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Stockholm 2022: Hanna Stiltje ist eine gefeierte Künstlerin, die am Höhepunkt ihrer Karriere steht. Doch Hanna selbst lebt sehr zurückgezogen und es scheint, als gäbe es niemanden in ihrem Leben, der ihr wirklich etwas bedeutet. Doch dann sieht sie bei ihrer neuen Ausstellung jemanden im Publikum, der längst verdrängte Erinnerungen in ihr wachruft. Erinnerungen an ihre große Liebe, ihre idyllische Heimat, aber auch an das tragische Ereignis, das dafür sorgte, dass sie nie mehr dorthin zurückkehrte. Hanna spürt, dass dies ihre letzte Gelegenheit sein könnte, sich mit ihrer Vergangenheit zu versöhnen. Doch kann sie wirklich einen Neuanfang wagen?
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Seitenzahl: 408
Veröffentlichungsjahr: 2024
Buch
Stockholm 2022: Hanna Stiltje ist eine gefeierte Künstlerin, die am Höhepunkt ihrer Karriere steht. Doch Hanna selbst lebt sehr zurückgezogen und es scheint, als gäbe es niemanden in ihrem Leben, der ihr wirklich etwas bedeutet. Doch dann sieht sie bei ihrer neuen Ausstellung jemanden im Publikum, der längst verdrängte Erinnerungen in ihr wachruft. Erinnerungen an ihre große Liebe, ihre idyllische Heimat, aber auch an das tragische Ereignis, das dafür sorgte, dass sie nie mehr dorthin zurückkehrte. Hanna spürt, dass dies ihre letzte Gelegenheit sein könnte, sich mit ihrer Vergangenheit zu versöhnen. Doch kann sie wirklich einen Neuanfang wagen?
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Sofia Lundberg
Roman
Aus dem Schwedischenvon Sabine Thiele
Die schwedische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Det sista konstverket« bei Forum, Stockholm.
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Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2024
Copyright © der Originalausgabe 2023 bei Sofia Lundberg
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024
Bei Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München
Umschlagmotive: buxdesign/Ruth Botzenhardt
Redaktion: Julie Hübner
LK · Herstellung: ik
Satz: Buch-Werkstatt, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-31622-8V001
www.goldmann-verlag.de
Für meine allerliebsten Schwestern
Helena und Cathrin
Immer mehr Menschen drängen sich im Foyer des Moderna Museet in Stockholm. Stimmengewirr erfüllt den Raum, erwartungsvolle Freude liegt in der Luft. Schwedische und internationale Journalisten haben sich eingefunden, mit Filmkameras im Anschlag und den Namen ihrer Sender in Großbuchstaben auf der Ausrüstung. Sie warten vor der kleinen Bühne mit dem einsamen Mikrofon, dessen Metallständer im Sonnenlicht glänzt, das durch die großen Fenster hereinfällt.
Durch einen Türspalt beobachtet Hanna die Vorgänge im Saal. Neben der Bühne, bei den Türen zum Ausstellungsraum, steht der große, mit einem schwarzen Tuch abgedeckte Gegenstand der gesammelten Aufmerksamkeit, der von zwei Männern in Anzügen und mit Sonnenbrillen breitbeinig bewacht wird. Sie tragen Funkgeräte in den Ohren, deren spiralförmige Kabel an den kurz geschorenen Nacken entlanglaufen. Die Männer bewegen sich keinen Millimeter. Hanna fragt sich, wie sie das schaffen.
Das schwarze Tuch lässt ein Stück der Rückseite des ansonsten verhüllten Gegenstands frei, den Teil eines Stuckrahmens, dessen goldene Beschichtung an einigen Stellen abgeschabt ist. Bald wird das Tuch entfernt, das Kunstwerk den Anwesenden präsentiert werden.
Die Kameras klicken, als sich die Museumsleiterin rasch der Bühne nähert. Die Fotografen folgen ihr mit ihren Objektiven, als wären sie eins. Die Gespräche im Foyer verstummen, als die Frau die zwei Stufen zum Mikrofon hinaufgeht. Hanna öffnet die Tür ein Stück weiter, um besser hören zu können, was gleich gesagt wird.
Die Museumsleiterin steht einen Moment mit gestrafften Schultern da und lässt den Blick über die Anwesenden schweifen. Das schwarze A-Linien-Kleid fällt gerade über ihre schmalen Schultern nach unten, der Stoff bewegt sich, als sie schließlich die Arme in einer Willkommensgeste ausbreitet.
»Wie schön, dass so viele von Ihnen heute hier sind. Für das Museum ist es eine große Ehre, diese Ausstellung mit Werken einer der berühmtesten Künstlerinnen unserer Zeit eröffnen zu dürfen. Sie wird für ihre exquisiten Gemälde und Bronzestatuen verehrt, für die Engel mitten unter uns.«
Sie verstummt, wartet den spontanen Applaus ab und nickt wohlwollend. Dann beugt sie sich näher ans Mikrofon.
»Und wie Sie alle wissen, ist sie heute hier, um selbst ihr neuestes Kunstwerk zu enthüllen. Nach mehreren Jahren ist es das Erste, das sie der Öffentlichkeit präsentiert. Und sie selbst sagt, es sei das Beste, was sie jemals geschaffen habe. Es ist eine große Ehre, dass sie es der Welt zum ersten Mal hier in Stockholm zeigen möchte. Willkommen, Hanna Stiltje!«
Die Frau streckt den Arm zu den Türen, die zum Ausstellungsraum führen. Der schmale Spalt wird größer, und Hanna tritt ein. Sie trägt ein rotes Kleid mit einem breiten Gürtel. Der Rock ist mit mehreren schräg verlaufenden Volants verziert und bauscht sich um ihre Beine wie eine umgedrehte Tulpe.
Ein Schlapphut verbirgt ihre Augen, während sie mit gesenktem Blick zur Bühne geht. Sie ist nicht allein. John folgt dicht hinter ihr. Bei der ersten Stufe greift sie mit dem Rücken zum Publikum nach seiner Hand und hält sie ein paar Sekunden fest. Sie flüstert etwas, das nur er hört. Er lacht, küsst sie rasch auf die Wange und hilft ihr die Treppe hinauf. Dann gibt er sie frei und lehnt sich an die Wand.
Hanna packt den Mikrofonständer mit einer Hand. Er ist etwas zu hoch eingestellt, und sie muss sich leicht auf die Zehenspitzen stellen. Eine weitere Mitarbeiterin des Museums huscht zu ihr und schraubt ihn ein Stück herunter. Das Publikum wartet geduldig das Quietschen in den Lautsprechern ab, während die Frau geduckt arbeitet. Hanna lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, sie spürt ein Lächeln um ihre Lippen, und sie winkt leicht, bevor sie in trägem Amerikanisch zu sprechen beginnt.
»Alle Kunstwerke haben ihre ganz persönliche Geschichte und sind voller Emotionen«, sagt sie. Mit hoch erhobenem Kopf betrachtet sie die Anwesenden, registriert ihre erwartungsvollen Blicke, lächelt.
»Mein neues Kunstwerk, das Sie gleich zu sehen bekommen werden, ist das Beste, was ich je geschaffen habe. Und es wird auch das Letzte sein, was ich der Welt überlasse. Ich bin fertig. Fertig mit der Kunst.«
Hanna lässt die dramatischen Worte im Raum hängen. Als sie vom Mikrofon zurücktritt, hält sie die Hand über das ovale Silbermedaillon, das sie um den Hals trägt. Sie nickt den beiden Männern zu. Die ziehen an dem Tuch, lassen es zu Boden gleiten und enthüllen den Gegenstand darunter.
Ein Raunen geht durch das Publikum. Die Fotoapparate klicken erneut, ein Mann mit Filmkamera drängt sich dicht an das Kunstwerk heran, filmt alle Details aus der Nähe. Seine Kollegin vom selben Sender folgt ihm. Als er die Kamera auf sie richtet, hält sie ihr Mikrofon an den Mund.
»Und hier sehen wir also Hanna Stiltjes letztes Kunstwerk, wie wir gerade erfahren haben. Eine … äh … Kommode.«
Bei dem letzten Wort kann die Reporterin ein leichtes Stirnrunzeln nicht unterdrücken, als wäre sie enttäuscht über das, was sie vor sich sieht. Oder als würde sie sogar allen Respekt vor der Künstlerin verlieren.
Die Kommode sieht aus wie eine Patchworkdecke aus Gerümpel. Jedes Bauteil ist anders, unterscheidet sich in Farbe, Form und Material. Die schwarze Platte auf der Oberseite hat unregelmäßige Flecken und Kerben, eine schwarz angemalte Papierrose hängt schlaff über die Kante. Die Schubladen hat sie aus alten Fenstern und Leisten geschreinert, aus schmutzigen und fleckigen Bretterstücken und Schranktüren. Hinter einem Fensterglas liegt ein Stapel Briefumschläge, aufgeschlitzt und an der Schnittkante unregelmäßig ausgefranst.
Hanna holt tief Luft und betrachtet das Publikum. Manche haben sich von der Bühne abgewandt und stehen am großen Ausstellungsraum an, um die Exponate zu sehen, deretwegen sie gekommen sind. Die großen Ölgemälde und Bronzestatuen, die sie auf der ganzen Welt berühmt gemacht haben.
»Hanna Stiltje, können Sie uns etwas mehr erzählen? Ist das hier ein suggestives Spiel mit dem, was ein Leben ausmacht? Nach dem Motto: Wir tragen alle verschiedene Schubladen in uns?«, fragt eine andere Reporterin und hält ihr so abrupt das Mikrofon hin, dass Hanna zurückzuckt und gegen jemanden prallt. Sie entschuldigt sich. Von allen Seiten prasseln die Fragen auf sie ein.
»Warum arbeiten Sie nicht mehr mit Bronze als Material?«
»Entspricht es dem Niveau Ihrer bisherigen Werke?«
»Was ist mit den Gemälden? Damit machen Sie doch weiter, oder?«
»Warum wollen Sie jetzt aufhören, mitten im Leben?«
Die Reporterinnen und Reporter umringen sie, drängen sich auf dem kleinen Raum. Sie hört die einzelnen Fragen nicht mehr, alles verschwimmt zu einem einzigen Rauschen.
»Bitte warten Sie mit Ihren Fragen bis zu den vereinbarten Interviewterminen«, erwidert sie dann bestimmt.
John tritt neben ihr ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Sie greift nach seiner Hand, hält sich an ihr fest, während sie auf hohen Absätzen durch die Menge geht. Durch viele enttäuschte Stimmen hindurch.
An der Tür zum Restaurant und dem kleinen Raum, in dem die Interviews stattfinden sollen, sieht sie über die Schulter zu den Menschen, die das Museum gerade verlassen und über den Vorplatz davongehen.
Ein kleines Mädchen spielt im Freien neben seinem Vater, der telefoniert und sich von dem Kind abgewendet hat. Das Mädchen hält seine Hand, während es in seinen gelben Gummistiefeln auf und ab springt. Die langen Locken fallen über die Schultern fast bis zum Boden, als sie mit beiden Händen die Hand ihres Vaters umklammert und mit in den Nacken gelegtem Kopf an seinem Bein hinaufklettern will.
»John, sieh mal«, flüstert Hanna und deutet zu dem Kind, doch ihr Begleiter ist schon durch die Tür gegangen.
Hanna beobachtet das Mädchen und seinen Vater, bis sie davongehen und außer Sichtweite sind. Erst als eine vertraute Stimme ihren Namen ruft, wird sie aus ihren Gedanken gerissen. Sie eilt in den kleinen Raum, schließt die Tür und tastet nach dem Schloss.
»Was zur Hölle hast du gemacht? Wo sind die Bilder?«, ruft jemand aufgebracht auf der anderen Seite.
Unterste Schublade.
Gedrechselte Leiste, ein Ast als Handgriff, verziert mit Porzellanscherben.
Knut
Der Säugling lag in seinen eigenen Ausscheidungen. Auf dem Boden. Nackt, nur halb in eine schmutzige Decke gewickelt. Das Baby strampelte zornig mit den nackten Beinchen, als ob es davonlaufen wollte. Auch die Ärmchen mit den kleinen, fest geballten Fäusten hieben in die Luft. Doch das Mädchen weinte nicht, gab keinen Laut von sich. Als ob es einen stummen Kampf um sein Leben ausfechten würde. Die weit aufgerissenen Augen starrten ins Leere.
Knut fiel auf die Knie und hob das Baby auf, drückte es fest an sich, ohne sich darum zu kümmern, dass Kot sein Flanellhemd beschmutzte. Er gab beruhigende Laute von sich, wiegte das Kind mit dem ganzen Körper, flüsterte ihm ins Ohr: »Jetzt wird alles gut, meine Kleine, alles kommt in Ordnung.«
Schnapsflaschen und halb volle Gläser standen auf dem Tisch sowie offene, stinkende Bierdosen, deren dünne Aluminiumwände von starken Händen eingedrückt waren. Eine Kanüle lag offen herum, der schmutziggelbe Gummischlauch daneben, doppelt gelegt und noch mit dem Knoten darin. Er sah einen Löffel, rußig an der Unterseite, weiße Pulverreste auf einem Spiegel. Knut starrte das alles an, während er das nackte Baby über seine Schulter legte, damit es den Horror nicht mit ansehen musste. Vielleicht handelte es sich bei dem Pulver um Amphetamin, diese schreckliche Droge, von der er so viel gelesen hatte. Oder war es Heroin?
Die Mutter des Kindes lag halb nackt auf dem Sofa, neben einem Mann, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Sie schliefen. Ihre Brustkörbe hoben und senkten sich unter schweren, pfeifenden Atemzügen.
Die Mutter.
Die Tochter.
Die Drogensüchtige.
Knuts Magen verkrampfte sich, er krümmte sich und übergab sich auf den Teppich, bis seine Augen tränten. Das kleine Mädchen begann zu weinen, erst leise, dann immer verzweifelter. Bestimmt hatte die Kleine Hunger. Knut wiegte sie in seinem Arm und küsste sie auf den Kopf. Der feine Flaum war weich an seinen Lippen, fast wie Seide, und roch süß und unschuldig.
Er griff nach einem Pullover, der über einem Stuhl hing, und wickelte das Kind darin ein. Im Badezimmer wollte er nach Windeln suchen, doch es war so schmutzig, dass er nach einem Blick hinein wieder umdrehte. Er würde irgendwo auf dem Weg nach Hause anhalten und das Nötigste kaufen müssen. Ohne einen Blick zurück verließ er die Wohnung. Er lächelte und bedankte sich bei der Nachbarin gegenüber, die vor ihrer Tür wartete. Sie hatte ihn angerufen.
»Darf ich noch kurz bei Ihnen telefonieren, bevor wir fahren?«, fragte er.
Sie nickte und ließ ihn ein. Ein Flickenteppich lag ordentlich in der Diele, alles war sauber, die Topfpflanzen strahlten in üppigem Grün. Nur ein paar Meter trennten die beiden identischen Wohnungen voneinander, doch es hätte ein ganzes Meer sein können.
»Ich habe mir Sorgen um die Kleine gemacht, deshalb habe ich Sie angerufen«, sagte sie und legte die Hand auf den Rücken des Babys. »Sie soll nicht so leben müssen.«
»Das haben Sie ganz richtig gemacht«, erwiderte Knut, während er mit hastigen Bewegungen die Nummer der Polizei wählte.
»Sie müssen herkommen und sich um eine Fixerhöhle kümmern. Es handelt sich um die Wohnung meiner Tochter. Es ist völlig ausgeufert, sie braucht Hilfe«, sagte er und nannte die Adresse.
Die Fragen der Polizei beantwortete er so knapp wie möglich, gab an, wie viele Personen sich in der Wohnung aufhielten und wie es dort aussah. Knut berichtete auch von dem Baby.
»Ich nehme das Kind jetzt mit zu mir nach Hause, nur damit Sie Bescheid wissen«, sagte er. »Jemand muss sich darum kümmern, und ich bin der Großvater. So ist es am besten.« Dann legte er auf.
Er verabschiedete sich von der Nachbarin und ging auf die Straße zu dem dunkelblauen Volvo, der an der Unterseite so verrostet war, dass sich braune Blasen bis zur Tür gebildet hatten. Er legte das Baby auf den Beifahrersitz und hielt es mit einer Hand auf dem Bauch fest, nachdem er angefahren war. Bevor er um die Ecke bog, sah er noch ein Polizeiauto im Rückspiegel.
Das Mädchen hopste vor dem Haus herum, und sein Pferdeschwanz schwang hin und her, während es von einer Pfütze zur nächsten sprang. Das Wasser spritzte an den gelben Gummistiefeln hinauf, an den nackten Beinen und dem hellblauen Kleid, das schon ganz schmutzig war. Die Kleine lachte. Es klang perlend, fast wie Musik. Etwas Lieblicheres hatte er noch nie gehört. Er hätte ewig auf der Veranda sitzen und ihr zuschauen, ihr zuhören können.
Knut zog die Mundharmonika aus der Brusttasche und spielte eine improvisierte Melodie. Das Mädchen lief zu ihm, setzte sich zu seinen Füßen und begann zu singen. Ihr Lied handelte von einer Ratte, die nicht auf den Topf gehen wollte und immer ihren eigenen Kopf hatte. Sie dichtete spontan, und beide kicherten, als die Geschichte immer verrückter wurde. Die Kleine legte sich auf den Rücken, der lange Pferdeschwanz bildete einen Fächer hinter dem Kopf. Sie streckte die Beine in die Luft und bewegte die Füße zu den Tönen der Mundharmonika. Wasser lief aus ihren Gummistiefeln, und das Kleid wurde immer nasser.
Eine Standuhr surrte im Wohnraum, drei angestrengte Schläge ertönten, dann wurde es still. Knut schob die Mundharmonika zurück in die Brusttasche und sah zur Landstraße, die verlassen dalag.
»Ich setze mal Kaffee auf, falls sie kommt«, sagte er und streckte der Kleinen die Hand hin. Sie griff danach, und er zog sie hoch.
»Schau dich nur an, das muss jetzt aber gewaschen werden«, sagte er und befühlte den Stoff des Kleides. Doch sie wollte es nicht ausziehen, verschränkte die Arme fest vor dem Bauch und verzog entschlossen das Gesicht.
»Ich will aber ein Kleid«, beharrte sie.
»Dann musst du das Rote nehmen.« Knut wiegte sich ein paarmal vor und zurück, bevor er sich vom Stuhl hievte. Sein dicker Bauch war ihm im Weg, und er keuchte, als er in das kleine Haus ging, das nur aus einem großen Raum und einem kleinen Schlafzimmer bestand. Und aus der Küche, in der das Mädchen schlief. Die Küchenbank war noch als Bett hergerichtet, und auf der dicken Daunendecke drängten sich ihre Kuscheltiere. Ein Bär, ein kleiner Hund und ein paar unterschiedlich große Kaninchen. Er legte sie nebeneinander auf das Kopfkissen, glättete die Daunendecke und klappte die Sitzfläche herunter. Dann stellte er ein paar Kissen in die Ecke der Bank, sodass niemand ahnen konnte, dass hier gerade noch ein Bett gewesen war.
Das Feuer prasselte, als er die Klappe des Holzofens öffnete und noch ein paar Scheite nachlegte. Er stellte eine Kanne mit Wasser auf die Herdplatte. Die Kleine saß zusammengekauert in der Tür und wartete. Sie trug immer noch das schmutzige, feuchte Kleid.
»Wie spät ist es?«, fragte sie.
Knut sah zu der großen Standuhr im Wohnraum. Eine Viertelstunde war bereits vergangen, seit sie geschlagen hatte. Doch das sagte er nicht.
»Vielleicht kommt sie heute später«, meinte er, auch wenn immer noch niemand auf der Straße zu sehen war. »Möchtest du dir wirklich nicht etwas anderes anziehen? Etwas, das sauber und trocken ist?«
Das Mädchen lehnte mit dem Rücken am Türrahmen, die Füße gegen die andere Seite gestützt, und sah zur Straße.
»Das ist doch egal«, erwiderte sie.
Knut wusste, dass sie recht hatte, doch das sagte er nicht. Jeden zweiten Samstag war Besuchstag, so war es vereinbart. Zwei Stunden ab drei Uhr. Doch ihre Mutter tauchte nur selten auf.
»Nein, ist es nicht, denn dann frierst du nicht«, sagte Knut und holte aus dem Kleiderschrank einen Pullover und eine Hose, die er ihr in den Schoß legte.
»Zieh das jetzt an«, forderte er sie auf.
»Das rote Kleid. Ich will hübsch aussehen, wenn sie kommt«, erwiderte sie störrisch und warf Pullover und Hose zur Seite.
»Beim nächsten Mal, einverstanden?«
Sie hörte ihm nicht zu, sondern sprang auf und rannte wieder hinaus ins Freie. Zu den Wasserpfützen, dem Kletterbaum und dem Baumhaus, das sie gemeinsam gebaut hatten. Die Strickleiter schlug gegen den Stamm, als sie geschickt nach oben kletterte. Dorthin zog sie sich zurück, wenn sie traurig war. Es war ihre Zuflucht, ihre Höhle.
Knut ging zum Telefon und wählte die Nummer, die er schon so oft gewählt hatte. Doch wie immer läutete es am anderen Ende der Leitung, ohne dass jemand abnahm.
An der Wand hing ein Kalender. Er malte ein rotes Kreuz hinter das aktuelle Datum. Daneben schrieb er: Angerufen, niemand meldet sich.
Es war das zweite Kreuz in diesem Monat. Er blätterte zurück. Jeder Monat sah gleich aus, jeden zweiten Samstag ein rotes Kreuz.
Fast ein halbes Jahr war seit ihrem letzten Besuch vergangen.
Die Mutter.
Die Tochter.
Die Drogensüchtige.
***
Auf dem Sekretär im Wohnraum standen ein paar Fotos. Knut blieb davor stehen. Er sah lächelnde Kinder in Bilderrahmen. Das Mädchen, Hanna. Und Hannas Mutter, Johanna. Sie sahen sich so ähnlich. Lange braune Locken, die sich wie ein rauschender Wasserfall über den Rücken ergossen. Er nahm einen der Rahmen und betrachtete das Bild genauer. Sie lächelte, ihre Augen blickten lebendig, strahlten ihn an. Johanna lehnte an der Eiche hinter dem Haus, einen Fuß auf die Bank davor gestützt. Ein Fotograf hatte das Foto gemacht, er war von Tür zu Tür gegangen und hatte seine Dienste angeboten.
Damals, als sie noch zu dritt in diesem Haus gewohnt hatten. Als Aina noch am Leben und Johanna noch ein unschuldiges Kind gewesen war.
Eine schöne Erinnerung. So wollte er sie im Gedächtnis behalten. Nicht als der Mensch, der sie geworden war.
War es seine Schuld? Würde er denselben Fehler noch einmal machen?
Er wischte das Glas mit dem Hemdsärmel ab und stellte den Rahmen neben das Bild von Hanna, das er selbst mit seiner gebraucht gekauften Kamera aufgenommen hatte, als sie noch ganz klein gewesen war. Auf dem Bild lief sie mit ausgestreckten Armen über eine Wiese auf ihn zu. Er sah zwischen den beiden Fotos hin und her. Das gleiche Lächeln, die gleichen Haare. Und doch war nicht alles gleich.
Nein, es durfte einfach nicht noch einmal passieren.
Er ging ins Freie.
»Hanna!«, rief er.
Die Kleine steckte den Kopf aus dem Baumhaus, sie hatte sich das Gesicht mit Kohle geschwärzt. Er zuckte zusammen und tat so, als hätte er sich fürchterlich erschrocken.
»Buh!«, kreischte sie und lachte, sodass ihre Zähne weiß leuchteten. Die Enttäuschung, dass ihre Mutter auch dieses Mal nicht gekommen war, war wie weggeblasen. Vielleicht hatte sie sich daran gewöhnt, vergeblich zu warten. Vielleicht sollte er damit aufhören, sie vorzubereiten und ihr schöne Kleider anzuziehen. Dann tauchte Johanna eben an irgendeinem Samstag auf, wenn es ihr gerade einfiele. Er fragte sich oft, was sie machte, wie es ihr ging. Wenn das Telefon klingelte, fürchtete er die Nachricht, dass sie an einer Überdosis gestorben war.
Knut streckte die Arme in die Höhe und fing Hanna auf, als sie zu ihm hinuntersprang. Sie presste ihr kleines Gesicht an seinen Hals.
»Opa«, flüsterte sie und umarmte ihn fester.
»Mein kleiner Liebling«, flüsterte er zurück und strich ihr über die Haare. Dann stellte er sie vorsichtig auf den Boden und deutete zu seiner Tischlerwerkstatt.
»Komm, dann zeige ich dir, was ich für dich gemacht habe.«
Die Werkstatt war größer als das Wohnhaus. Dort bewahrte er seine Schreinerbank und die Werkzeuge auf und alles, woran er gerade arbeitete. Stühle, ein paar Fenster, eine Kommode. Meistens restaurierte er, kratzte Farbe ab, reparierte Schäden und trug frische Farbe auf. Manchmal fertigte er auch auf Bestellung ein neues Möbelstück an. In der Mitte des Raums stand ein Schaukelstuhl, den er geschreinert hatte. Er war gerade dabei, ihn zu lackieren. Schwarz mit verschlungenen Goldranken und roten Blumen.
Hanna setzte sich hinein, bevor er sie aufhalten konnte. Er hielt den Atem an und hoffte, dass die Farbe bereits getrocknet war. Nervös berührte er die Rückenlehne und atmete erleichtert aus, als sie sich nicht klebrig anfühlte. Er schaukelte die Kleine, die beide Arme auf die Lehnen gelegt hatte. Doch dann bemerkte sie, was er ihr eigentlich hatte zeigen wollen. Ohne Vorwarnung sprang sie aus dem Stuhl, fiel, rappelte sich aber sofort wieder auf. Ganz hinten im Raum stand eine Staffelei mit einem weißen Stück Pappe. Auf dem Hocker daneben lag eine Palette mit Wasserfarben.
»Jetzt musst du dich nicht mehr selbst anmalen«, sagte er und lächelte das rußige Kind an, das mit vier neuen Pinseln in den Händen auf und ab hüpfte.
Hanna leistete ihm bei der Arbeit immer Gesellschaft, saß in einer Ecke auf dem Boden und malte. Sie liebte ihre Kreiden, bedeckte das Papier bis ins letzte Eck mit leuchtenden Farben. Sie beschrieb ihm immer, was sie gezeichnet hatte, doch es war schwer zu erkennen. Ein Wald, ein Elch, ein See. In ihrem Inneren sah sie Bilder, die aus ihr hinausdrängten. Genau wie es bei ihrer Mutter gewesen war. Sie hatte auf alles gemalt, manchmal auch auf die Wände. Er war dann immer wütend geworden. Diesen Fehler würde er nicht noch einmal machen. Die Kleine sollte immer malen, sollte alles ausleben dürfen, was in ihr vorging, alle Bilder, alle Gedanken, alle Gefühle.
Sie war bereits in ihr Geschenk vertieft und trug vorsichtige Pinselstriche auf den festen Karton auf. Die Fasern saugten das Wasser auf, und die Farben verteilten sich. Rot und Blau. Sie vermischte beides, bis alles braun war. Er half ihr, die Farben mit einem Lappen abzuwischen.
Dann fing sie wieder von vorn an.
Ein Baum, ein Wald, Blut … Sie lachte laut, als ihr das Wort über die Lippen kam.
»Hat sich jemand weh getan?«, fragte Knut und legte den Kopf schräg, während er das Farbeninferno betrachtete.
Sie nickte eifrig.
»Ja, die Krähe ist gestorben. Als der Fuchs sie geholt hat«, erklärte sie und deutete auf etwas Schwarzes und etwas Rotes inmitten der Pinselstriche.
»Ich sehe es.« Er nickte, fasziniert von der Fantasie des Mädchens. »Die arme Krähe. Oje, so viel Blut.«
Vorsichtig nahm sie die Pappe herunter, stellte sie an die Wand, trat zurück und musterte ihr Werk.
»Fertig«, sagte sie zufrieden und schlug ungeduldig zwei Pinsel aneinander. »Jetzt das Nächste.«
Knut gehorchte, holte einen neuen Bogen und stellte ihn auf die Staffelei. Er unterdrückte den Impuls, sie zu bitten, langsamer zu malen, gewissenhafter.
»Und was wird das?«, fragte er stattdessen. Das Mädchen antwortete nicht, sondern attackierte die weiße Oberfläche mit zwei Pinseln, ließ die Farbe fließen und malte mit beiden Händen.
Eines schönen Tages wird daraus vielleicht etwas Vorzeigbares, dachte er amüsiert und folgte ihren eifrigen Gesten mit dem Blick.
Heute allerdings noch nicht.
***
Knut zog den Hobel langsam und gleichmäßig über das Brett im Schraubstock. Dünne, gewundene Späne fielen zu Boden. Hanna kroch zu seinen Füßen herum und fing sie auf. Dann rannte sie schnell zurück zu ihrer Staffelei und befestigte die Späne mit etwas Leim auf der Pappe. Zuerst wirkte es willkürlich, als ob sie die Streifen einfach hier und da auf den braunen Pinselstrichen verteilt hätte. Doch dann erkannte er, was ihr vorschwebte. Sie drückte den Pinsel in die grüne Farbe und bemalte sorgfältig die Späne, einen nach dem anderen. Das war eindeutig ein Wald. Knut sah braune Baumstämme mit grünen Blätterkronen. Er legte den Hobel zur Seite.
»Sehr schlau«, sagte er und trat näher heran.
»Siehst du? Das ist der große Wald«, sagte Hanna zufrieden und setzte sich im Schneidersitz vor das Bild, als wolle sie sich in sein innerstes Wesen einfühlen. Knut zog einen Hocker heran und setzte sich neben sie.
»Schh«, machte Hanna, als die Hockerbeine über den Boden scharrten. »Stör den Wolf nicht.«
»Den Wolf?«
»Ja, er schläft, auf dem Moos hinter den Baumstämmen. Man sieht ihn nur gerade nicht.«
Knut lachte so laut, dass er husten musste. Es rasselte, tat weh. Er fasste sich an die Brust.
»Alles in Ordnung, Opa?«
Ein erneuter Hustenanfall schüttelte ihn, seine Wangen röteten sich.
»Du bist ja … eine richtige kleine … Künstlerin«, brachte er mühsam heraus. Der Husten wurde stärker, er presste die Hand auf den Brustkorb.
»Warte, ich hole dir Wasser«, sagte das Mädchen und rannte nach draußen. Er hörte sie auf dem Weg zum Haus summen. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass er hustete. Abends trank er Honigwasser, doch das half nicht. Sein Hals war voll mit zähem Schleim, und bei jedem Atemzug rasselte es schmerzvoll.
Als Hanna zurückkam, war das Glas nur noch halb voll, da bei jedem Hüpfer etwas herausschwappte. Knut nahm es ihr dankbar ab, trank es in einem Zug aus und räusperte sich. Dann hob er die Kleine hoch und setzte sie auf sein Knie, schaukelte sie leicht hin und her.
»Was war das für ein Lied, das du da draußen gesungen hast?«, fragte er und zog die Mundharmonika aus der Brusttasche, wo er sie immer bei sich trug. Hanna sang jedes Wort so laut und deutlich, dass er sich über die Kraft in ihrem kleinen Körper wunderte. Und irgendwoher nahm er die Luft, um in das Instrument zu blasen, das tat er immer, und spielte zu der Melodie, die sie sang. In der Musik wurden sie eins, sie schaukelte auf seinem Knie, tanzte mit Armen und Beinen in der Luft.
***
Das Mädchen lag schlafend auf dem Rücksitz, eingewickelt in eine dicke Decke. Knut warf einen Blick in den Rückspiegel, sah die Umrisse des kleinen Körpers, die offenen Haare. Die Herbstdunkelheit hatte sich bereits über die Wälder gelegt, die Autoscheinwerfer beleuchteten immer nur ein kurzes Stück der Landstraße. Er kniff die Augen zusammen und schob das Kinn vor. Der Motor des alten Volvo dröhnte laut, der Schalldämpfer war rostig. Er konnte froh sein, dass der Wagen noch fuhr und er noch in die Stadt kam, zu seinen Freunden, der Musik.
Das Mädchen nahm er immer mit, er ließ Hanna nie allein. Er vertraute keinem Babysitter, er vertraute niemandem. Sie war zu kostbar, zu schutzlos. Sie kam dann zwar immer viel zu spät ins Bett, doch sie beschwerte sich nie. Sie schlief, wo sie konnte, auf dem Rücksitz im Auto, unter einem Tisch in dem Restaurant, in dem sie auftraten.
Was mittlerweile nicht mehr so oft vorkam. Als Johanna klein gewesen war, hatte er mehrere Male in der Woche gespielt. Aina gefiel das nicht, doch er selbst war froh, von zu Hause wegzukommen. Damals träumte er noch davon, ein neuer Toots Thielemans zu werden, auf den großen Bühnen auftreten zu dürfen, mit den großen Bands. Damals, als die Musik noch wichtiger war als alles andere.
Als die Stadt vor ihm auftauchte und die Straßenlaternen die Umgebung erhellten, kehrten seine Gedanken in die Gegenwart zurück. Er war spät dran und beschleunigte.
Oft kam er erst, wenn sie bereits anfangen sollten, mit dem Mädchen auf der Hüfte und der Mundharmonika in der Brusttasche. Und nach dem letzten Lied fuhr er sofort nach Hause. Die anderen beschwerten sich, dass er nicht mehr bleiben und mit ihnen feiern wollte. Vielleicht hatten sie deshalb weniger Auftritte. Es sprach sich herum. Der Mundharmonikaspieler mit dem zu schweren Gepäck: dem Mädchen.
Knut parkte den Wagen mit abgehackten Bewegungen in einer engen Lücke zwischen zwei anderen Autos. Hanna wachte auf.
»Sind wir zu Hause? Ist es Nacht?«, fragte sie schlaftrunken.
»Wir sind in Stockholm. Ich habe jetzt einen Auftritt«, sagte er und schaltete den Motor aus.
Sie setzte sich auf, streckte sich und gähnte.
»Eis«, murmelte sie, zog ihre Stoffschuhe an und band die Schnürsenkel sorgfältig und fast richtig, sie gerieten nur ein bisschen schief, aber es sah einigermaßen nach zwei Schleifen aus.
Mit Eis bestach er sie immer, um sie bei Laune zu halten. Große Becher mit Sahne und Streuseln. Sie war der Liebling der Bedienungen, verzauberte sie mit ihrer lebhaften Fantasie und dem fröhlichen Wesen.
Seine Brille beschlug, als er die Tür öffnete. Der Raum war bereits voller Gäste, die sich lautstark unterhielten. Die Band spielte ganz hinten. Bier und Wein flossen in Strömen. Knut hielt Hanna an der Hand und schob sich mit ihr über die Tanzfläche. Das Mädchen machte sich los und rannte zu Elsebeth, der Sängerin, warf sich in ihre Arme, mitten im Lied. Das Publikum lachte, als die Musiker den Faden verloren und der Trompeter eine spontane Fanfare spielte. Elsebeth sang mit funkelndem Blick weiter und ging in die Hocke. Sie hielt dem Mädchen das Mikrofon hin und ließ es mitsingen. Die helle dünne Stimme erklang neben Elsebeths dunkler volltönender. Hanna kannte den englischen Text, die Melodie, alle Nuancen, hatte das Lied schon so oft gehört.
Knut legte Decke und Rucksack beiseite und zog die Mundharmonika aus der Brusttasche. Dann stieg er auf die Bühne, stellte sich an die Seite, wartete einen Moment und hielt das Instrument an die Lippen. Wenn er spielte, verschwanden alle Sorgen, alle Gedanken. Dann gab es nur noch die Freude der Kleinen, ihre lebhaften Bewegungen, ihren Gesang. Das konnte ihr doch unmöglich schaden. Zumindest redete er es sich ein, als er später sah, wie sie sich mit der Decke unter einen Tisch zum Schlafen legte, zur fröhlichen Musik der Jazzband.
***
Am nächsten Morgen wachten sie spät auf, es war fast Mittag, als Knut zum Briefkasten an der Landstraße schlenderte, um die Zeitung zu holen. Ein Paket stand darunter. Es war viereckig und mit braunem Klebeband umwickelt. Der Name des Mädchens stand darauf, in einer nur zu vertrauten Schrift. Knut wollte es aufheben, doch es war so unhandlich, dass er es kaum greifen konnte. Er ging zurück, um eine Schubkarre zu holen. Hanna spielte in ihrem Baumhaus und steckte den Kopf durch das kleine Fenster, als er auf den Hof kam.
»Keine Post?«, fragte sie, als sie seine leeren Hände sah.
»Komm mit, dann siehst du es«, rief er ihr zu.
Er war selbst neugierig, was das Paket dieses Mal enthielt. Und woher das Geld dafür kam. Anfangs hatte er noch versucht, alles zurückzuschicken, doch dann hatte er aufgegeben.
Statt zu Besuch zu kommen, schickte sie Sachen. Den Mamabär, die Mamapuppe, das Mamabuch. So nannte Hanna die Geschenke, um zu zeigen, dass sie eine Mutter hatte, genau wie alle anderen.
Dieses Mal war es etwas Großes. Das Mädchen sprang in die Schubkarre und ließ die nackten Füße über den Rand baumeln. Knut kippte sie beim Schieben ein wenig hin und her, und das Lachen der Kleinen klang so wunderbar in seinen Ohren. Sie hielt sich am Rand fest und rief: »Noch mal, Opa, noch mal!« Und er gehorchte, hob die Schubkarre erst auf der einen Seite an, dann auf der anderen, hinterließ einrädrige Spuren im Schotter.
Beim Briefkasten hüpfte Hanna auf die Straße, die Überraschung war ihr anzusehen. Sofort begann sie, ungeduldig an dem Klebeband des Pakets zu zupfen und zu reißen.
»Wir brauchen ein Messer«, sagte er und hob das Paket hoch.
Auf dem Weg zurück hopste sie neben ihm her.
»Das ist von Mama, meiner allerbesten Mama«, sagte sie.
Knut knurrte leise, verstand nicht, wie Kinder so nachsichtig sein konnten. Hanna schien überhaupt nicht enttäuscht zu sein, keine Forderungen zu stellen, keine Erwartungen zu haben. So war es immer. Vielleicht war das gut. Vielleicht war es aber auch ein Schutz. Sie kannte ja nichts anderes, die arme Kleine.
Den Anblick des nackten Säuglings, den er damals gerettet hatte, würde er nie vergessen und schwer vergeben können. Und dass Johanna ihre Tochter dem ausgesetzt hatte. Die getrockneten Ausscheidungen an dem kleinen Körper, die mageren Arme, der panische, benommene Blick – der war das Schlimmste gewesen. Und die Entzugserscheinungen in den Wochen danach. Was für ein Unterschied zu den funkelnden Augen, die er so liebte. Um der Kleinen willen spielte er mit.
»Ja, Geschenke kann sie tolle machen, deine Mutter. Was sie wohl dieses Mal geschickt hat, bist du neugierig?«
Das Mädchen hüpfte auf und ab, als er das Klebeband mit dem Schnitzmesser durchschnitt. Hanna klappte den Karton auf, riss das Packpapier heraus und verteilte es um sich herum. Als sie den Inhalt des Pakets sah, erstarrte sie mit leicht geöffnetem Mund. Er warf ebenfalls einen Blick hinein. Es war ein Puppenwagen, weinrot, mit Verdeck. Er hob ihn heraus und schob ihn auf den kleinen Rädern vor und zurück.
»Jetzt du«, sagte er.
Sie fuhr damit auf und ab, schaukelte ihn. Dann rannte sie ins Haus, in die Küche. Es knarzte, als sie das Sofa aufklappte. Mit vollen Armen kam sie zurück. Sie hatte die Kuscheltiere und die Puppe geholt, die mit den goldenen Locken, aus einem anderen Paket, an einem anderen Tag.
Vorsichtig setzte sie ihre Schätze in den Wagen und legte das letzte Plüschtier auf die anderen. Dann deckte sie alle mit der kleinen Decke zu, sodass nur noch die Köpfe herausschauten.
»Tschüs, die Kinder und ich machen jetzt einen Spaziergang«, verkündete sie stolz und setzte sich in Bewegung.
»Wohin wollt ihr denn?«, fragte Knut und ging ihr nach.
Hanna blieb stehen und drehte sich um, ohne den Puppenwagengriff loszulassen. Sie grinste breit über das ganze sommersprossige Gesicht.
»Zu Märta.«
»Dann bring mir ein paar Kekse mit«, sagte er und zwinkerte. Er wusste, dass sie deshalb zu der Frau auf dem Gutshof ging, ihrer nächsten Nachbarin. Kekse und anderes Gebäck konnte er immer noch nicht backen, bei ihm gab es nur gekaufte Ware.
***
Knut stand lange auf dem Hof und sah dem Mädchen nach. Er sah, wie sie über die Allee und zu dem gelben Gutshaus hinter den Feldern ging, in dem Märta wohnte, eine einsame alte Dame, die sich über jeden Besuch freute. Hanna marschierte schnell und aufrecht, der Rock schwang um ihre Beine. Vom Meer wehte ein kalter Wind herein, der an den Baumkronen zerrte. Er erinnerte sich an eine andere Mutter, an Aina. Bei Johannas Geburt war sie so stolz gewesen, sie hatte alles für die Kleine getan. Sie herumgetragen, mit ihr gesprochen und sie gefüttert. Doch Johanna war schon als Kind unruhig und schrie Tag und Nacht, war untröstlich.
Ein Verwandter von Aina hinterließ ihnen den kleinen Hof, und sie ließen die Großstadt und die Jazzclubs, in denen er so gern spielte, hinter sich und zogen hinaus in die Ruhe, in die Einsamkeit. Wegen des Kindes, damit es frische Meeresluft atmen konnte. Aina spazierte die Landstraße auf und ab, wiegte den Wagen, bis Johanna endlich einschlief. Er war ihr keine Hilfe mit dem Kind, das waren Männer damals nicht. Aber das hätte er sein sollen, mittlerweile war ihm das klar. Seit er wusste, wie viel Arbeit ein kleines Kind machte.
Aina wurde immer müder, immer isolierter und trauriger. Freudlos schleppte sie sich durchs Leben. Als Johanna älter wurde, hatte sie Probleme in der Schule, schwänzte, trank Alkohol und trieb sich abends herum. Es war egal, dass sie aus der Großstadt weggezogen waren, Destruktivität gab es überall, jederzeit. Aina kämpfte, schimpfte, schrie und stellte Bedingungen. Sie und Johanna stritten so sehr, dass sie manchmal Sachen nacheinander warfen. Er selbst flüchtete sich in den Tischlerschuppen und in die Arbeit mit den Möbeln. Dort konnte er alles aussperren, der Geruch nach Holz und Leim beruhigte ihn, genauso wie die Stimmen aus dem Radio, das er immer laufen ließ.
Als Johanna auszog, hatten sie noch ein paar gute Jahre. Doch dann kam der Schlaganfall und nahm ihm Aina. Er gab Johanna die Schuld, wollte sie nicht mehr sehen. Dieses verdammte Kind.
Du bist dafür verantwortlich, schrie er sie bei der Beerdigung an, so viel hast du mit deiner Mutter gestritten, dass du sie ins Grab gebracht hast.
Er sollte sich bei ihr für seine Worte entschuldigen, das wusste er. Und er dachte oft daran. Aber er brachte es nicht über sich. Der Anblick, wie sie auf dem Sofa lag, mit den bläulichen Einstichstellen an den Armen, verfolgte ihn Tag und Nacht. Er wollte nicht, dass sie sich dem Mädchen näherte, nicht solange ihr die Drogen die Sinne vernebelten und sie so tief im Dreck steckte.
Als Hanna außer Sichtweite war, stellte er den Karton und das Verpackungsmaterial hinters Haus zu allem anderen, was in der Tonne verbrannt werden sollte. Dann ging er wieder hinein. Nach kurzem Zögern wählte er ihre Nummer, wie schon so viele Male zuvor. Vielleicht würde sie eines Tages abnehmen, vielleicht würde eine Entschuldigung ihr helfen, einen anderen Weg einzuschlagen.
Doch nicht heute. Wieder läutete es ins Leere.
»Und wie klappt es mit den Besuchen?«
Die Frau, die Knut gegenübersaß, hatte einen Block in der Hand. Ohne ihn anzusehen, stellte sie ihre Fragen und notierte methodisch seine Antworten. Zeile für Zeile.
»Sie kommt uns nicht besuchen.«
»Gar nicht?«
»Nein. Schon lange nicht mehr. Eine Weile hat es funktioniert, da kam sie jeden zweiten Samstag. Doch dann ist sie einfach nicht mehr gekommen. Ich weiß nicht mal, ob sie noch lebt, verstehen Sie? Ich habe oft versucht, sie anzurufen, doch sie hat nie abgenommen, da habe ich dann irgendwann aufgegeben.«
»Aber sie ist doch Ihre Tochter, die Mutter Ihrer Enkelin. Haben Sie wirklich gar keinen Kontakt?« Sie sah ihn anklagend an. Bei ihrem Blick überlief es ihn eiskalt.
»Nein.«
»Sollten Sie nicht …«
Knut fuhr sich mit der Hand durch die Haare, spürte den Schweiß auf der Kopfhaut. Er hasste diese Besuche, die ganzen Fragen.
»Ich habe es so viele Jahre versucht. Wenn Sie wüssten …«
Er ging in die Küche, holte den Kalender und zeigte ihr Monat für Monat, deutete auf alle roten Kreuze, alle Vermerke, dass er angerufen, es versucht hatte.
»Ich verstehe.« Die Frau legte den Notizblock beiseite und griff nach der Kaffeetasse, die auf dem Tisch im Wohnzimmer stand. Eine zarte weiße Tasse mit rosa Rosen. Aina hatte sie geliebt, und er benutzte sie selten. Ein Stück war am Rand herausgebrochen, und die Frau drehte sie, um nicht an der gezackten Stelle daraus trinken zu müssen. Sie schluckte hörbar.
»Der Kaffee ist gut.«
»Ich mahle ihn selbst.« Knut deutete auf die Mühle an der Wand. Er mochte den Geruch, wenn die Bohnen gegen die Walze gepresst wurden.
»Und wo ist Ihre Enkelin jetzt?«
Knut sah zur Standuhr, es war nach zwei. Er wartete, dass sich der Zeiger bewegte.
»Sie kommt gerade«, sagte er dann und deutete zum Fenster. Die Frau stand auf, die Kaffeetasse noch in der Hand.
»Woher wussten Sie …«, sagte sie, als sie das Mädchen entdeckte, das von der Landstraße abbog und auf den kleinen Hof zulief. Winzige Schottersteinchen flogen zur Seite, die Schultasche hüpfte auf ihrem Rücken hin und her.
»Um die Zeit kommt sie immer aus der Vorschule nach Hause. Sie ist das genaue Gegenteil ihrer Mutter, sie benimmt sich, ist lieb und fleißig.«
Zuerst hörte er das Lied durch das offene Fenster. Das Mädchen sang so laut und klar wie immer. Doch als sie die Tür öffnete und die fremde Frau sah, verstummte sie und senkte verlegen den Kopf.
»Hoppla«, sagte sie und legte die Hand über den Mund.
Knut stand mit der Mundharmonika bereit. Er nickte der Frau zu und spielte ein paar Töne. Dann nahm er das Instrument wieder herunter.
»Das ist Rosmarie, sie will sich versichern, dass es dir gut geht. Sollen wir etwas für sie spielen?«
Knut blies in die Mundharmonika, bewegte geschickt die Finger und die Lippen. Doch das Mädchen stand weiter mit gesenktem Kopf da.
»Möchtest du nicht? Warum denn nicht? Du singst doch so schön«, versuchte er sie zu überreden.
»Ja, das war wirklich ein schönes Lied, das du da draußen gesungen hast, das habe ich gehört«, sagte die Frau. Sie streckte die Hand nach Hanna aus, doch das Mädchen wich zurück.
»Wo ist Maj?«, fragte sie und sah den Gast aufgebracht an. Der Pony hing ihr in die Augen, er war unregelmäßig mit Knuts Küchenschere geschnitten und viel zu lang.
»Maj hat aufgehört. Ich mache jetzt ihre Arbeit und sorge dafür, dass du und dein Großvater es gut habt.«
»Das haben wir. Dafür müssen Sie nicht sorgen, das machen wir schon selbst …« Hanna rannte in die Küche, ihre Schuhe klapperten auf dem Holzboden. Knut sah nach ihr. Sie hob die Sitzfläche der Küchenbank an, legte sich hinein und schloss die Klappe über sich bis auf einen Spalt, durch den Luft hereinkam. Knut sah, wie sie ihn mit ihren grünen Augen anstarrte.
»Wo ist sie hingelaufen?«, fragte Rosmarie, als sie ebenfalls in die Küche kam. Sie drehte sich um und suchte nach dem Mädchen. »Ach ja, wo ist denn eigentlich ihr Zimmer?«, wollte sie wissen. »Das hier ist doch sicher nicht das ganze Haus. Wo schläft sie? Sie hat doch ein eigenes Bett?«
Hanna hob die Sitzfläche ein kleines Stück an. Nur ihre Stirn und die Augen waren zu sehen. Knut schüttelte leicht den Kopf und bedeutete ihr mit dem Finger, sich wieder zu verstecken. Sie gehorchte.
»Fliegen«, sagte er und wedelte mit der Hand vor dem Gesicht. »Sie sind überall. Und die Mäuse auch.«
»Ja, so ist das wohl auf dem Land.« Die Frau verzog angewidert das Gesicht und packte ihre Tasche fester.
»Ich kann die Kleine adoptieren, wenn es dadurch einfacher wird. Dann müssen Sie nicht ständig herkommen.«
»Das ist kein Problem. Es ist schön zu sehen, dass es Ihnen beiden gut geht. Und ich fahre gern aufs Land.«
Knut ging auf sie zu, sodass sie zurückweichen musste, und drängte sie aus der Küche. Sie schien ihre letzte Frage bereits vergessen zu haben, und er wollte sie wirklich dringend loswerden, bevor sie ihr wieder einfiel.
»Möchten Sie ein paar Äpfel mitnehmen?«, fragte er, als sie im Freien standen. Er deutete auf den Baum mit den Winterfrüchten, den großen roten. »Sie sind jetzt reif. Wir pflücken sie am Wochenende und machen Apfelmus für den Winter daraus.«
Die Frau zögerte einen Moment und rieb diskret ihre rechte Schuhspitze an der linken Wade, um etwas Lehm abzuwischen. Als sie dabei fast das Gleichgewicht verlor, stützte er sie rasch.
»Tut mir leid.« Sie lächelte verlegen und deutete auf die Schuhe. »Die sind ein bisschen schmutzig geworden, ich wollte nur …«
»So ist das auf dem Land. Die müssen Sie dann zu Hause putzen.«
Knut pflückte zwei große Äpfel, die er an seinem Hemdzipfel polierte und Rosmarie hinhielt.
»Hier, etwas für den Weg. Sie können auch gern noch mehr haben.«
Sie nickte und verstaute einen in ihrer Tasche. Vom anderen biss sie ein großes Stück ab. Bei dem sauren Geschmack verzog sie das Gesicht.
»Ach ja«, sagte sie, nachdem sie geschluckt hatte. »Wo schläft das Kind denn jetzt eigentlich?«
»Da hat sich nichts verändert. Maj war damit immer zufrieden.«
Er hielt den Atem an. Maj war überhaupt nicht zufrieden gewesen mit der Küchenbank. Doch letztendlich hatte er sie überzeugen können und keine Lust, diese Prozedur noch einmal zu wiederholen. Rosmarie wirkte strenger, viel genauer. Doch schließlich begnügte sie sich mit seiner Antwort und ging zu dem hellblauen Auto, das sie halb im Graben abgestellt hatte. Ihre Absätze versanken in der weichen Erde, und als sie einstieg, schleppte sie Lehm und Erde mit in den Wagen. Sie kurbelte das Fenster herunter und steckte noch einmal den Kopf hinaus.
»Sie haben es sehr schön hier, Sie und Hanna. Ich werde eine Adoption empfehlen, dann können wir uns diese Besuche sparen. Wenn Ihre Tochter die Papiere freiwillig unterschreibt, ist es ein ganz einfacher Prozess. Und das dürfte sie ja tun, wenn sie nicht einmal Kontakt zu ihrem eigenen Vater und ihrer Tochter hat.«
Freiwillig. Knut sah zu Boden. Er dachte an Johanna, und wie sie sich immer gestritten hatten, wie sie immer geschrien hatte, dass Hanna ihr gehörte. Immer wieder hatte sie es betont, die wenigen Male, die sie miteinander gesprochen hatten. Als ob das Mädchen ein Besitz wäre, den sie nur irgendwo eingelagert hätte. Ihm graute davor, sie um die Adoption zu bitten.
***
»Opa, warum ist alles so schön, wenn es geregnet hat?«
Knut sah sich um. Zu beiden Seiten des Weges wuchsen üppige Pflanzen. Farne, gelbliches Gras, Blaubeergestrüpp und Espenlaub an dürren Zweigen. Alles glänzte vor Nässe und war tiefgrün. Hier und da ruhte ein schimmernder, runder Tropfen auf den Blättern.
»Hm, so habe ich das noch nie gesehen. Regen ist doch eigentlich nichts Schönes, oder? Es ist schade, dass es an unserem freien Tag regnet.«
Hanna schüttelte den Kopf. Vorsichtig strich sie mit dem Finger über einen Farn, dann bewegte sie ihn, sodass die Wassertropfen in alle Richtungen spritzten. Sie lachte. Knuts Bein und die Holzschuhe wurden nass, die Tropfen rannen unter das Leder und waren unangenehm kalt auf seiner bloßen Haut.
»Wollen wir nicht langsam nach Hause gehen? Tee trinken, ein Feuer anzünden?«
Doch das Mädchen hüpfte weiter, sprang mit aller Kraft in die Pfützen und sammelte immer wieder Äste auf. Ihr ganzer Arm war bereits voll.
»Es ist Samstag, und am Samstag spielen wir, das weißt du doch«, erwiderte sie fröhlich, hob den Rock mit einer Hand an und legte ihre Schätze hinein.
»Was willst du denn mit den ganzen Ästen?«, fragte Knut ungeduldig.
Er blieb stehen, und Hanna lief mit gerafftem Rock tiefer in den Wald hinein. Auf der Rückseite ihrer Unterhose prangte ein großes rotes Herz.
»Wir brauchen ganz, ganz viele, wir bauen etwas richtig Großes!«, rief sie und zog mit einer Hand an einem langen Zweig. Als er sich löste, stolperte sie nach hinten und ließ ihren Rock los. Die Äste fielen zu Boden. Knut ging zu ihr, hob die Stöcke auf und betrachtete sie.
»So besonders sind sie aber nicht, oder?«, murmelte er.
»Doch, das sind sie, siehst du das nicht?«, sagte Hanna beleidigt und wischte sich mit den Händen feuchte Nadeln und Erde von den nackten Beinen. »Wir werden … eine goldene Statue damit bauen!«
Knut zupfte ein Stück Rinde von einem Ast und klopfte gegen das Holz. Es war immer noch zäh und fest. Er zog die restliche Rinde ab, bis das glatte weiße Holz darunter zum Vorschein kam.
»Eine goldene Statue?«, wiederholte er.
»Ja, wir setzen die Äste zusammen, bis sie ganz hoch ist, und dann malen wir sie mit deiner guten Goldfarbe an.«
Er nickte und lächelte. Die Kleine hatte so viele Ideen, sie sprudelten nur so aus ihr heraus. Er stapelte die Stöcke auf dem Arm.
»Die Goldfarbe ist zu teuer. Aber ich kann das Holz für dich drechseln«, sagte er und hielt ihr die Hand hin. »Ich kann Muster hineindrehen, hier, hier und hier.« Er deutete auf den Haufen Äste, zeichnete mit dem Finger darauf wie mit einem Stift.
Hanna hopste begeistert auf und ab und nickte eifrig. Den langen Ast zog sie auf dem Heimweg hinter sich her und hinterließ damit eine tiefe Spur in der Erde, eine richtige Furche.
»Wir bauen einen hohen Turm, zick zack, zick zack, und auf der Spitze steht … eine Kaffeetasse!«, rief Hanna und wedelte mit den Händen. Sie kicherte über das Bild, das sie vor sich sah.
»Eine Kaffeetasse?«
»Ja. Die schöne von Oma, damit die Frau sie das nächste Mal, wenn sie kommt, nicht nimmt.«
Er blieb stehen und wusste nicht, was er sagen sollte. Hanna lief weiter, kämpfte mit dem großen Ast, den sie mit beiden Händen hinter sich herzog.
Wie konnte sie wissen, dass sich sein Magen jedes Mal, wenn die Frau die Tasse gehoben hatte, vor Angst verkrampft hatte, sie könnte sie fallenlassen? Verstand Hanna das, auch wenn sie noch ein Kind war? War ihr klar, dass er bereut hatte, dem Gast die Tasse gegeben zu haben? Sie war noch so klein und doch so … erstaunlich klarsichtig.
»Wir bauen einen Turm«, sagte er entschlossen.
Er eilte ihr nach, hob noch ein paar Äste auf, der Wald war schließlich voll davon, und Hanna hatte recht, sie brauchten viele und würden nicht jeden verwenden können. Mit geübtem Blick musterte er seine Umgebung und brach ein paar Zweige von einem Baum. In seinem Kopf war die Skizze bereits fertiggestellt.
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