Wolfsbiss - Markus Bennemann - E-Book

Wolfsbiss E-Book

Markus Bennemann

4,6

Beschreibung

In Berchtesgaden geht der Wolf um. Auf dem sagenumwobenen Untersberg, wo der Kaiser schläft und der Teufel wohnt, soll er wieder durch die Wälder streifen. Die Naturschützer jubeln, die Almbauern protestieren. Dann wird die grausig zugerichtete Leiche einer jungen Frau gefunden, und die Presse stürzt sich auf den Fall. Doch lauert wirklich ein Wolf im nebligen Bergwald oder etwas viel Unheimlicheres? Auf der Suche nach der Wahrheit kommt Nationalpark-Ranger Veit Brenner dem Bösen gefährlich nah …

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Markus Bennemann

Wolfsbiss

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Osawa / photocase.de

ISBN 978-3-8392-4466-1

Zitat

Wenn man den Wolf nennt, so kommt er gerennt.

Altes deutsches Sprichwort

Teil I: Und auferstanden von den Toten

1. Kapitel

Spring! Los komm, jetzt spring schon endlich!

Simone konnte die anderen nicht hören, dafür war das Rauschen der Klamm zu laut. Doch Chris hatte die Hände vor dem Mund zu einer Muschel zusammengelegt, und was er zu ihr hinaufrief, war nicht schwer zu erraten.

»Jaja, ich komm ja schon!«, rief Simone zurück. »Alles mit der Ruhe!«

Erneut setzte sie zum Sprung an – nur um wie eben schon im letzten Moment wieder vom Mut verlassen zu werden. Es war nicht der gut sieben Meter tiefe Abgrund, der ihr Angst machte, auch nicht das brodelnde Wildwasser, das an seinem Fuß auf sie wartete, oder die steile Felsrutsche, die sie danach zu bewältigen hätte. Es war die mit Fallholz und Wurzelstöcken verstopfte Nische neben der Rutsche, aus der die Äste ragten wie Speere, und in die Chris nach seinem Sprung eben beinah hineingespült worden war. Jetzt stand er mit den zwei anderen mit seinem gelben Helm und dem blau-schwarzen Neoprenanzug am Ufer der unteren Gumpe, in deren ruhigem grünen Wasser sich der friedliche Herbsthimmel spiegelte, und konnte ihr gut zureden. Aber einen Augenblick zuvor hatte er in den reißenden Fluten gestrampelt wie ein panisches Hündchen, die grausige Aussicht vor Augen, auf den gesplitterten Ästen aufgespießt zu werden wie auf zum Kampf vorgestreckten Lanzen – und das hatte auch Simone Angst gemacht.

»Scheiße«, murmelte sie leise, während von irgendwo einmal mehr der feine Nieselregen herangeweht wurde, der sie auf dem gesamten Abstieg begleitet hatte. »Jetzt reiß dich zusammen, verdammt!«

Canyoning in der Almbachklamm, und das Anfang Oktober, die ganze Idee war schon von vornherein bescheuert gewesen, aber sie hatte ja unbedingt wieder mit dabei sein müssen. Dann noch der späte Abend in der Bar des Edelweiss gestern, des nigelnagelneuen Berchtesgadener Luxushotels, in das Chris sie nur eingemietet hatte, um vor seinen alten Studienfreunden anzugeben; schon heute Morgen beim Einstieg in die steile Felsschlucht hatte sie das Gefühl gehabt, jeder Schritt auf dem glitschigen Dachsteinkalk könnte ihr letzter sein. Abseilen, springen, mit dem in jähen Stufen abfallenden Gebirgsbach Richtung Tal stürzen und durch sein eiskaltes Wasser waten, der Kater war bald weg gewesen, aber nach zwei Stunden der klammen Mühsal hatten sie auch zunehmend die Kräfte verlassen. Die Steilwände, die sich an den kargen Karst klammernden Kiefern und Ahorne, die geschwungenen Dolomitrippen im Bachbett und vom aufsteigenden Dunst verhangenen Vorsprünge weit über ihnen – all das war zugegebenermaßen grandios, nur hatte sich Simone irgendwann gefragt, warum sie sich die Schlucht nicht wie alle Welt von den dafür vorgesehenen Steigen und Stegen aus anschauen konnten, die an ihren Wänden entlangführten. Schließlich hatte sie einer von Chris’ Kumpels eben noch informiert, dass sie sich ein bisschen sputen müssten, weil das ›Schluchteln‹ in der Klamm eigentlich verboten war und auch im Herbst nachmittags manchmal jemand zum Kontrollieren vorbeikam. Und nun stand Simone hier in schwindelnder Höhe – erschöpft, verfroren, verängstigt – und hatte das Gefühl, den Betrieb aufzuhalten.

»Scheiße«, fluchte sie nochmals leise und holte ein paarmal tief Luft, um wieder die Kontrolle über sich zu gewinnen. »Na komm, einen Schritt noch. Dann hast du’s ja auch bald hinter dir.«

Abermals setzte sie zum Sprung an, sah in dem Moment jedoch, dass nun alle drei der bunten Männchen, die weiter unten auf sie warteten, aufgeregt mit den Armen fuchtelten. Eins warf sogar warnend den Zeigefinger nach vorne und sofort blickte Simone erschrocken hinter sich, wo das Wasser in einer langen Schneise zu dem kräftigen Strahl zusammengepresst wurde, der die erste Gumpe zu so einem Höllenritt machte.

Nein, nichts, oder war der Wasserpegel ein Stück weiter den hell ausgespülten Streifen hinaufgerückt, der sich so deutlich gegen den verwitterten Fels absetzte? Weit oben über dem Gipfel hatten sich nun auch ein paar dunkle Wolken zusammenzogen, meinten sie die vielleicht? Undeutlich erinnerte sich Simone, wie Ande gestern nach ein paar Bier von plötzlich auftretenden Wasserwalzen und unterirdischen Dammbrüchen schwadroniert hatte, durch die so ein Gebirgsbach zur tödlichen Falle werden könnte. ›Schluchteln is nix für Schwuchteln‹, hatte der ausgebildete Bergführer gesagt, doch bevor Simone sich ernsthafte Sorgen machen konnte, fiel ihr Blick auf die wie eine natürliche Treppe geformten Felsstufen, die zu dem schmalen Pfad über der Schlucht hinaufführten.

Nein, natürlich, das meinen sie!, begriff sie voller Scham. Sie wollen, dass ich dort hinaufklettere und über den Touri-Steig zu ihnen runterkomme. Sie denken, ich pack das nicht!

Erbost drehte sie sich um, wedelte abwehrend mit den Armen und schüttelte den Kopf.

»Nein, das habt ihr euch so gedacht! Damit ich mir nachher die ganze Zeit eure blöden Sprüche anhören kann!« Zornig redete sie gegen das Tosen der Klamm an, durch das die anderen sowieso kein Wort verstanden. »Ich hab dreimal den Münchenmarathon mitgemacht und schaff so ein bisschen Klettern mit links, wenn ich am Abend davor nicht zum Komasaufen gezwungen werde. Da habt ihr euch die Falsche ausgesucht!«

Chris fuhr sich mit der Hand über den Hals, um sie zum Abbrechen zu bewegen, und Ande kam sogar stolpernd in ihre Richtung gekraxelt, doch Simone ließ sich nicht beirren. Kurz lehnte sie sich nach hinten, um noch einmal tief Luft zu holen, und sprang ab.

Noch während sie im Fall die Beine anzog, konnte sie erkennen, dass sich die Gumpe in der kurzen Zeit in einen wütend schäumenden Wildwasserkessel verwandelt hatte. Eisig schoss ihr das Wasser in die Ärmel ihres Anzugs, dann kam sie japsend nach oben und sah auch schon die scharfen Spitzen des Fallholzes auf sich zurasen.

Tauchen! Du musst tauchen!

Im letzten Moment schaffte sie es, unter die tödlichen Pfähle zu schlüpfen, wurde jedoch von einer plötzlichen Druckwelle mit solcher Wucht gegen das Gestrüpp darunter geschleudert, dass sich etwas tief in ihren Oberschenkel bohrte. Stumm schrie sie in dem ohrenbetäubenden Rauschen, von dem der große Steinkessel unter Wasser erfüllt war, ihren Schmerz heraus. Ihr Bein hing fest, mit der Rechten packte sie verzweifelt einen der Äste, die wie Gitterstäbe über ihr hervorragten. Doch das Wasser drückte sie mit solcher Kraft gegen den dichten Ballen aus Zweigen und Reisig, der sich unter den Ästen gesammelt hatte, dass sie sich nicht nach oben ziehen konnte.

Schon beim Eintauchen in die eiskalte Gumpe hatte sie das Gefühl gehabt, ihr werde mit einem Schlag sämtliche Luft aus der Lunge gepresst. Das Bedürfnis zu atmen breitete sich in ihrer Brust aus wie ein brennendes Vakuum, das unbedingt gefüllt werden musste.

Ich ertrinke! Ich sterbe hier unten! Warum tut denn niemand etwas?

In der Sekunde passierte etwas so Seltsames, dass es Simone sogar kurz ihre Todesangst vergessen ließ. Aus dem tief unter Wasser liegenden Gestrüpp unter ihr – aus dem Gewirr aus dünnen Ästen und stachligen Zweigen, gegen das sie gepresst wurde – streckten sich zwei Arme und rissen sie mit sich fort. Der Zweig in ihrem Bein brach ab, der ganze Ballen löste sich mit einem plötzlichen Ruck aus der Nische. Was auch immer sie gepackt haben mochte – es hielt sie weiter umfangen, während sie in dem tosenden Blasenwirbel zuerst auf den Ausgang der Gumpe zugetrieben wurde und dann über die glattgeschliffenen Felsen rutschte.

Wieder tauchte sie einen Moment unter und kam nach Atem ringend an die Oberfläche. Durch den Aufprall war sie von dem anderen Körper getrennt worden und nun breitete sich ein großer Kranz aus goldenen Haaren auf dem ruhigen grünen Wasser aus. Unter dem engelsgleichen Schopf, der sich sanft in der Strömung wiegte, ragte ein bleicher schlanker Arm in die Tiefe.

»Was … was zum Teufel ist das?«, keuchte Simone entsetzt und paddelte instinktiv rückwärts.

Schon platschte es laut hinter ihr – einmal, zweimal – und dann legte Ande von hinten den Arm um ihre Brust und zog sie mit sich. Auch Chris war von den Felsen gesprungen, überließ ihre Bergung aber seinem erfahreneren Freund und schwamm auf das feenartige Wesen zu, das bäuchlings in dem großen grünen Becken trieb. Zum ersten Mal an diesem Tag verirrte sich ein Sonnenstrahl in die tiefe Gebirgsschlucht und brachte das hellblonde Haar zum Leuchten. Obwohl Simone selbst nur knapp dem Tod entronnen war, konnte sie ihre Augen nicht von dem eigenartigen Schauspiel lösen.

Wie Ande bei ihr legte Chris der anderen den Arm um den Oberkörper und zerrte sie hastig mit sich durchs Wasser.

»Hallo … hören Sie mich?«, fragte er keuchend. Doch der Kopf war weit nach vorne gekippt und zog den Schopf nun hinter sich her wie einen traurigen nassen Schweif.

»Lebt sie noch?«, fragte Lukas, der von dem sandigen Ufer aus ins Wasser gestiegen war, an dem die drei vorhin auf Simone gewartet hatten.

»Nein … nein«, antwortete Chris, während Lukas ihm zu Hilfe eilte. »Ich denke ganz sicher nicht.«

Erst, als sie mit dem Hosenboden im Sand saß, fiel Simone ihre Verletzung wieder ein, die sie im kalten Wasser überhaupt nicht mehr gespürt hatte. Einen Moment betrachtete sie überrascht das dürre Zweiglein, das wie ein abgebrochener Bleistift aus ihrem Oberschenkel ragte. Ande wollte sich sofort daran zu schaffen machen, doch sie wehrte ihn mit einer unwilligen Handbewegung ab.

»Nein, lass … warte.«

Auch Chris und Lukas hatten mit ihrer Last jetzt das Ufer erreicht. Simones rettender Engel trug ein rotes Top, grüne Shorts und Bergschuhe: Es handelte sich um eine Touristin wie Simone selbst, die jedoch bei ihrem Unglück nicht so glimpflich davongekommen war. An den gespenstisch weißen Gliedern der Leiche waren Abschürfungen und große dunkelviolette Flecken zu erkennen. Eine Hand stand in unnatürlichem Winkel vom Arm ab.

»Sie muss ausgerutscht und in die Klamm gestürzt sein«, sagte Lukas, während er mit Chris die Tote an Land zog. »Das passiert immer wieder. Vor zwei Jahren erst …«

Als sie die junge Frau ablegen wollten, kippten ruckartig Kopf und Oberkörper nach hinten, sodass die langen Haare wie ein zurückgeworfener Vorhang auf den Sand klatschten. Erschrocken ließen die beiden die Leiche los und machten einen Schritt rückwärts. Auf Chris’ ohnehin schon schockbleichem Gesicht spiegelte sich blankes Entsetzen.

»Hast du … hast du schon die Bergwacht angerufen?«, fragte Ande neben Simone mit erstickter Stimme.

»Ich … ich war gerade dabei«, antwortete stotternd Lukas, dessen in Neopren gehüllte Beine Simone die Sicht auf den oberen Teil der Toten versperrten. Er warf einen Blick auf das Handy, das neben seinem offenen Rucksack lag, schien es jedoch nicht zu schaffen, sich zu bewegen.

»Kann das von den Felsen sein?«, fragte Chris und sah zum ersten Mal kurz zu dem Zweig herüber, der in Simones Oberschenkel steckte. »Ich meine, kann …?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Hannes leise, und als Lukas sich schließlich von der Stelle rührte, verstand Simone, wovon die beiden sprachen.

2. Kapitel

Brenner stand vor dem Kadaver. Eine abgebrochene Erdkante am Rand des Pfades, Spuren im Laub. Er hatte kaum 30 Meter in den Wald hineingehen müssen, da lag er schon da.

Es war ein Hase. Der Bauch aufgeschlitzt, die Augen stumpf. Brenner ging in die Hocke und schlug vorsichtig das Fell zurück. Die Eingeweide schimmerten blau, wie mit Tinte eingefärbt.

Er packte das Tier an den Ohren und stopfte es in einen der Müllsäcke, die er dabei hatte. Als er sich wieder aufrichtete, blickte er kurz auf den Hof nieder, der am Fuß des steilen Bergwaldes lag.

Der Schornstein des Wohnhauses rauchte, die Kühe standen auf der Weide. An einer Wand der Scheune waren große, in mintgrüne Folie gehüllte Silageballen aufgereiht.

Aber nein, seine Anweisung lautete nur, er solle die Augen offenhalten. Also stieg er weiter auf und fand auch nichts mehr, auch keine Losung. An einer Stelle glaubte er, einen ungewohnten Geruch wahrzunehmen. Doch als er stehenblieb, um sich darauf zu konzentrieren, war er schon wieder verschwunden.

Er sah einen Specht, der im Stamm einer toten Fichte nach Bockkäfern suchte, und als er hoch genug war, konnte er zwischen den Bäumen immer wieder auf den Berchtesgadener Talkessel niederblicken. Der Himmel war bedeckt, doch der ›Gamshüter‹, der jetzt im Herbst oft die Hänge verschleierte, hatte sich im Laufe des Morgens gelichtet. Er würde freie Sicht haben.

Die Tiere hielten sich genau dort auf, wo man ihm gesagt hatte. Ein Stück oberhalb der frisch angelegten Tannenpflanzung, deren eiweißreiche Knospen sie so sehr mochten. Die meisten Alttiere ruhten mit unter dem Körper eingewinkelten Beinen im Gras, die jungen tummelten sich zwischen den Latschen.

Brenner zog den Rucksack aus und breitete seine Jacke über einen kleinen Fels, um eine gute Auflage zu haben. Dann sah er sich noch einmal gründlich um und spitzte die Ohren. Auch zu dieser Jahreszeit verirrten sich manchmal noch Wanderer in diese Höhen, und er hatte keine Lust, irgendwelchen aufgebrachten Naturschützern sein Vorgehen zu erklären. Eine natürliche Auslese gab es nicht – oder wenigstens nur im verringerten Maß –, also mussten sie die Rolle der Raubtiere übernehmen, wenn der Wald wachsen sollte, wie es die Natur vorsah. Nun, wenn tatsächlich wahr war, was im Tal in den Zeitungen stand, könnte sich das ja bald ändern.

Brenner wusste nicht genau, warum er sich für diese Arbeit gemeldet hatte – früher hatte er sie nie gemocht und höchstens mal ein Stück Wild geschossen, um seine Adler damit zu füttern. Er vermutete, es geschah aus einer Art Trotz, oder weil er sich so gegen etwas zu wehren können glaubte, was er nicht wahrhaben wollte. Bevor er zu lange darüber nachdachte, lud er aber lieber leise sein Gewehr durch und drückte das Auge ans Zielfernrohr.

Er legte zuerst auf ein Kitz an, das seinen Kameraden zu lange beim Spielen zusah, ohne sich entscheiden zu können, wo es mitmachen wollte. Der kleine Körper wurde von der Wucht des Schusses nach hinten geschleudert, purzelte noch ein paar Meter den Hang hinab und blieb dann liegen.

Brenner legte sofort auf die nächste Gämse an – ein hinkend bergauf flüchtendes Alttier, das ebenfalls gut in sein angenommenes Beuteschema passte. Doch in dem Moment klingelte sein Handy, das er wie ein blutiger Anfänger vor dem Anpirschen nicht ausgeschaltet hatte.

Er ließ das Alttier laufen und fischte das abgewetzte Klappgerät aus seiner Hosentasche. Es war eine Nummer vom Nationalpark, jedoch eine, die er nicht eingespeichert hatte.

»Brenner, hallo?«

»Hallo, Herr Brenner, hier ist Stoll. Sind Sie schon wieder im Tal?«

Die Nationalparkchefin persönlich. Seit ihrem Amtsantritt vor anderthalb Jahren hatten sie kaum drei Worte miteinander gewechselt.

»Nein, noch auf dem Berg«, antwortete er leicht verwundert. »Wieso? Gibt es ein Problem?«

»Nein … doch … ich weiß es nicht. Die Polizei hat gerade bei mir angerufen, und ich kann keinen der anderen Jäger erreichen. Ich glaube, es geht wieder um diese Geschichte – Sie wissen schon …«

3. Kapitel

Schon von Weitem sah man den Hubschrauber über der Klamm kreisen. Es war jedoch nicht der orangefarbene Heli der Bergwacht, sondern einer von der Polizei. Scharf zeichnete sich der weiß-grüne Rumpf gegen den dunklen Gewitterhimmel ab, der über dem Untersberg aufgezogen war.

Auf dem Parkplatz an der Kugelmühle standen neben den Fahrzeugen von Polizei und Bergwacht auch zwei Rettungswagen. Am Kassenhäuschen passte Hubi Plenk von der Polizeiinspektion auf, dass kein Wanderer die Klamm betrat.

»Servus, Brenner«, begrüßte er ihn. »Wirst schon sehnlichst erwartet.«

»Was soll der Hubschrauber? Ich dachte, da oben sei bereits alles vorüber.«

»Der macht nur Fotos«, antwortete Hubi. »Damit die von der Kripo sich den Fundort besser vorstellen können.«

Während Brenner die schmalen Metallstege hinaufstieg, erinnerte er sich daran, wie er vor ein paar Monaten mit Anna hier gewesen war. Kein Berg, kein Wald, hatte er ihr erklärt, nur eine tiefe Steinschlucht, durch die das Wasser rauscht. Sie hatte so getan, als würde es ihr gefallen, aber vollkommen wohl – das konnte er spüren – hatte sie sich selbst hier nicht gefühlt.

Auf halbem Weg kam ihm ein Notarzt mit zwei Männern von der Bergwacht entgegen. Auf ihrer Trage bauschte sich ein roter Rettungssack. Als Brenner sich gegen den Fels drückte, blickte ihn aus der Öffnung am Kopfende ein erschrockenes, von nassen braunen Haaren umrahmtes Frauengesicht an. Hinter der Trage stieg ein schlaksiger Typ im Neoprenanzug die Steinstufen hinab, von dessen Hand ein gelber Helm baumelte. Danach folgten Hannes Gruber und sein jüngerer Kumpel Lukas, die sich in der Gegend als Outdoorveranstalter versuchten. Auch ihre Gesichter wirkten erschöpft und blass, Lukas kam mit seinen zitternden Beinen kaum die Stufen hinunter. In der vom Rauschen des Wassers und dem Knattern des Hubschraubers erfüllten Schlucht nickte Hannes Brenner im Vorbeigehen flüchtig zu.

Je höher Brenner stieg, umso lauter wurde der Rotorenlärm, bis er sich schließlich Richtung Norden entfernte. Auf einem breiten Absatz ein Stück unterhalb des Sulzer Wasserfalls wartete Hauptkommissar Weirauch mit einem Polizeibergführer. Weirauch wirkte etwas überrascht, ihn zu sehen, ließ sich aber nichts anmerken. Auch er machte einen leicht mitgenommenen Eindruck. Noch während der Begrüßung kam ein kräftiger Mann mit Daunenweste und vor Anstrengung rotem Gesicht zu ihnen heraufgekraxelt.

»Das ist der für Todesermittlungen zuständige Kollege Füssl aus Traunstein«, stellte Weirauch den Kripobeamten vor. »Veit Brenner, Ranger beim hiesigen Nationalpark. Er sollte euch mit eurer Frage weiterhelfen können.«

Füssl reichte ihm die Hand und machte sich sofort wieder mit ihm an den Abstieg.

»Brenner?«, fragte er, während er mühsam seinen schweren Körper die Felsen hinabmanövrierte. »Sie sind aber nicht derjenige, der damals bei dieser Sache mit den Adlern dabei war?«

»Doch, der bin ich.«

»Mein lieber Mann, das muss ja eine verrückte Geschichte gewesen sein. Die Kollegen haben mir davon erzählt, ich bin noch nicht so lange hier unten. Da sind doch damals ziemlich viele Leute umgekommen.«

»Sehr viele, ja, das stimmt.«

»Und Sie hätten’s auch fast nicht überlebt. Haben über einen Tag im Wald gelegen, mit drei Kugeln im Bauch. Jeder hat geglaubt, Sie müssten tot sein.«

Füssl hatte den Fuß der kleinen Felswand erreicht und stand schwer atmend vor ihm, die Hände in die Seiten gestemmt. Hinter ihm erstreckte sich sanft bewegtes Grün bis zu einem kleinen Wassersturz. Von weiter oben jedoch drang das mächtige Tosen einer Engstelle herüber.

»Ja, das hat jeder geglaubt«, erwiderte Brenner. »Ich hatte Glück.«

Füssl sah ihm noch einen Moment länger erwartungsvoll ins Gesicht. Als jedoch nichts mehr kam, zuckte er mit den Schultern und schüttelte den Kopf.

»Nun, wenn erst mal ein Unglück geschehen ist, muss man ja bekanntlich aufs nächste nicht lange warten«, sagte er. »Sieht aus, als hättet ihr schon wieder ein Problemtierchen in euren Bergen. Diesmal allerdings eins von der bekannteren Sorte.«

Der Polizist wies mit dem Kinn das Ufer der Gumpe hinab und setzte sich mit Brenner in Bewegung. Am Ende des sichelförmigen Sandstreifens, der sich am Rand des großen Bergbeckens gebildet hatte, kniete ein Mann in einem weißen Einwegoverall vor einer auf dem Rücken liegenden Frauenleiche.

Die dunklen Gewitterwolken hatten sich noch weiter über den Untersberg hinausgestreckt. Doch die Schlucht war an dieser Stelle so breit, dass nach wie vor reichlich Tageslicht zwischen die Felsen fiel. An den Steilwänden standen die dürren Kiefern Spalier wie stumme Zeugen. Brenner spürte sein Herz in der Brust schlagen.

Unmittelbar hinter dem Mann und der Leiche, die von jenem noch fast vollständig verdeckt wurde, ragte eine Kamera auf einem hohen Stativ empor. Ein Stück weiter lag ein aufgeklappter Metallkoffer. Noch weiter hinten bemerkte Brenner eins der kleinen Steinmanderln, die die Leute hier so gerne auf die Felsen setzten. Ein windschiefes Türmchen, das aussah, als müsste es jeden Moment in sich zusammenstürzen.

Als sie sich näherten, wendete der Mann ihnen kurz sein von Mundschutz und Schutzbrille verhülltes Gesicht zu.

»Eine Sekunde noch«, sagte er. »Ich bin gleich fertig.«

Neben den über den Sand gefächerten Haaren der Leiche lagen mehrere durchsichtige Plastikröhrchen. Der Mann machte sich einen Augenblick länger an der Toten zu schaffen, steckte dann einen weiteren Wattestab in ein solches Röhrchen und sammelte auch die anderen vom Boden auf.

»So, jetzt darf der brave Jägersbursche ran«, sagte er, während er aufstand und die Röhrchen zu seinem Koffer trug. »Waidmannsheil wünsche ich.«

Die hellen blauen Augen der jungen Frau waren stumpf wie die des Hasen vorhin, schienen höchstens noch einen Rest überraschten Grauens in sich zu tragen, die Füße lagen im Wasser. In der Kehle der Toten klaffte ein großes ausgefranstes Loch, in dem mattrotes Fleisch und blanker weißer Knorpel schimmerten. Eben hatte Brenner nichts gerochen, die Klamm strich stets eine feuchte Brise hinab. Doch als er jetzt nähertrat, glaubte er, einen Anflug des süßlich-kupfrigen Blutgeruchs wahrnehmen zu können, der einst von dem Körper ausgegangen sein musste.

Er ging in die Hocke und streckte die Hand aus.

»Darf ich?«

Füssl runzelte die Stirn und sah zu seinem Kollegen hinüber, der Mundschutz und Brille abgenommen hatte und dabei war, seine Kamera abzubauen.

»Wenn da noch was zu holen war, dann müsst ich’s gekriegt haben«, sagte dieser, obwohl auch er kurz einen etwas befremdeten Blick auf die nackte Hand warf, die über der klaffenden Wunde schwebte. »Aber da war sowieso nichts zu holen. Die hat mindestens ein oder zwei Tage da drin im Vollwaschgang verbracht. Also tun Sie sich keinen Zwang an, wenn’s der Sache dienlich ist.«

Brenner fuhr mit den Fingerkuppen langsam über die faserigen Scharten in der Mitte und das ausgelaugte Gewebe am Rand. Sein Herz pochte noch wilder als zuvor.

»Da sollten eigentlich Kehlkopf und Speiseröhre sein, so viel kann ich Ihnen auch ohne Jagdschein sagen«, bemerkte der Mann von der Spurensicherung. »Was da auch zugebissen hat, es steckten schon ein paar Newton dahinter.«

Brenner blickte erneut in das Gesicht der Toten, das trotz der starren Augen und der langen Zeit im Wasser noch hübsch war. Dann den schlanken, mädchenhaften Körper hinab.

»Und, war er’s?«

Brenner sah verwirrt zu Füssl auf, der einen beinah vorwurfsvollen Ausdruck im Gesicht hatte.

»Wie bitte?«

»Ob er’s gewesen sein kann, euer Wolf? Ob die Wunde dazu passt?«

Brenner richtete sich auf, sah ein weiteres Mal auf die Tote nieder und wies dann mit dem Kopf flüchtig die Felswand hinauf.

»Ja, wenn er’s oben auf dem Untersberg war, dann kann er’s schon gewesen sein«, sagte er. »Die Wunde passt auf jeden Fall.«

»Wieso geht ihr denn eigentlich davon aus, dass es da oben einer war?«, fragte Füssl. »Ich meine, und kein wildernder Hund zum Beispiel? Die machen so was doch auch oft.«

»Ich habe die Risse nicht begutachtet, das war der für das Gebiet zuständige Revierjäger«, erklärte Brenner. »Aber die Bisse waren wohl sehr tief und wurden mit sehr viel Kraft ausgeführt, so wie hier. Und es wurde sehr viel Fleisch gefressen.«

»Nun, das ist dieser jungen Dame offenbar erspart geblieben«, sagte Füssl und wendete ebenfalls kurz den Kopf zu der hohen Felswand um, die hinter ihnen die Schlucht säumte.

»Überall am Körper sind Frakturen zu spüren«, sagte der Mann im weißen Overall in sachlichem Ton. »Am Schädel, an den Armen, an den Rippen.«

Füssl nickte bedächtig.

»Und ein Bär kommt auch nicht infrage? Bär Bruno der Zweite vielleicht? Ich meine, wenn ich mir die Kehle von dem süßen Ding da ansehe …«

»Beim zweiten Mal wurden zwei Schafe in einem Gatter gerissen«, mischte sich der Mann von der Spurensicherung wieder ein. »Die Bäuerin hatte sie über Nacht eingepfercht, weil der Nationalpark den Verdacht mit dem Wolf geäußert hatte. Ein Bär reißt so was anscheinend einfach ein. Ein Wolf schlüpft drunter durch oder findet sonst einen Weg, das Hindernis zu umgehen. Außerdem waren an den Schafen die Euter übrig. Und die betrachten Bären wohl als besondere Leckerbissen.«

Der Mann grinste schief und sah auf die Brüste der Toten nieder, die sich deutlich unter dem nassen Top abzeichneten. Füssl folgte seinem Blick, runzelte die Stirn wie eben, als Brenner in die Wunde gefasst hatte, und schüttelte sich kurz.

»Jesus.«

Sein Kollege klappte das Stativ zusammen und brachte es zu dem Koffer, in dem er auch schon die Röhrchen verstaut hatte.

»Kommissar Weirauch hat gesagt, bei den Schafen konnten Speichelproben genommen werden«, fügte er noch hinzu. »Was ich da eben gemacht habe, war vergebliche Liebesmüh, das habe ich gleich gesehen. Aber wenn bei der anderen Untersuchung was rauskommt, herrscht ja vielleicht Klarheit.«

Füssl nickte erneut und blickte noch einen Moment länger auf die junge Tote hinab. Ihre Augen waren die Schlucht hinauf gerichtet, über der sich jetzt endgültig der Himmel verdunkelt hatte.

»Was es auch war«, murmelte der Kripobeamte schließlich, »bei euch hier unten wird ab morgen die Hölle los sein. Ein Wolf, der eine junge Frau umbringt, darauf haben die alle nur gewartet. Das stellt selbst die Geschichte mit den Adlern in den Schatten.«

4. Kapitel

»Eine junge Wanderin, sagen Sie? Das ist ja grauenvoll.«

Stoll hatte im Büro ihres Vorgängers nicht viel verändert. Auf dem Schreibtisch stand eine kleine Skulptur, die Brenner aus irgendeinem Grund gut zu den weiten Strickjacken und auffälligen Halsketten zu passen schien, die die üppige Nationalparkchefin gerne trug, das Fensterbrett schmückte eine Vase mit Blumen. Als Brenner ihr von der Toten erzählte, drehte sie sich in ihrem Stuhl automatisch zu den wolkenverhangenen Gipfeln des Watzmann um, die vom ersten Stock der Nationalparkverwaltung aus zu sehen waren.

»Dass die Leute hier ständig von den Bergen fallen, daran habe ich mich einigermaßen gewöhnt«, sagte sie. »Aber das jetzt.« Kurz blickte sie stumm in die einsetzende Dämmerung hinaus, die sich auch bereits in dem holzgetäfelten Büro breitzumachen begann. »Wie jung war sie denn genau?«

»20, höchstens 25«, antwortete Brenner. »So genau ließ es sich nicht sagen.«

Stoll blinzelte ein paarmal und drehte sich dann wieder zu ihm um.

»Und die Verletzung …?«

»Am Hals. Die Kehle. Wenn es etwas anderes war, dann nichts, was da oben normalerweise rumläuft. Ich habe die Tierkadaver nicht gesehen, aber …«

Stoll nickte nachdenklich, ähnlich wie Füssl vorhin. Im schummrigen Licht wirkte ihr großes, regelmäßig geschnittenes Gesicht noch ernster als sonst.

»Und wir erzählen den Menschen die ganze Zeit, so etwas könnte nicht passieren«, sagte sie leise. »Gerade erst war der Wolfsberater aus München da und hat den Leuten erklärt, wie gut alles in der Lausitz läuft. Dass sie nur ein paar Elektrozäune aufstellen und sich Hütehunde anschaffen müssten, dann wäre alles wunderbar. Und dass den Menschen sowieso nichts passieren könnte, weil die Wölfe viel zu scheu seien und es genug Wild für sie gebe. Das erzählen wir ihnen, ausgerechnet wir hier in Berchtesgaden …«

Plötzlich hielt sie in ihrem erregten Redeschwall inne, hob die Augen und sah ihm forschend ins Gesicht.

»Mit Ihnen alles in Ordnung?«, fragte sie. »Sie sehen ein bisschen durch den Wind aus.«

»Ich? Nein. Bei mir ist alles okay.«

»Ich wusste mir nicht zu helfen, sonst hätte ich Sie nicht dahingeschickt. Wir haben nie darüber geredet, was vor zwei Jahren passiert ist. Die anderen Mitarbeiter haben mir gesagt, ich soll Sie lieber in Ruhe lassen.«

»Mir geht es gut«, erwiderte Brenner, konnte jedoch nicht verhindern, dass sich sein Blick kurz auf seine Hand senkte, an der er immer noch das kalte, süßlich riechende Fleisch spüren konnte. »Ich bin froh, dass ich weiter für den Nationalpark arbeiten darf.«

Stoll verengte irritiert die Augen und legte den Kopf schief.

»Das war sehr tapfer, was Sie damals getan haben, Sie und diese Berliner Studentin«, sagte sie eindringlich. »Eigentlich hätte der Nationalpark Ihnen ein Denkmal aufstellen lassen müssen.«

»Mir … mir geht es gut. Ich trinke manchmal einen über den Durst. Aber das habe ich vorher auch schon getan.«

Das unerwartete Bekenntnis und das angedeutete Lächeln, das damit einherging, waren genug, um die Nationalparkchefin – die bestimmt mal eine sehr schöne Frau gewesen war – von ihren Fragen abzubringen. Erneut huschte Verwirrung durch ihren Blick. Dann gab sie einen schweren Seufzer von sich, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sprach in anderem Ton weiter.

»Das hätte ich mir am Anfang meiner Laufbahn nicht träumen lassen, dass all das Gute, das ich wollte, einmal zu so einem Ergebnis führen könnte.« Sie blickte auf die Zeitungen nieder, die auf ihrem Tisch lagen, und schien wieder kurz nachzudenken. »Konnte man denn … Haben die Polizisten irgendwelche Abstriche gemacht?«

»Ja, haben sie. Aber die Leiche hat wohl so lange in der Gumpe festgesteckt, dass sie nicht glauben …«

»Dann muss ich bei dem Labor anrufen und sagen, dass sie sich mit den Proben von den Schafen beeilen sollen. Die hängen dort sonst ewig in der Warteschleife und vielleicht …«

Stoll griff zum Telefon und hatte schon eine Taste gedrückt. Dann nahm sie sich das Gerät aber wieder vom Ohr und drückte erneut mit dem Daumen darauf. Sie sah ihn an – ihre Augen nun vollends groß, verwirrt und jugendlich.

»Da ist eine junge Frau gestorben, und die einzige Sorge, die ich mir mache, ist, ob sie wirklich von einem Wolf getötet wurde«, sagte sie. »Die Angelegenheit wird mir sowieso aus den Händen genommen. Jetzt wird sich alles ändern. Hier bei uns – und wahrscheinlich in ganz Deutschland.«

Sie stellte das Telefon zurück auf die Station. Trotzdem wurden ihre Augen wie von selbst weiter von den fetten Überschriften auf ihrem Tisch angezogen.

»Und das alles ausgerechnet auf dem Untersberg«, murmelte sie leise. »Wo die Leute sich sowieso allen möglichen Unsinn einbilden.« Sie schüttelte sanft den Kopf und sah ihn aufgewühlt an, konnte sich aber doch ihre Frage nicht verkneifen. »War … war denn schon jemand von der Presse da?«

»Als ich gerade wieder runterlief, kam mir Kohlhammer vom Anzeiger entgegen«, antwortete Brenner und wollte eigentlich hinzufügen, dass er ihm nichts gesagt hatte.

Doch da begann schon das Telefon zu klingeln.

5. Kapitel

Als Brenner aus dem Gebäude der Nationalparkverwaltung kam, setzte der Regen ein. Die dunklen Wolken, die er vorhin von der Klamm aus gesehen hatte, hatten sich über dem Talkessel ausgebreitet und ließen ihre Last auf die eng gedrängten Dächer der Berchtesgadener Altstadt fallen. Die markanten Konturen des Watzmann begannen bereits in der Dämmerung zu verschwimmen.

Erst wollte er direkt nach Hause, aber da er gerade vom Trinken geredet hatte, war ihm auch danach. Also ließ er den Wagen stehen und lief die paar Meter zu seiner Stammkneipe hinab, die in einem winzigen Gässchen abseits des Weihnachtsschützenplatzes lag.

Normalerweise verirrten sich nicht viele Leute in das schummrige Loch, sodass Ederl, der Wirt, meist rauchend mit seinen Spezis am runden Tisch in der Mitte saß und Karten spielte. Als Brenner jetzt jedoch aus dem kalten Herbstregen in die überheizte Stube trat, blickten ihm lauter vertraute Gesichter entgegen.

Brenner begriff sofort und hätte am liebsten auf der Stelle wieder kehrtgemacht. Aber so einfach wollte er sich von seinem Stammplatz nicht vertreiben lassen.

»Griaß Gott beianand«, murmelte er und ging zum Tresen, hinter dem Ederl angesichts des ungewohnten Betriebs offenbar fest Stellung bezogen hatte. Der füllige Mann mit dem grauen Schnauzer nickte ihm verlegen zu, als hätte er ihm eine Falle gestellt. Wie zur Wiedergutmachung schob er ihm sofort ein frisch gezapftes Helles hin, das eigentlich für jemand anderen bestimmt war.