damit muss Schluss sein.
Umgekehrt darf ich aber auch nicht Quartier in einer Hundehütte beziehen. Geht mich nix an. Hundehütten für mich: verschlossen.
Jetzt nächste Frage an die Studierenden aus den Vereinigten Staaten: Folgere ich richtig, dass von euch, Verzeihung, Ihnen niemand, oder anders gefragt: Geht es um die Zubereitung, japanischer Kochkultur folgend, die man als Amerikaner zu unterlassen hat, da ein amerikanischer Student seine Speisen ausschließlich der amerikanischen Tradition entsprechend anrühren sollte? Koi mit Heinz-Ketchup? So?
Okay. Ich gehe Wäsche machen.
So. Alles wieder im Schrank.
Wo war ich stehen geblieben?
Nach dem Lachschüttler hatte ich beim Lakenfalten noch eine Weile mit abebbendem Gegacker zu tun – und dann kam die Angst.
Die meinen das ernst.
Menschen, die ihre Meinung absurd ernst meinen, flößen mir zunehmend Angst ein.
Na, das ist ein bisschen hoch ins Gefühlsregal gegriffen, sagen wir, sie befremden mich.
In dem Zustand nehme ich in meinem Gedankenimperium die nächste Tür mit dem Warum.
Warum ist das so? Was ist da los? Wie geht das da in den mir fremden Köpfen zu? Wie muss ich mir solch einen Denkvorgang vorstellen?
Ich stelle nämlich die Warum- und Was-ist-da-los-Frage zur Sicherung meines Überlebens. Machte ich das nicht, dann gäbe es ja schon wieder eine nächste Anzahl von Menschen, die ich bescheuert finden müsste. Aber ich hasse ja schon die haufenweise Autofahrer, die nicht mehr blinken, und Menschen an Supermarktkassen, die extra nicht gucken, wenn du mit nur einem Teil hinter ihnen zu stehen kommst. Mit der Hasserei musst du höllisch aufpassen. Du solltest sie nur einen Moment aufschwappen lassen und sie unverzüglich kurzhalten, sonst hast du augenblicklich das Problem mit der Blase am Hals, in die du dich zurückziehst, wenn du drum herum zu viele Menschen zu spooky findest. Und diese Blase gibt es nicht in »Gut belüftet«, darin atmest du irgendwann ausschließlich deinen eigenen verbrauchten Atem.
So zuckerhaltig deine Blase dir auch winkt und um dich wirbt, du musst dir im Kopf einen Raum einrichten mit einer Tür, wo das große WARUM draufsteht, und ihn immer dann aufsuchen, wenn du dich murmeln hörst: Alles Idioten.
Reingehen. Platz nehmen. Nächstes Loch in die Luft denken.
Warum ist das so? Wie meinen die das? Wie gesagt, diese Fragen retten meine Existenz alternativ zum Durchdrehen mit anschließendem Klinikaufenthalt und »die Patientin sein, die den Ärzten Sorgen macht, weil sie ununterbrochen ihren Kopf in jede Wand rammt«.
Es ist ja meistens so, dass jedwede Idee zunächst sinnvollerweise entsteht. Da gibt es eine Fragestellung, viele, wenige oder nur ein Mensch fragen beziehungsweise fragt sich etwas, und am Ende ist die Freude groß, wenn da eine Idee auftaucht, die der Beantwortung dienen könnte.
Ein Beispiel: Als die Leute diese irrsinnige Schlepperei von A nach B leid waren, haben sich einfach ein paar Fittere von ihnen mal hingesetzt, einen Kreis aufgemalt, den später aus Holz ausgeschnitzt, sich dazu noch eine Achse ausgedacht – und das Rad war erfunden, als Transportmittel, vor circa 5500 Jahren.
Super Idee. Sicher gab es auch welche, die noch eine Weile dachten, ach, wenn wir das Rad dreieckig machen, legen wir doch direkt noch eine größere Strecke zurück, bei entsprechend langen Schenkeln, müsste man nur überlegen, wie man das Ganze bei viel Gewicht gewuchtet kriegt. Diese Tüftler haben sich dann eben später erst der Idee vom runden Rad angeschlossen und bis dahin noch interessante Erfahrungen mit dreieckig-rädrigen Schubkarren gemacht.
Aber so ist das mit den Ideen. Nicht alle haben zur gleichen Zeit die gleiche, aber alle sind immer an irgendwas dran. Täglich haben Menschen weltweit Ideen. Tiere übrigens auch. Und Pflanzen.
Nee, Leute, ich spinne nicht!
Das stimmt: Da, wo Leben ist, da gibt es Ideen. Weil es ständig was zu lösen gibt. Weil mit dem unaufhaltsamen Verstreichen der Zeit immer was in Bewegung ist. Es gibt keinen Stillstand, ist halt so, ich habe mir das nicht ausgedacht. Man nennt es Entwicklung.
Und wir sind ja ständig am Machen und Tun.
Oh, es ist keine Milch mehr da, dann geh ich halt noch einkaufen, bevor ich das Kartoffelpüree mache. Gelöst.
Oder ich mache Nudeln stattdessen. Auch gelöst.
Ich schreibe das hier nur nicht für eine Freesie auf, weil ich keine Ahnung habe, wie die Freesie etwas löst.
Igitt, sagt die vielleicht, das Wasser in der Vase kippt um, was mache ich jetzt?
Keine Ahnung. Ist die Freesie eine Kämpferin und speichert so viel, wie sie kann, und überdauert umgekipptes Wasser demzufolge noch eine Weile? Kippt sie zeitgleich mit dem Wasser um?
Ich weiß es nicht.
Womit wir, wenn ich das alles richtig verstehe, beim Canceling wären.
In einer woken Gesellschaft darf ich für die Freesie gar nicht mehr überlegen. Weil ich eben keine Freesie bin.
Und wenn ich die Flapserei jetzt mal bleiben lasse und mir die Sache ernsthaft betrachte, dann konnte ich der Idee von Cancel Culture in ihren Kinderschuhen durchaus mal folgen. Ich fand es ebenso dringend wie all diejenigen, die kulturelle Aneignung für die Bevorzugten zum Thema machten, folgende zugrunde liegende Utopie anzustreben:
Menschen, die in der Menschengeschichte aufgrund ihres Heimatortes und des Schoßes, den sie verlassen haben, zu den Bestimmern, zu den Unterdrückern und Ausbeutern gehören, geben diesbezüglich die Ignoranz auf, welche sie jahrhundertelang von Vorfahren übernommen haben, und lassen sich auf die Lebensgeschichten ein, die durch ebendiese Vorfahren auf der unterdrückten Seite entstanden sind und bis heute durch sie selbst weiter entstehen.
Dass wir Dinge anschauen, einiges als falsch entlarven, anderes einsehen und falsches Zeug künftig bleiben lassen, dass wir uns zusammentun und Regeln aufstellen, damit das mit dem Bleibenlassen auch funktioniert. Bin ich dabei. Mache ich mit. Kannst du dich drauf verlassen.
Dass es aber Menschen gibt, die infolge Zu-Ende-Denkens kein Sushi mehr essen, weil sie entweder nicht japanischer Herkunft oder kein Fisch sind, diese Meter kriege ich nicht zurückgelegt.
Oder ist das Zu-Ende-Denken schon das Problem?
Wie machen Sie das? Zu Ende denken? Bei mir kommt dann trotzdem immer noch etwas hinterher. Hölzchen auf Stöckchen.
Zurück zum Sushi.
Warum nicht mehr essen?
Das kann ich Ihnen ja eben nicht sagen. Ich weiß nicht, trotz vielen Nachfragens und -lesens, warum zum Beispiel Lehrbeauftragte, Intendanten, Regisseure aus Lehranstalten oder Theatern entfernt werden. Warum Institutsleitungen durch Rausschmisse die relevante Chance verpassen, jungen Auszubildenden eine wesentliche Wahrheit über diverses Leben zuzumuten: Es ist gut, dass du kommst und dich kritisch äußerst, und nun schauen wir uns dein Anliegen genauer an. Eventuell machst du uns gerade auf eine Ungeheuerlichkeit aufmerksam, dann werden wir uns unverzüglich von dem Probanden trennen, der das Grundgesetz nicht eingehalten hat.
Möglicherweise heißt die Lösung bei näherer Betrachtung jedoch auch: Da hat jemand etwas geäußert, das du katastrophal findest, das ist dein gutes Recht. Such diesen Professor auf, streite mit ihm, fordere ihn heraus und höre ihm zu, du hast unsere Unterstützung. Wir werden uns aber nach seiner Äußerung nicht von diesem Lehrenden trennen, weil wir keine Auslöschung betreiben. Das ist die Vielfalt, die du lernen musst anzuerkennen. Sie ist nicht nur viel, wenn du damit einverstanden bist. Das »Viel« in der Vielfalt bedeutet für jeden Einzelnen von uns, dass er den anderen ertragen muss. Du wiederum bist für jemand anderen eine Zumutung. Ja, dessen darfst du gewiss sein.
Unser Leben gibt es nur so. Fehlerhaft.
Ich stehe bei der Hauptpost in der Schlange.
Wo kommen diese Leute alle her?
Ich gehe ganz selten zur Hauptpost, eigentlich so gut wie nie. Gehen die anderen auch so selten wie ich hierhin, oder sind das welche, die sich andauernd in Reihen aufstellen?
Boah, gehen die mir auf den Geist. Schlagartig. Mich hinten angestellt, und ruckzuck von allen genervt. So schnell kann ich gar nicht gucken, wie die mir alle auf den Zwirn gehen. Aber wie!
Ich wollte nur das Päckchen für den Roberto endlich auf den Weg bringen. Liegt schon 100 Jahre bei mir rum. Jetzt muss das mal weg, aber dafür steh ich hier noch ewig in dieser Kackschlange rum. Für ein Päckchen. Für einmal eben »Hallo, ja, ein Päckchen, das macht dingsbums neunzig«, und ab dafür. Ernsthaft. Jetzt umständelt wieder einer saublöd rum da vorne. Könnt ich durchdrehen. Schreib doch deine behämmerte Absenderadresse vorher auf deine behämmerte Sendung, da muss ich doch jetzt nicht bei rumstehen, bis du deine Postleitzahl, aaaah, Postleitzahl, huuu, die braucht man selber ja so selten, ich guck eben nach, einen Moment, sorry …
Ich krieg die Krise!
Dem stell ich gleich ein Bein, wenn der beim Rausgehen an mir vorbeimuss.
Mach ich natürlich nicht. Das braucht ja dann alles noch mehr Zeit. Beinstellen, oh, Tschuldigung, lange Diskussionen, das haben Sie doch extra gemacht, nee, hab ich nicht, doch, haben Sie ja wohl, sind Sie nicht Cordula Stratmann?
Ich gehe gleich, wenn ich hier fertig bin, ha! Gleich?! In vier Jahren!
Was wollte ich denn gerade?
Achsoja. Ich geh nachher noch in die Buchhandlung, mir ein Buch kaufen über Buddhismus. Das sind doch die Dicken, die immer so entspannt in der Gegend rumlächeln, hey, alles cool, ich hab Zeit, ich bin dankbar, ich sage Ja, ich bin verbunden, mit dem Postschalter, mit dem Vordermann, der Vorderfrau, ich höre das Vogelgezwitscher vor der Tür, ich sehe die Schönheit des Pferdeschwanzes der Dame vor mir, ich atme den Atem des Mannes in meinen Hacken, ich bin Liebe.
Ich brauch das Buch gar nicht mehr.
Alles cool.
Habe mein Zeitgefühl verloren.
Stehe seit meinem Abitur vor 40 Jahren in dieser Schlange.
Hoffentlich wohnt Roberto noch da.
Wer’s noch nicht praktiziert, sofort nachholen!
Das müssen Sie machen.
Das Selbstgespräch.
Ich wüsste gar nicht, wie ein Tag ohne verbalen Klaps auf den eigenen Po gut zu seinem Ende findet. Wirklich nicht.
Nehmen wir für Unerfahrene zum Einstieg mal diesen hier: »Hö? Was ist das denn?«
Ein toller Satz, vielfach verwendbar, eigentlich überall, zeitlich gänzlich ungebunden. Sie können mit ihm direkt morgens starten, wenn Ihre Füße die Schlappen nicht finden, und weitermachen, wenn Sie im Marmeladenglas beim Frühstück Schimmel am Rand entdecken. Spitze macht er sich, wenn’s an der Tür klingelt (auch wenn Sie natürlich wissen, dass es wohl der Paketbote ist mit Ihrer neuen Zahnbürste, weil Sie trotz permanenter Dokus über ausbeuterische Beschäftigungsbedingungen und Hinweisen auf klimaschädliche Auswirkungen unbeirrt Ihre Einkäufe per Bestellung erledigen), Sie können problemlos bei »Was ist das denn?« bleiben, quasi als Standardstanze bei Berührung mit irgendetwas. Wen es korinthenkackerisch stört, dass es sich beim Klingeln durch eine Person natürlich nicht um ein Neutrum handelt, der variiert hier leicht zu »Wer ist das denn?«. Oder auch zu »Wer ist das denn jetzt?«, wenn Ihnen die Zeitebene noch wichtig ist.
Das ist das Schöne beim Selbstgespräch, meine Damen und Queere und Herren, restringierter Code, elaborierter Code, ja leck mich doch am Arsch, wer soll Ihnen denn da Vorschriften machen? Wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist, so ist Ihre Ansprache an Sie, bis Sie selbst sich sagen: »Nicht in dem Ton!«
Sie dürfen in dieser Konversation wie in keiner anderen schlecht über Dritte, nein: Zweite reden. Sie dürfen gendern, es bleiben lassen, Schmähungen aussprechen, Bodyshaming betreiben, verbal die Sau rauslassen.
Als Selbstgesprächiger sind Sie jemand mit Selbstreinigungsfunktion. Ohne dass ein anderer unzureichend für Sie hat tätig werden müssen, gehen Sie nach Ihrem Zwiegespräch in kleinster Runde in Kontakt mit Mitmenschen, die in den Genuss Ihrer Aufgeräumtheit kommen, denn Sie sind mit einfachsten Mitteln ein Mensch, der sich gesehen und verstanden fühlt, made by your own.
Oder auch dieses hier: Die mit mir zusammenlebenden Menschen werden, befragt nach meiner meistgestellten Frage an mich selbst, antworten mit: »Wo ist denn jetzt …?«
Ich liiiiebe diese Frage!
Mit ihr auf den Lippen erhebe ich mich vom Stuhl und suche die Zeitung von gestern. Mit ihr laufe ich, bereits Mantel an und Tasche unterm Arm, noch einmal durch alle Zimmer und suche wahlweise: Schlüssel, Lippenstift, Handy, das Mitbringsel für den Freund, die Fisherman’s Friend Anis (nur Anis!!!), Euromünzen für Obdachlose in der Innenstadt, Akkuschrauber, verlängern Sie die Liste selbst.
Gestern flog meine Sympathie einer Dame in der Kölner Innenstadt zu, die davon nichts mitbekommen hat, weil ihr derweil ihre EC-Karte herunterfiel und sie im Bücken zu sich den schönen und absolut zutreffenden Satz sprach: »Oh, das ist nicht gut.«
Richtig. EC-Karte verlieren ist nicht gut. Geübte Selbstgesprächige erkennen ihre Lage blitzschnell und finden die richtigen Worte dafür. Wir sind einfach hartgesottene Persönlichkeiten, nicht so schreckhaft wie die, die sich anstrengen, dass ihnen nichts herausrutscht. Rausrutschen ist unser Programm, »Hoppla!« haben wir erfunden.
Mordslustige Wut im Straßenverkehr bekomme ich mit einem reflektierenden Selbstgespräch in den Griff, ich wäre sonst rohen Gewaltfantasien ausgesetzt, denen ich jedoch augenblicklich ein Innengemurmel entgegensetze, ungefähr dieser Art: wenn ich zum Beispiel, auf dem Fahrrad am Zebrastreifen wartend, bis sich eine circa 2000-jährige Schildkröte im Körper eines Fußgängers aufreizend langsam über die Straße schiebt, leise in mich hineinspreche: »Lass dir Zeit, du Knallcharge, gar kein Ding, ich schau dir gern noch länger zu, kann mich gar nicht sattsehen an deiner Anmut, du …« In Tonaufnahmen würde es hier piepsen §$%&%$«!
Ein weiterer Textvorschlag für Einsteiger wie für Fortgeschrittene ist dieser solide Seufzer: »Nee, ne?«
Zu ergänzen mit »Das war klar!«.
In meinen Augen die entsprechende Abnahme von kleinstformatigen Situationen, die kurzfristig das Fortkommen behindern: Marmeladenseite auf Boden oder auch Cremetiegel, in Küche oder Bad; Wagen nicht finden beim Betreten der Straße. Ebenso geeignet als Türöffner im Gemüseladen, wenn es keine Pilze mehr gibt, du aber wolltest gleich, nachdem du zuletzt ganz knapp vor Ladenschluss schnell noch alles eingekauft hast, eine Pilzpfanne mit Frühlingszwiebeln, Spargel, Zuckerschoten und etwas Orangenschale machen (nachkochen, schmecken lassen!). Mit meinem Gemüsehändler eröffne ich seit vielen Jahren immer wieder mit einem »Nee, ne?« unseren Austausch über Rezeptalternativen, denn wenn ich abends bei ihm ankomme, hat er ja häufiger keine Pilze, Zuckerschoten, Spargel oder was weiß ich mehr.
Dann schwärmt er mir von seinen gefüllten Paprika vor und ich verlasse mit diesbezüglichen Naturalien sein Geschäft.
Des Selbstgesprächs Wieder- und Wiederverwertbarkeit ist ein Segen, in jegliche Richtungen verwendbar, man fängt bei sich selbst an und bei Gelegenheit erweitert man den Kreis der Angesprochenen, zack, Paprikaschoten.
Schauen Sie, nur nochmal für die, die bisher das Selbstgespräch stringent gemieden haben, weil sie vielleicht denken, das täten nur Verrückte, wer auch immer das mal für die Verrückten allein beansprucht hat, es ist ja so: Wenn Ihre Mitbewohnerinnen und Mitbewohner alle aus dem Haus sind, falls Sie nicht sowieso alleine wohnen, dann bleiben Sie allein mit dem Menschen zurück, der Ihnen grundsätzlich am vertrautesten ist. Sie gehen mit ihm schlafen und erledigen sogar Ihr großes Geschäft gemeinsam, und ausgerechnet diese treue Seele ignorieren Sie konsequent?! Nicht mal ein aufmunterndes Wort haben Sie für diese Person parat, die noch nie von Ihrer Seite gewichen ist?
Kein »Das wird schon wieder!« beim Betrachten Ihres Spiegelbildes?
Kein »Aaaah, geschafft!«, wenn Sie Ihre Füße beim Schlafengehen unter die Bettdecke stecken?
Ich habe für Sie hier nun zum Anfang einen ganz leichten Einstieg, probieren Sie es mal aus, ich schwöre Ihnen, Sie werden es nicht mehr missen wollen, so wohlig selbstkontaktiert.
Zeitpunkt egal, gehen Sie mal zum Spiegel, Spiegelort ebenfalls egal, und dann schauen Sie sich an, Mundwinkel hoch, zwinkern und dann: »Na?«
Wie kommen wir eigentlich darauf, die Tatsache der Diversität zurzeit so zu behandeln, als sei sie neu, Ausdruck unserer Zeit, ein Trend?