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Von der Ursuppe zur Sterneküche – eine Naturgeschichte unserer Nahrung
Dieses Buch macht etwas Erstaunliches: Es erzählt die Geschichte des Lebens aus der Sicht von uns Essern – und verleiht ihr so einen noch nie dagewesenen Geschmack.
Wieso ist jeder Käse im Grunde vier Milliarden Jahre alt? Wer legte das erste Ei – Dino oder Huhn? Wieso mögen Bienen Kaffee und warum tragen Pilze einen Hut? Wieso produzieren Pflanzen Gewürze, Arzneien und Drogen für uns? Und sollten wir aufgrund unserer evolutionären Anlagen eher Steaks oder Grünkernbratlinge essen?
Nature Writer und Bestsellerautor Markus Bennemann nimmt uns mit auf eine kulinarische Zeitreise durch die Erdgeschichte. Wir tauchen nach Urmeeresfrüchten, angeln nach Panzerfischen, pflücken die ersten Früchte – und nippen am ersten Drink. Was ist für uns gesund? Was sollten wir lieber meiden? Auch das gehört zum reichhaltigen Reiseprogramm.
Umfassend wie Yuval Harari, amüsant wie Bill Bryson: ein köstliches Lesevergnügen für alle, die beim nächsten Dinner wirklich was zu erzählen haben möchten!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 516
Veröffentlichungsjahr: 2025
Dieses Buch macht etwas Erstaunliches: Es erzählt die Geschichte des Lebens aus der Sicht von uns Essern – und verleiht ihr so einen noch nie dagewesenen Geschmack.
Wieso ist jeder Käse im Grunde vier Milliarden Jahre alt? Wer legte das erste Ei – Dino oder Huhn? Wieso mögen Bienen Kaffee und warum tragen Pilze einen Hut? Wieso produzieren Pflanzen Gewürze, Arzneien und Drogen für uns? Und sollten wir aufgrund unserer evolutionären Anlagen eher Steaks oder Grünkernbratlinge essen?
Nature Writer und Bestsellerautor Markus Bennemann nimmt uns mit auf eine kulinarische Zeitreise durch die Erdgeschichte. Wir tauchen nach Urmeeresfrüchten, angeln nach Panzerfischen, pflücken die ersten Früchte – und nippen am ersten Drink. Was ist für uns gesund? Was sollten wir lieber meiden? Auch das gehört zum reichhaltigen Reiseprogramm.
© Karim Omar
Markus Bennemann hat Geschichte und Literatur studiert, aber seine wahre Leidenschaft galt immer der Biologie. Er hat mehrere Sachbücher zum Thema Evolution geschrieben, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Zuletzt erschien von ihm der SPIEGEL-Bestseller Böse Bäume. Er lebt in Wiesbaden.
Außerdem von Markus Bennemann im Programm
Böse Bäume
auch als E-Book erhältlich
Markus Bennemann
Wie die Natur unsere liebsten Speisen, Getränke und Gifte erfand
Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.
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Originalausgabe März 2025
Copyright © 2025: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Eckard Schuster
Umschlag: Uno Werbeagentur, München
Auswahl / Gestaltung Illustrationen:
Markus Bennemann / Martin Löffler
Umschlagmotiv: FinePic®, München
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
EB · CF
ISBN 978-3-641-31565-8V001
www.goldmann-verlag.de
Für meine Großmutter,
Meisterin der Roulade,
Liebhaberin des Rosenkohls,
Expertin für Rotweinkuchen.
Früchte sind die Süßigkeiten der Natur.
— Marge Simpson
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.
— Hermann Hesse
Zeittafel: Naturgeschichte unserer Nahrung
Vorwort
1 Erst mal einen Kaffee
2 Am Anfang war Käse
3 Urmeeresfrüchte
4 Fischsuppe
5 Das Salz der Erde
6 In die Pilze
7 Vorspeisensalat
8 Echse oder Ei?
9 Sehr altes Brot
10 Süße Früchtchen
11 Mit der Muttermilch
12 Der erste Drink
13 Gewürze & Drogen
14 Alles Gras ist Fleisch
15 Aufstieg der Allesfresser
Dank
Quellen
Register
© Alamy: Quagga Media (2), Artur Balytskyi, Sunny Celeste, Tony Baggett, Artsiom Lebedzeu, Channarong Pherngjanda; iStock: NSA Digital Archive, ilbusca (4), ivan-96, Nastasic; Shutterstock: AlexBrother
Wir fragen uns oft, wo unser Essen herkommt. Meistens geht es dabei darum, ob es unter gesunden und ethisch vertretbaren Umständen entstanden ist. Kommen die Kartoffeln vom Biobauern oder von einem herkömmlich bewirtschafteten Acker? Stand das Steak früher mit tausend anderen zukünftigen Steaks eingepfercht in einem Massenstall oder hatte es ein bisschen Auslauf? Bekommen die Kleinbauern, die irgendwo am anderen Ende der Welt meinen Kaffee anbauen, einen anständigen Preis dafür gezahlt oder werden sie ausgebeutet?
Auch für die geschichtliche Herkunft unserer Lebensmittel interessieren sich viele. Wann wurde Kaffee überhaupt zum ersten Mal angebaut? Wer hat den ersten Apfel gezüchtet und wieso gab es früher viel mehr Sorten davon? Was haben Neandertaler und unsere Vorfahren, die ersten »weisen Menschen«, gegessen und wie haben sie ihre Nahrung gejagt und gesammelt?
All das sind spannende Fragen, und zu beiden Bereichen findet man auch reichlich Informationen und gute Bücher. Allerdings gibt es noch andere spannende Fragen zur Herkunft unserer Lebensmittel. Fragen, die über ihre heutige Art der Herstellung und die mit den Menschen verbundene Geschichte hinausgehen.
Was ist eigentlich davor passiert? Gab es Äpfel auch schon, bevor der Mensch sie angebaut hat, und wer hat sie gegessen? Warum haben Bäume überhaupt angefangen, Äpfel zu tragen? Was bringt Blumen dazu, Bienen Nektar zu liefern, damit sie daraus Honig machen – und wer von beiden kam auf diese tolle Idee? Wann hat der erste Fleischfresser zugebissen? Wann ist die erste Milch geflossen? Wer hat das erste Ei gelegt? Wieso gibt es Bäume, die so riesige Früchte tragen, dass kein Tier sie fressen kann? Wie wurde der Alkohol erfunden, wie Tabak, wie noch härtere Drogen?
Wann hat sich die Natur all das ausgedacht, was wir Menschen heute gerne zu uns nehmen? Wann, wie und warum ist es entstanden – und wer hat es vielleicht schon lange vor uns gemocht? Was sagt das über all diese Lebens-, Genuss- und Rauschmittel aus? Oder über uns? Was kann es uns vielleicht darüber lehren, warum wir sie mögen, wie gut sie für uns sind und ob wir sie überhaupt zu uns nehmen sollten?
Um all diese Fragen geht es in diesem Buch. Es handelt vom ersten Apfel, dem ersten Ei, dem ersten Steak, dem ersten »Brot«, dem ersten Drink sowie von vielen weiteren solchen Premieren. Und natürlich von deren ersten Verkostern!
Es erzählt die Naturgeschichte unserer Nahrungs- und Genussmittel, die meistens weit, weit vor die erste Nutzung durch den Menschen zurückreicht. Es handelt vom Anfang aller Köstlichkeit, dem Ursprung des Essens, der Entstehung und Evolution unserer liebsten Speisen, Getränke und Gifte. Es zeichnet nach, wie es mit all diesen leckeren, nahrhaften und verlockenden Dingen einmal angefangen hat.
Wollten Sie schon immer mehr darüber wissen, wo unsere Nahrung herkommt – also über ihren »wirklichen« Ursprung, in den Tiefen der Zeit? Dann sind Sie in diesem »Restaurant« richtig. Denn so gut wie alles, was hier serviert wird – und was wir täglich konsumieren –, ist unglaublich alt.
© Alamy / Quagga Media
Kaffee hält die Welt am Laufen. Ich trinke meinen ersten Espresso jeden Morgen im Büro und bilde mir ein, dass es mir dabei hauptsächlich um den Geschmack geht, der ähnlich wie der von Wein durch die gleichzeitig aufgenommene psychoaktive Substanz noch verbessert zu werden scheint. Viele meiner Kollegen sagen jedoch, dass sie es ohne Koffein schlichtweg nicht über den Tag schaffen würden. Eine amerikanische Autorin hat den anregenden Stoff mal als perfekte Droge für unsere moderne »worker bee society« bezeichnet, in der wir ständig alle herumsummen wie fleißige Arbeitsbienen. In Deutschland scheint der Durst nach dieser Droge in den letzten Jahren immer weiter zu wachsen. Laut Deutschem Kaffeeverband trinkt inzwischen jeder von uns im Durchschnitt fast vier Tassen Kaffee täglich.*
* Zitate, Zahlen, wesentliche Fakten und Aussagen: In Speisekarten findet man oft viel Kleingedrucktes zu Lebensmittelzusätzen, auch in diesem Buch wird alles ausführlich in den Quellen im Anhang belegt. Gerade in Zeiten, in denen künstliche Intelligenz unseren Zugang zu Informationen so leicht macht wie nie zuvor, dabei aber auch gerne mal »halluziniert«, war mir der Verweis auf seriöse menschliche Quellen wichtig. Um hier vorne den Lesefluss nicht zu stören, sind die »Fußnoten« am Ende des Buchs in Form von Stichworten gelistet – ich hoffe, sie bieten eine leichte Orientierung. Besonders fürs erste Kapitel stehen dort auch mehrere Erläuterungen zu Zahlen und anderen Punkten.
Das mag schon als gar nicht so wenig erscheinen, vor allem wenn man Kinder und Teetrinker abzieht. Andere europäische Länder setzen da aber locker noch mal einen drauf. Natürlich denkt man sofort an Orte wie Italien oder Frankreich, mit ihren vielen traditionellen Espressobars und Cafés. Die wahren Meister – ja sogar Weltmeister – im Kaffeetrinken sind jedoch die Finnen: Sie bringen es auf einen Durchschnitt von acht Tassen pro Tag. Ähnlich kaffeesüchtig sind auch die anderen Völker des hohen Nordens, was wohl nicht mal an den ewig langen Winternächten liegt. Eher an den hohen Preisen, die man dort für eine andere beliebte Alltagsdroge zahlt, nämlich Alkohol, sowie einer Vorstellung von Geselligkeit, in der es ohne ein Schlückchen Kaffee einfach nicht geht. Europäische Abweichler in Sachen Kaffeebegeisterung sind vor allem auf den Britischen Inseln zu finden.** Auch in Russland, Asien und vielen Ländern Afrikas greift man eher zu Tee. In den USA wiederum wird ähnlich viel Kaffee getrunken wie in den meisten Ländern Europas, und auch in Mittel- und Südamerika dominieren die Freunde des dunklen Suds.
** Auch hier scheint aber jüngsten Pressemeldungen zufolge der Kaffeekonsum inzwischen die Oberhand zu gewinnen. Für ältere Briten dabei besonders tragisch: Selbst der Tee wird in Cafés immer öfter in schnöden Kaffeebechern statt in elegantem Porzellangeschirr serviert.
Insgesamt fließt mehr Tee die Kehlen der Menschheit herab. Doch deutlich mehr Umsatz wird mit dem Handel von Kaffee erzielt, und jeden Monat werden etwa 10 Millionen Säcke des kostbaren Naturprodukts in die ganze Welt verschifft. Dieses wird fast ausschließlich im sogenannten Kaffeegürtel angebaut, der sich von Großproduzenten wie Mexiko und Brasilien über die Elfenbeinküste, Äthiopien und andere afrikanische Länder bis nach Indien, Vietnam und Indonesien erstreckt. Hier, im warmen Klima entlang des Äquators, wachsen Kaffeekirschen an Sträuchern und kleinen Bäumen, die meist so kurz gehalten werden, dass man leicht an ihre Zweige kommt. Die Kirschen bilden dichte Rispen und heißen so, weil sie zunächst grün sind, aber nach etwa neun Monaten Reifezeit eine tiefrote Färbung annehmen. Dann sehen sie nicht nur aus wie Kirschen, sondern haben als Steinfrüchte auch ähnlich harte Kerne: ein eng aneinander geschmiegtes Zwillingspaar (oder manchmal auch nur ein Einzelkind) aus beigen bis grünlichen Kaffeebohnen, die in diesem ungerösteten Zustand noch stärker an echte Bohnen erinnern.
In groben Zügen zumindest scheint die Story, wie Kaffee zum liebsten Heißgetränk der halben Welt wurde, einigermaßen klar zu sein. Wilde Kaffeesträucher gibt es in vielen Wäldern Afrikas, und hier wuchsen wohl auch jene, die historisch gesehen am Anfang von heutigen Starbucks-Kreationen wie dem laktosefreien Salzkaramell-Mokka-Frapuccino mit Proteinpulver und Kokosflocken stehen. Vermutlich gediehen die Pflanzen im äthiopischen Hochland, möglicherweise in einer Gegend namens Kaffa, wo nomadische Stämme sie vielleicht schon seit Tausenden von Jahren in der einen oder anderen Form nutzten. Die ersten verlässlichen Belege dazu, dass sich jemand auf ähnliche Weise einen Kaffee machte wie wir heute, stammen jedoch von der nicht weit entfernt liegenden Arabischen Halbinsel. Hier bereiteten im 15. Jahrhundert offenbar muslimische Mönche den aromatischen Sud zu, um nicht bei ihren Gebeten einzuschlafen, und setzten ihn damit in die Welt. Über diese verbreitete er sich noch erfolgreicher als selbst ihr Glaube, nahm erst Europa im Sturm ein und dann viele andere Länder.
Mit dem aufregenden neuen Getränk verbreitete sich auch die lukrative Praxis des Kaffeeanbaus. An ihm versuchten sich holländische Händler erst in ihrer Heimat, dann mit wesentlich mehr Glück auf der indonesischen Insel Java, deren Name in den USA heute noch als eine der vielen Bezeichnungen für Kaffee dient. Was sich ebenfalls ausbreitete, waren Kaffeehäuser. Allgemein zugänglich und stets vom Gemurmel angeregter Diskussionen erfüllt, dienten sie als so etwas wie die Universitäten des kleinen Mannes. Manche Historiker glauben sogar, sie hätten so auf entscheidende Weise sowohl zur amerikanischen Unabhängigkeit als auch zur Französischen Revolution beigetragen.
Koffein gilt als meistkonsumierte psychoaktive Droge der Welt, und seine Wirkung ist so komplex und raffiniert, dass der Stoff einmal als »Wunder der Pflanzenchemie« bezeichnet wurde. Er gehört zur spannenden Stoffgruppe der Alkaloide, die nicht nur in Pflanzen, sondern auch in giftigen Fröschen und halluzinogenen Pilzen vorkommen. Andere bekannte pflanzliche Alkaloide sind Kokain, Nikotin und Meskalin ebenso wie die natürlichen Arzneimittel Chinin und Kodein. Koffein hat einen ähnlich ringförmigen Aufbau und bitteren Geschmack wie all diese Verbindungen und wird in Kaffeepflanzen aus CO2, Stickstoff und anderen Stoffen zusammengesetzt, die sie über ihre Blätter und Wurzeln aufnehmen. Der wesentliche Teil dieses Prozesses findet in den Chloroplasten statt, also jenen winzigen grünen Organen in den Zellen von Pflanzen, die man von der Fotosynthese kennt. Es wird angenommen, dass Chloroplasten vor sehr langer Zeit aus Bakterien entstanden, die sich auf ähnliche Weise in den Vorgängern von Pflanzenzellen ansiedelten wie Bakterien in unserem Darm (siehe nächstes Kapitel). Heute verwenden Pflanzen die so entstandenen Mini-Organe nicht nur zur für uns alle lebenswichtigen Fotosynthese, sondern auch für viele andere Dinge, wie etwa dem Speichern von Stärke oder der Wahrnehmung der Schwerkraft. Und eben als Drogenküche.
Im menschlichen Körper entfaltet Koffein seine Wirkung durch einen cleveren Akt der Täuschung. Jede Kaffeetasse enthält ungefähr 100 Milligramm des Stoffes, der nach dem Trinken schnell vom Darm ins Blut dringt und dann die Blut-Hirn-Schranke überwindet, um ins zentrale Hauptorgan unseres Nervensystems zu gelangen. Hier gaukelt er den Hirnzellen vor, er sei Adenosin, ein natürlicher Botenstoff des Körpers mit sehr ähnlicher chemischer Struktur. Normalerweise sammelt sich Adenosin im Laufe des Tages wie der Sand des Sandmännchens auf den Synapsen der Hirnzellen, also jenen winzigen Verknüpfungen, über die Nervenreize weitergegeben werden. Das Adenosin hemmt dort für die Reizübertragung wichtige Botenstoffe wie Dopamin, was zur Folge hat, dass wir immer müder werden. Koffein blockiert jedoch die für Adenosin vorgesehenen Andockstellen der Synapsen. Nun können die Dopamine ungehindert fließen und die Hirnzellen fröhlich schießen – und wir werden immer munterer und wacher.
Dass wir so aufgekratzt sind, alarmiert wiederum die Hirnanhangdrüse, die einen Notfall fürchtet und zur Sicherheit das Signal gibt, den Blutkreislauf mit Adrenalin zu fluten. In Zeiten, als wir noch hinter jedem Busch auf einen Säbelzahntiger treffen konnten und entweder wegrennen oder kämpfen mussten, war dieses Stresshormon vermutlich überlebenswichtig. Heute kann es dazu führen, dass wir mit feuchten Händen und flattrigem Herzen vorm Computer sitzen, wenn wir ein Tässchen zu viel trinken. Ja, eine Überdosis Koffein kann das Herz sogar ganz zum Stillstand bringen. Die ist mit Kaffee allerdings sehr schwer zu erreichen, selbst als Finne, und insgesamt tendiert die Medizin heute eher zur Meinung, dass die Vorteile des Kaffeekonsums überwiegen. Drei bis vier Tassen pro Tag wirken sich offenbar positiv auf die Lebenserwartung aus und sollen dazu beitragen, Krankheiten wie Krebs, Alzheimer und Diabetes zu verhindern. Gleichzeitig hebt das koffeinhaltige Gebräu kurzfristig die Stimmung und verbessert Koordination und kognitive Fähigkeiten. Kaffee hält nicht nur die Welt am Laufen. Er scheint auch in der Lage zu sein, unser Leben ein ganzes Stück besser, runder und länger laufen zu lassen.
Womit nur eine Frage übrig bleibt – die in einem guten Dutzend Varianten die zentrale Frage dieses Buchs darstellt: Warum hat die Natur angefangen, Kaffee zu machen? Was brachte Kaffeepflanzen dazu, diese mit Koffein versetzte Köstlichkeit hervorzubringen, die jeden Morgen unser Hirn in Fahrt bringt und ihm dann hilft, sich den ganzen Tag durch Bilanzzahlen, »dringende« E-Mails oder die besten Angebote einer Flugbörse zu kämpfen? Wie lautet die Naturgeschichte von Kaffee und seiner wichtigsten chemischen Attraktion, Koffein, also jene Geschichte, die lange vor dem Moment anfing, als der Mensch den ersten anregenden Schluck zu sich nahm?
Wen wollten Kaffeesträucher ursprünglich an ihrer natürlichen Starbucks-Theke bedienen? Wessen Name stand auf ihren kirschartigen Gefäßen mit dem doppelten Schuss selbst angebautem Espresso im Innern?
Obwohl sie wahrscheinlich nicht wahr ist, liefert die Legende darüber, wie Kaffee entdeckt wurde, einen ersten guten Anhaltspunkt. Es gibt viele Legenden dazu, wie das Besondere an Kaffeefrüchten und auch der Kaffee selbst entdeckt wurden. In der bekanntesten ist es jedoch ein aufmerksamer Ziegenhirte in Äthiopien, mit dem alles seinen Anfang nimmt.
Der Hirte bekommt mit, wie seine Tiere die kirschartigen kleinen Früchte fressen, die an einem wilden Kaffeestrauch wachsen. Danach werden sie immer lebhafter – fangen schließlich sogar an zu tanzen – und wollen auch nachts kein Auge zutun. Verblüfft probiert der Hirte selbst die Früchte und läuft dann mit beschwingtem Schritt zu einem muslimischen Mönchskloster in der Nähe. Hier erzählt er den Mönchen von seiner Entdeckung – denkt vielleicht sogar schon daran, dass er da auf den perfekten Muntermacher gestoßen ist, um sie bei ihren nächtelangen Gebetsorgien zu unterstützen. Wie es sich für heilige Männer gehört, werfen die Mönche die teuflischen Früchte ins Feuer. Als sie das köstliche Aroma riechen, das von den gerösteten Kernen im Innern der Früchte aufsteigt, überdenken sie ihre Entscheidung jedoch noch mal. Sie verwenden die Kerne, um die erste Tasse Kaffee der Welt aufzubrühen – und der Rest ist Geschichte.
Was an der Story das Wichtigste ist, sind die Ziegen. Für alle Leser, die sich ein bisschen mit der Biologie von Pflanzen auskennen, war es natürlich nie ein Geheimnis, für wen Kaffeefrüchte ursprünglich gedacht waren. Die in solchen Früchten enthaltenen Kerne sind ja nichts anderes als die Samen der Pflanzen, mit denen sie sich vermehren. Und die leckere Verpackung dieser Samen, also das, woran wir beim Wort »Früchte« zuerst denken, ist natürlich ausdrücklich dafür da, dass Tiere sie fressen. Die Früchte fressen, die leckere Verpackung verdauen und die Kerne beziehungsweise Samen wieder ausscheiden – wenn möglich zehn, hundert oder sogar tausend Meter weiter. Da Pflanzen nicht sonderlich mobil sind, ist das eine der wesentlichen Methoden, über die sie andere Lebensräume für sich und ihre Nachkommen erschließen können. Der für beide Seite vorteilhafte Deal, der hinter Früchten steckt, ist dabei uralt. Tatsächlich bildet er den, Entschuldigung, »Kern« etlicher Geschichten in diesem Buch und wird auch noch wesentlich ausführlicher erläutert.
Was Kaffee angeht, sind die Ziegen ein plausibler Abnehmer, schließlich sind sie für ihre Gefräßigkeit berüchtigt oder sollen jedenfalls sehr probierfreudig sein. Als die ersten und ursprünglichen »Kunden«, die Kaffeesträucher mit ihren koffeinhaltigen Früchten ansprechen wollten, können sie jedoch zumindest in ihrer domestizierten Form kaum gelten. Es ist ja gerade erst 10 000 Jahre her, dass die meckernden Nutztiere sich daran gewöhnt haben, von hochgewachsenen Zweibeinern mit Stöcken durch die Gegend gescheucht zu werden. Kaffeepflanzen sind jedoch viel älter.
Allerdings gibt es eine weitere Legende über den Ursprung des Kaffees, mit der man den ersten tierischen Abnehmern schon ein bisschen näher kommt. In dieser Legende gelangt Kaffee mithilfe einer Zibetkatze von Zentralafrika nach Äthiopien – und zwar genau auf die Samen ausscheidende Weise, die Kaffeesträucher sich »vorgestellt« hatten. Dort wird der Kaffee dann von einem arabischen Händler entdeckt und – natürlich auf ganz andere Weise – in den Rest der Welt getragen.
Zibetkatzen gehören zur Familie der Schleichkatzen, erinnern an eine Mischung aus Katze und Marder und leben in den tropischen Wäldern Asiens und Afrikas. Afrikanische Zibetkatzen sehen aus, als hätten sich auch ein Leopard und ein Waschbär an dem wilden Mix beteiligt, und werden seit Langem von der Parfumbranche benutzt, um Zibet herzustellen. Die streng riechende fettige Substanz wird in einer Drüse nahe der Genitalien der scheuen nachtaktiven Tiere produziert, die damit normalerweise ihr Revier markieren. Zur Gewinnung hält man die Zibetkatzen in Käfigen und schabt die Drüse regelmäßig mit einem hohlen Stück Horn aus – ein Verfahren, das trotz der Erfindung eines künstlichen Ersatzstoffes bis heute angewendet wird. Asiatische Zibetkatzen müssen diese Prozedur wohl seltener über sich ergehen lassen. Doch besonders in Indonesien werden andere Schleichkatzen, die oft mit Zibetkatzen verwechselt werden, ebenfalls im größeren Stil in Käfigen gehalten. Der Grund ist eine Vorliebe, die diese sogenannten Fleckenmusangs mit afrikanischen Zibetkatzen teilen: Sie klettern gerne im dichten Blattwerk von Kaffeebäumen herum und fressen dort die reifen roten Früchte.
Trotz ihres Namens sind Fleckenmusangs in der Regel nicht so stark gemustert und außerdem ein ganzes Stück kleiner als die etwa fuchsgroßen afrikanischen Zibetkatzen. Wie diese sondern sie ein stark duftendes Sekret ab. Doch gehalten werden sie nicht zur Herstellung von Zibet, sondern einer anderen sehr eigenen Spezialität: Kopi Luwak, der berühmte indonesische »Katzenkaffee«.
Kopi Luwak wird aus unverdauten Kaffeebohnen hergestellt, die man im Kot von Fleckenmusangs findet. Die Bohnen werden gewaschen, getrocknet und gemahlen und sollen dann einen besonders vollmundig und intensiv schmeckenden Kaffee ergeben. Das leicht verrückt klingende Getränk gibt es schon sehr lange: Bereits vor mehr als 100 Jahren berichtete zum Beispiel Brehms Thierleben über »sonderbare, weißliche Kothklumpen«, die Musangs auf den Kaffeeplantagen Javas hinterließen und die Einheimischen für besonders schmackhaften Kaffee nutzten. In jüngerer Zeit erlangte der Katzenkaffee größere Bekanntheit, als er in einem Hollywoodfilm als Lieblingsgetränk eines ignoranten Millionärs diente. Das Gebräu wird im Englischen gerne »cat poop coffee«, also Kaffee aus Katzenkacke genannt. Doch Kenner zahlen wohl tatsächlich teilweise mehr als 500 Euro für ein Pfund Kopi Luwak; eine frisch aufgebrühte Tasse kann bis zu 75 Euro kosten. Schon zu Brehms Zeiten vermutete man, der besondere Geschmack entstehe dadurch, dass die Musangs bei ihren nächtlichen Raubzügen in den Plantagen nur die reifsten Kaffeekirschen fressen. Hinzu kommt wohl der Effekt von Magensäften und Verdauungsenzymen, der die Bohnen weniger bitter macht und ihr Aroma verstärkt. Um das Geheimnis des »cat poop coffee« zu lüften, setzen Forscher Hochleistungsmikroskope, Gaschromatographen und elektronische Geruchsmesser ein.***
*** Kopi Luwak wird in Deutschland auch oft als Zibetkaffee bezeichnet oder zumindest mit Zibetkatzen in Verbindung gebracht (ein Fehler, der mir in einem anderen Buch auch schon passiert ist). Das liegt daran, dass im Englischen viel mehr Arten von Schleichkatzen als »civets« bezeichnet werden, was wir dann einfach mit »Zibetkatzen« übersetzen. Die gleiche Verwechslung findet auch immer wieder bei asiatischen Larvenrollern statt. Auch sie gehören zu den Schleichkatzen und gelten als möglicher Zwischenwirt für gefährliche Coronaviren. Wie Fleckenmusangs werden sie im Englischen zu einer von drei Arten von »palm civets« gezählt. Deshalb tauchen sie in der deutschen Berichterstattung zu möglichen Überträgern regelmäßig als »Zibetkatzen« auf.
Der ganze Hype ist natürlich gut für die menschlichen Produzenten der Spezialität, für die tierischen jedoch weniger. Früher wurde Kopi Luwak in Indonesien ausschließlich »geerntet«, indem man auf Kaffeeplantagen oder in der Nähe von frei wachsenden Kaffeebäumen nach den Kotklumpen der Musangs suchte. Diese schienen das kleine Nebengeschäft vieler Einheimischer sogar dadurch zu unterstützen, dass sie ihres immer an der gleichen Stelle machten. Seit die Nachfrage so gestiegen ist, werden die Tiere allerdings oft wie afrikanische Zibetkatzen gefangen und in Käfige gesteckt. Hier werden die kleinen Allesfresser dann laut Tierschützern oft nur noch mit Kaffeekirschen ernährt. Sogar zwangsgefüttert wie Stopfgänse sollen sie manchmal werden, um so ihre Haltung noch »ergiebiger« zu machen.
Afrikanische Zibetkatzen begannen sich wohl vor etwa 12 Millionen Jahren aus umtriebigen asiatischen Zibetkatzen zu entwickeln, die es nicht mehr auf dem eigenen Kontinent hielt. Solche Zeiträume in eine menschliche Perspektive zu setzen, ist schwer. Aber vielleicht dient ein bisschen der Orientierung, dass es damals zwar schon recht lange schwanzlose Menschenaffen gab, aber es noch mal 6 Millionen Jahre dauern würde, bis sich unser Zweig von diesen abtrennte. Heute reicht die Verbreitung afrikanischer Zibetkatzen von Westafrika bis tief in die Wälder Zentralafrikas, von dort bis an die weit im Süden gelegene Küste Mosambiks und im Osten bis hinauf ins Hochland Kenias und Äthiopiens. Tatsächlich deckt sich das Verbreitungsgebiet der lustigen Tiere mit der Waschbärmaske und dem langen getüpfelten Körper ungefähr mit dem der etwa hundert verschiedenen Arten von Kaffeepflanzen, die in Afrika wachsen. Sie alle gehören zur Gattung (also größeren biologischen Gruppe) Coffea, doch obwohl sich das jetzt nach einem verdächtigen Zufall anhört, ist es das eigentlich nicht. Beide in Wald und Grasland anzutreffenden Organismen haben sich einfach mehr oder weniger komplett über den großen grünen Teil Afrikas ausgebreitet, der sich von unterhalb der Sahara bis fast ganz an die südliche Spitze des Kontinents erstreckt.
Im Gegensatz dazu schon auffällig ist jedoch, was Forscher herausfanden, als sie untersuchten, wie sich einst Kaffeepflanzen über dieses Gebiet ausgebreitet haben. Denn ihre Ergebnisse stimmen wunderbar mit der Legende über den mit Zibetkatzen verbundenen Ursprung von Kaffee überein, in der eins der Tiere ihn von Zentralafrika bis in die fruchtbaren Hügel Äthiopiens trägt.
Um die lange zurückliegende Ausbreitung der Kaffeepflanzen in Afrika nachzuzeichnen, nutzte ein Team aus französischen und brasilianischen Forschern das Verfahren der sogenannten molekularen Uhr. Dabei zählt man die Mutationen in den Genen verschiedener Arten, um abzuschätzen, wann sich ihre evolutionäre Entwicklung voneinander getrennt hat. Was die Forscher entdeckten, stellte alles auf den Kopf, was man bis dahin über die Naturgeschichte des Kaffees zu wissen glaubte. Bis zu ihrer Studie hatten sich die Annahmen über die Ursprünge der Kaffeepflanzen eher mit der Legende von dem äthiopischen Ziegenhirten gedeckt: Der evolutionäre Ursprung der Gewächse sollte in Ostafrika liegen; hier, so glaubte man, habe eine Urform der Pflanzen schon vor mehr als 100 Millionen Jahren existiert. Laut den Untersuchungen des französisch-brasilianischen Teams liegt die Wiege der Pflanzengattung Coffea jedoch in der dicht bewaldeten Region um den Golf von Guinea, also genau auf der anderen, westafrikanischen Seite des Kontinents. Von dort breiteten sich die Kaffeepflanzen erst nach Zentral- und dann bis nach Ostafrika aus. Voran kamen sie wohl vor allem in globalen Warmzeiten wie jetzt, wenn sich das Grün auf dem afrikanischen Kontinent dichter schloss. Je nachdem, wo sie Wurzeln schlugen, entwickelten sie sich dabei immer ein bisschen anders und besiedelten nach und nach jede afrikanische Waldform – von dampfenden Regenwäldern bis zu schmalen Uferwäldern inmitten der Savanne. Das Verblüffende: All das könnte erst in den letzten 400 000 Jahren passiert sein.****
**** So zumindest die aus den genetischen Analysen gezogene Schlussfolgerung der hier dargestellten Studie. Andere Forscher sind sich nicht nur beim Ursprungsort weniger sicher; sie halten vor allem die gesamte Gattung für wesentlich älter. Mehr dazu steht in den Quellen am Ende des Buchs.
»Im Verlauf ihrer jüngeren Geschichte erlebten die afrikanischen Wälder eine buchstäblich explodierende Radiation von Kaffeepflanzen«, erklärte der französische Pflanzenforscher François Anthony mit Blick auf die Studie, die von ihm geleitet wurde. Von Radiation oder, genauer, adaptiver Radiation sprechen Biologen, wenn sich Organismen an unterschiedliche Umweltbedingungen anpassen und dabei in verschiedene Arten auffächern. Und dass das bei den frühen Kaffeepflanzen so explosiv schnell passierte, könnte darauf hindeuten, dass ihre einzige Möglichkeit, sich zu verbreiten – nämlich ihre Früchte –, äußerst beliebt bei den tierischen Weiterträgern jener Zeit war.
Das Team um Anthony glaubt, dass es anders als in der Legende wohl hauptsächlich Affen waren, die die Samen der Kaffeepflanzen einst von einer Küste Afrikas bis zur anderen trugen. Doch wenn man sich Studien zu ihren Fressgewohnheiten anschaut, sind afrikanische Zibetkatzen kaum weniger vernarrt in Kaffeekirschen als indonesische Fleckenmusangs. Deshalb waren bestimmt auch etliche Portionen »cat poop« an dem großen Siegeszug über den afrikanischen Kontinent beteiligt. Ebenso dürften sich noch viele andere Tiere an den buschigen grünen Starbucks-Filialen angestellt haben, von denen mit der Zeit immer mehr in Urwald und Savanne auftauchten. Von Elefanten, die mit ihrem langen Rüssel gleich ganze Zweige voll praller roter Früchte abrissen, bis hin zu verschiedenen Vögeln und Fledermäusen. Tatsächlich wird inzwischen auch Kopi Luwak angeboten, der von all diesen Tieren stammt. Mit dem feinen Unterschied, dass die beteiligten Affen und Fledermäuse die Kaffeebohnen nicht ausscheiden, sondern ausspucken, sobald sie das saftige Fruchtfleisch abgekaut haben.
Was all diese Kunden einst an dem neuen Angebot so anzog, ist – ähnlich wie bei einem echten Starbucks – nicht ganz klar. Kaffeekirschen sind zwar nicht so süß wie echte Kirschen, haben aber wohl einen durchaus delikaten Geschmack, der Noten von Wassermelone, Hibiskusblüten und Rosenwasser enthält. Der Geschmack ist ganz anders als der von gerösteten Kaffeebohnen und unterscheidet sich zudem leicht je nach Kaffeepflanze, deren Früchte man probiert. Diese können nämlich nicht nur roten Kirschen, sondern auch schwarzen Oliven, gelben Pflaumen oder sogar lampionartigen Physalisbeeren ähneln. Musangs mögen offenbar den Geschmack roter Kaffeekirschen. Dass sie auch deren Wirkung spüren, sieht man laut Tierschützern daran, wie hektisch sie im Kreis laufen und an ihrem Käfig nagen, wenn man sie mit nichts anderem als ihrem Lieblingssnack füttert. Doch schätzen sie und andere Tiere unter normalen Umständen neben dem Geschmack und Nährwert von Kaffeefrüchten auch den Kick, den sie vermitteln? Das ist schwer zu sagen. Zumal nicht mal alle Kaffeefrüchte, und besonders nicht die jener frühen Coffea-Arten, mit denen der afrikanische Triumphzug einst begann, überhaupt Koffein enthalten.
Koffein scheint den Früchten und Kernen der Kaffeepflanzen erst hinzugefügt worden zu sein, während sie ihren allmählichen evolutionären Weg über das heiße, feuchte Herz des Kontinents machten. Und hätte jemand bei Starbucks eine ähnliche Nummer abgezogen, es hätte mit Sicherheit in einer langen Haftstrafe geendet.
Sogar noch mehr als die Pflanzengattung Coffea stellt Koffein eine der großen Erfolgsgeschichten der Natur dar. Wie sicherlich viele wissen, wird das anregende Alkaloid nicht nur von Kaffeesträuchern, sondern auch von vielen anderen Pflanzen gebildet.
Dazu gehören mehrere Formen des asiatischen Teestrauchs, aus dessen Blättern sowohl der starke schwarze Tee als auch der weniger koffeinhaltige grüne Tee gemacht werden. Ebenso produzieren afrikanische Kolabäume Koffein: Extrakte aus ihren Nüssen steuerten einst den zweiten Namensteil des berühmten Muntermachers Coca-Cola bei, während der erste tatsächlich darauf zurückgeht, dass ursprünglich auch aus Kokablättern extrahiertes Kokain zu den Zutaten gehörte. Heutige Energydrinks greifen lieber auf Koffein aus südamerikanischen Mate- und Guaranapflanzen zurück. Obwohl nicht näher mit Kaffeepflanzen verwandt, versetzen auch Kakaobäume die Bohnen in ihren dicken, schotenartigen Früchten mit Koffein. Statt eines Espressos könnte ich daher ebenso jeden Morgen zwei Tafeln Bitterschokolade (oder zwei Dosen Cola) zu mir nehmen. Weniger bekannt dürfte sein, dass auch die Blätter und Blüten von Orangen-, Zitronen- und Grapefruitbäumen Koffein enthalten.
Tatsächlich hat sich Koffein nicht nur in vielen verschiedenen Pflanzen entwickelt, die zum Teil auf völlig verschiedenen Ästen des großen Baums der Evolution sitzen. Studien zufolge haben sich diese Pflanzen auch unterschiedliche biochemische Kochrezepte einfallen lassen, um Koffein in ihren Zellen zu bilden. Wenn Lebewesen unabhängig voneinander und über verschiedene Entwicklungswege zum gleichen Ergebnis kommen, nennt man das in der Biologie konvergente, also zusammenlaufende Evolution. Das bekannteste Beispiel sind Flügel, die im Laufe der Naturgeschichte so unterschiedliche Tiergruppen wie Insekten, Vögel und Fledermäuse gebildet haben. Solche Konvergenzen sind meist ein Zeichen dafür, dass das Ergebnis ziemlich nützlich ist – wie etwa zu fliegen und so besser vor anderen Tieren fliehen (oder sie besser jagen) zu können. Dass dieses nützliche Ergebnis im Fall von Koffein seit jeher darin bestand, uns und anderen Mitgliedern des Tierreichs ein angenehmes nervliches High zu verschaffen, darf jedoch bezweifelt werden. Denn laut gängiger Meinung von Botanikern und Biologen war die ursprüngliche Rolle des Stoffes eine ganz andere.
Wie viele andere pflanzliche Alkaloide – etwa das Nikotin in Tabakblättern, das Kokain in Kokablättern oder das Morphium im Schlafmohn – hatte das Koffein in Kaffeepflanzen anfangs nicht den Zweck, Tiere anzulocken, sondern sie abzuschrecken. Bei all diesen bitter schmeckenden Chemikalien handelt es sich um natürliche Insektizide: In höheren Mengen sind sie für Käfer, Raupen und andere kleine Plagegeister giftig und halten sie so davon ab, sich über die Blätter, Früchte und Samen der Pflanzen herzumachen. Wie diejenigen unter Ihnen wissen, die einen Garten haben, gilt Kaffeesatz auch als altes Hausmittel gegen Schnecken, und selbst eine gewisse Wirkung als Herbizid, also Unkrautvernichter, scheint Koffein zu besitzen. Der Nutzen für die Pflanzen könnte in dem Fall sein, dass konkurrierende Pflanzen schlechter wachsen, wenn der Stoff über verrottendes Laub und abgefallene Früchte in die Erde gelangt. Auf Kaffeeplantagen nimmt der Boden mit der Zeit so viel Koffein auf, dass er wohl selbst für die Kaffeesträucher zu giftig wird.
Forscher glauben, dass dieses natürliche Universalpestizid in Kaffeepflanzen zusammengemixt wurde, als sie sich einst immer mehr in den heißen, feuchten Waldgebieten West- und Zentralafrikas ausbreiteten. Der Grund dafür könnten die vielen verschiedenen hungrigen Insekten und anderen Pflanzenfresser gewesen sein, die dort an ihren dicken grünen Blättern knabberten. Um ihre Früchte und Samen ebenfalls zu schützen, versetzten die Kaffeesträucher auch diese mit dem giftigen Zeug. Wäre so etwas bei Starbucks geschehen, es hätte die Kette zweifellos mehr Kunden gekostet als alle Steuertricks und schlecht gefüllten Latte zusammen.
Wie es bei der Evolution so ist: Rüsten die einen auf, rüsten die anderen nach. Die winzigen afrikanischen Kaffeekirschenkäfer zum Beispiel können noch mehr von dem natürlichen Pestizid vertragen als selbst die Kaffee saufenden Riesen Skandinaviens. Sie fressen munter Gänge in die vor Koffein strotzenden Bohnen der Früchte und nutzen sie sogar als Babynahrung für ihre Larven. Auch gegen Kaffee-Miniermotten, Schmierläuse und verschiedene Arten von wurmartigen Nematoden versagt das schützende Alkaloid. Gewisse Bakterien, die im Erdreich unter Kaffeepflanzen von deren Wurzelsäften leben, tun es sogar von Abgabeterminen geplagten Studenten, Künstlern und Autoren gleich: Sie ernähren sich von praktisch nichts anderem als Koffein.
Doch das sind nur einzelne Breschen, die die Evolution in die biochemische Abwehr von Kaffeepflanzen geschlagen hat. Und was ihre anderen, vermutlich noch weniger »geplanten« Folgen angeht, war die Entscheidung der Gewächse, auch ihre Früchte und Samen mit Koffein zu versetzen, ein uneingeschränkter Erfolg. Erst holten sich Affen, Zibetkatzen und andere afrikanische Tiere regelmäßig ihren Kick ab und verhalfen durch die überall verteilten Kopi-Luwak-Bohnen den Pflanzen zu phänomenal schneller Ausbreitung und Auffächerung. Dann stießen wir Menschen auf die koffeinhaltigen Samen und machen seither damit genau das, wovor ihre pflanzlichen Eltern sie eigentlich schützen wollten: Wir zerstören sie, indem wir sie rösten und mahlen, sodass daraus nie und nimmer neue Kaffeepflanzen werden können. Doch seltsamerweise geht die Rechnung trotzdem auf. Denn weil wir den aus den Samen aufgebrühten Kaffee so mögen, pflanzen wir sie überall auf der Welt in die Erde, damit dort neue Kaffeepflanzen wachsen. So verbreiten sich diese noch effektiver als durch sämtliche Kaffeekirschen fressenden Schleichkatzen, Affen und Fledermäuse zusammen.
Hätte die Evolution mit so einem Ergebnis jemals rechnen können? Nein, natürlich nicht, weil sie ja überhaupt nicht rechnet oder plant und Kaffeepflanzen natürlich auch keine Entscheidungen treffen. Wie immer bei diesen Dingen war die Sache mit dem Koffein eine genetische Zufallsentwicklung, die sich als nützlich erwies, also zu größerem Fortpflanzungserfolg führte und sich so vervielfachte. Zwar können Pflanzen bei solchen Neuerungen wohl auf eine Vielzahl von bereits vorhandenen biochemischen Kochrezepten zurückgreifen, mit denen zweckentfremdete Enzyme bei genügend Leidensdruck passende Abwehrstoffe zusammenbrauen. Doch am grundsätzlichen, ohne göttlichen, individuellen oder wie auch immer gearteten Plan auskommenden Funktionsprinzip der Evolution ändert das nichts.
Trotzdem gibt es besonders gewitzte Geister, die behaupten, nicht wir würden die Kaffeepflanzen für unsere Zwecke nutzen, sondern sie uns. Der Trick wäre zugegeben genial: »Kommt, wir machen diese seltsamen nackten Affen, die noch fleißiger Landwirtschaft betreiben als Termiten, zu Koffeinjunkies, dann pflanzen sie uns überall auf der Welt an!« Und auch wenn das natürlich genau die Art von pseudowissenschaftlichem Quatsch ist, von dem das Internet überquillt, gibt es doch einen weiteren tierischen Abnehmer für das Koffein von Kaffeepflanzen, bei dessen näherer Betrachtung uns ein wenig unheimlich werden kann.
Erinnern Sie sich noch an den Anfang dieses Kapitels und den Vergleich unserer von Koffein aufgeputschten Gesellschaft mit einem betriebsam summenden Bienenstock? Der Stoff wird nicht nur wehrlosen Schleichkatzen in zu hohen Mengen verabreicht. Die Wirkung von Koffein und weiteren psychoaktiven Substanzen wurde auch schon an anderen Tieren getestet. Eins der berühmtesten dieser Experimente wurde zum ersten Mal von dem deutschen Pharmakologen Peter Witt Ende der 1940er durchgeführt und später von der NASA wiederholt. Dabei flößte man Spinnen mithilfe von Zuckerlösung oder gedopten Fliegen verschiedene Substanzen ein, um zu sehen, wie es sich auf ihren Netzbau auswirkt. Hatten die Spinnen den Wirkstoff von Cannabis intus, wurden sie so relaxed, dass sie ihre Netze nicht zu Ende bauten. Nach einer Dosis LSD hingegen schufen sie Konstruktionen von verblüffender Präzision. Die deutlichste Wirkung hatte jedoch Koffein auf die kleinen Baumeister: Mit ein paar Tassen »Kaffee« im Blut wurden sie so ungeduldig, dass sie nie mehr als ein chaotisches Fadengewirr mit riesigen Löchern zustande brachten. Spinnen auf Koffein pfuschen hastig irgendwas zusammen, was halbwegs nach einem Netz aussieht. Fliegen fangen sie damit aber eher nicht.
Auf Bienen hingegen, die fleißigen, Honig produzierenden Insekten, deren Staaten seit jeher gerne mit denen von Menschen verglichen werden, hat Koffein einen ganz anderen Effekt.
Wie wir alle noch aus der Schule wissen, wachsen Früchte nicht einfach so an Kaffeesträuchern und anderen Pflanzen, sondern gehen aus den Blüten hervor, die vorher an den Zweigen blühen. Damit Früchte entstehen, müssen die Blüten bestäubt werden, das heißt, ihr meist auf kleinen Fädchen sitzender männlicher Blütenstaub muss auf einen weiblichen Stempel gelangen, wie er aus der Mitte von Blüten ragt; von dort wächst dann ein befruchtender Pollenschlauch zum Fruchtknoten des Stempels hinab. Pflanzen, die sich schnell eigenständig in neuen Lebensräumen ausbreiten müssen, wie etwa auf Inseln, bestäuben sich oft selbst, verteilen also den eigenen Blütenstaub auf den eigenen Stempeln. In anderen Situationen versuchen Pflanzen aber oft, diese Form der Inzucht zu vermeiden, und lassen ihren Blütenstaub lieber zu den Blüten von anderen Pflanzen aus der derselben Art tragen. Dazu benutzen sie den Wind oder – wie später auch bei den Samen der Früchte – tierische Transporteure, die in diesem Fall Bestäuber heißen. Und die bekanntesten dieser Bestäuber sind natürlich Bienen.
Um Bienen ihre Aufgabe zu versüßen, sondern Pflanzen aus Drüsen in ihren Blüten eine zuckrige Flüssigkeit namens Nektar ab, aus denen die Bienen dann Honig machen (siehe Kapitel 10). Auch diese Masche kennen wir natürlich schon von süßen Früchten – wie gesagt, wenn die Evolution erst mal auf eine funktionierende Strategie stößt, dann taucht sie immer wieder auf. Auch Kaffeepflanzen »bezahlen« die summenden kleinen Amorengel, die zwischen ihren und den Blüten anderer Kaffeepflanzen hin- und herfliegen, mit zuckerhaltigem Nektar. Das Komische ist nur, dass die Pflanzen diesen süßen Saft, der anders als Früchte und Samen ja ausdrücklich dafür da ist, von Insekten verzehrt zu werden, ebenfalls mit dem ursprünglich gegen Insekten gerichteten Koffein versetzen. Das könnte nun als reines Versehen innerhalb der komplizierten täglichen Abläufe der Pflanzenchemie abgetan werden. Nur scheinen auch die oben erwähnten Teesträucher und Zitrusbäume Wert darauf zu legen, dass der von ihnen angebotene Nektar neben jeder Menge Zucker ebenso einen Schuss Koffein enthält.
Welche Wirkung hat Koffein auf die tagein, tagaus unermüdlich Nektar sammelnden Arbeitsbienen? Nun, eine, die verdächtig genau jener Wirkung entspricht, die ich jeden Morgen spüre, wenn ich meinen ersten Espresso trinke. Und die meine Kollegen und Milliarden andere Kaffeetrinker dazu bringt, praktisch ihr ganzes Leben lang mehrmals am Tag immer wieder auf dieses faszinierende Ergebnis pflanzlicher Evolution zurückzugreifen.
Wie Studien gezeigt haben, erinnern sich Bienen sehr viel besser an den Duft von Blüten, wenn deren Nektar Koffein enthält. Das Koffein macht Bienen auch geschäftiger, was heißt, dass sie nicht nur mehr Rundflüge zu seiner Quelle unternehmen, sondern öfter ihre lustigen Tänze aufführen, um andere Bienen auf diese Quelle hinzuweisen. Regelmäßig einen Schluck »Kaffee« zu sich zu nehmen, verwandelt die kleinen Insekten in wachere, härter arbeitende und teamorientiertere Versionen ihrer selbst. Also in genau das, was alle Bienenköniginnen und Bürochefs dieser Welt sich wünschen.
Daher ist es vielleicht kein Wunder, was manche schlauen Leute denken. Sie sagen, dass die Wirkung von Kaffee weit darüber hinausgeht, nur der Amerikanischen und der Französischen Revolution einen wichtigen biochemischen Schub gegeben zu haben. Ein Schlafforscher der renommierten amerikanischen Universität Harvard glaubt zum Beispiel, dass zusammen mit der Erfindung des elektrischen Lichts Kaffee die entscheidende Zutat war, um auch die Industrielle Revolution zu ermöglichen. Nur mithilfe von Koffein konnten wir unseren natürlichen Schlafrhythmus hinter uns lassen und den rund um die Uhr vor sich hin summenden globalen Bienenstaat gründen, in dem wir heute leben.
Einen Haken hat die Sache allerdings: Die Bienen werden durch das Koffein nämlich zwar aktiver, aber wohl nicht wirklich produktiver. Vielmehr bringt der psychoaktive Stoff sie dazu, den Nektargehalt der immer wieder angeflogenen Blüten zu überschätzen. Oder anders ausgedrückt: mit Unmengen Kaffee im System am Wert einer Tätigkeit festzuhalten, die sie in Wirklichkeit gar nicht groß weiterbringt.
Die Forscher sagen sogar ausdrücklich, dass Kaffeesträucher und andere Pflanzen die emsigen Tierchen auf diese Weise »hereinlegen« und zu ihren angeschmierten Bütteln machen. Womit wir wieder bei den koffeinierten Spinnen und ihren löchrigen Netzen sowie den Verschwörungstheorien im Internet wären.
Oder wie der Wissenschaftsautor Ed Yong es formuliert hat, der offenbar ein ähnliches Verhältnis zu dem pflanzenbasierten Suchtmittel pflegt wie ich: »Wie ironisch es ist, dass ich über all das schreibe, während ich um zehn Uhr morgens an einem unvernünftig starken Espresso nippe, ist mir durchaus bewusst.«
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Wenn Sie mich nach meinem Lieblingskäse fragen, dann sage ich Manchego. Besonders gern esse ich ihn zusammen mit etwas Serranoschinken und Trauben. Schon die reifenartige Rinde gefällt mir, und ich mag Schafskäse, vermutlich spielen auch irgendwelche schönen Ausflüge nach Spanien eine Rolle. Fast ebenso gerne esse ich aber einen einfachen jungen Gouda oder einen Brie, die müssen nicht mal teuer sein, und als gebürtiger Hesse natürlich Handkäs, ob mit Musik oder ohne. Letzteren esse ich allerdings eigentlich nur auswärts, weil er bei meinem persönlichen Einkaufsverhalten schon das überschreitet, was ich die »Kühlschrankgrenze« nenne: das Gefühl, bei Freunden mit Vorliebe für aromatischen Käse an den Kühlschrank zu gehen und einer Ohnmacht nahe zu kommen.
Das mag jetzt wenig genussfreudig für jemanden klingen, der ein ganzes Buch über Nahrung schreibt. Und ja, wenn es irgendwo nach einem guten Abendessen eine liebevoll kuratierte Käseplatte gibt, dann habe ich auch nichts gegen ausgemachte Stinker. Jedes Mal, wenn ich mir nur ein Glas Orangensaft einschenken will, brauche ich das aber nicht. Und wie ich bei den Recherchen zu diesem Kapitel erfahren habe, gibt es für meine Empfindlichkeit auch triftige wissenschaftliche Gründe.
Wie beim Kaffee sind zur Entdeckung des Käses verschiedene Geschichten und Theorien im Umlauf. Zum ersten Mal könnten ihn schon die Jäger der Steinzeit gegessen haben. Nicht wie bei uns auf einer Platte serviert, sondern sozusagen als Nebenprodukt der Jagd, wenn sie zum Beispiel ein Antilopenkitz oder Hirschkalb erlegten. Wurden die jungen Wiederkäuer erst kurz zuvor gesäugt, hätten die Jäger in einem ihrer mehrfachen Mägen auf seltsame weiße Klumpen stoßen können. Vermutlich hätte es nicht lange gedauert, bis sich irgendjemand bereit erklärte, das bröckelige Zeug zu probieren. Vielleicht kam auch bald jemand auf die Idee, es an der Luft zum Trocknen auszulegen.*****
***** Oder einfach den ganzen Magen zum Trocknen aufzuhängen. Genauso wird heute nämlich noch Callu de Cabrettu von Hirten auf Sardinien gemacht. Sie hängen den noch mit Muttermilch gefüllten Magen frisch geschlachteter Zicklein an einem luftigen, schattigen Ort auf. Je nach Reifezeit entsteht dabei cremiger Frischkäse mit strengem Aroma, der aufs Brot geschmiert wird, oder ein bröckeliger Hartkäse.
Die Klumpen entstehen durch ein Gemisch aus Enzymen, das von der Magenschleimhaut junger Wiederkäuer gebildet wird und sich Lab nennt. Es sorgt dafür, dass die aufgenommene Muttermilch gerinnt und sich in eine molkeartige Flüssigkeit sowie käseartige Klumpen trennt. Die Klumpen haben den Vorteil, dass die darin enthaltenen Eiweiße und Fette in dieser eingedickten Form länger im Magen der Jungtiere bleiben und so besser aufgespalten werden können. Genau zu diesem Zweck, nämlich dem Eindicken von Milch zu einer ersten Stufe von Käse, wird Lab auch in der modernen Käseherstellung verwendet. Die meisten dafür genutzten Enzyme werden inzwischen gentechnisch hergestellt. Doch gerade im traditionellen Käseland Europa ist bei vielen Käsesorten noch die Verwendung von tierischem Lab üblich – oder sogar Pflicht. Die Enzyme stammen dann aus den zerkleinerten Mägen von Kälbern, Zicklein oder Lämmern, also den gezähmten Nachfolgern wilder Wiederkäuer.****** So hätten also die ersten Käseesser der Welt im Grunde schon einen ganz ähnlichen Käse verzehrt wie wir heute.
****** Das ist natürlich problematisch für Vegetarier. Bei ihnen ist ja Käse genau wie Milch, Eis und Sahne meist »erlaubt«. Zwar werden für das Lab in der Regel Mägen verwendet, die ohnehin bei der Schlachtung anfallen. Doch das Töten von Tieren ist trotzdem am Produkt beteiligt, und ein winziger Teil des Labs bleibt wohl auch im Käse. Laut der Tierschutzorganisation PETA kommt tierisches Lab bei vielen Sorten von Gouda bis Tilsiter zum Einsatz. Bei manchen Sorten mit geschützter Herkunftsbezeichnung, wie Parmesan oder Pecorino Romano, ist die Verwendung sogar vorgeschrieben. In den USA und England hingegen stammt das Lab meist von gentechnisch veränderten Mikroben. Auch in der EU ist dieser Ersatz erlaubt und auf dem Vormarsch, weil er billiger ist. Selbst die EU-Vorschriften zu meinem geliebten Manchego scheinen dieses Türchen offen zu lassen: Er darf mit »natürlichem Labferment oder anderen zugelassenen Gerinnungsenzymen« hergestellt werden.
Auch bei der am häufigsten erzählten Geschichte zur Entdeckung des Käses entsteht dieser durch Lab. Sie spielt allerdings wesentlich später, als die Zähmung Fleisch und Milch spendender Wiederkäuer bereits stattgefunden hatte. Im vorigen Kapitel wurde ja schon die Domestizierung der Ziegen erwähnt, zu der es vor etwa 10 000 Jahren kam. Sie war Teil der sogenannten neolithischen Revolution, also dem Übergang der steinzeitlichen Jäger und Sammler zu einer anderen, neusteinzeitlichen Lebensweise. Damals begannen die Menschen, als Bauern Getreide anzubauen, als Hirten Tiere zu halten und in festen Siedlungen zu leben. Diese Geburt der Landwirtschaft fand im Fruchtbaren Halbmond statt, einer vom Regen begünstigten und von großen Flüssen durchzogenen Region nördlich der Arabischen Halbinsel. Heute liegen in dem Gebiet Teile der Türkei sowie nahöstlicher Länder wie Irak, Syrien und Israel, und es wird oft als »Wiege der Zivilisation« bezeichnet.
Hier wurden zunächst Ziegen und Schafe an ein Leben als Nutztiere gewöhnt, später auch die vermutlich schwerer zu zähmenden Rinder. In der Käsegeschichte füllt ein Reisender eine Portion Milch in einen praktischen Ziegen- oder Schafsmagen ab, um sie auf dem Weg als Proviant zu verzehren. Wieder tun die Labenzyme ihr Werk, und als der durstige Wanderer aus seinem Schlauch trinken will, merkt er, dass sich die Milch in eine brockige, aber durchaus schmackhafte Masse verwandelt hat.
Die Geschichte klingt fast genauso gut wie die mit den Ziegen und den Kaffeekirschen. Doch auch hier gibt es Zweifel, ob sie sich wirklich so zugetragen hat. Ein Gegenargument kennt jeder, der keine Milch verträgt. Das ist heute noch bei rund zwei Dritteln der Menschheit der Fall und war auch bei den ersten Viehhaltern so. Das Problem sind dabei nicht die in der Milch enthaltenen Proteine und Fette. Es ist der Zucker, also der dritte große Hauptnährstoff, den unser Körper zum Leben verwendet und den Säugetiere mit der Milch an ihre Jungen abgeben. Die darin enthaltene Spielart des Zuckers heißt Milchzucker, auch als Laktose bekannt.
Wie bei jungen Wiederkäuern gerinnt die Milch im menschlichen Magen zu Klumpen, was in diesem Fall wohl vor allem an der Magensäure liegt. Die so zusammengeklumpten Eiweiße und Fette werden bereits jetzt von den zuständigen Verdauungsenzymen bearbeitet, sogenannten Proteasen und Lipasen, und noch stärker im auf den Magen folgenden Dünndarm. Hier landen die »Käseklumpen« bereits stark zerkleinert und werden dann in so winzige Moleküle zerlegt, dass sie über die Darmwand ins Blut aufgenommen werden können. Ähnlich geht es bei Milch trinkenden Menschenbabys und Tierjungen dem Milchzucker, sprich der Laktose. Sie ist ein Zweifachzucker, besteht also aus zwei miteinander verbundenen Zuckermolekülen und sammelt sich im Magen vor allem in der vom Rest getrennten »Molke«. Mit der gelangt sie schnell in den Dünndarm, wo das für sie zuständige Enzym, die Laktase, sie in gut absorbierbare Einfachzucker spaltet.
Diese Laktase wird aber bei Säugetieren und ursprünglich auch beim Menschen nur am Anfang des Lebens produziert. Nach dem Absetzen, beim Menschen Abstillen genannt, stoppt die Produktion oder sinkt im Laufe weniger Jahre auf null. Das bedeutet, die Laktose landet dann unzerlegt im Dickdarm, der auf den Dünndarm folgt. Hier wird sie zwar auch verarbeitet, aber auf andere Weise, was zu Bauchschmerzen, Blähungen und Durchfall führt. Menschen, die unter Laktoseintoleranz leiden, können ein Lied davon singen.
In das hätten auch die ersten Viehhalter eingestimmt. Der amerikanische Ernährungswissenschaftler Paul Kindstedt hält deshalb die Story mit dem Milch trinkenden Reisenden für unwahrscheinlich. Der Professor im käsebegeisterten US-Bundesstaat Vermont wollte eigentlich nur ein leicht lesbares Handbuch dazu schreiben, wie man Käse selbst herstellt. Am Ende wurde daraus die gesamte Geschichte des Käses in der westlichen Kultur, von ihren Anfängen bis heute. Kindstedt glaubt nicht, dass der Mensch zuerst die Milch für sich entdeckte und später lernte, daraus Käse zu machen, wie man intuitiv annehmen würde. Er hält es für wahrscheinlicher, dass wir bereits lange Käse herstellten und aßen, bevor wir zu regelmäßigen Milchtrinkern wurden, zumindest im Erwachsenenalter.
Archäologische Knochenfunde weisen darauf hin, dass die ersten Bauern Tiere zunächst wegen ihres Fleischs hielten. Angefangen, ihr Vieh zu melken, haben sie dann wahrscheinlich, um die Milch ihren Kindern zu geben. Laut genetischen Untersuchungen setzte sich die Fähigkeit, auch im Erwachsenenalter weiter Laktase zu produzieren, erst wesentlich später nachhaltig durch. In Notzeiten haben Erwachsene vielleicht schon vorher Milch getrunken. Doch als üblicher Reiseproviant hätte sie wohl kaum gegolten und wäre daher auch nicht in einem als Milchschlauch genutzten Tiermagen überraschend zu Käse geronnen. Kindstedt ist der Meinung, dass das Käsemachen schon über tausend Jahre vor dem Milchtrinken entdeckt wurde, und zwar auf andere Weise. Kultiviert wurde die neue Technik dann, gerade weil damals noch kaum ein Erwachsener frische Milch vertrug.
Vor etwa 9000 Jahren begann sich die Töpferei unter den ersten Viehhaltern auszubreiten. Für Kinder in einem Gefäß gesammelte Milch konnte also leicht sauer werden. Das wird sie ja selbst bei uns im Kühlschrank oder wenn wir sie aus Versehen draußen stehen lassen. Handelt es sich um Rohmilch vom Biohof oder eine nicht zu stark pasteurisierte Frischmilch, können wir dann ganz leicht Käse daraus machen. Wir müssen nur die saure, eingedickte Milch sanft erhitzen, sodass sich Molke und Käseklumpen weiter trennen. Im Klima des Nahen Ostens hätten Hitze und Sonne nachgeholfen. Siebt und presst man anschließend noch mehr Molke aus den Klumpen, hat man ruckzuck einen einfachen Frischkäse. Auch ganz ohne Tiermagen und die gerinnende Wirkung der darin enthaltenen Labenzyme.
Paul Kindstedt glaubt, dass auf diese simple Weise die Kunst des Käsemachens entdeckt wurde. Und die frühen Viehhalter hätten auch einen sehr guten Grund gehabt, diese Kunst weiter zu pflegen. Wird Milch sauer, sinkt ihr Gehalt an Milchzucker; zusätzliche Laktose wird bei der natürlichen Gerinnung mit der Molke abgetrennt. Das heißt, selbst laktoseintolerante Erwachsene konnten das neue Lebensmittel besser vertragen und so die in der Milch enthaltenen Nährstoffe nutzen. Fettreste an Scherben aus der Frühzeit der Landwirtschaft deuten darauf hin, dass sie das auch taten. Vielleicht wurde dicke Milch sogar schon mit Feuer in Krügen erhitzt. Lagerte man den resultierenden Frischkäse luftdicht unter der Erde, hielt er länger und reifte langsam nach. Trocknete man ihn in der Sonne, wie im Nahen Osten zum Teil bis heute üblich, erhielt man einen noch besser haltbaren Hartkäse. Mit Salz aus dem Toten Meer hätte sogar schon eine Art Handkäs hergestellt werden können!
Auch mit Lab wurde Milch dann sicher bald eingedickt, und Käse stieg zu einem der beliebtesten und vielfältigsten Lebensmittel der Welt auf. In den ersten Hochkulturen des Fruchtbaren Halbmonds wurden Käse und Butter bereits in rauen Mengen hergestellt und als köstliches Geschenk den Göttern dargebracht. Wie uralter Käse in Grabkammern beweist, wussten ihn auch die alten Ägypter zu schätzen. Als David es in der Bibel mit Goliath aufnimmt, ist er eigentlich nur gerade dabei, dem Hauptmann seiner Brüder zehn Stück Käse vorbeizubringen.******* In Homers Odyssee, dem ersten Abenteuerroman der Menschheit, frisst ein einäugiger Zyklop die halbe Schiffscrew der griechischen Helden auf. Dazwischen melkt er jedoch ganz friedlich seine kleine Schafherde und stellt aus der Milch Käse her.
******* Eine noch spannendere, feministische »Käsegeschichte« mit gleichem Ausgang findet sich in alten syrischen und hebräischen Versionen des Buchs Judit, die in keiner offiziellen Bibel gelandet sind. Darin betört die junge Witwe den feindlichen General Holofernes nicht nur mit ihrer Schönheit und trinkt ihn unter den Tisch. Um ihn noch durstiger zu machen, lässt sie ihre Magd auch salzige Käsepfannkuchen für ihn zubereiten. Als Holofernes so benommen auf dem Bett liegt wie Goliath nach Davids Treffer mit der Schleuder, schlägt auch Judit ihm mit seinem eigenen Schwert den Kopf ab.
Als die Römer halb Europa und große Teile des Mittelmeerraums eroberten, hatten sie Käse als Marschration und Kulturtechnik im Gepäck. Allerdings weist verräterisches Milchfett an uralten Scherben darauf hin, dass Käse schon lange vorher im heutigen Polen, auf den Britischen Inseln und, natürlich, in der jetzigen Schweiz gemacht wurde. Auch die nomadischen Hirten Afrikas stellen diese verträglichere und besser haltbare Version der Milch wohl schon seit Urzeiten her. Asien wurde nie wie Europa zu einem wahren Käsekontinent. Doch Käse machen auch hier Mongolen und Tibeter aus der Milch ihrer Yaks. In den Veden, den heiligen Schriften der Inder, ist möglicherweise bereits von Käse und pflanzlichen Gerinnungsenzymen die Rede. Der heute als Zutat in Currys beliebte Panir wird jedoch schlicht mit Zitronensaft oder saurem Essig eingedickt.
»Wie soll man ein Land regieren, in dem es 246 verschiedene Käsesorten gibt?«, hat sich angeblich schon der französische Staatsmann Charles de Gaulle gefragt. Ein großer Teil der europäischen Käsevielfalt entstand in mittelalterlichen Klöstern und auf adligen Landgütern. Hier konzentrierte man sich vor allem auf die Reifung von Käse, die nur ein paar Tage, aber auch durchaus mehrere Jahre dauern kann, und erschuf so einige der köstlichsten Stinker, die die Welt kennt. Heute spricht die große Käseenzyklopädie der englischen Universität Oxford, der Oxford Companion to Cheese, von etwa 1400 weltweit bekannten Käsesorten. Obwohl dick und schwer wie ein Käselaib, kann selbst das Standardwerk nur einen Bruchteil beschreiben. Den meisten Käse produzieren heute die USA, Land des Pizza-, Hamburger- und Sprühkäses, aber wie beim Bier inzwischen auch vieler »handgemachter« Sorten. Auf dem zweiten Platz folgt schon Deutschland, dann erst kommen Frankreich, Italien und noch hinter Russland die Niederlande.******** Insgesamt werden weltweit jedes Jahr mehr als 20 Millionen Tonnen des Lebensmittels produziert. Das ist eine Menge Käse.
******** Das kleine Käseland Schweiz schafft es zumindest in der Rangliste eines internationalen Essensmagazins nur auf Platz 23.
Wir scheinen den Ursprung dieser beliebten Köstlichkeit ja auch geklärt zu haben. Doch wie Leser, die sich mit dem Thema auskennen, sicher gemerkt haben, fehlt noch etwas. Wenn stehende Milch sauer und dick wird, so wie es vermutlich bei der Entdeckung des Käses war, dann sind dafür winzige Lebewesen verantwortlich, die wir eigentlich eher aus anderen Zusammenhängen kennen. Sie spielen nicht nur in dieser Phase eine wesentliche Rolle, sondern auch bei der Reifung von Käse und sogar bei seiner Verdauung. Sie sind es, die Milch in Käseform für laktoseinterolante Menschen verträglicher machen – und zugleich Ursache ihrer Beschwerden.
Um diesem Anfang aller Köstlichkeit auf den Grund zu gehen, genügt es jedoch nicht, wenn wir nur 400 000 Jahre in der Naturgeschichte zurückreisen wie beim Kaffee. Die betreffenden Lebewesen sind schon wesentlich älter als Pflanzen – und nicht nur diese, sondern auch wir haben ihnen außer Käse noch vieles andere zu verdanken. Die winzigen Organismen erscheinen bald nach dem Anfang allen irdischen Lebens, und um ihre Geschichte zu erzählen, müssen wir genau dorthin zurück: zu einer Zeit vor rund vier Milliarden Jahren.
Nachdem wir uns im ersten Kapitel wie beim Frühstück erst mal mit einem Kaffee gestärkt haben, geht es ab jetzt wie in einem wohlgeordneten Tagesablauf schön chronologisch weiter: von der Frühzeit der Natur- und Nahrungsgeschichte über das Erdmittelalter bis zur heutigen Zeit – bei der manche ja Angst haben, sie könnte schon den Abend einläuten.
Wir schwitzen im heißen Küchendampf der jungen Erde, jagen nach Krebsen und Fischen in den Urmeeren, kriechen mit hungrigen Lurchen an Land, kauen lustlos auf den ersten Farnen herum und stibitzen die Eier der Dinosaurier. Wir sammeln so große Pilze, dass sie in keine Pfanne passen, brechen uraltes Brot, streuen noch älteres Salz, pflücken die ersten Früchte und naschen vom ersten Honig. Noch lange vor der Entdeckung des Käses trinken wir den ersten Schluck Milch, nehmen den ersten Drink und noch heftigere Sachen. Schließlich steigen wir zu dem ungewöhnlichen Wesen auf, das wir sind: ein sich an allen halbwegs essbaren Erzeugnissen der Evolution gütlich tuender Allesfresser.
Schnallen Sie sich an. Nein, besser: Legen Sie sich eine Serviette auf den Schoß und nehmen Sie Messer und Gabel zur Hand. Oder binden Sie sich auch gerne eine Schürze um und machen den Herd an. Wir begeben uns auf eine kulinarische Zeitreise durch die Geschichte des Lebens.
Als die Erde und das Leben auf ihr entstehen, ist das Universum schon fast zehn Milliarden Jahre alt. Unzählige Sterne haben sich in dieser Zeit gebildet und sind wieder vergangen. In ihrem Innern haben sie die Elemente ausgebrütet, aus denen alles im Universum besteht, und in gewaltigen Explosionen übers All verteilt. Aus diesem Sternenstaub formiert sich unser Sonnensystem und unser Planet, auf dem es anfangs jedoch noch alles andere als lebensfreundlich zugeht. An der Oberfläche brodelt heißes Magma, in der Atmosphäre wabern stickige Gase, und ständig schlägt irgendwo ein Asteroid ein. Einer ist so groß, dass er vermutlich den Mond aus der Erde sprengt. Doch auch der besteht noch lange nicht, wie immer wieder gerne behauptet wird, aus Käse.
Die ungemütliche Frühphase der Erde wird Hadaikum genannt, nach dem griechischen Reich der Toten. Ob es in ihr wirklich die ganze Zeit so lebensfeindlich zuging, ist umstritten. Doch allgemein wird ihre Dauer auf gut eine halbe Milliarde Jahre angesetzt und ihr Ende auf rund vier Milliarden Jahre vor unserer Zeit. Bis dahin kühlt die Oberfläche der Erde ab, und auf ihrer dicken Hülle aus flüssigem Gestein formt sich eine feste Kruste. Der in der Atmosphäre gesammelte Wasserdampf kondensiert und wird zu Regen, sodass sich die ersten Meere bilden.
Einer beliebten Theorie zufolge ist hier das Leben entstanden. Früher stellte man sich dabei eine Ursuppe vor, in der einfache Bausteine des Lebens herumschwammen wie Buchstabennudeln. Die starke UV-Strahlung auf der frühen Erde oder ein Blitz wie bei Frankenstein hätten dann für den entscheidenden Funken gesorgt. Inzwischen glaubt man eher, dass das Leben auf dem Grund der Tiefsee seinen Anfang nahm, wo heute noch heiße Schlote ganze Ökosysteme mit chemischer Energie versorgen. Sie könnte auch die Reaktionen der ersten Lebensbausteine angeheizt haben, aus denen sich dann in den winzigen Gesteinsporen der Schlote die ersten Urzellen formten. Wie sämtliche heutigen Zellen bestanden sie schon aus den vier Grundstoffen allen Lebens und aller Nahrung, nämlich Eiweißen, Fettstoffen, Zuckern sowie Nukleinsäuren zum Speichern der Erbinformationen. Irgendwann verließen die Urzellen die unterseeische Molekularküche, wo ihre Nachkommen heute noch von giftigen Mineralausdünstungen leben, und eroberten als vermehrungsfreudige Mikroben die Meere.
Aus diesen Mikroben (sollten sie wirklich so entstanden sein) wurden irgendwann Bakterien sowie zumindest äußerlich sehr ähnliche Winzlinge, die früher Urbakterien hießen. Für ziemlich lange Zeit, nämlich etwa zwei Milliarden Jahre, bekamen sie wohl nichts viel Aufregenderes hin, als mattenartige Kolonien zu bilden, wie man sie heute noch an Tiefseeschloten und in seichten Buchten findet. Versteinerungen solcher Matten, in denen kokken- und fädchenförmige Bakterien eingeschlossen sein könnten, werden jedenfalls oft als die ersten Fossilien des frühen Lebens gehandelt. So richtig aufblühen sollten diese ältesten und kleinsten Organismen der Welt erst, als auch der Rest des Lebens entstand. Und genau dazu haben sie wohl auf ganz entscheidende Weise beigetragen.
Zum einen verursachten sie vor etwas mehr als zwei Milliarden Jahren die sogenannte Große Sauerstoffkatastrophe – die sich für uns und alle unsere Speisen als genau das Gegenteil herausstellte. Damals hatten im Meer lebende Bakterien, die bläuliche oder grüne Teppiche auf dem Wasser bilden und deshalb Blaualgen genannt werden, die Fotosynthese für sich entdeckt. Statt aus Tiefseeschloten oder in Meer und Buchten gefundenen Stoffen zogen sie ihre Betriebsenergie aus dem Licht der Sonne; so konnten sie Wasser und CO2 zu Zucker und Sauerstoff umbilden. Dieser Sauerstoff durchdrang nun immer mehr Atmosphäre und Ozeane, was für viele bisherige Mikroben Gift war, anderen aber einen Energieschub gab. Manche Forscher glauben sogar, dass erst so mehrzellige Lebewesen und die spätere Explosion des Lebens möglich wurden. Auch ein vor übermäßiger UV-Strahlung schützender Schirm aus Ozon wurde durch die Reaktionen des Sauerstoffs in der Atmosphäre aufgespannt.
Noch konkreter zur Entstehung von uns und allem, was heute auf unserem Teller landet, haben die frühen Bakterien wahrscheinlich auf andere Weise beigetragen. Irgendwann zu einer ähnlichen Zeit wie der wunderbaren Sauerstoffvermehrung nahm wohl eine »Urbakterie« eine Bakterie in sich auf. So bildeten sich die komplexer gebauten Zellen der sogenannten Eukaryoten, also sämtlicher heutiger Pflanzen, Pilze und Tiere (was uns mit einschließt). Tatsächlich scheint es sogar zweimal zu dieser folgenreichen Verbindung gekommen zu sein. Beim ersten Mal nahm eine bereits mit Zellkern ausgestattete Urbakterie eine Bakterie auf, die Nahrung mithilfe von Sauerstoff in Energie umwandelte und zum Vorfahren sämtlicher Mitochondrien wurde, also der winzigen Kraftwerke in den Zellen von Eukaryoten. Später verleibte sich ein so entstandener eukaryotischer Einzeller eine Blaualge ein, sprich eine der Fotosynthese betreibenden Bakterien, die den ganzen Sauerstoff überhaupt erst in die Luft bliesen. Aus diesem Bakterium wurden dann die kleinen grünen Chloroplasten in Pflanzenzellen und aus dem damit ausgestatteten Zweig der Eukaryoten alle heutigen Algen und Pflanzen. Indem sie Sonnenlicht in Energie umwandeln, bilden sie inzwischen auf ähnliche Weise die Grundlage der meisten Ökosysteme, wie es die Nachfahren der ersten Urzellen immer noch an den lichtlosen Schloten der Tiefsee tun.