Wohin mit dem Atommüll? - Marcos Buser - E-Book

Wohin mit dem Atommüll? E-Book

Marcos Buser

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Beschreibung

Noch bis in die 1970er-Jahre schien die Frage, Wohin mit dem Atommüll?, ein zweitrangiges Problem. Die Kernenergie boomte – auch dank einer gut vernetzten Lobby, die im Hintergrund die Fäden zog. Umweltbewegung, Bürgerinitiativen und die beunruhigenden Bilder von Zwischenlagern, in denen Fässer vor sich hin rosten, haben das verändert. Marcos Buser kennt den Prozess der Endlagersuche aus dem Inneren. Er war vier Jahre lang Mitglied der Kommission für nukleare Sicherheit in der Schweiz – bis er aus Protest zurücktrat. Seine Kritik: Die Leitplanken bei der Suche nach einem Endlager für radioaktive Abfälle sind entlang der Interessen der Atomwirtschaft abgesteckt. Die Politik trabt hinterher. Aber kann und darf die Industrie eine Verantwortung übernehmen, die sich über Jahrtausende erstreckt? Marcos Buser sagt klar: Nein. Dieses Buch beleuchtet die Geschichte der Atom­energie international und in der Schweiz: das große, utopische Versprechen und das böse Erwachen ­angesichts des ungelösten Entsorgungsproblems. Aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung schöpfend, schildert Marcos Buser die Mechanismen der Atompolitik, die Einflussnahme der Industrie – und den Umgang mit Kritik und Warnungen. Nicht zuletzt plädiert er für eine neue Debattenkultur – eine, die Risiken offen ins Gesicht schaut, anstatt sie unter den Teppich zu ­kehren.

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Marcos Buser

Wohin mit demAtommüll?

Das nukleare Abenteuerund seine Folgen

Ein Tatsachenbericht

Das Buch erscheint mit finanzieller Unterstützung von

SES Schweizerische Energie-Stiftung

IPPNW Schweiz

AKW-nein.ch

MNA

Der Verlag bedankt sich hierfür.

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

© 2019 Rotpunktverlag, Zürich

www.rotpunktverlag.ch

Umschlag: Patrizia Grab

eISBN 978-3-85869-832-2

1. Auflage 2019

Inhalt

Vorwort

1Atomic dreams, atomic nightmares

Der Rahmen der Handlung

Aufbruch

Atoms for war, atoms for peace, atoms for … everybody!

Ärgerliche Hindernisse

Die atomaren Utopien verblassen

Widerspruch!

2Die atomare Schweiz

Ein trügerisches Vorbild

Der Einstieg ins nukleare Zeitalter

Problematische Strukturen, bedenkliche Methoden

Der vergessene atomare Abfall

Erfolgszwang Sachplan

Ein Fehlstart in die Gewissheit

Die Gräben werden sichtbar

Ein Schwindel …

… mit absehbarem Ende

Ein kleine Schlussbilanz des nuklearen Abenteuers in der Schweiz

3Vom anspruchsvollen Umgang mit unangenehmen Erkenntnissen

Schlussbetrachtung

Anhang

Anmerkungen

Wichtigste schweizerische Akteure und Institutionen

Quellen

Vorwort

Am 14. Juni 2012 trat ich aus der Eidgenössischen Kommission für nukleare Sicherheit zurück. Unter Protest. Nach viereinhalb Jahren Zugehörigkeit. Meinem Rücktritt ging ein knapp einjähriges inneres Ringen voraus, während dessen ich nach Auswegen und Lösungen aus einer für mich unhaltbar gewordenen Situation gesucht hatte. Wenn ein Experte aus einem Gremium zurücktritt, das ihm weit über Fachkreise hinaus sowohl im In- wie Ausland Ansehen und Respekt verschafft, muss ein ernster Grund vorliegen, zumal, wenn der Schritt unter Protest geschieht. In meinem Fall war dieser Grund das, was in der Schweiz gern als »Filz« bezeichnet wird: ein System, das persönlich eng verknüpft im Hintergrund zusammenspannt und zusammenarbeitet und das die Bedingungen und Voraussetzungen nicht gewährleistet für einen interessenunabhängigen und sachgerechten Umgang mit einem der gefährlichsten Güter, das die Menschheit bisher hergestellt hat: radioaktive Abfälle.

Auf meinen Rücktritt folgten monate-, ja jahrelange Berichterstattungen in den Medien. Knapp ein Jahr nach meinem Ausscheiden aus der Kommission eröffnete die Schweizer Bundesanwaltschaft ein Verfahren wegen Verletzung der amtlichen Schweigepflicht gegen meinen Informanten und mich. Die Atomaufsicht und die Entsorgungsorganisation der Atomkraftwerkbetreiber waren zuvor mithilfe von zwei Untersuchungsberichten – so gut das überhaupt noch möglich war – »reingewaschen« worden. Ein Systemwechsel fand jedoch nicht statt. Die verantwortlichen Instanzen hielten an der seit Jahrzehnten bewährten Aufgabenteilung fest: Die Atomwirtschaft zog die Fäden wie bisher aus dem Hintergrund, die Aufsicht trabte brav hintendrein, die Kommissionen nickten die Entscheide verlässlich ab, die verfahrensleitenden Stellen auf Bundesebene sorgten für die politischen Mehrheiten. Wie erwartet blieben die Probleme bestehen oder mehrten sich sogar.

Wohin mit dem Atommüll? Die Suche nach einem Standort für atomare Endlager schleppt sich seit bald fünf Jahrzehnten dahin. Die Rückschläge wiederholen sich. Die Verzögerungen nehmen kein Ende. Mit der Zwischenlagerung des hochgefährlichen Abfallguts verschieben die verantwortlichen Stellen die Probleme in die Zukunft. Auf unzählige Generationen. Nicht nur in der Schweiz. Auch nicht nur in Deutschland. Sondern in allen kernenergienutzenden Staaten der Welt. Deswegen schweigen sich die verantwortlichen Institutionen und Experten über unbequeme Wahrheiten aus. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Aus offiziellen Kreisen kommt kaum Einspruch gegen diese unhaltbaren Zustände. Man schweigt zu diesen Sachverhalten und macht weiter wie bisher. Im Glauben, es werde sich schon einmal eine Lösung über den bisher verfolgten Pfad finden lassen.

Wie es in Industrieländern mit demokratischen Systemen überhaupt möglich ist, dass Institutionen, die die Kontrolle über Hochrisikobereiche ausüben müssten, in eine derartige Abhängigkeit von Interessensgruppen geraten, wird in diesem Buch beschrieben. In einem ersten Teil wird der Rahmen der Handlung kurz umrissen und die bisherige Geschichte der nuklearen Expansion in einem großen, internationalen Bogen beleuchtet. Zu dieser Geschichte gehören die überrissenen Hoffnungen einer Gesellschaft in ein goldenes Zeitalter, die nukleare Aufrüstung und die Expansion der friedlichen Nutzung der Atomenergie wie auch die Misserfolge bei der Bewältigung der anstehenden Probleme. Dazu gehört auch die systematische Unterdrückung von Warnungen und Kritik durch Wissenschaftler aus den eigenen Reihen.

Diesem historischen Überblick über das internationale Geschehen folgt der zweite Teil des Buchs, der sich der Geschichte der Atomenergie in der Schweiz im Allgemeinen und der Entsorgung radioaktiver Abfälle im Speziellen annimmt. Das reichhaltige Material, das vier Jahrzehnten eigener Erfahrungen und der Auswertung einer umfangreichen wissenschaftlichen Literatur entspringt, beschreibt den Umgang des politischen Systems mit der Entsorgung radioaktiver Abfälle und die Illusionen einer schnellen Lösung. Es zeigt die Methoden, die bei der Abwehr eines wissenschaftlich offenen Diskurses zur Anwendung kommen, insbesondere im Rahmen des gegenwärtig laufenden Standortsuchverfahrens für geologische Tiefenlager. Schließlich thematisiert dieser zweite Teil die verdrängten Probleme im Umgang mit dem radioaktiven Legat, die nun zunehmend sichtbar werden.

Im einem kurzen dritten Teil des Buchs wird schließlich das Vorgehen der mächtigen Institutionen im Bereich der Nuklearindustrie reflektiert. Es werden Mechanismen aufgezeigt, wie diese Durchsetzung konkret strukturiert ist und wie die Steuerung eines solchen Systems erfolgt. Diese Schlussbetrachtung endet mit einer kleinen Analyse über die erforderlichen Reformen, die eingeleitet werden müssten, um bei der Bewältigung der ungelösten Probleme vorwärtszukommen.

Dieses Buch will erklären. Es will in erster Linie Mechanismen aufzeigen und Missstände benennen und gilt nur in zweiter Linie den Personen, die darin verwickelt sind. Denn diese sind austauschbar und spielen nur die untergeordnete Rolle von »Zähnen und Rädern«1 in einer großen institutionellen Maschinerie. Es geht um grundlegende Fragen der Organisation von Sicherheit von Hochrisikoanlagen, um systemische Mängel und um Fehlfunktionen, die von einer Gesellschaft und ihren politisch verantwortlichen Institutionen bedacht und anders beantwortet werden müssten. In diesem Sinne ist dieses Buch auch als Zeitdokument zu verstehen; es soll auch künftigen Leserinnen und Lesern einen Blick in die Dunkelkammern von Machtsystemen und die Kultur des copinage unserer Zeit ermöglichen – als Gegenpol zu offenen Systemen mit funktionierender Auf-Sicht.

Mein Dank gilt nicht nur jenen, die den Prozess wie auch die Niederschrift dieses Buchs begleitet und mich dabei unterstützt haben. Es waren ihrer sehr viele, und ihre Einwände und Beiträge waren richtig und wichtig. Auf diese Weise gewinnt eine Schrift auch an Klarheit. Es gilt an dieser Stelle aber auch, vielen anderen Personen meinen Dank auszusprechen, Menschen, die mir in gewiss nicht einfachen Jahren vor und besonders nach dem Rücktritt aus der Kommission zur Seite standen. Auch einige wenige Leute innerhalb der zuständigen Institutionen ließen sich durch die Verleumdungskampagnen und die Repression, die gegen mich aufgezogen wurde, nicht beirren. Ihnen gebührt dafür ebenfalls meine Wertschätzung und mein Dank. Zahlreiche andere Personen aus Institutionen wie auch betroffene Menschen sprachen mir ihre Anerkennung für das beherzte Vorgehen aus, für meine Unabhängigkeit und mein Engagement in der Sache. Ihnen allen – nahen, bekannten wie auch unbekannten Menschen –, möchte ich für diese Unterstützung an dieser Stelle ganz besonders danken.

Zürich, im Januar 2019

Marcos Buser

1

Atomic dreams,atomic nightmares

Der Rahmen der Handlung

1

Aufbruch

Ideen sind Wegbereiter der Zukunft. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte von Ideen.2 Und auch von gescheiterten Entwürfen. Oft ist der Weg zu einer Erkenntnis beschwerlich, lang, mitunter auch widersprüchlich und unvorhersehbar. Manche Ideen überleben sich auch, werden durch neue Vorstellungen abgelöst und versinken in der Zeit.

Dieser Entwicklungsverlauf gilt auch für die Atomenergie. An ihrem Anfang steht ein tolldreister Gedanke – »moonshine«3 werden führende Forscher diese Fiktion später nennen4 –, der Wissenschaft, Medien und Gesellschaft beflügelt und in einen leidenschaftlichen Rausch versetzt, aber auch Bangen angesichts der daraus erwachsenden Gefahren auslöst. Wir schreiben den Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert. Die Länder Europas und Nordamerikas befinden sich in einem tiefgreifenden Umbruch. Wissenschaft und Technik schreiten mit Siebenmeilenstiefeln voran und pflügen das Antlitz der Nationen und der großen Metropolen um.5 Die Elektrifizierung hält im Großmaßstab Einzug. Ein dichtes neues Netz von Bahn- und Straßeninfrastruktur durchzieht die Kontinente. Die Zeit pulsiert. Und mit ihr die Gesellschaft. Der spürbare Fortschritt treibt die Erwartungen an künftige Entwicklungen in ungeahnte Höhen. Sehnsüchte nach einer besseren Welt keimen wieder auf und lassen ein neues goldenes Zeitalter erwarten, wie der französische Historiker Georges Minois die utopisch-prophetische Stimmung dieser Epoche nachzeichnet: »Jeder spricht von Zukunft, und fast jeder sieht ihr mit Zuversicht entgegen.«6

In diese Zeit fiebriger Hoffnungen fällt auch die Entdeckung der Radioaktivität. Das geheimnisvolle Leuchten des Radiums im Dunkeln fasziniert Wissenschaft wie auch Publikum. Seinen Eigenschaften werden magische Heilkräfte zugeschrieben, die zu einer Vielzahl von Irrungen verleiten. So sollen etwa Radiumpräparate, die vor die Augen oder an den Hinterkopf gehalten werden und auf diese Weise das Auge mit Helligkeit erfüllen, Blinden das Augenlicht wieder geben.7 Der 1902 nachgewiesene spontane Zerfall von Uranium und Thorium lässt von der Umwandlung unedler Metalle zu Gold träumen. Ein neuer Alchemist betritt als Radiochemiker die Weltbühne. Einer der ersten Wissenschaftler, der diesem geheimnisvollen Zauber verfällt, ist der britische Chemiker Frederic Soddy, der an der Universität in Glasgow forscht und lehrt. Er und sein Mentor, der Physiker Ernest Rutherford, sind wichtige Träger der nun beginnenden Glorifizierung der neu entdeckten Radioaktivität. Vor allem Soddy entwirft überwältigende Visionen für die Menschheit, die den zahlreichen paradiesischen Fiktionen der Vergangenheit in nichts nahestehen.8 In einem Vorlesungsmanuskript, das 1909 in Buchform erscheint, greift er eine Utopie des Dichters Percy Bysshe Shelley auf, der in seinem Gedicht »Feenkönigin Mab« eine paradiesische Zukunft für die menschliche Rasse entworfen hat: »Eine Gattung, die Materie transmutieren kann, wird es kaum notwendig haben, ihr Brot im Schweiß ihres Angesichts zu erwirtschaften. Aus der Sicht dessen, was unsere Ingenieure mit einer vergleichsweise beschränkten Energieversorgung vollbringen, können wir uns vorstellen, wie eine solche Gattung das Festland der Wüsten umwandelt, die vereisten Pole auftaut und aus der ganzen Erde einen leuchtenden Garten Eden macht.«9

Auch der Biologe, Historiker und Schriftsteller Herbert George Wells, Autor berühmter utopischer Wissenschaftsromane wie Die Zeitmaschine oder Die Insel des Dr. Moreau, macht sich Gedanken zur Menschheitsentwicklung und zum technischen Fortschritt. Die Entdeckungen auf den aufstrebenden Gebieten der Radiologie und der Atomphysik verfolgt er eng. Soddys Buch über Die Interpretation des Radiums und die Struktur des Atoms, das er 1909 liest,10 steht Pate für seinen neuen Roman Befreite Welt, der 1914 erscheint und eine seltsam anmutende kryptische Widmung enthält: »Frederick Soddys ›Interpretation des Radiums‹ gewidmet. Dieser Roman, welcher dem elften Kapitel seines Buchs lange Passagen verdankt, anerkennt dessen Verdienst und schreibt [dessen Gedanken; MB] fort.«11 Wells beschreibt in diesem prophetischen Roman die Entdeckung und industrielle Nutzung der Atomkraft, die Entwicklung und Herstellung von Atombomben wie auch den ersten Atomkrieg, bei dem praktisch alle großen Städte der Welt durch atomare Bombenkraft zerstört werden. Die menschliche Gesellschaft wird danach, so der Roman, von Grund auf umgepflügt. Eine Weltregierung nimmt ihre Arbeit auf. Ein neues Zeitalter entsteht, das die bisherige Ordnung hinter sich lässt. Wells legt zu Beginn der Geschichte einem Physikprofessor namens Rufus die Vision dieser neuen Ära in den Mund, die den Beschreibungen im elften Kapitel von Soddys Buch verblüffend ähnelt: »Dann wird dieser ständige Existenzkampf, dieses stete Ringen, von dem zu leben, was die Natur von sich aus gibt, nicht mehr das Los der Menschen sein. Der Gipfel dieser Zivilisation wird die Wurzel der nächsten sein. Ich habe nicht die Rednergabe, meine Damen und Herren, um der Vision des zukünftigen Wohlstandes der Menschheit Ausdruck zu verleihen. Ich sehe, wie die Wüsten fruchtbar werden, wie das Eis der Pole schwindet und die ganze Erde zu einem Paradies wird. Ich sehe, wie sich die Macht des Menschen bis zu den Sternen erstreckt …«12 Der amerikanische Historiker Richard Rhodes wird in seinem Standardwerk Die Atombombe zu diesem mehrfachen Gedankentransfer feststellen: »Rutherfords und Soddys Diskussionen über radioaktive Umwandlungen inspirierten also jenen Science-Fiction-Roman, der schließlich Leo Szilard dazu bewegte, über Kettenreaktion und Atombomben nachzudenken.«13 Jahrzehnte später wird dieser Satz – »Ich sehe, wie die Wüsten fruchtbar werden, wie das Eis der Pole schwindet und die ganze Erde zu einem Paradies wird« – zu einem Bekenntnis der aufstrebenden friedlichen Nutzung der Kernenergie werden, das weltweit in unzähligen Variationen und Sprachen kolportiert werden wird.

Wells’ Vision hinterlässt auch in der damaligen Wissenschaftsgemeinde tiefe Spuren. Frederic Soddy, der inzwischen den Nobelpreis für Chemie im Jahr 1921 erhalten hat, wird sich später besorgt über das militärische Zerstörungsvermögen der Atomenergie und die Unvernunft der Nationen zeigen.14 Aber die Entwicklung geht nun ungehindert weiter. Schon 1933 kommt es zum nächsten Ruck in der Erkenntnis um die Kettenreaktion. Leo Szilard, der bedeutende ungarische Atomphysiker, der Wells seit 1929 auch persönlich kennt und dessen Ansichten er oft als deckungsgleich betrachtet,15 wird die praktische Machbarkeit der Kernspaltung im September 1933 als erster Physiker überhaupt erkennen. An einer Ampel in London. Schlagartig. Dann vergehen weitere fünf Jahre. Einen Monat nach den Novemberpogromen 1938, die die systematische Verfolgung der Juden in Deutschland einleiten, finden die bahnbrechenden Experimente der deutschen Physiker Otto Hahn und Fritz Strassmann in Berlin-Dahlem statt.16 Bis zur richtigen Deutung der Experimente durch ihre in Schweden weilende jüdische Kollegin Lise Meitner und deren Neffen Otto Frisch vergehen noch zwei Wochen, doch Anfang des Jahres 1939 beginnt die Welt der Physiker – und mit ihr auch jene der Politiker – die Existenz der Kettenreaktion mit unglaublichem Staunen zur Kenntnis zu nehmen.17 Das »Kettenreaktionsfieber« bricht aus; so wird der spätere Vater der Wasserstoffbombe, Edward Teller, das Treiben der Physiker in den ersten Monaten des Jahres 1939 bezeichnen.18 In der entscheidenden Entwicklungszeit der Kernspaltung zwischen dem 17. Dezember 1938 und dem ersten Halbjahr 1939 werden sich Wells’ Vorhersagen – wie Szilard feststellt – bewahrheiten.19

Dann, im September 1939, bricht der Zweite Weltkrieg aus. Getrieben von der Furcht, Hitlers Deutschland könne in den Besitz der Bombe kommen, lässt sich die amerikanische Regierung 1942 in einem Kraftakt sondergleichen auf den Bau der Bombe ein.20 Innerhalb von gerade nur zweieinhalb Jahren schafft sie das scheinbar Unmögliche: den erfolgreichen ersten Test der neuen Waffe und den doppelten Abwurf der Bomben über Japan.21 Man schreibt August 1945. Wells’ Vision wird innerhalb von nur wenigen Jahren zur Wirklichkeit.

Bezeichnend für das unter dem Code-Namen »Manhattan-Projekt« erfolgreich durchgeführte Projekt ist die höchste Geheimhaltung, der es von Anfang an untersteht. Nur eine kleine Minderheit unter den vielen hunderttausend am Projekt Beteiligten – mehrheitlich führende Politiker, hohe Offiziere sowie leitende Wissenschaftler und Unternehmer – weiß tatsächlich, worum es geht.22 Von Beginn an binden die amerikanischen Militärbehörden, unter deren Schirmherrschaft das Projekt steht, die Industrie und deren Knowhow ein.23 Ohne diese Unterstützung ist dieses mit gewaltigen staatlichen Mitteln angestoßene Großprojekt nicht zu bewältigen. Der militärisch-industrielle Komplex, wie er später häufig genannt wird,24 ist sozusagen Garant für den Erfolg der Unternehmung. Geheimhaltung, Tarnung und Täuschungsräderwerk aber, die diesem Programm zugrundeliegen,25 vererben sich auf die nachfolgende industrielle Tätigkeit und setzen sich später ungehindert in allen Atomprogrammen der Welt fort. Der Mechanismus ist installiert, dem alle militärischen und später auch staatlichen Institutionen unabhängig von ihrer politischen Schattierung folgen werden.

Nach zwei Weltkriegen, einer dazwischenliegenden globalen Wirtschaftskrise und insgesamt drei Jahrzehnten Krieg, Elend, Not und Zerstörung sehnen sich die Menschen nach Frieden und Wohlergehen. Die friedliche Nutzung der Atomenergie steht für Fortschritt, für Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung, für Prosperität und Wohlstand – und wird von führenden Politikern bewusst in den Gegensatz zur militärischen Bedrohung gesetzt, die durch die Atombomben sichtbar geworden ist. So verfallen die durch den Krieg ausgelaugten Länder der atomaren Verheißung, die an vorderster Front auch von Wissenschaftlern propagiert wird.26 Es herrschen »millenaristische« Aufbruchstimmung und zugleich apokalyptische Furcht, die mit der Aufrüstung zu militärischen Zwecken Hand in Hand gehen.27 Wells’ Bilder der blühenden Wüsten und der eisfreien Pole sind allgegenwärtig. »Eine fixe Idee gerade auch ›linker‹ Atomzeitalter-Visionen war der Traum von der Wüstenbewässerung und Erwärmung der Polargebiete durch Kernenergie«, fasst der deutsche Historiker Joachim Radkau einen Aspekt der damaligen Stimmung zusammen.28 Das Bild der antarktischen »Riviera« ist weit verbreitet, und selbst Intellektuelle vom Format des deutschen Philosophen Ernst Bloch feiern das sich ankündigende Atomzeitalter mit kindlicher Naivität.29 »Gigant Atom«30 betritt die Weltbühne. Die »atomare Revolution« bedient alle gängigen Clichés, vom »Zauberlehrling« über den »neuen Prometheus« bis hin zum »Master of the Universe«.31 Der atomare Kreuzzug, von Washington aus Anfang der 1950er-Jahre initiiert,32 weckt riesige Hoffnungen: Atomkraftwerke, atombetriebene U-Boote, Lokomotiven, Autos, Flugzeuge, Raketen, Meerwasserentsalzungsanlagen, neben all den industriellen, technischen und medizinischen Anwendungen in großer Zahl. Nur wenige Beobachter dieser Zeit hinterfragen die Träumereien.33

Zunächst aber sind viele Wissenschaftler und große Teile der Zivilgesellschaft über die atomare Aufrüstung der beiden Supermächte und die oberirdisch durchgeführten Atomwaffentests besorgt.34 Sie warnen eindringlich vor der zunehmenden Gefährdung durch das atomare Wettrüsten, vor oberirdischen Atomexplosionen und vor der Verstrahlung der Umwelt, wie sich exemplarisch an der Zündung der stärksten je zur Explosion gebrachten thermonuklearen Atombombe »Bravo« am 28. Februar 1954 auf dem Bikini-Atoll in der Südsee zeigt.35 Ihre Auswirkungen sind verheerend: Der Atompilz steigt bis in 40 Kilometer Höhe, reißt einen Krater von zwei Kilometern Durchmesser und 75 Metern Tiefe in den Riffuntergrund und verstrahlt ein Gebiet von Abertausenden Quadratmeilen schwer.36 Die umgesiedelten Bewohner von Bikini auf der rund 150 Kilometer östlich liegenden Insel Rongelap sind die ersten Opfer, ebenso Bewohner benachbarter Inseln wie auch die Besatzung eines japanischen Fischerboots, das in einer vergleichbaren Distanz vom Bikini-Eiland unterwegs ist. Es regnet »graue Korallen-Asche« vom Himmel.37 Ein »disastrous fallout« – ein verheerender radioaktiver Niederschlag – wird der Historiker Richard Hewlett in seinem 1989 veröffentlichten Buch Atoms for Peace and War dazu schreiben.38

In diesem seltsamen Klima zwischen wirtschaftlichem Aufschwung und kaltem Krieg wird sich die Atomenergie in den Industrieländern fortan entwickeln, angetrieben von Visionen, die der amerikanische Präsident Harry Truman bereits zwei Monate nach den Bombenabwürfen über Japan im amerikanischen Kongress im Oktober 1945 vorträgt: »Nie zuvor in der Geschichte stand die Gesellschaft einer Quelle von so großer potenzieller Gefahr gegenüber, die zugleich so vielversprechend für die Zukunft der Menschheit und den Frieden auf der Welt ist.«39 Die Gesellschaft bleibt tief gespalten zwischen den Träumereien von ungeahntem Aufschwung und dem Schrecken des Atomkriegs, zwischen Erwartungen zum Segen der Technologie und Visionen über das Ende der Zivilisation. Die Gegensätzlichkeit der Perspektiven polarisiert die Gemüter. Diese Widersprüchlichkeit begleitet den Einstieg in die friedliche Nutzung der Atomenergie und prägt die Debatte um die Atomtechnologie bis zum heutigen Tag.

2

Atoms for war, atoms for peace, atoms for … everybody!

Was bis weit in die 1950er-Jahre wie ein Siegeszug des »friedlichen Atoms« aussieht, ist in Wirklichkeit ein zäher Kampf der politischen und militärischen Schaltstellen der Großmächte, allen voran jener der USA und der Sowjetunion.40 Bis 1949 sind die Vereinigten Staaten auf dem Gebiet der Nukleartechnologie militärisch praktisch unbesiegbar geworden. Die Zündung der ersten sowjetischen Plutoniumbombe am 29. August 1949 stellt diese militärische Überlegenheit jedoch wieder infrage und löst eine atomare Aufrüstung aus, die den Kalten Krieg zu einem Risikospiel ungeahnten Ausmaßes verkommen lässt.41 Der Abschreckungseffekt der Bombe verpufft aber schnell, wie der absurde Rüstungswettlauf zwischen den beiden Supermächten zeigt: 1986 ist ihr Arsenal zusammen auf über 70 000 Atomsprengköpfe angewachsen – genug, um die menschliche Zivilisation zu vernichten.42 Die Aufrüstungsspirale steht in krassem Gegensatz zu den erklärten Zielen der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Dieses »friedliche Atom« dient vor allem in den Nachkriegsjahren bewusst propagandistischen Zwecken;43 seine kaum nachvollziehbare Faszination ist »primär den weit aufgespannten Erwartungs- und Möglichkeitshorizonten und nicht realen Fortschritten in der zivilen Kerntechnologie« geschuldet.44

Die 1946 vom amerikanischen Kongress eingesetzte Atomenergiekommission (AEC) fördert zunächst vor allem die atomaren Aufrüstungsprojekte der amerikanischen Luftwaffe und Marine.45 In der Folge wetteifern Air Force und Navy um die Entwicklung von thermonuklearen Bomben und atombetriebenen Flugzeugen beziehungsweise von atomarem Schiffsantrieb.46 Vor allem die Entwicklung des atomgetriebenen Unterseeboots »Nautilus« wird für die weitere zivile Reaktorentwicklung bedeutsam werden. Mit Hyman Rickover, einem durchsetzungsstarken Marineoffizier und hochkompetenten Ingenieur, der sich am Oak Ridge National Laboratory (ORNL) in Pennsylvania das atomare Rüstzeug angeeignet hat, gewinnt dieses Projekt schnell an Konturen. Die ursprünglich angedachte Reaktorlinie eines Hochtemperatur-Sodiumreaktors wird auf Intervention des damaligen Forschungsleiters am ORNL, Alvin Weinberg, zugunsten eines Druckwasserreaktors (PWR) aufgegeben.47 Nach diesem Entscheid geht die Entwicklung des atombetriebenen Unterseeboots mit Siebenmeilenschritten voran. Am 30. März 1953 wird die Nukleareinheit der »Nautilus« zum ersten Mal hochgefahren, im Januar 1955 sticht sie, von einer gewaltigen Publizitätslawine begleitet, erstmals in See.48

Im Gegensatz dazu hat der Aufbau eines zivilen – »friedlichen« – amerikanischen Reaktorprogramms in den ersten Nachkriegsjahren keine Priorität.49 Zwar diskutieren führende Wissenschaftler innerhalb eines Expertenbeirats bereits Mitte der 1940er-Jahre über die künftige Reaktorentwicklung und wägen die Vor- und Nachteile verschiedener Reaktorlinien ab.50 Bis zu tausend unterschiedliche Reaktortypen bieten sich an, wenn alle Kombinationen von Brennstoffen, Kühlmitteln und Moderatoren betrachtet werden. Aber es wird bis zum November 1948 dauern, bis die amerikanische Atomenergiekommission AEC den ersten Fünfjahresplan für die zivile Reaktorentwicklung bekanntgibt.51 Ziel ist von Beginn an die Entwicklung von Reaktoren, die den Uranbrennstoff nicht nur spalten, sondern waffentaugliches Plutonium und zusätzliche künstliche Brennstoffreserven »erbrüten« sollen; es geht also von allem Anfang an um diese Brutreaktoren und insbesondere um die Herstellung und Nutzung von Plutonium – »schlicht und einfach«, wie dies Alvin Weinberg in seinem Lebensrückblick festhält.52

In dieser Logik ist auch die Entwicklung des ersten Prototyps eines natriumgekühlten Schnellen Brutreaktors (EBR-1) zu sehen, der Ende 1951 als erster Reaktor weltweit Atomstrom produziert.53 Die elektrische Nennleistung von 200kWe – genügend für ein paar Glühbirnen – erlaubt es aber nicht, Strom ins Netz einzuleiten.54 Im November 1955 erleidet der EBR-1 bei einem Testlauf eine partielle Kernschmelze.55 Die anderen Brüterlinien dieser Zeit kommen aufgrund der hohen technischen Anforderungen ebenfalls nicht recht voran – ganz im Gegensatz zu den ersten kommerziellen Entwicklungen mit Leichtwasserreaktoren, die im Argonne National Laboratory (Illinois) angestoßen werden und an denen General Electric als Industrieunternehmung beteiligt ist. Diese Linien setzen sich im Wettlauf der Reaktorprojekte schließlich durch.

Im Dezember 1953 verleiht der amerikanische Präsident Dwight Eisenhower der Entwicklung der friedlichen Nutzung der Atomenergie zusätzlichen Schub.56 Mit dem verlockenden Programm »Atoms for peace«, das er am 8. Dezember in einer Rede vor der UNO-Vollversammlung bekannt gibt, machen die Vereinigten Staaten der Öffentlichkeit ein Projekt schmackhaft, das der friedlichen Nutzung der Atomkraft dienen soll. In Wirklichkeit kommt »Atoms for peace« aber weiterhin vor allem dem atomaren Wettrüsten zugute, das in den Hinterzimmern der Militärbürokratie auf Hochtouren läuft.57 Tarnung und Täuschung gelingen: Medien, Wissenschaft, Politik, die überwiegende Mehrheit der Eliten und der Bevölkerung in den Industrieländern weltweit folgen mit Begeisterung, ja Euphorie dem Aufruf zum Einstieg in das friedliche nukleare Zeitalter.58 Die atomare Utopie bricht sich mit gewaltigem Tosen Bahn.59 Man kann sich im Nachgang nur wundern, mit welchem Eifer sich Politik und Wirtschaft in West und Ost zu dieser Zeit in das atomare Abenteuer stürzen und sich dessen Verheißungen hingeben.60 Shelleys, Soddys und Wells’ Parabeln der blühenden Wüsten und der antarktischen Riviera kehren unbewusst zurück. Unbewusst wird dabei auch der Maßstab gesetzt, an dem sich die nuklearen Utopien später messen lassen müssen; das Bild der sich verausgabenden utopischen Reserven, das der rumänisch-französische Philosoph Emil M. Cioran für den sowjetischen Kommunismus prägte, lässt sich in dieser Hinsicht auch gut auf die Atomtechnik übertragen.61

Die atomaren Großprojekte überstürzen sich in vielen industrialisierten Ländern. Im Westen ist »Atoms for peace« das Vehikel, mit dem die friedliche Nutzung der Atomenergie in die Welt getragen wird – bei gleichzeitiger Kontrolle des Wissenstransfers, der nuklearen Technologie sowie der spaltbaren Materialien durch die USA.62 Im Osten forciert Stalin die militärischen wie zivilen Atomprogramme. 1954 geht in Obninsk bei Moskau der erste sowjetische Reaktor ans Netz – eine Premiere weltweit.63 Das Wettrennen um die atomare Aufrüstung und das zivile Atomprogramm ist lanciert. Die erste internationale Konferenz über die Atomenergie im Sommer 1955 in Genf bietet den USA darum die Gelegenheit, ihre Leichtwassertechnologie vor den Augen der Weltöffentlichkeit zu vermarkten und gleichzeitig die Aufmerksamkeit von der tödlichen Bedrohung abzulenken, die mit der militärischen Doktrin des amerikanischen Präsidenten Eisenhower einhergeht.64 Die dritte Epoche der menschlichen Geschichte wird nun heraufbeschworen.

Doch die Konferenz dient nicht nur politischen Zielen der Vereinigten Staaten, sondern verfolgt auch handfeste kommerzielle Absichten: Sie soll bei den aus allen Ländern der Welt herbeiströmenden Ausstellungsbesuchern das Bedürfnis nach der neuen Technologie wecken – eine Art Marshall-Plan für Atomenergie mit mystisch-religiösem Touch.65 Zu diesem Zweck bauen und betreiben die USA in Genf auch einen niedlichen »Swimmingpool-Reaktor« im Inneren eines nachgebildeten Schweizer Bergbauernhofs.66 Dieser heimatlich ausstaffierte Schwimmbadreaktor, der im Betrieb leuchtend blau erstrahlt, ist der Besuchermagnet für die Begleitausstellung der Konferenz.67 Enrico Fermis Witwe Laura, die den verstorbenen, großen Atomphysiker an der Ausstellung vertritt, zeichnet in ihrem Rückblick zur Genfer Konferenz das Bild eines jungen Wissenschaftlers, der, vor diesem Zauberwerk stehend und als »Priester einer mystischen Religion« auftretend, die Zuhörer zum neuem Glauben bekehrt.68 Auch die Schweiz zieht als Gastgeberland aus diesem Enthusiasmus Profit. Im Anschluss an die Konferenz kann sie den bereits radioaktiv gewordenen Reaktor von den USA zu äußerst günstigen Bedingungen erwerben und als ersten Forschungsreaktor unter dem selbstredenden Namen »Saphir« am neuen Standort im aargauischen Würenlingen wiederaufbauen und betreiben.69 Das Marketing der Amerikaner funktioniert wie geschmiert.

Die Genfer Konferenz stellt die Weichen für das neue Zeitalter der Reaktorentwicklung, europa- und weltweit. Aber die Zeit für eine rasche nukleare Expansion ist noch nicht reif. Das erforderliche Knowhow muss erst noch gewonnen werden. Der Bau der Meiler stellt eine gewaltige technische und finanzielle Herausforderung dar.70 Denn nicht nur die technische Erfahrung in dieser Risikotechnologie muss Schritt für Schritt erworben werden. Auch die Kosten stehen in den Sternen. Außerdem sitzt der große Konkurrent der Atomenergie, die Kohle, wirtschaftlich fest im Sattel.

So beginnt ab Mitte der 1950er-Jahre eine von höchstem Optimismus getragene Offensive für die Nuklearisierung der Zukunft.71 Sie zielt vor allem in drei Richtungen: Die atomare Technik soll zunächst weiterentwickelt werden, um mit Brutreaktoren »die Steine zu verbrennen« und mit der Fusion »das Meer zu verglimmen«.72 Die auf diese Weise gewonnene Energie würde Wells’ Traum der unerschöpflichen, billigen Atomenergie Wirklichkeit werden lassen.73 Internationale Körperschaften wie Euratom, die europäische Atomgemeinschaft oder die Atomenergieagentur der OECD sollten dabei als »nukleare Arme« oder Stoßkeile des staatlich-industriellen Nuklearkomplexes wirken, genauso wie auch die Internationale Atomenergieagentur (IAEA) in Wien.74 Alle drei Institutionen werden 1957 gegründet und bilden mächtige, ressourcenmäßig gut ausgestattete und bestens vernetzte Körperschaften, die auf internationale Kooperation setzen und eine breit verknüpfte Gemeinschaft hervorbringen, die Projekte initiiert und umsetzt.75 Die nukleare Zukunft der Menschheit kann beginnen.

Gegen Ende der 1950er-Jahre stehen die Zeichen für Großprojekte gut. Nach »Atlantropa« des Berliner Architekten Herman Sörgel – ein gigantischer Umgestaltungsplan der 1930er-Jahre, der die Schließung der Meerenge von Gibraltar zur energetischen Nutzung und zur Bewässerung Nordafrikas vorsah –, folgt die Sowjetunion unter Stalin mit einem nicht minder gigantischen Vorhaben zur Bewässerung der zentralasiatischen Wüsten mit sibirischem Wasser.76 Dieses monumentale Vorhaben zur großräumigen Umgestaltung der Sowjetunion, auch Davydov-Plan genannt, fordert die Fantasie der amerikanischen Nukleargemeinschaft heraus. Atombomben sollen jetzt zur großräumigen Umformung der Landschaft eingesetzt werden. In einem Projekt mit dem martialischen Namen »Plowshare« (Pflugschar) entwickelt die amerikanische Atomenergiekommission AEC Visionen für die Realisierung von großen Infrastrukturprojekten unter Einsatz von Atomwaffen.77 Geplant ist etwa der Bau von neuen Kanalverbindungen durch Mittelamerika, ausgesprengt mit Hunderten und Aberhunderten Wasserstoffbomben.78 Ausgebombt werden sollen auch große Häfen, etwa im nördlichen Alaska bei Point Hope.79 Der Vater der Wasserstoffbombe, Edward Teller, plädiert für den Einsatz von Nuklearsprengstoffen,80 um die Straße von Gibraltar zu schließen, das Mittelmeer aufzustauen und damit die Sahara zu bewässern.81 Venedig und andere Küstenstädte des Mittelmeers würden dadurch betroffen. Aber das nehmen die Planer als Kollateralschaden in Kauf. Auch die Beringstraße soll mithilfe von Atomsprengköpfen »ausgebaggert« und eisfrei gemacht werden.82 Die futuristischen atomaren Visionen reichen bis zur Eroberung des Weltraums. Das Projekt »Orion« sieht vor, Raketen ins All zu befördern – unter Zuhilfenahme von Atombomben.83 Natürlich gehört auch die Rohstoffsuche in tiefliegenden geologischen Schichten zum Programm. Craig Hosmer, Mitglied des 1946 eingesetzten einflussreichen Joint Committee on Atomic Energy (JCAE) des amerikanischen Kongresses, nennt das Projekt einen »Goldpot«, der den USA Unmengen Gold, Silber, Kupfer und andere Metalle wie auch Gas und Öl bescheren und die Rohstoffpreise massiv drücken werde.84 Das reichlich in Schiefern vorhandene Erdgas im Untergrund der Bundesstaaten New Mexico, Colorado, Utah und Wyoming soll durch unterirdisch gezündete Atombomben gefördert werden und den Energiehunger Amerikas stillen helfen. Schon der erste Versuch scheitert: Gas wird zwar in großen Mengen freigesetzt, aber es ist radioaktiv und damit unbrauchbar.85 Dennoch halten solche Fehlschläge die Atomenergiekommission nicht davon ab, weitere Tests dieser Art zu planen und auszuführen. Angesichts der vor 1963 noch üblichen oberirdischen Kernwaffenversuche scheint der freigesetzte radioaktive Niederschlag durch solche Projekte die Planer nicht groß zu stören. Operation »Plowshare« ist jedenfalls eine Fundgrube für die überbordende Fantasie der »firecracker boys«, der »Böllerbuben«, wie diese Utopisten gemeinhin bezeichnet werden.86

Anders sieht es allerdings mit der Reaktorentwicklung aus, die nun an den Bau des Leichtwasserreaktors für das Unterseeboot »Nautilus« anschließt und von den großen amerikanischen Energiekonzernen General Electric und Westinghouse in einem erbitterten Konkurrenzkampf vorangetrieben wird.87 Auch die staatliche Planung ist aggressiv.88 Anfang der 1960er-Jahre beginnt ein regelrechter Wettlauf um die Entwicklung immer leistungsfähigerer Reaktoren. Alvin Weinberg, der langjährige Leiter der amerikanischen »Uranschmiede« Oak Ridge National Laboratories (ORNL) und einer der »brillantesten Gründungsväter der amerikanischen Kerntechnik«89, hält in seinem Lebensrückblick zu diesem schnellen Aufblähen der Reaktorgrößen fest: »Der wirtschaftliche Druck war so stark, dass größere Reaktoren bereits in Entwicklung waren, bevor die kleineren Einheiten fertiggestellt worden waren und die Lehren in die größeren Anlagen einfließen konnten.«90 »Bigger is cheaper« ist das geflügelte Wort, um die Atomenergie gegenüber der Kohleindustrie konkurrenzfähig zu machen. Die Sicherheit wird vernachlässigt, wie Weinberg später selber zugibt.91 Anfang der 1960er-Jahre zeichnet sich endlich das erhoffte starke Wachstum beim Bau von neuen Atomkraftwerken ab. Im Jahr 1964 ist die Euphorie groß, als General Electric in den USA den Preis des festinstallierten Atomkraftwerks Oyster Creek in New Jersey weit unter den Gestehungskosten für neue Kohlekraftwerke ansetzt.92 Damit ist der Bann gebrochen, die Zeit des Zögerns vorbei.

Die Preise brechen nach dem Spezialangebot für das AKW Oyster Creek ein.93 In der Nuklearindustrie herrscht Goldgräberstimmung, der Bauboom setzt ein.94 1974 geht die Internationale Atomenergieagentur IAEA weltweit von 4,45 Millionen Megawatt installierter elektrischer Leistung aus Kernkraft bis zum Jahr 2000 aus – was in etwa 450 Reaktoren der 1000-MWe-Leistungsklasse entspricht.95 Ein Jahr später, 1975, schätzt die Atomenergieagentur NEA, die der Organisation für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) angegliedert ist, den Bedarf an installierter Nuklearkapazität im OECD-Raum bereits bis 1985 auf 546 000 Megawatt ein – also rund 550 Reaktoren der 1000-MWe-Leistungsklasse.96 In Deutschland gehen die Prognosen, die die Bundesregierung im Jahr 1973 in Auftrag gegeben hat, von 45 000 bis 50 000 MW installierter elektrischer Leistung bis ins Jahr 1985 aus, was einer Leistung von 45 bis 50 1000-MWe-Blöcken entspricht.97 Die Schweiz steht mit den damals vorgesehenen zehn Reaktoren in der gleichen Wachstumsschlaufe.98 Im selben Zeitraum wirbt Alvin Weinberg für eine zweite nukleare Ära unter dem Banner von Wells’ Vision.99 Brutreaktoren sollen eine billige und praktisch unerschöpfliche Energiequelle der Zukunft sichern. Dazu beziffert Weinberg die Anzahl von Kraftwerken, die weltweit »für immer Strom« produzieren würden, auf 10 000.100 Allein für die USA geht er von einem Park von 1000 Brütern mit Leistungen von je 2000 MWe aus. In ähnlichen Dimensionen liegen die 1981 veröffentlichten Projektionen des deutschen Physikers Wolf Häfele, der bis 2030 von einem weltweiten System von 3000 Brut- und Hochtemperatur-Reaktoren mit je 3300 MWe pro Kraftwerk ausgeht.101

Der nukleare Enthusiasmus kennt keine Grenzen. Ein mächtiges technokratisches und finanzielles System ist rund um die atomare Technik entstanden. Weltweit. Europaweit. In Deutschland und auch in der Schweiz. Die Stimmung steht auf Atom: »Atoms for everybody, atoms everywhere.« Ungeachtet der atomaren Aufrüstung, die sich Ende der 1940er-Jahre abzuzeichnen beginnt und die viele Beobachter der Zeit mit Sorge erfüllt, setzt sich die Hoffnung auf eine befriedete »befreite Welt« umfassend durch.102 Und doch versperren verschiedene Hindernisse dem sicher geglaubten Siegeszug der Atomtechnik nun den Weg.

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Ärgerliche Hindernisse

»Niemand wusste, ob gewöhnliche Leichtwasserreaktoren je Energie würden erzeugen können, die wirtschaftlich mit jener aus fossilen Brennstoffen konkurrieren könnte«, stellt Alvin Weinberg in seinen Aufzeichnungen zu dieser Zeit fest.103