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Nur wahre Freundschaft berührt dein Herz ...
Lidingö, Südschweden: Jeden zweiten Samstag sitzt die frisch geschiedene Esther auf einer Bank unter einer alten Eiche und schaut hinaus aufs Meer. Die Wochenenden, die ihr Sohn bei seinem Vater verbringt, sind schwer, und hier kann Esther ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Eines Tages trifft sie dort auf Rut, eine alleinstehende, ältere Dame, die Esther mit ihrer warmherzigen Art tröstet. Zwischen den beiden Frauen entsteht eine tiefe Freundschaft, und die Bank am Meer wird zu ihrem regelmäßigen Treffpunkt. Doch dann verschwindet Rut, und als Esther sich auf die Suche nach ihr macht, kommt sie einer dramatischen Lebensgeschichte auf die Spur ...
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Seitenzahl: 437
Veröffentlichungsjahr: 2023
Buch
Lidingö, Südschweden: Jeden zweiten Samstag sitzt die frisch geschiedene Esther auf einer Bank unter einer alten Eiche und schaut hinaus aufs Meer. Die Wochenenden, die ihr Sohn bei seinem Vater verbringt, sind schwer, und hier kann Esther ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Eines Tages trifft sie dort auf Rut, eine alleinstehende ältere Dame, die Esther mit ihrer warmherzigen Art tröstet. Zwischen den beiden Frauen entsteht eine tiefe Freundschaft, und die Bank am Meer wird zu ihrem regelmäßigen Treffpunkt. Doch dann verschwindet Rut, und als Esther sich auf die Suche nach ihr macht, kommt sie einer dramatischen Lebensgeschichte auf die Spur …
Weitere Informationen zu Sofia Lundberg und weiteren lieferbaren Titeln finden Sie am Ende des Buches.
Sofia Lundberg
Roman
Aus dem Schwedischen von Maike Dörries und Kerstin Schöps
Die schwedische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Och eken står där än« bei Forum, Stockholm.
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Deutsche Erstveröffentlichung April 2023
Copyright © der Originalausgabe 2019 by Sofia Lundberg
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Published by agreement with Salomonsson Agency
Redaktion: Maike Dörries und Julie Hübner
Umschlaggestaltung: buxdesign GbR
Umschlagmotiv: buxdesign/Ruth Botzenhardt unter Verwendung eines Motivs von © Nikaa/Trevillion Images
LK · Herstellung: ast
Satz: Buchwerkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-28891-4V001
www.goldmann-verlag.de
Für Dagmar Meine schöne, liebenswerte Mutter
Es vergeht eine Minute, lange, unzählbare Sekunden. Das Laub der mächtigen Baumkrone raschelt im Wind. Einige Blätter lösen sich und segeln hoch oben durch die Luft, ehe sie zu Boden fallen und eine rotgelbe, tote Decke bilden, die eben noch lebendig war. Im Hintergrund spielt das Meer seine Melodie, rauschend und tosend. Der Wind dringt durch den Stoff ihrer Kleidung, unter die Haut, bis tief in ihre Seele. Kalt. Frierend. Einsam. Nicht einmal die Pferde wollen unter freiem Himmel stehen, sie drücken sich an die Wände ihres Unterstandes hinten auf der Wiese. Wenn sie schnauben, kommen Dampfwolken aus ihren Nüstern und lösen sich dann auf.
Esthers Schuhe sind von dem langen Spaziergang durchgeweicht. Über das Leder ziehen sich scharfe, wellenförmige Ränder, die sich immer weiter hoch fressen. Ihre Strümpfe sind kalt und nass. Sie wackelt mit den Zehen, auf und ab. Die großen Zehen zuerst, dann die anderen. Auch die kleinen. Sie versucht, sie getrennt zu bewegen, aber das will ihr nie gelingen. Wenigstens lenkt es sie für eine Weile ab. Für wie lange, kann sie nicht sagen, vielleicht nur für Sekunden. An den einsamen Samstagen vergeht die Zeit langsamer, an diesen amputierten Tagen, an denen sie zwar immer noch Mutter ist, aber ohne Kind, um das sie sich kümmern muss.
Die Bank unter ihr ist eisig und hart. Ihr Hosenboden ist feucht, ihr Po wird kalt. Sie bleibt trotzdem sitzen, den langen Wollschal um den Hals gewickelt, und lehnt sich gegen den massiven Baumstamm hinter sich. Der dicke Stoff bedeckt Kinn, Mund und Nasenspitze. Sie folgt den vorbeiziehenden Wolken mit dem Blick, die untere Schicht bewegt sich schneller als die obere. Sie beobachtet die sich immer neu bildenden und auflösenden Formationen. Ein Vogel, den der Wind hin und her wirft, lässt sich mit weit ausgebreiteten Flügeln tragen und setzt seinen Weg unbeirrt fort. Was ist das für ein Vogel? Er ist graubraun, hat mächtige gezackte Flügel. Vielleicht ein Raubvogel? Ein Adler? Auf der Jagd nach Feldmäusen. Ihr Blick wandert über das hohe, vertrocknete Gras, wie ein nachträglicher Gruß aus dem Sommer, der erst vor Kurzem weichen musste.
Esther fröstelt bei dem Gedanken an die erbarmungslose Jagd auf die niedliche Feldmaus, die nichtsahnend und friedlich im Gras herumwuselt, um plötzlich im Nacken gepackt, getötet und gefressen zu werden.
Sie friert, ihr Körper zittert. Sie steht auf. Es wird allmählich Zeit, nach Hause zu gehen. Wie immer streicht sie über den Baumstamm der Eiche und das in die Rinde geritzte Herz mit den drei Buchstaben. Das E, mit dem ihr Name beginnt, dicht daneben ein A, das sich an ihr E anlehnt. Darunter ein weiteres kleineres A. Sie fährt mit dem Zeigefinger über die Konturen der Buchstaben, dann lässt sie ihre Hand sinken.
Die Wiese wirkt unendlich und weit, als sie sie mutterseelenallein überquert. Einen Schritt vor den anderen setzend folgt sie dem schmalen Pfad. Entfernt sich immer weiter von der Eiche und der Bank. Kein Kind springt vor ihr her durch das Gras und wedelt mit den Armen. Keine aufgeschrammten Knie müssen verarztet, keine verrutschten Strümpfe hochgezogen und keine Trödler ermahnt werden. Keine Arme, die sich ihr entgegenstrecken, niemand, der getragen werden will.
Es gibt nur die Stille. Vor ihr und hinter ihr. Sogar über ihr. Dort, wo der große Vogel in der Luft schwebt. Esthers Arme hängen schwer herunter, die Schultern sind hochgezogen. Sie atmet und hat viel Zeit, jeden Atemzug genau zu studieren. Sie hat es nicht eilig, nach Hause zu kommen, im Gegenteil. Dort wartet niemand auf sie.
Ich habe irgendwo gelesen, dass ein Todesfall leichter zu verarbeiten ist als eine Trennung. Das hört sich vielleicht merkwürdig an, aber bei einer Trennung gibt es immer ein Wenn und Aber. Ein Todesfall ist definitiv. Und es gibt selten einen Schuldigen. Eine Trennung hingegen ist ein wenig wie eine entzündete Eiterbeule, die einfach nicht abheilen will. Die langsam praller wird, irgendwann platzt und zähflüssige Angst zurücklässt.
Wäre es einfacher, wenn einer von uns gestorben wäre?
Einer von uns. Wieso denke ich so etwas? Das ist so egoistisch. Adrian darf niemals sterben. Und Alex auch nicht. Wenn einer von uns sterben sollte, dann ich. Schließlich habe ich die Familie kaputt gemacht. Ich habe Adrians Kindheit zerstört und ihn zu einem der vielen wurzellosen Kinder gemacht, die jede Woche woanders wohnen müssen.
Ich will öfter schreiben, jeden Tag. Vielleicht geht es mir dadurch irgendwann besser. Vielleicht verstehe ich es dann. Hier kann ich schreiben, was ich will, kein Gedanke ist verboten. Meine Version der Ereignisse. Nur meine. Es sind meine Gedanken, und ich habe das Recht, sie zu denken. Niemand soll dieses Buch jemals in die Hände bekommen, niemand wird meine Gedanken lesen.
Ich bin furchtbar erschöpft. Der alten Erlebnisse so müde, meiner Ängste und Gefühle, die sich wie ein Filter über alles legen, was ich sehe und höre. Über alle Gedanken. Die es mir unmöglich machen, neutral zu sein.
Trotzdem will ich verstehen, wie es so weit kommen konnte. Warum alles so schiefgelaufen ist. Obwohl es auch vieles gab, das gut war.
Ich erinnere mich genau an unsere Hochzeit. Eine fantastische, großartige Hochzeit. Alles war perfekt. Genau so, wie wir es wollten. So wie er es wollte. Ich war überglücklich und stolz, fühlte mich so stark, wenn er zufrieden war.
Wie ich die Vorbereitungen genossen habe. Die Stunden mit meiner Freundin Vera. Ich weiß noch genau, wie wir mein Hochzeitskleid gefunden haben.
Vera stürmte durch die Boutiquen und wählte ein Kleid nach dem anderen für mich aus, alle sehr romantisch, mit viel Spitze und weiten, bauschigen Röcken. Ich schüttelte immer wieder den Kopf, sicher, dass das nicht das richtige für mich war. Wir liefen von einem Geschäft ins nächste, und ich war kurz davor aufzugeben.
Aber dann plötzlich hing es da. Wunderschön, aus dicker glänzender Duchesseseide. Klassisch. Cremeweiß. Mit kurzen Ärmeln und stoffbezogenen Knöpfen auf dem Rücken. Als ich es sah, wusste ich sofort, dass ich das richtige gefunden hatte.
»Alex wird es lieben. Dieses Kleid will ich haben.«
»Du siehst toll darin aus, aber es ist sehr streng. So steif und elegant. Das Wichtigste ist doch wohl, dass es dir gefällt, nicht Alex. Willst du nicht noch ein paar andere Kleider anprobieren? Es sollte sich nach dir anfühlen.«
Veras Hartnäckigkeit machte mich richtig wütend. Ich war mir absolut sicher, das richtige Kleid gefunden zu haben. Exklusiv, elegant und luxuriös. Alles Attribute, die für Alex einen großen Stellenwert hatten. Und ich sah blendend darin aus, fühlte mich stark. Ich drehte mich vor dem Spiegel.
»Das bin ich. Alex sieht mich, wie ich wirklich bin. Er bringt mich dazu, endlich ich selbst sein zu können.«
Vera trat ein paar Schritte zurück, neigte den Kopf zur Seite und betrachtete mich eine Weile.
»Ja, möglich. Du siehst toll aus, natürlich nimmst du es, wenn du dich darin wohlfühlst. Und was machst du mit den Haaren? Trag sie offen. Du hast so schöne, dicke, wellige Haare. Du könntest Blumen einflechten. Wildblumen. Damit würde das Strenge ein bisschen aufgebrochen werden.«
Ich lachte.
»Spinnst du? Soll ich mir etwa Löwenzahn ins Haar stecken? Ich bin doch kein Hippie. Wir heiraten kirchlich, natürlich trage ich die Haare hochgesteckt. So wie hier …« Ich holte eine Zeitschrift aus meiner Tasche und zeigte ihr Fotos mit wunderschönen Hochsteckfrisuren.
»Ich dachte ja nur …« Vera verstummte.
Hatte sie es damals schon begriffen? Hatte sie etwas gesehen, wofür ich blind war? Ich muss sie irgendwann mal danach fragen.
Ich bestellte das Kleid, und wir verließen das Geschäft. Vera hakte sich bei mir unter. Wir gingen in ein Café und tranken Cappuccino. Kicherten, redeten, träumten. Damals aß ich nichts Süßes, genau genommen aß ich so gut wie nichts, weil ich bis zur Hochzeit unbedingt mein Gewicht halten wollte. Es war ungeheuer wichtig, dass alles perfekt war.
»Als wir jünger waren, hast du immer gesagt, du würdest eines Tages barfuß heiraten. Auf einem Felsen mit Blick aufs Meer, Wind im Haar und die Sonne im Gesicht. Erinnerst du dich daran?«, fragte Vera mich lächelnd.
Ich schüttelte den Kopf, wollte mich nicht erinnern.
»Quatsch, das habe ich nie gesagt. Bestimmt war das dein Traum. Das hier ist genau das, was Alex und ich wollen.«
Ich erinnere mich so genau an diesen Nachmittag mit meiner Brautjungfer, meiner besten Freundin, an jedes noch so kleine Detail. Damals sprudelte ich förmlich über vor Glück und Vorfreude auf den großen Tag.
An meinem Finger funkelten bereits Diamanten. Ich konnte nicht aufhören, an meinem Verlobungsring herumzufingern, der aus einem Band hübscher Steine bestand. Den er mir an den Finger steckte, als er um meine Hand anhielt. Auf Knien mit einer Liebeserklärung, die er sich auf einen Zettel geschrieben hatte. Bis ins letzte Detail geplant. Mir zuliebe. Ich konnte es nicht fassen, womit ausgerechnet ich so viel Glück verdient hatte. Ich, die ich mich mein Leben lang einsam gefühlt hatte. Aber das war ich jetzt nicht mehr. Es gab jemanden, der mich wollte. Der mich sah, meine Fähigkeiten, erkannte, wer ich wirklich war.
Ich schlug Purzelbäume vor Glück an dem Strand, wo er mir den Antrag gemacht hatte. Als wir nach Hause kamen, steckte ich mir einen Schleier aus Klopapier in die Haare. Wir alberten herum, sangen laut und schmiedeten Hochzeitspläne. Wir lachten und liebten uns.
Auf dem Weg zum Restaurant am selben Abend erzählte er mir, dass die Kirche bereits gebucht war. Er kannte mich so gut, dass er genau wusste, in welcher Kirche ich heiraten wollte. Das Datum stand fest. Alles war bereit. Er hatte bereits mit der Gästeliste angefangen, die wir gemeinsam vervollständigten. Wir genossen diesen Rausch aus Vorbereitungen und Träumen. Könnte ich nur zurückreisen in die Zeit vor unserer Hochzeit, sie noch einmal erleben. Die Musik, die Freunde, das Glück und die Liebe.
Den Optimismus.
Ich erinnere mich glasklar an den Moment, als wir beim Seiteneingang der Kirche aufeinandertrafen. Seine ausgestreckten Arme, die mich an sich zogen. Das Kleid war genau so, wie er es sich erhofft hatte. Mein hochgestecktes Haar saß perfekt, ein glänzendes, von Haarnadeln mit Perlenköpfen gekröntes Kunstwerk in den wippenden Locken.
Er wirbelte mich im Kreis herum. Nickte zufrieden. Ich fühlte mich wunderschön, den Nacken stolz gestreckt. In mir war kein Funken Zweifel, nur Erleichterung, dass ich endlich die Liebe gefunden hatte. Endlich würde ich heiraten. Ihn heiraten.
Im traditionellen Waffenhaus nahmen wir uns bei der Hand, während über uns die Glocken läuteten, die Finger fest ineinander verflochten. Seine Hand war warm und groß. Ich fühlte mich geborgen. Sein Blick war voller Liebe und Bewunderung.
Zu den Klängen des Hochzeitsmarsches betraten wir die Kirche, gingen den langen Gang zum Altar hinunter. Alle Blicke waren auf uns gerichtet.
Feierlich lächelnd schritten wir voran. In unsere Zukunft.
Es ist noch dunkel, als Esther aufsteht und in ihren Morgenmantel aus weichem Fleece gewickelt in die Küche schleicht. Sie gähnt und reibt sich die Augen. Auf dem Küchentisch steht ein rundes, metallenes Tablett, darauf das Waffeleisen, eine Rührschüssel und ein Schneebesen. Alles sorgfältig am Vorabend vorbereitet. Sie stellt Eier, Butter, Milch, Mehl und Backpulver dazu, rührt behutsam alles zu einem geschmeidigen Teig und fügt am Ende eine Prise Vanillezucker hinzu. Danach schneidet sie die Erdbeeren und eine Banane in kleine Stücke und füllt sie in eine Schale.
Auch der Tisch ist schon gedeckt, sie hat das beste Geschirr genommen, das sie besitzt. Auf Adrians Platz steht ein Becher mit Goldtext. I LOVE YOU auf der Außenseite und MORE THAN ALL THE STARS auf dem Becherboden. Das sagt sie ihm, so oft sie kann. Wie oft hat sie ihn sogar nachts geweckt und ist mit ihm auf dem Arm nach draußen gegangen, um ihm den Sternenhimmel zu zeigen.
»Sieh nur, wie groß alles ist«, hat sie zu ihm gesagt. »Siehst du, wie viele Sterne am Himmel stehen? Ich liebe dich mehr als alle Sterne. Mehr als alles, was es im Universum gibt.«
Wird er jemals begreifen, wie sehr sie ihn liebt? Vermutlich nicht. Sie zündet die Teelichter in den Kerzenhaltern an, die Adrian im Kindergarten gebastelt hat. Alte, mit Perlen und Glitzer verzierte Marmeladengläser. Es sind mittlerweile viele geworden, aber sie dürfen alle auf dem Tisch stehen.
»Ist schon Morgen, Mamimi?« Adrian kommt in die Küche. Seine Decke schleift hinter ihm auf dem Boden, den Teddy hat er sich unter den Arm geklemmt. So nennt er sie, wenn er müde ist, Mamimi. Sie lächelt ihn an und nimmt ihn auf den Arm. Er bohrt sein Gesicht in ihre Halsbeuge.
»Bald«, flüstert sie. »Ganz bald geht die Sonne auf. Siehst du, dort über den Bäumen ist der Himmel schon ganz rot.«
Adrian hebt den Kopf und entdeckt das Waffeleisen.
»Waffeln!«, ruft er schlagartig munter.
»Festfrühstück!« Esther stellt den Kleinen zurück auf den Boden und lächelt. Er wird allmählich schwer, das merkt sie im Rücken. Lange wird sie ihn nicht mehr herumtragen können.
Sie gibt eine Kelle Teig aufs Waffeleisen. Es zischt, und sofort breitet sich der süße Duft in der Küche aus. Adrian läuft zum Kühlschrank und rüttelt an der Tür des Gefrierschranks.
»Eis«, sagt er.
»Nein, nicht zum Frühstück«, sagt Esther und drückt mit dem Fuß die Tür wieder zu. »Nimm lieber Joghurt, der schmeckt genauso gut«, sagt sie, legt die erste Waffel auf seinen Teller und stellt ihm das Glas Joghurt hin.
Sie gibt eine zweite Portion Teig aufs Waffeleisen und schielt auf die Uhr. Noch eine Stunde, bis sie aufbrechen müssen. Jeden zweiten Mittwoch steht sie früher auf, um keinen Stress zu kriegen. Jeder zweite Mittwochmorgen soll perfekt sein. An ihrem Abschiedstag darf nichts schiefgehen.
Adrian mampft selig. Nachdem Esther ihm die zweite Waffel auf den Teller gelegt hat, holt sie das Eis aus dem Tiefkühlfach und zwinkert ihm zu.
»Ein Löffel kann nicht schaden!« Adrian hüpft begeistert auf dem Stuhl auf und ab.
»Eis zum Frühstück, jippie!« Er lacht ausgelassen.
»Das bleibt aber unser Geheimnis«, sagt Esther und legt einen Finger an die Lippen.
Sie gehen zu Fuß zur Vorschule, Esther mit schleppenden Schritten. Sie haben keine Eile, die Zeit reicht sogar, sich am Bahnhof noch einen Zug anzuschauen. Adrian weiß genau Bescheid und erklärt ihr, wie die Oberleitungen und Stromschienen funktionieren. Sie hört aufmerksam zu, stellt Fragen. Er hat auf alles eine Antwort. Was sich so ein kleiner Mensch alles merken kann, wenn es ihn interessiert.
Sie kommen gerade noch rechtzeitig zum Morgenkreis. Die Erzieherinnen und Kinder sitzen schon auf dem Boden. Esther entschuldigt sich, will Adrian zum Abschied umarmen, aber er windet sich aus ihren Armen und sucht sich einen Platz im Kreis, winkt ihr fröhlich zu.
»Bis nächste Woche«, ruft er unbekümmert.
Esther verabschiedet sich und geht in den Flur, stellt Adrians kleinen Rollkoffer an seinen Platz. Darin sind die Sachen, die er für die Woche bei seinem Vater braucht. Sein Teddybär, die Kuscheldecke, eine extra Jacke. Der Tennisschläger und die Turnschuhe. Alles, was nicht in doppelter Ausführung vorhanden ist und immer hin- und hergeschickt werden muss.
Sie wirft einen letzten Blick ins Spielzimmer und sieht, wie Adrian über den Boden rollt und auf Majas Schoss krabbelt. Die Erzieherin lässt sich davon nicht ablenken und singt weiter das Lied für die Kinder. Sie hält ihn fest und streicht ihm beruhigend über den Rücken.
Maja verbringt mehr Zeit mit Adrian als seine eigene Mutter. Sie sieht ihn jeden Tag, nicht nur jede zweite Woche.
Esther schüttelt den Kopf und verdrängt die in ihr nagende Eifersucht, die so wehtut. Sie klemmt die Laptoptasche unter den Arm und läuft los, um den Zug zu erreichen, der sie zur Arbeit bringt. Dabei geht sie im Geiste die Aufgaben auf ihrer To-do-Liste durch, um das unerträgliche Gefühl von Einsamkeit zu verjagen.
Jeder zweite Samstag ist ein freier, aber auch ein leerer Tag für sie. Eine Träne sucht sich ihren Weg über Esthers Wange, als sie am Wasser entlangspaziert, und nicht einmal die wärmende Sonne kann ihren Schmerz verscheuchen oder lindern. Sie fährt sich energisch mit dem Wollhandschuh übers Gesicht, um die maßlose Traurigkeit fortzuwischen, die sie so leid ist, die sie nachts immer noch aus dem Schlaf reißt. Von der ihre Augen so verquollen sind, dass sie am Wochenende niemanden sehen will, obwohl sie alle Zeit der Welt hätte.
Freitage sind ihr viel lieber. Nicht, weil es der letzte Arbeitstag der Woche ist, sondern weil sie sich dann hemmungslos ihrer Trauer widmen kann. Ohne Angst vor dem nächsten Morgen und den mitleidigen Fragen der Kollegen. Freitags kann sie heulen, bis die Augen rot und die Wangen fleckig sind. Bis zum Sonntagabend ist dann alles wieder gut.
Die Handschuhwolle kratzt auf der Haut, aber das ist ein guter Schmerz. Es gibt Tage, da will sie nicht mehr leben. Sie hat mindestens so oft nach Selbstmordmethoden gegoogelt wie nach den Begriffen Angst und Panikattacken.
Sie weiß genau, wie sie es machen will, wenn sie es eines Tages nicht mehr aushält. Sie wird sich an der Eiche erhängen. Ein Seil an einen der dicken Äste knoten und mit den Füßen die Bank wegstoßen. Dort kommt nur selten jemand vorbei, sie wird in Frieden sterben können. Und endlich frei von Kummer und Schmerzen sein. Frei von Sehnsucht und Traurigkeit.
Sie spürt einen Stich im Magen. Aber wer kümmert sich dann um Adrian? Wer wird jeden Millimeter von ihm so bedingungslos lieben wie sie? Er braucht sie. Sie muss durchhalten. Für ihn.
Sie weiß, dass diese Gedanken, sich das Leben zu nehmen, falsch und egoistisch sind, und versucht, sie zu verdrängen. Aber sie kommen immer wieder zurück.
Die Luft ist kalt und klar. Die Sonne reflektiert glitzernd auf der vom seichten Wind aufgerauten Wasseroberfläche. Die Blätter sind gelb verfärbt, der Herbst geht viel zu schnell vorbei. Ihr Blick wandert über das braune Gras der Wiese zu der mächtigen Eiche. Von einem der Äste hängt ein Seil herunter, nicht für einen lebensmüden Menschen, es ist eine Holzschaukel. Mit einem Fuß auf dem Holzbrett nehmen die Kinder Schwung und schaukeln hin und her. Adrian liebt diese Schaukel. Er quietscht vor Freude, wenn sie seinen kleinen Körper anstößt. Sie lächelt, sieht ihn vor sich, wie er den Kopf in den Nacken legt und seine langen Haare sich in der Luft auffächern. Traurigkeit erfasst sie, als sie sich bewusst macht, dass er nicht bei ihr ist.
Sie hört ihre Atemzüge. Laut und deutlich, tief ein und wieder aus. So schwer, als wäre die Luft aus Blei.
Die Bank unter der Eiche wird von der Sonne beschienen, die Strahlen wärmen noch. Esther streicht mit der Hand über die raue Rinde. Ihre Finger ertasten das E und das A, fahren über die Kontur des Herzens. Es ist nicht das einzige Herz auf dem Stamm. Weiter oben ist noch ein kleineres mit zwei einander zugewandten Rs wie in einem für immer vereinten Monogramm. Es ist kaum noch zu erkennen, die grünmoosige Rinde hat die Widmung schon halb verschlungen.
Auf der anderen Seite des Stamms, die zu der kleinen Vogelbucht hinüber weist, befindet sich ein weiteres Herz. Sie erinnert sich genau daran, kann es aber nicht finden und weiß auch nicht mehr, welche Buchstaben eingeritzt waren. Sie streicht suchend mit der Hand über die furchige Rinde und gibt schließlich auf. Vielleicht war es nicht tief genug eingeritzt, vielleicht hat der Zahn der Zeit es gefressen. Die Liebe verschlungen.
Sie setzt sich auf die Bank und schließt die Augen, lässt die Sonnenstrahlen ihr Gesicht wärmen. Es ist so ruhig. Alles ist so still.
Ich werde niemals den Tag vergessen, an dem wir uns kennenlernten. Es war Frühling, der erste richtig warme Tag. Ich trug ein rot-weißes Kleid, darunter nackte, winterblasse Beine. Ich war wild und fröhlich. Voller Hoffnung und Träume, was die Zukunft mir bringen würde. Es war eine wunderbare Zeit, einzig überschattet von meiner Ungeduld, weil mein Traum von der großen Liebe noch nicht in Erfüllung gegangen war.
Er kam in unser Seminar, um einen Vortrag zu halten. Wir waren sehr gespannt. Eine Schar Künstler mit großspurigen Träumen von einer großen Zukunft. Und da war er, ein junger Künstler, der bereits von seiner Kreativität leben konnte. Er genoss unsere Bewunderung und sonnte sich darin.
Er war schlicht gekleidet, schwarze Jeans und ein graublaues Hemd. Die dunkelbraunen Haare trug er kurz. Er sah mich sofort, daran erinnere ich mich, wir hatten Augenkontakt.
Alexander Lejon. Er witzelte darüber, dass er sich kürzlich, wie einst Simson, seine Löwenmähne geschnitten hätte, aber glücklicherweise säße seine Kraft nicht darin, sondern in ihm selbst, ungebrochen. Und tatsächlich zog er den gesamten Kurs mit seiner Energie und den funkelnden Augen in den Bann.
Ich habe nicht alles mitbekommen, was er gesagt hat, weil ich so damit beschäftigt war, seine Bewegungen zu studieren. Er zeigte uns, wie er mit dem Computer arbeitete, ihn mit seinen Skizzen und Zeichnungen fütterte, die er dann mithilfe eines Computerprogramms namens Photoshop in vollendete Werke verwandelte. Das Programm war damals noch ganz neu, wir hatten noch nichts davon gehört. Ihm zufolge gehörte Photoshop die Zukunft. Wir senkten die Köpfe, starrten gebannt auf unsere von den Kohlestiften geschwärzten Finger, voller Hochachtung vor dieser uns unbekannten Technik.
Nach seinem Vortrag sah er sich unsere Mappen an. Bei mir verweilte er am längsten und attestierte mir ein besonderes Talent. Meine Arbeiten hätten etwas Lebendiges, würden sich von den anderen abheben. Das machte mich so stolz und glücklich.
Aber dann war sein Besuch beendet und der Zauber vorbei.
Vielleicht wäre es das Beste gewesen, wenn ich ihn nie wiedergesehen hätte. Aber er kam zurück, im Herbst desselben Jahres. Ich hatte mich von meinem Traum einer Zukunft als Künstlerin verabschiedet und studierte Kunst auf Lehramt. Wir gingen im Flur aneinander vorbei, sein Arm streifte meinen, aber er erkannte mich nicht wieder. Ich blieb stehen und grüßte, doch er lief gedankenversunken weiter.
Plötzlich drehte er sich um und kam zurück.
»Wollten Sie was von mir?«, fragte er.
Ich nickte stumm, bekam kein Wort über die Lippen. Er war angespannt, gestresst, sah unablässig auf seine Uhr.
»Ich hab mich wohl verlaufen. Ich muss zu diesem Seminarraum, wie komme ich dorthin?« Er hielt mir einen Zettel unter die Nase.
»Das ist in einem anderen Gebäude, ich bringe Sie gerne hin.«
Seine Gesten und sein Duft waren so vertraut.
»Wir sind uns Anfang des Jahres schon einmal begegnet«, sagte ich.
»Ich treffe in meinen Vorlesungen so viele Menschen.« Er zuckte entschuldigend mit den Schultern.
»Nicht hier an der Uni, in Solhem. Ich habe dort im Frühling einen Kurs besucht. Ich male auch, natürlich nicht so gut wie Sie, nur …«
Er blieb stehen und zeigte auf das Skizzenheft in meiner Hand.
»Jetzt erinnere ich mich wieder. Sie waren die mit den Blumen. Sie hatten lauter Zeichnungen von Blumen in Ihrer Mappe«, sagte er und tippte auf die etwas schlampige Zeichnung einer Sonnenblume auf dem Umschlag.
Ich nickte.
»Was machen Sie dann hier, Sonnenblümchen? Wollen Sie nicht Künstlerin werden?«
Sonnenblümchen, das klang wundervoll. Noch nie hatte mich jemand mit einem Kosenamen angesprochen. Ich kannte nur meinen richtigen harten Namen. Esther.
Bevor wir auseinandergingen, sagte er, dass er mich gerne zeichnen würde. Und das war nicht als Frage formuliert. Er lehnte sich vor und riss die Ecke mit der Sonnenblume ab, fragte nach meiner Telefonnummer und notierte sie auf der Rückseite.
»Ich brauche die Ecke mit der Sonnenblume, damit ich weiß, wessen Nummer das ist«, erklärte er und zwinkerte mir zu. Nach meinem Namen fragte er nicht.
Er entschwand in seinen Vorlesungssaal zu einer neuen Gruppe erwartungsvoller Studenten und ließ mich mit einem zerrissenen Skizzenheft und flatterndem Herzen zurück. Er wollte mich zeichnen. Und das tat er. Viele Male.
Mein Alex.
Von diesem Tag an war ich verloren.
Ein Vogelschwarm, der sich aus der Krone der Eiche erhebt, zerreißt die Stille. Esther öffnet die Augen, aufgeschreckt vom Rascheln und Flattern über ihr. Ein paar Blätter segeln zu Boden.
Unten am Wasser steht jemand. Esther kneift die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Eine schmale, gekrümmte Gestalt, eine Frau mit langen grauen Haaren, die zu einem Pferdeschwanz gebunden sind. Sie wirft Brotkrümel in die Luft.
Esther steht auf und nähert sich vorsichtig balancierend über die glatten Felsen.
Kaskaden von Brotkrümeln regnen auf eine Schar Enten, die sich gierig darauf stürzen. Die alte Dame greift entschlossen in eine große Tüte in ihrer Hand.
»Gut, dann ist die Bank endlich wieder frei«, sagt sie, ohne sich umzudrehen.
Esther lächelt verunsichert.
»Ja. Sitzen Sie auch öfter dort?«, fragt sie.
Die Frau dreht sich um, lächelt Esther an und hält ihr die Tüte mit den Brotkrümeln hin.
»Ja, das ist der schönste Platz. Kommen Sie, nehmen Sie eine Handvoll und werfen Sie sie den Enten hin. Das ist ungeheuer befreiend.«
Befreiend? Brotkrümel ins Wasser zu werfen? Esther sieht sie fragend an. Die Frau schüttelt die Tüte vor ihrem Gesicht.
»Es ist befreiend, Dinge von sich zu werfen. Stellen Sie sich vor, es wäre etwas, das Sie loswerden wollen. Sie werden sehen, wie gut das tut.«
Sie lacht übers ganze Gesicht, ihre Augen sind in ein Netz aus Lachfalten gebettet. Auch ihre Wangen sind von tiefen Furchen durchzogen. Ihre Haut ist porzellanblass, an den Schläfen schimmern grünlich die Adern durch. Ihre Augen strahlen, als würde das Glück aus ihrem Inneren leuchten. Sie steckt ihre Hand erneut in die Tüte und hält sie dann Esther entgegen.
»Öffnen Sie die Hand«, befiehlt sie.
Esther gehorcht und bekommt eine Ladung Brotbrocken und Krümel. Einige fallen zu Boden und werden von den mittlerweile an Land gekommenen Enten gierig aufgepickt. Furchtlos und hungrig, auf der Jagd nach Leckereien, die es sonst nirgendwo gibt. Esther hebt den Arm über den Kopf, schwingt ihn nach vorne und öffnet die Hand. Die Krümel fliegen durch die Luft. Die Frau hat recht, das fühlt sich gut an. Sie steckt die Hand in die Tüte und versucht es ein zweites Mal. Die Enten zu ihren Füßen streiten laut schnatternd um die besten Happen.
»Den da habe ich Rinaldo getauft«, sagt die Frau und zeigt auf den größten Erpel von allen.
»Schöner Name. Ungewöhnlich.«
Die Frau zieht ihren Handschuh aus und streckt Esther mit einem Nicken ihre kalte, raue Hand hin. Esther erwidert den Händedruck.
»Ich heiße Rut«, sagt sie. »Ich habe Sie schon oft dort oben sitzen sehen.«
»Aber ich Sie nicht.«
»Ich wollte Sie nicht stören, Sie waren so mit ihrer Trauer beschäftigt.«
Esther zuckt zusammen.
»Aber finden Sie nicht, dass es langsam an der Zeit ist, damit aufzuhören? Ihre Augen sehen schon aus wie zwei Fleischklöße«, sagt Rut und nickt ihr zu.
»Warum sagen Sie das?«, erwidert Esther fassungslos, legt eine Hand aufs Auge und fährt mit den Fingern darüber. Vielleicht hat Rut recht, die Augenlider fühlen sich geschwollen an. Fleischklößchenaugen.
Rut schüttelt die letzten Krümel aus der Tüte, ein paar besonders mutige Enten wagen sich fast bis an ihre Schuhe heran. Sie knüllt die Tüte zusammen, steckt sie in die Jackentasche und zieht ihre Handschuhe wieder an.
»Es ist ganz schön kalt geworden, oder?«, sagt Rut lächelnd und zieht die Schultern hoch. Sie scheint nicht vorzuhaben, Esthers Frage zu beantworten.
Die hebt im Gehen die Hand zum Abschied.
»Ja, stimmt, aber unter der Eiche ist es noch angenehm warm, wenn die Sonne scheint und man im Windschatten sitzt. Schönen Tag noch, war nett, Sie kennenzulernen.«
Esther macht es sich auf der Bank bequem und holt ihr Skizzenheft aus der Tasche. Für jeden Tag ohne Adrian malt sie einen Strich auf die Innenseite des Heftes, die mit Strichen übersät ist. Schwarze und blaue, vier gerade Striche und ein diagonaler. Die Einheiten aus fünf Strichen bedecken fast die ganze Seite, mittlerweile schon über dreihundert. Bald muss sie auf die hintere Innenseite wechseln.
Sie hat schon immer gerne geschrieben, solange sie zurückdenken kann, manchmal nur ein Wort oder zwei, manchmal ganze Sätze. Geschichten. Abhängig von ihrer Stimmung. Im Moment schreibt sie Erinnerungen auf, um die Zusammenhänge zu verstehen. Nur die Wahrheit, keine Übertreibungen. Leicht fällt ihr das nicht, es war alles so subtil. Das Böse war nie offensichtlich, weder für sie noch für andere. Aber deswegen war es trotzdem immer da. Manchmal glaubt sie, verrückt zu werden. Dann kommen die Todesgedanken. Es wäre so schön, einfach einzuschlafen, die Augen zu schließen und nie wieder aufzuwachen.
Aber wer könnte Adrian je so lieben, wie sie es tut? Seinetwegen muss sie bleiben, kann ihn nicht im Stich lassen. Nicht jetzt. Nicht in dieser Situation.
Sie wandert mit den Fingern über die vielen Striche. So viele verlorene Tage. Tage, an denen er gelacht, Geschichten erzählt und etwas Neues gelernt hat, an denen er herumgesprungen und gestolpert ist und mit einer Umarmung und einem Kuss getröstet werden musste. Tage, an denen sie nicht für ihn da war. Ob er ihr das jemals verzeihen kann?
Die Traurigkeit ballt sich wie eine kalte Faust in ihrem Bauch zusammen und raubt ihr jede Lebensfreude. Wie ein verklebter Klumpen in ihrem Brustkorb, eine ständige Erinnerung an das, was sie getan hat, was von vielen verächtlich als leichtfertig und egozentrisch betrachtet wird.
Die Frauen sind am schlimmsten mit ihren unbedachten Kommentaren, die sich wie Messer in ihre Seele bohren. Dabei stehen sie vor ihr, den Kopf zur Seite geneigt, und lächeln sie an.
Wie ist denn das Leben als Teilzeitmutter so? Ist das nicht anstrengend?
Esther lehnt den Kopf gegen den Baumstamm und hält das Gesicht in die tief stehende Sonne. Ihr Notizheft liegt schon wieder in der Tasche, kein neues Wort ist heute dazugekommen. Sie ist allein, Rut scheint nach Hause gegangen zu sein. Und auch die Enten sind weitergezogen.
Nur die Vögel leisten ihr noch Gesellschaft, allerdings wird auch ihr Gesang mit jeder Woche dünner, wenn sich der nächste Schwarm Zugvögel auf den Weg gemacht hat. Standvögel und Zugvögel. Standeltern und Zugeltern. Standkinder und Zugkinder. Sie fröstelt bei dem Gedanken.
Als die Sonne hinter den Baumwipfeln versinkt, wird es schlagartig kühl. Sie hat ein ganzes Stück vor sich, und es wird dunkel sein, bis sie zu Hause ankommt. In eine leere, stille Wohnung. Die Tür zu Adrians Zimmer ist geschlossen, damit es nicht so wehtut. Sie bewahrt sein Zimmer genauso, wie er es verlässt, die Spielsachen auf dem Boden verstreut, das Bett zerwühlt. Damit er sich zu Hause fühlt, wenn er das nächste Mal kommt, damit es sich immer wie sein Zuhause anfühlt.
Sie richtet sich auf. Sie muss noch Milchbrötchen mit extra viel Marzipan backen und einfrieren, damit immer genug vorrätig sind, wenn sie sich bei Kaffee und Kakao Geschichten ausdenken. Nur noch wenige Tage, dann läuft die Zeit wieder schneller.
Sie geht zügiger. Seht her, sie ist keine Teilzeitmutter. Sie ist rund um die Uhr Mutter, jede Sekunde ihres Lebens. Seit Adrian das Licht der Welt erblickt hat. Sie gehört zu der Sorte Mütter, die an einem Samstagabend für ihr Kind backen.
Es hat vor Kurzem geregnet, die Straße ist voller Pfützen. Esther weicht ihnen so gut es geht aus, aber ihre Schuhe werden trotzdem nass und schmutzig. Es ist mitten am Tag, aber gefühlt könnte die Sonne jeden Augenblick untergehen. Sie hängt tief über den Baumwipfeln und kämpft sich durch eine schleiergraue Wolkenschicht. Die Stunden, die ihr unter der Eiche bleiben, werden immer kürzer werden. Aber angesichts der fallenden Temperaturen und dem nahenden Dezember ist das vielleicht auch gut so.
Ihr Handy klingelt, wie schon den ganzen Morgen. Bisher hat sie keine Lust gehabt ranzugehen. Jetzt gibt sie auf, bleibt stehen und sieht hinaus aufs Wasser, während sie es aus der Jackentasche zieht.
»Hallo, Mama«, sagt sie.
»Endlich bekomme ich dich zu fassen. Ich habe mir schon Sorgen gemacht.« Die Stimme von Esthers Mutter klingt vorwurfsvoll.
»Ach was, alles in Ordnung, was soll denn passiert sein? Ich hatte einfach viel um die Ohren.«
»Du arbeitest doch nicht das ganze Wochenende, wenn Adrian nicht da ist? Liebes, denk an deine Gesundheit. Du musst auch mal ausgehen, unter Leute kommen und Spaß haben.«
»Hast du was Bestimmtes auf dem Herzen?«
»Ich wollte fragen, wie wir es an Weihnachten machen? Kommt ihr alle zusammen?«
»Ja, wir kommen. Das habe ich dir doch schon gesagt.«
»Ich freue mich so darauf, dich und Alex und Adrian ein bisschen zu verwöhnen.«
»Ach Mama, Alex kommt nicht mit. Wir sind geschieden, das weißt du doch.«
»Ich dachte nur …«
»Hör auf damit. Adrian und ich kommen. Wir sind ›alle zusammen‹. Ich muss jetzt auflegen, ciao.«
Sie beschleunigt ihre Schritte, keucht vor Anstrengung, ihre Wangen brennen vor Kälte. Sie hat sich eine dicke Wolldecke unter den Arm geklemmt, die Mütze ist tief ins Gesicht gezogen, und um den Hals hat sie sich einen kuscheligen Schal geschlungen. Ihre Augen sind wie jeden zweiten Samstag rot und verquollen. Sie ist müde und ausgelaugt vom vielen Weinen. Erschöpft. Der Abschied gestern war schrecklich gewesen. Adrian war zwei Tage länger bei ihr geblieben, weil er mit Fieber im Bett gelegen hatte und nicht wegwollte. Er saß im Kindersitz auf der Rückbank und streckte ihr seine Arme entgegen. »Mama, Mama!«, rief er mit glühenden Wangen, schweißnass im Gesicht.
Alex fuhr unbeirrt los, obwohl Esther hinter ihm herrannte. »Halt an!«, schrie sie hinter ihm her, obwohl sie genau wusste, dass sie sich beruhigen, sich erwachsen verhalten sollte.
Der Wagen fuhr davon, Adrians Weinen verstummte. Aber nicht in ihrem Inneren. Dort hörte sie es immer noch.
Jemand hat die Bank verschoben. Sie steht nicht mehr am Stamm der Eiche. Mühsam zerrt sie die Bank zurück an ihren Platz unter dem eingeritzten Herzen. Nur dort sind sie noch eine Familie, von Liebe umschlungen.
Alex ist mit Adrian übers Wochenende aufs Land gefahren. Sie besuchen die Eltern seiner neuen Freundin. Zu einer neuen Beziehung gehören auch neue Großeltern. Sie sind selbstverständlich großartig, zumindest wenn Alex über sie spricht. Wohlhabend, erfolgreich, klug und ganz reizend. Sie lachen so viel zusammen. Adrian geht es hervorragend dort. Sie hält den Hörer weit weg vom Ohr, wenn Alex mit seiner Schwärmerei beginnt, damit seine Worte sie nicht zerstören. Seine Superlative, die in ihr nichts als schlechte Gefühle wie Missgunst, Eifersucht, Panik und Schuld auslösen. Sie weiß, dass sie kein Recht dazu hat.
»Bist du jetzt zufrieden? War es das, was du wolltest?«, beendet Alex in der Regel das Telefonat.
Ob sie zufrieden ist? Nein, wie sollte sie?
Sie kriegt keine Ordnung in ihre Gedanken, sosehr sie sich auch bemüht. Stundenlang sitzt sie dort unter der Eiche und grübelt. Sie hätte es früher sehen müssen, alle Zeichen deuteten daraufhin. Aber hätte sie es früher erkannt, gäbe es Adrian vielleicht nicht. Und Adrian ist das Beste, was ihr passieren konnte. Er ist ihr Ein und Alles. Er ist ihr Leben, das, was noch davon übrig ist. Er ist ihre Freude, Liebe und Kraft. Sie kann sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen.
Es musste so sein. Ohne Alex keinen Adrian.
Sie wickelt sich in die Decke, stopft den Rest als Schutz gegen die Kälte unter die Beine. Ein sanfter Wind trägt den Duft von Tang heran, der beim letzten Sturm in rauen Mengen ans Ufer gespült wurde. Hier unter der Eiche findet sie endlich Frieden und kann tief und gleichmäßig atmen.
»Es wird bald wieder regnen. Sehen Sie nur die dunklen Wolken. Sieht eigentlich ganz malerisch aus, wie der stahlgraue Himmel und das tiefblaue Meer aufeinandertreffen.«
Esther zuckt zusammen. Rut sitzt am anderen Ende der Bank, den Blick aufs Meer gerichtet. Wo ist sie jetzt plötzlich hergekommen? Esther muss kurz weggenickt sein.
»Es regnet doch schon die ganze Zeit. Meine Güte, ist das dunkel«, jammert Esther.
Rut rutscht näher zu ihr. Sie trägt eine rote, in die Jahre gekommene Daunenjacke, zerschlissen und mit zerfransten Bündchen. Sie zuckt übertrieben mit den Schultern und spreizt ihre Finger ab.
»An solchen Tagen braucht man den Pinguin«, sagt sie. »Garstig ist wohl das richtige Wort dafür.«
»Pinguin? Hier gibt es doch keine Pinguine.«
Rut lacht laut auf, gerät kurz aus dem Gleichgewicht und bringt die Bank zum Wanken. Sie steht auf und baut sich vor Esther auf.
»So, hier«, sagt sie, presst die Arme an ihren Körper, winkelt die Hände nach außen ab und zuckt mit den Schultern. »Sie waren offenbar nie in einer Skischule? Dort lernen die Kinder das, um sich warm zu halten.«
Esther schüttelt den Kopf und lächelt.
»Probieren Sie es, Sie werden sehen, dass es funktioniert.«
Esther wickelt sich die Decke um die Hüfte, presst die Arme an den Körper, spreizt ihre Hände ab und zuckt mit den Schultern.
»Schneller«, feuert Rut sie an.
Esther schüttet sich aus vor Lachen und lässt sich kichernd auf die Bank plumpsen.
»Ich friere gar nicht«, sagt sie, als sie wieder sprechen kann. »Ich habe doch die dicke Decke dabei.«
»Ja, Sie sind bestens für dieses Wetter ausgestattet. Aber so was hier haben Sie nicht dabei, oder?«
Rut grinst verschmitzt, als sie eine kleine Thermoskanne aus der Innentasche ihrer Jacke zieht. Sie schraubt den Deckel ab, gießt etwas von der dampfenden Flüssigkeit hinein und reicht ihn Esther.
»Ich werde doch nicht Ihren Kaffee austrinken. Der ist für Sie.«
Aber Rut besteht darauf, dass Esther den kleinen Becher nimmt und zaubert mit der freien Hand einen zweiten Plastikbecher aus der anderen Jackentasche.
»Ich habe immer einen zweiten Becher dabei, für den Fall, dass jemand mir Gesellschaft leisten will. Ich heiße Rut. Prost!« Sie stößt mit ihrem Becher gegen Esthers.
»Ich weiß, wir haben uns doch vor ein paar Wochen unten am Wasser getroffen. Ich bin Esther. Freut mich, Rut.«
Rut mustert sie durchdringend.
»Das stimmt.«
Schweigend sitzen sie eine Weile nebeneinander auf der Bank und genießen die Wärme, die sich in ihnen ausbreitet. Esther legt Rut ein Ende der Decke über die Beine. Sie lehnen sich an den Stamm der Eiche.
»Es ist so zugewuchert hier, wir sollten ein paar von den Büschen beschneiden, damit sie uns nicht die Sicht versperren«, sagt Rut und zeigt zum Wasser.
»Das können wir doch nicht einfach machen. Das Grundstück gehört doch sicher jemandem. Der Gemeinde, vielleicht?«
Rut lächelt wieder verschmitzt, steht auf und läuft mit schmatzenden Stiefeln über den feuchten Boden. Esther hört, wie sie vor sich hinmurmelt.
»Der muss weg und der da muss weg und der auch.« Sie dreht sich zu Esther um und stemmt ihre Hände in die Hüfte. »Los, komm. Sitz nicht so träge da rum. Wir haben was zu tun!«, ruft Rut.
An einem der jungen Bäume lehnt eine Säge. Rut holt sie und hält sie Esther hin.
»So, bitte sehr. Ich bin alt, das musst du erledigen. Du bist jung und stark. Aber säg sie so weit unten ab, dass wir nicht die hässlichen Stümpfe sehen müssen.«
»Ist das dein Ernst?«
»Wir brauchen freie Sicht aufs Meer. Solange ich mich erinnere, ist es immer so gewesen. Dieses Gestrüpp versperrt den Blick auf das Schöne. Los, sägen!«
Esther zögert, dann setzt sie aber doch die Säge an. Das rostige Sägeblatt ist anfangs etwas widerspenstig und bleibt immer wieder in dem kräftigen Stamm stecken. Sie muss die Säge mit beiden Händen halten. Irgendwann gibt das Holz endlich nach, und der Stamm fällt um. Rut tänzelt zufrieden hin und her und bringt Esther mit ihrem Enthusiasmus zum Lachen.
Gemeinsam schleppen sie die dünnen Stämme weg und stapeln sie auf einen Haufen. Rut reibt sich den Rücken und lässt den Ast fallen, den sie in der Hand hält.
»Hast du Schmerzen?«
»Der Rücken«, klagt sie. »Er mag nicht mehr.«
Esther nimmt den Ast, den Rut fallen lassen hat, und wirft ihn auf den Haufen zu den anderen.
»Ruh dich ein bisschen aus, ich mache das hier. Das geht ja schnell.«
Rut schnaubt und streckt die Arme in die Luft.
»Mein Rücken streikt, aber das gilt nicht für mich!«, sagt sie und bückt sich, greift nach ein paar dünneren Zweigen und schleift sie hinter sich her.
Am Ende ist alles abgesägt und aufgeräumt. Esther hat die körperliche Arbeit gutgetan, ihre Wangen glühen, und ihr Unglück ist für eine Weile im Pausenmodus. Dennoch kann sie gar nicht anders, als an Adrian zu denken.
»Adrian wäre begeistert.«
»Wer ist Adrian?«
»Mein kleiner Junge, er ist fünf.«
»Ach, und wo ist er jetzt?«
Esther zieht sich die Jacke enger um den Körper.
»Das ist eine lange Geschichte«, sagt sie.
Rut nickt und sieht wieder hinaus aufs Meer.
»Das ist es meistens«, sagt sie. »Es wird langsam Zeit aufzubrechen, findest du nicht? Es ist ziemlich kalt geworden. Wir können uns das nächste Mal weiterunterhalten.«
Esther gibt ihr die Säge zurück.
»Woher hast du die? Ist das deine?«
»Das ist auch eine lange Geschichte.«
»Ich bin Samstag in zwei Wochen wieder hier. Etwa um dieselbe Zeit. Wie sieht es bei dir aus?«
Rut nickt.
»Ich werde hier sein. Ich habe sonst keine Pläne.«
Es war Mittsommer, unser erstes gemeinsames Mittsommerfest. Die Wiesen blühten in voller Pracht. Gelbe, rosa und weiße Blüten strahlten bunt um die Wette und boten sich den Schmetterlingen als gedeckte Tafel an, die von einer Blüte zur anderen flogen und grazil und federleicht auf ihrem nächsten Ziel landeten. Als wir mit nackten Füßen über die Wiese rannten, stoben sie in dichten, wunderschönen Schwärmen auf. Der Boden war trocken und warm. Wir breiteten unsere Badetücher auf den Felsen am Wasser aus, ganz nah beieinander. Wir sprangen immer wieder in das kalte Wasser und wärmten uns danach gegenseitig.
In diesem Sommer musste ich nicht mehr sieben Sorten wilde Blumen pflücken und sie mir unters Kopfkissen legen, um von meinem Zukünftigen zu träumen. Ich hatte ihn bereits gefunden. Das war wunderbar und mein Glück kaum zu fassen.
Wir machten Picknick. Alex hatte alles organisiert und sogar für uns gekocht. Auf echtem Porzellan hübsch angerichtete Leckereien, auf einer Tischdecke mit Spitze. Und Silberbesteck. Wir aßen und unterhielten uns, und es war, als würde die Zeit stillstehen.
Er jagte mich über die Wiese, ich rannte kreischend vor ihm weg. Wir waren fast nackt, ich trug einen neuen weißen Bikini, er Badeshorts. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart wohl in meinem Körper. Nicht wie früher, als ich ständig Fehler und Mängel gesehen und gesucht hatte.
Ich tanzte im Kreis, rannte an ihm vorbei, um ihn herum. Er packte mich an der Taille, hielt mich fest. Wir küssten uns, er schob mich vor sich her, bis ich mit dem Rücken den Stamm der Eiche spürte. Seine Hand schob sich in meine Bikinihose und zog sie herunter. Ich protestierte, aber er sagte lachend, dass alle Mittsommer feierten und wir ganz ungestört wären, ich solle ganz entspannt sein. Er küsste mich immer so unbekümmert, nahm sich, was er wollte, und ich liebte es. Ich gehörte ihm.
Danach lagen wir nackt unter dem Baum. Er streckte sich genüsslich, unberührt von seiner Nacktheit und der Tatsache, dass wir gerade miteinander geschlafen hatten. Ich lag neben ihm, mein Kinn auf seiner Brust. Die Schweißtropfen auf seiner feuchten Haut schimmerten im Sonnenlicht. Er duftete nach Sonne und Meer. Ich konnte meinen Blick nicht von ihm losreißen. Er war das Schönste, was mir je untergekommen war.
»Siehst du das Herz da oben am Stamm?«, flüsterte ich.
Für mich war das in den Stamm der Eiche geritzte Herz ein Zeichen. Zuerst hörte er mich nicht, er war eingeschlafen und atmete schnorchelnd durch die Nase. Ich küsste seinen Hals, schmeckte das Salz auf seiner Haut. Er bewegte sich.
»Wer das wohl war und wie sie hießen? Was haben sie hier gemacht?«, sagte ich.
Er schreckte auf und tastete nach seiner Shorts.
»Wo wem redest du? Wer ist hier?«
»Hier ist niemand. Ich rede von dem Herzen, da oben am Baumstamm. Es umschließt zwei Buchstaben, zwei Rs. Ich frag mich, wer das wohl war?«
Er entspannte sich wieder, schloss die Augen und drehte sich zu mir. Ich schmiegte mich so an ihn, dass mein Körper eine Schale war, in der er liegen konnte.
»Wir machen auch eins«, sagte er und machte sich frei. Seine Shorts hing ihm am Knöchel, er zog sie hoch und band die Schnur am Bund sorgfältig zu einer Schleife. Den Blick auf den Boden geheftet suchte er zwischen den heruntergefallenen Zweigen nach einem geeigneten Stein. Schließlich fand er einen spitzen, mit dem er zwei Buchstaben in den Stamm ritzte. Ein E und ein A. Esther und Alex. Große, deutlich erkennbare Buchstaben.
Ich lag da und sah ihm dabei zu. Ich liebte es, das Spiel seiner Rückenmuskulatur zu beobachten. Er gab sich große Mühe, unsere Buchstaben dort zu verewigen.
»Jetzt fehlt nur noch das Herz«, sagte ich.
Er ließ die Hand mit dem Stein hängen, dann setzte er sich neben mich. Ich nahm ihm den Stein aus der Hand, er lachte.
»Wozu ein Herz, du altmodische Romantikerin? Wir sind doch viel mehr als zwei in einem Herzen eingesperrte Buchstaben. Wir sind stark, wir sind frei.«
Ich hörte ihm nicht zu, sondern sprang auf und fügte ein Herz hinzu. Ein schönes. Ein perfektes. Ich ließ die Spitze unten etwas offen.
»Siehst du, hier kann die Freiheit hinausströmen«, sagte ich und zwinkerte ihm zu.
»So habe ich das nicht gemeint. Du verstehst mich nicht«, murmelte er.
Und damit sollte er recht behalten. Ich habe tatsächlich nicht verstanden, was er meinte. Perfekter als unser erster Mittsommertag zusammen konnte unsere Liebe nicht werden. Er war alles, was ich mit Liebe verband. Und von diesem Tag an waren wir in der Rinde verewigt. Er und ich. Für immer.
Wir blieben die ganze Nacht auf der Wiese. Als es dunkel wurde, schmiegten wir uns aneinander, bis der Himmel seine Farben von Rosa zu Lila wechselte und schließlich blasser wurde. Musik, Gesang und Gelächter hallten übers Wasser zu uns herüber, aus den Häusern und von den anderen Mittsommerfeiern in der Bucht. Wir redeten die ganze Nacht, hatten uns so viel zu erzählen.
An diesem Samstag hat Esther eine Thermoskanne dabei. Und frisch gebackene Safranschnecken, mit deren Herstellung sie sich den einsamen Freitagabend vertrieben hat. Der süße, schwere Duft in der Wohnung verdrängte die Stille.
Die Luft ist kalt, der Boden glitzert im schwachen Sonnenlicht. Aber es ist kein Schnee, sondern Eis.
Esther beeilt sich. Heute hat sie ein Ziel vor Augen, keine Einsamkeit und Leere. Sie sieht Rut schon von Weitem am Wasser stehen und den Enten Brotkrümel zuwerfen. Das gefrorene Gras knistert leise unter Esthers Sohlen.
Rut hört sie und dreht sich zu ihr um. Überrascht.
»Was machst du denn hier? Ist schon wieder Samstag?«, fragt sie erstaunt.
»Ja, tatsächlich ist schon wieder Samstag. Die Wochen fliegen nur so dahin.«
Rut steckt ihre Hand in die Jackentasche und zieht eine Tüte mit Brotkrümeln heraus.
»Ich habe eine für dich mitgebracht. Falls du Lust hast, ein paar Krümel zu werfen.«
Esther bedankt sich, steckt ihre Hand in die Tüte und wirft die Krümel hoch in die Luft.
»Du hast recht. Das tut gut«, sagt sie und nimmt eine zweite Handvoll.
»Sag ich doch. Ab und zu muss man einfach etwas wegwerfen. Brrr. Kalt ist es heute. Wollen wir ein Feuer machen und das Gestrüpp und die Äste, die wir letztes Mal abgesägt haben, verbrennen?«
Esther sieht sie skeptisch an.
»Wir können hier doch nicht einfach ein Feuer machen. Das gibt nur Ärger.«
Rut sieht sie amüsiert an und fängt an zu lachen.
»Ärger? Weswegen das denn, bitte schön?«
»Weil wir auf einem fremden Grundstück ein Lagerfeuer machen. Das ist hier doch Gemeindeland, oder nicht?«
»Wenn sich die Polizei die Mühe machen sollte hierherzukommen, verspreche ich dir, alle Verantwortung zu übernehmen. Mach dir keine Sorgen.«
Esther schüttet sich die letzten Krümel in die Hand, holt aus und schleudert sie weit hinaus aufs Wasser.
»So, ihr Süßen, jetzt müsst ihr ein bisschen schwimmen«, ruft sie den Enten zu.
Rut stellt sich neben sie.
»Ich stelle mir immer vor, dass ich alle unangenehmen Gedanken wegwerfe. Die dunklen, mit denen man sich eigentlich nicht beschäftigen sollte. Aber vielleicht hast du solche ja gar nicht?«
Esther atmet tief ein, viel zu hastig. Sie verschluckt sich und muss husten.
»Natürlich habe ich auch finstere Gedanken«, sagt sie japsend und lächelt Rut schief an.
»Dann such dir einen Satz aus, den du loswerden willst. Und wirf ihn weit weg.«
Rut sieht hinaus aufs Wasser und beobachtet die Enten, die erwartungsvoll und geduldig auf die nächste Ladung Krümel warten. Aber Esther bleibt stumm. Rut drückt ihr ein paar Krümel in die Hand.
»Sag den Satz und wirf ihn mit den Krümeln in die Luft und weg«, flüstert sie und streicht Esther über die Schulter.
»Es war meine Schuld«, flüstert Esther am Ende und lässt die Krümel auf den Boden rieseln.
Schweigend stehen sie nebeneinander und starren aufs Meer. Die Enten sind wieder an Land gehüpft und schnappen nach den Krümeln. Die Wellen schlagen glucksend gegen die Felsen. Esther läuft eine einsame Träne über die Wange.
»Ich glaube, wir müssen heute etwas Schwereres werfen als Brotkrümel«, sagt Rut, bückt sich, hebt einen dicken Zweig auf und hält ihn Esther hin. »Wirf den hier auf den Haufen, und dann such dir neue und wirf sie obendrauf. Und mit jedem Zweig wirfst du diesen furchtbaren Satz von dir.«
Esther macht sich sofort an die Arbeit und sammelt so viele Zweige und Reisig, wie sie finden kann. Der Haufen wächst. Rut steht mit einer Flasche Brennspiritus und Streichhölzern daneben und wartet. Dann schüttet sie die Flüssigkeit über die Zweige und zündet sie an.
»Wo hast du bloß das ganze Zeug her?«, fragt Esther neugierig. »Wohnst du in der Nähe?«
Rut zeigt auf einen kleinen Schuppen, der sich am Waldrand unter den Bäumen versteckt und der Esther bisher nicht aufgefallen ist. Die Tür steht offen, und man kann die Holzwände stehen.
»Hast du einen Schlüssel?«
Rut nickt lächelnd.
»Ja, habe ich.«
Esther liegen noch mehr Fragen auf der Zunge, aber Rut dreht sich um und geht zurück zur Eiche.
»Komm, wir tragen die Bank ans Feuer, dann haben wir es schön warm.«
Die massive Kernholzbank ist schwer. Sie schleppen sie wankend und stolpernd über die Wiese, müssen immer wieder Pausen einlegen und neue Kräfte sammeln. Aber am Ende steht sie am knisternden Feuer. Esther packt ihre Thermoskanne und die Tüte mit den Safranschnecken aus. Rut klatscht begeistert in die Hände.
»Safranschnecken!«, ruft sie. »Die habe ich seit Jahren nicht mehr gegessen. Ist schon der 13. Dezember? Haben wir schon Lucia?«
Esther schüttelt den Kopf. »Nein, das ist noch ein paar Wochen hin, aber ich fand sie genau richtig für heute.«
Rut beißt herzhaft in eines der Hefeteilchen und grunzt genüsslich.
»Hm, göttlich. In Italien gibt es Safranpasta, aber ich finde ja, dass es viel besser zu Hefeteig passt«, sagt sie mit vollem Mund.
Esther würde gerne mehr über Italien erfahren, aber Rut hat schon die nächste Frage für sie parat.
»Verrat mir, womit du den furchtbaren Gedanken ersetzen willst?«
»Was meinst du damit?«
»Was willst du ab jetzt statt ›Es war meine Schuld‹ denken?«
»Willst du gar nicht wissen, warum ich mich schuldig fühle?«
»Nein, da wollen wir nicht weiter drin herumgraben. Du hast deshalb schon genug geweint.«
Rut greift in die Tüte und nimmt sich ein zweites Hefeteilchen.
»Freut mich, dass es dir schmeckt«, sagt Esther und nimmt sich auch eins.