Wolfsfluch - André Wiesler - E-Book

Wolfsfluch E-Book

André Wiesler

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Beschreibung

Düster, atmosphärisch, zeitumspannend

Ein uralter Orden, der epochale Veränderungen vorbereitet. Eine dunkle Verschwörung von Werwölfen und Hexen. Ein moderner Inquisitor auf der Suche nach der Wahrheit. Im furiosen Abschluss seiner Mystery-Trilogie lüftet der deutsche Starautor das große Geheimnis – denn das Schicksal des Inquisitors Georg, der im heutigen Deutschland die Fäden zusammenführt, ist auf unheimliche Weise mit dem des mittelalterlichen Hagen verwoben.

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Inhaltsverzeichnis
 
Das Buch
Widmung
WAS BISHER GESCHAH …
DRAMATIS PERSONAE
PRÄLUDIUM: RAST NACH LANGEM WEG
 
ERSTER TEIL: - DIE RUHE VOR DEM STURM
TRANSFORMATION
 
Copyright
HEYNE <
Das Buch
Im Jahr 2007 glaubt niemand mehr an Vampire, Werwölfe oder Hexen - ein böser Fehler! Denn Hagen von Stein, ein uralter Vampir und Herr einer großen Brut von Blutsaugern, hat mystische Pläne. Nicht nur sein Leben soll sich unwiederbringlich verändern, es ist ihm zudem gleichgültig, wie viel Blut dafür fließen muss. Nur der Inquisitor Georg von Vitzthum stellt sich ihm entgegen. Doch die Begegnung mit der finsteren Welt hat Folgen: Der Strudel übernatürlicher Ereignisse reißt ihn tief hinab, und plötzlich ist er einer von ihnen - einer, um dessen Seele sich die Teufel streiten. Welche Rolle spielt die mysteriöse Frau, die den Inquisitor immer stärker in ihren Bann zieht? Noch ahnt er nicht, dass sie ein Geheimnis hütet, das die Fundamente der Welt erzittern lassen wird …
 
Das fulminante Finale der großen Mystery-Reihe »Die Chroniken des Hagen von Stein«
 
DIE CHRONIKEN DES HAGEN VON STEIN
1. Roman: Hexenmacher
2. Roman: Teufelshatz
3. Roman: Wolfsfluch
Der Autor
André Wiesler, geboren 1974, machte sich nach seinem Studium der Literaturwissenschaften einen Namen als Autor von Shadowrun - und DSA-Romanen. Nach einer Karriere als Comedy-Autor für TV-Produktionen wie »RTL-Samstag Nacht« arbeitet er inzwischen als Übersetzer und leitet als Chefredakteur das Rollenspiel »LodlanD« sowie das Magazin Envoyer. André Wiesler lebt mit seiner Familie in Wuppertal.
 
Mehr zu Autor und Werk unter: www.andrewiesler.de und www.hagen-von-stein.de
Für Lorenz - eigentlich noch zu klein,um bereits so viele Herzen gänzlich auszufüllen
Morgens früh um sechskommt die kleine Hex’Morgens früh um siebenschabt sie gelbe RübenMorgens früh um achtwird Kaffee gemachtMorgens früh um neungeht sie in die ScheunMorgens früh um zehnholt sie Holz und Spän’Feuert an um elfkocht dann bis um zwölfKindlein zart und frischfür den Mittagstisch
 
frei nach »Die kleine Hex’«
WAS BISHER GESCHAH …

Anfang des 15. Jahrhunderts

Hagen von Stein wächst auf Burg Aichelberg als Ziehsohn der Fürstin zum jugendlichen Ritter heran. Dass er dabei sein Erbe als Wariwulf (Werwolf) geheim halten muss und stets mit dem eifersüchtigen Albrecht, dem leiblichen Sohn der Familie, aneinandergerät, macht sein Leben nicht leichter.
Die Rivalität der beiden setzt sich fort, als Hagen in den Dienst des Königs und späteren Kaisers Sigmund tritt und Albrecht zum treuen Gefährten von dessen Bruder Wenzel wird. Sie geht so weit, dass Albrecht am geplanten Hochzeitstag Hagens Braut tötet, woraufhin dieser Amok läuft. Um für die Morde, die er in der Raserei begangen hat, zu büßen, zieht sich Hagen in ein Kloster zurück, wo er die hellsichtige Ulda trifft. Zwischen ihnen entspinnen sich zarte Gefühle, doch Hagen muss erkennen, dass seine Aufgabe als Krieger Gottes darin besteht, zu kämpfen. Er schließt sich darum dem Johanniterorden an und tötet später Albrecht, um den Kaiser zu schützen.
Danach erkennt Hagen, dass er nur mit Ulda glücklich werden kann. Doch als er bei ihr eintrifft, ist sie vom Schmerz und den Einflüsterungen der bösartigen Amme Albrechts so verrückt, dass sie Hagen ohne dessen Wissen seinen eigenen Sohn, mit dem sie schwanger ging, als Mahl vorsetzt. Damit verstößt er gegen die achte Todsünde der Wariwulf und wird in einen Bletzer verwandelt, einen untoten Diener der Wariwulf. Allein sein treuer Freund Eberwin, selbst Bletzer und früher sein Diener, steht ihm in diesem schweren Schicksal bei.

Im 17. Jahrhundert

Zweihundert Jahre lebt Hagen nun schon als Bletzer und muss, seiner Meinung nach zu Unrecht, den Wariwulf dienen. Er weiß um die Geheimnisse der Bletzer, unter anderem, dass sie Blut trinken, um magische Macht über den Geist der Menschen zu erlangen. Und Hagen ist ein Meister der dunklen Kunst; aus dem heißblütigen und ungebildeten Ritter ist ein gelehrter Mystiker geworden.
Er nutzt die Unruhen des Dreißigjährigen Krieges und die Pest, um ein Ritual zu entwickeln, mit dessen Hilfe er gewöhnliche Menschen in untote Soldaten verwandeln kann. Als er sich mit der Hecetisse Anelma und ihrem Hexenzirkel zusammentut, ist ihm damit erstmals Erfolg beschieden. Sie erschaffen den Bluotvarwes Carteaumois, der in den kommenden Jahren Hagens treuer Diener werden soll. Es stellt sich jedoch heraus, dass Bluotvarwes sich mit zunehmender Existenz nur noch von Menschenblut ernähren können und tagsüber in eine Art Totenstarre verfallen.
Im Verborgenen bereitet Hagen einen Aufstand der Bletzer vor. Als er allen Werwölfen den Krieg erklärt, wendet sich sein treuer Freund Eberwin von ihm ab. Hagen bleibt mit Carteaumois und Emma Roser, der ersten weiblichen Bluotvarwes, als Gefährten zurück. Der Aufstand gelingt, die meisten Bletzer, die ihr Schicksal nicht als gerecht ansehen, werden befreit und vereinen sich unter Hagens Führung.
Anelma, die Hagen zur Seite stand und die er an die Inquisition verriet, wandelt sein Ritual ab, um aus Menschen Werwölfe zu machen, sogenannte Vargren. Diese schickt sie gegen Bletzer, Bluotvarwes und Wariwulf gleichermaßen aus, um sich zu rächen.
Hagen, der die Vargren als widernatürlich verabscheut, spürt Anelma auf und tötet sie. Das Geheimnis um die Erschaffung der Vargren ist jedoch schon verbreitet - und so wird es sie auch in Zukunft geben.

Deutschland im Jahre 2007

Georg von Vitzthum ist als Mitglied der Correctores Haereticorum, einer von der Inquisition gegründeten Organisation, auf der Jagd nach übernatürlichen Wesen. So sieht er es als großes Glück an, als er in den Besitz der »Chroniken des Hagen von Stein« gelangt. Hagen von Stein ist ihm als mächtiger Vampir bekannt, und Georg erhofft sich von dem Folianten wichtige Hinweise darauf, wie er zu besiegen ist.
Zusammen mit seinem Kollegen Rigel spürt er Hagens Schergen nach und wird schließlich, als man seine Eltern bedroht, von Carteaumois zu einem Treffen gezwungen. Die Correctores statten ihn mit einer heilenden Reliquie und einem Schwert aus, das sogar bei den heilkräftigen Werwölfen und Vampiren bleibende Wunden schlägt.
Carteaumois bietet Georg an, seinen Herrn Hagen auszuliefern, wenn er selbst dafür verschont wird. Georg lehnt ab und wird daraufhin von Dräger, dem Vargr-Schergen des Vampirs, angegriffen, kann ihn jedoch töten.
Georg ist überzeugt, dass Hagen etwas Großes plant, doch sein Chef sieht die zunehmende Zahl an Morden durch Bluotvarwes als dringlicher an. Nach einem Streit mit seinem Vorgesetzten macht Georg sich mit Rigel daran, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Dabei erlebt er eine magische Prophezeiung mit, die ihn zusammen mit der Überzeugung, dass es an ihm sei, ein großes Unheil zu verhindern, zu einer radikalen Tat treibt: Er trifft sich mit einem Hexer, um sich von diesem im Tausch gegen eine große Zahl an Kindheitserinnerungen die Gabe der Zukunftsschau verleihen zu lassen.
Als Georg von zwei Vargren angegriffen wird, rettet ihn die Hexe Lea, die Patentochter seines ehemaligen Kollegen Karl. Sie verlangt von ihm, Karls Mörder zu richten, den Vargr DeWulfen. Doch er lehnt ab, weil er sich auf von Stein konzentrieren will.
An Leas Seite, die sich körperlich und geistig mit ihn vereint, erlebt er eine Vision. Nachdem Lea verschwindet, folgt Georg den Hinweisen aus der Vision gemeinsam mit Rigel und findet heraus, dass Hagen von Stein offensichtlich seine heilige Weihe zum Werwolf wiederholen will. Doch dem Bletzer fehlt eine wichtige Reliquie, um diese Weihe zu vollziehen.
Als Georg verhindern will, dass sie in den Besitz von Hagens Schergen fällt, gerät er mit Emma und einem anderen Bluotvarwes aneinander. Lea taucht auf und rettet ihn erneut, stiehlt aber die Reliquie mit der Absicht, sie von Stein zu übergeben, wenn der sich bereit erklärt, DeWulfen zu töten.
Georg erlebt vor seinem Chef eine Vision und wird suspendiert, weil er sich mit einem Hexer eingelassen hat. Allein Rigel will ihm zur Seite stehen, doch der wird anderweitig eingesetzt.
Bei einem Whisky gegen den Frust erkennt Georg plötzlich, was Hagen von Stein vorhat: Er will den Bletzerfluch abstreifen und wieder zu einem sterblichen Wariwulf werden.
Aber warum?
DRAMATIS PERSONAE
Acheloos - Ein exzentrischer Seher, lebt in der Kanalisation von Köln
Carteaumois, Edgard Perceval Modeste - Vampirgefährte Hagen von Steins; erster Bluotvarwes; »Sohn« Hagens
DeWulfen, Frederik - Rudelführer der Vargren
Eberwin - Bletzer, ehemals treuer Freund und Gehilfe Hagens
Germann - Chef Georg von Vitzthums
Hagr (die Alte vom Wald) - Uralte Hagr, die Hagen von Stein zum Bletzer machte
Jasper - Computerexperte der Correctores Haereticorum
Karl - Verstorbener Kollege Georg von Vitzthums. Wurde von DeWulfen ermordet
Leandra Siegen - Eine Hagr, Patentochter Karls
Pater Liegnitz - Exorzist, Kollege Georg von Vitzthums
Rigel - Soldat der Inquisition, Kollege Georg von Vitzthums
Roser, Emma - Vampirgefährtin Hagen von Steins; erste weibliche Bluotvarwes; »Tochter« Hagens
Saal, Marie: Angehende Hexe
von Stein, Hagen - Ehemals Wariwulf und Johanniter-Ritter, nun Bletzer und Anführer der europäischen Blutsauger
von Vitzthum, Georg - Inquisitor, Mitglied der Correctores Haereticorum
Volpert, Melchior, Gerd von Grabhausen, Peter Staller, Jürgen Linsheimer, Jeronimus - Bletzer in den Diensten Hagen von Steins
Wernicke - Zwielichtiger Reliquienhändler mit magischen Fähigkeiten
PRÄLUDIUM: RAST NACH LANGEM WEG
Anno Domini 2007, in dem der Turmfalke Vogel des Jahres ist, die Stadt Mannheim 400 Jahre wird, Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt und das Rentenalter auf 67 Jahre angehoben wird.
 
 
 
Als sie die Einkaufstüten abstellte, hallte das Klirren der Milchflaschen darin durch das ausladende Treppenhaus. Es brach sich an den schmutzigen und mit Schmierereien bedeckten Wänden, bis es in den unendlich erscheinenden Höhen verklang wie die Erinnerung an ein freundliches Wort. Seufzend beugte sie sich vor und bog die rechte Hand mit der linken auf.
Mit vor Schmerz verzogenem Gesicht blickte sie auf die Finger, die aussahen wie borkige Äste. Die graue Haut warf faltige Wülste, und die beinahe kugelförmigen Gelenke ließen sich weder ganz beugen noch ganz strecken. Sie schüttelte den Kopf. Langsam, aber sicher versagte ihr der Körper den Dienst vollends.
»Es waren wohl ein paar Jahrhunderte zu viel«, murmelte sie in Richtung der blau-weiß gestreiften Plastiktüte, in der sich das bunte Gemüse beinahe obszön gesund ausnahm. Die krumme Hand im Rücken, richtete sie sich stöhnend auf und zog den Schlüsselbund aus der Tasche. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie im trüben Licht der unlängst eingeführten Energiesparlampen den Postkastenschlüssel fand.
Dann bog sie die Finger darum, als wären sie aus Plastik und Gummi gefertigte Prothesen. Einst waren diese Glieder geschmeidig gewesen, hatten mühelos komplizierte Gesten vollführt, die für die schwierigsten Segenssprüche nötig waren. Heute hingegen …
Sie hob die Hand und steckte zittrig den Schlüssel in das Schloss, das von der chromglänzenden Oberfläche des Kastens umgeben war. Das edle Material nahm sich in dem heruntergekommenen Hochhaus unpassend aus, aber die zunehmende Zahl an Kratzern, die sie darauf hinterließ, würden das bald behoben haben.
Endlich glitt der Schlüssel ins Schloss. RITA BEINHEIM stand auf dem kleinen Plastikschildchen, und für einen Augenblick dachte die Alte an jenes Mädchen zurück, dessen Namen sie sich ausgeliehen hatte. An die sanften Worte für eine alte Frau, das offene Lachen und die weichen Züge. Armes Ding. Sie hatte den Fluch der Hecetisse zu spät bemerkt …
Die Alte zog die glänzende Klappe des Briefkastens auf und entnahm ihm einen einsamen Werbeflyer. »Falten? Schon vier Wochen mit unserem Produkt können …«, las sie, dann entglitt ihr vor Lachen das bunt bedruckte Papier.
Der durchdringende, meckernde Laut füllte das Treppenhaus, und als ihr Blick auf ihre Spiegelung im Chrom fiel, wurde es eine Oktave schriller und doppelt so laut. Die Furchen in ihrem Gesicht waren so tief, dass selbst ihre Falten schon wieder eigene Falten hatten, und die ledrige Haut war so spröde und dünn geworden, dass sie beim seltenen Waschen Angst hatte, sie sich vom Fleisch zu reiben. Mit einem Schmatzen verlor ihr Gebiss den Kampf gegen die Haftcreme und rutschte ihr halb aus dem Mund. Zum Glück war ihre Zunge noch immer so schnell - und dem Vernehmen nach auch so scharf - wie früher, und so fing sie die porzellangelben Beißerchen ein und drückte sie wieder an ihren Platz.
Sie gab ihren alten, vertrockneten Lungen einen Augenblick Zeit, genug Luft für eine neuerliche Anstrengung zu sammeln, und beugte sich dann vor, um die Tüten wieder anzuheben.
Auch die Doppeltür des Fahrstuhls war aus Chrom, aber eine Reflexion sah sie darin nicht mehr. Zu viele Schichten an kunstlosen Buchstabengraffiti überlagerten sich auf der Oberfläche, und gleich einem Etikett auf einem billigen Kunstdruck klebte nun ein Schild darauf: AUSSER BETRIEB.
Die Alte seufzte erneut. Wie oft schon hatte sie sich in solchen Momenten gewünscht, die Legende mit dem Besen wäre wahr. Sie blickte zu den Stufen, seufzte erneut und schlurfte sodann zu ihnen hinüber.
Als sie die erste Stufe erreicht hatte, warf sie einen Blick den Schacht zwischen den gewundenen Treppenabsätzen hinauf zum schwarzen Deckenlicht in mehreren Dutzend Metern Höhe. Es war tatsächlich schon wieder Abend. Ein weiterer Tag vorbei.
Die Eingangstür öffnete sich, und ein junger Mann kam herein. Um seinen Hals baumelte eine lange, dicke Goldkette, die sie an die Prunkkette mittelalterlicher Bürgermeister erinnerte. Das Gold biss sich mit dem silbernen Totenkopf auf seinem T-Shirt, über dem das Wort ICH stand.
Die weißen Turnschuhe quietschten auf dem schmutzigen Boden, doch das Geräusch wurde von seinen lauten Worten übertönt: »Ja, Alter. You Tube!«
Sie stellte ihre Einkaufstaschen erneut ab und lächelte vorfreudig. Zumindest müsste sie die Einkäufe nicht selbst in den dritten Stock tragen.
»Alter, Arschficksong! Doch, voll konkret! Ich sag dir, das ist ultraporno!«, fuhr der Mann fort und strich sich mit einer Hand über den raspelkurz rasierten Schädel, während die andere das kleine schwarze Mobiltelefon an sein Ohr presste.
Die Alte war stolz darauf, dass sie sich an die neuen Zeiten recht gut angepasst hatte. Sie wusste, was ein Handy war, sie besaß einen Fernseher, und sie hatte sogar eine Ahnung, was sich hinter diesem Internet verbarg. Von Haftcreme und Kaffeemaschinen ganz zu schweigen.
Doch in den letzten Jahren war sie einfach nicht mehr mitgekommen, zumindest, was die Jugend und ihre Sprache anging. Sie blinzelte langsam und drang mühelos in den Geist des Mannes ein. Heutzutage schulten keine Gebete und keine strengen Regeln mehr die Selbstbeherrschung der Jugend, und so war es ihr ein Leichtes, sich der Gedanken des Burschen zu bemächtigen und ihm eine für ihn sehr ungewöhnliche Idee einzugeben.
»Ey, Alter, ich muss. Tschö«, sagte er nun und steckte das Handy in eine Tasche seiner viel zu tief hängenden Hose. »Ey, Alte, soll ich Taschen, oder was?«
»Das wäre zu freundlich. Dritter Stock, ganz durch, stell sie einfach vor der Tür ab!« Sie wies mit der verdorrten Hand nach oben, und der Junge zögerte kurz, blickte auf sie hinab. Sie war nie eine große Frau gewesen, aber im hohen Alter war sie zusammengeschrumpelt wie eine Weintraube in der Wüste.
»Na, mach schon«, sagte sie und stieß erneut in seinen Geist. Obwohl es eigentlich seiner Lebenseinstellung widersprach, ergriff der Kerl die Taschen und eilte mit schnellen Schritten die Stufen hinauf.
Die Alte folgte in deutlich gemessenerem Tempo. Nicht etwa, weil sie Zeit hatte - sie hatte noch einen Kuchen im Ofen -, sondern weil es nicht schneller ging. Ihre Knie beugten sich so widerstrebend wie der Geist eines Inquisitors, und ihr Atem rasselte bereits nach wenigen Stufen. Über ihr hörte sie ihren unfreiwilligen Tütenträger, der seine Aufgabe bereits erfüllt hatte, weiter zu seiner eigenen Wohnung hinaufsteigen.
Sie brauchte rund zehn Minuten, bis sie ihre Wohnungstür am Ende eines offenen Außenflurs erreichte, der zur einen Seite der Nacht Einlass bot, begegnete jedoch niemandem. Das war einer der Gründe gewesen, warum sie in dieses Haus gezogen war. Heute war es schwierig, sich einfach eine Hütte im Wald zu bauen. Irgendwann kam jemand und stellte Fragen, und wenn der verschwand, kamen weitere Leute und stellten noch mehr Fragen.
Aber das hier, eine Hochhaussiedlung in einem sogenannten sozialen Brennpunkt, war kaum schlechter. Obwohl sie von anderen umgeben war, war sie so einsam wie der letzte Mensch auf Erden. Niemand scherte sich hier, was mit dem Nachbarn passierte - die Leute hatten genug eigene Probleme und oft bereits so lang dagegen angesoffen, dass sie sich nicht mehr kümmern konnten, selbst wenn sie wollten.
Nur manchmal, wenn sie in all dem Selbstmitleid und der Isolation ein Kind entdeckte, das der Mühe wert war, griff sie ein. Eine zarte Seele, die zu Größerem berufen war, als es später den Eltern nachzumachen, die Arbeitslosengeld bezogen und Gewalt- oder Sexstreifen auf der Couch guckten, während ihre Kinder danebensaßen. Solchen ungeschliffenen Diamanten schaffte sie Raum. Und wenn dazu ein versoffener Vater, ein notgeiler Onkel oder eine verbitterte Mutter aus dem Weg geschafft werden musste, dann schlief sie deswegen sicher nicht schlechter.
Sie schob die Hand in die Tasche der dicken Winterjacke, welche die Kleiderlagen früherer Jahrhunderte abgelöst hatte, um den Schlüssel hervorzuholen, doch dann hielt sie inne. Etwas stimmte nicht … Sie lauschte in den Raum zwischen zwei Atemzügen, suchte nach einem Geist, der vorgab, nicht zu existieren.
Dann schlich sich ein trauriges Lächeln auf ihre faltigen Lippen, und sie zog die Hand wieder hervor. Die widerspenstigen Finger hatten noch keine Gelegenheit gehabt, sich um den Schlüssel zu schließen, aber das brauchten sie auch nicht. Mit einem Stoß ihrer abgewetzten Springerstiefel ließ sie die Tür aufschwingen.
Der etwas modrige Geruch geweihten Rosmarinsuds lag in der Luft. Sie trat in den kurzen Flur, ließ die Taschen achtlos vor der Tür stehen und blinzelte einige Male langsam. In den Sekundenbruchteilen, in denen die Wimpern bereits die Welt aussperrten, die Augen aber noch nicht geschlossen waren, sah sie die Schriftzeichen. Bannsprüche und heilige Symbole glommen kaum wahrnehmbar auf, wo sie mit dem Sud auf die Blumentapete geschrieben worden waren. Es waren alte Zeichen darunter, von denen sie einige selbst entwickelt hatte, aber auch neue, die an der kantigen, beinahe modernen Form erkennbar waren. Sie hätten sich gut in das Graffitigemisch auf der Fahrstuhltür eingepasst. Einige von ihnen, erkannte sie mit Verwunderung, waren sogar speziell auf sie angepasst. Er hatte sich wirklich Mühe gegeben.
Für einen Augenblick schienen die Zeichen vorzustreben und dabei die Wände des Flurs mit sich nehmen zu wollen. Das Braungrün der Tapete mit den verschlungenen Siebzigerjahreblüten wölbte sich auf die Alte zu, wollte sie zwischen sich zermahlen, wie man Dreck zwischen Daumen und Zeigefinger zerreibt.
Die Hagr zwang sich, tief durchzuatmen, wehrte sich nicht mehr. Sie ließ zu, dass die magischen Zeichen ihrer Macht unsichtbare Fesseln anlegten, nahm das Einschneiden in ihren Geist hin.
In der Küche klimperte eine Tasse, und das Nachhallen des Porzellans schien lauter als der Straßenlärm, der durch die noch immer offen stehende Tür hereindrang. Mit einem Seufzen schloss die Alte sie, hakte einen langen, gelblich verhornten Fingernagel in die große Lasche des Jackenreißverschlusses ein und zog ihn auf. Erst als sie die Jacke auf den dicken Knauf der alten Holzgarderobe geschoben, ächzend die knorrigen Füße aus den Stiefeln gezogen und in rosa Plüschpantoffeln gesteckt hatte, wandte sie sich der Küche zu.
Er saß auf einem der beiden wackeligen Stühle am Tisch, erhob sich nun sogar, als sie den Raum betrat. Er war bleicher als beim letzten Mal, hatte sein Erbe nun vollends angenommen. Und wie groß er war. Sein anziehendes Gesicht verschwand beinahe hinter der Lampe, die zu hoch hing, als dass sie die Birne allein hätte auswechseln können.
»Hast du das nötig?«, fragte sie ihn und wies hinter sich in Richtung Flur.
»Ich habe gelernt, vorsichtig zu sein«, sagte er, und seine Stimme war so volltönend und voller Leben, dass sie nicht zu einem Bletzer passen wollte. »Gerade bei dir.«
In einer Geste, die zu theatralisch war, um unwillkürlich zu sein, fasste er sich ans Herz.
Die Alte nickte und setzte sich auf den anderen Stuhl. Zwischen ihnen standen der Kuchen, noch dampfend, auf einem hölzernen Frühstücksbrett, und ein Dutzend pechschwarzer Tulpen in einer Porzellanvase. Die Backform des Kuchens lag in der kleinen Spüle, deren Silber von unzähligen Tinkturen und Suden verfärbt und von den schweren Bronzetöpfen zerkratzt war, die man auf der Herdplatte kaum heiß bekam.
»Ich war so frei«, sagte er, als er ihren Blick bemerkte, und setzte sich ebenfalls wieder.
»Einmal Diener, immer Diener, hm?«, sagte sie und lachte gehässig auf, als sich sein Gesicht kurz verfinsterte. »Ach, ich erinnere mich noch daran, dass du einmal Humor hattest.«
»Der ist mit dem Rest gestorben«, sagte ihr unheilvoller Gast, doch dann zuckte sein Mundwinkel kurz, und er hob die billige, verzogene Thermoskanne an, die neben seiner Tasse stand. »Kaffee?«
Die Hagr nickte. »Warum nicht.« Sie schob ihre Tasse ein Stück vor und sagte: »Halt!«, als er sie zur Hälfte mit tiefschwarzer Flüssigkeit gefüllt hatte. Den Rest füllte sie mit Zucker auf und rührte klirrend einige Male um.
Sie blickte auf, als sie seinen Blick auf ihrem Gesicht spürte. »Ich habe dich schon vor hundert Jahren erwartet …«
»Ich hatte Wichtigeres zu tun«, sagte er.
»Unfug, Schiss in der Buxe hast du gehabt!«, erwiderte sie, nahm die Tasse von der Untertasse und goss einen Schluck Kaffee darauf. »Hast geglaubt, ich würde den Dorn tanzen lassen.« Sie wies auf seine Brust, dann blies sie auf die Kaffeepfütze und schlürfte sie genüsslich ein. Das Gebräu war stark und so süß, dass es fast Fäden zog - so, wie sie es mochte.
Einen Augenblick musterte er sie, die kantigen Gesichtszüge ernst, nachdenklich. Dann schmunzelte er kurz und wischte sich Strähnen des schulterlangen dunklen Haars aus dem Gesicht. »Möglich.«
Sie senkte die Untertasse und blickte nun ihrerseits nachdenklich zu ihm auf; dabei musste sie den Kopf leicht drehen, denn ihr krummer Rücken erlaubte derart große Bewegungen nicht mehr. Sein Eingeständnis wunderte sie. Der große König der Bletzer, Herr über all die - zumindest hierzulande -, die man Vampire nannte, gestand ihr seine Schwäche?
»Aber jetzt bin ich hier«, sagte er, und die Drohung in seiner Stimme war unüberhörbar.
»Es wird auch Zeit«, sagte sie, lehnte sich zur Seite und zog eine Schublade der Einbauküche heraus, um ihr ein großes Messer zu entnehmen. Die Oberfläche der Platte war einmal, vor vielen Jahrzehnten, blass orange gewesen. Jetzt wirkte sie durch unzählige Flecken beinahe wie die Haut einer Rothaarigen, die zu lang in der Sonne geblieben war. »Ich bin es langsam leid!«
Mit einer schnellen Bewegung hackte sie mit dem Messer zu, trennte ein dickes Stück vom Nusskuchen ab und dann ein weiteres. Er zuckte mit keiner Wimper. Eine einfache Klinge hatte ihm noch nie gefährlich werden können, nicht heute, als Bletzer, und erst recht nicht damals, als Wariwulf. War es wirklich schon so lange her, dass sie sein Leben beendet hatte? Beinahe sechshundert Jahre?
»Na, nimm schon!«, wies sie ihn an. »Oder säufst auch du nur noch Blut?«
Er schüttelte den Kopf, doch ein Funke in seinen Augen machte sie neugierig. Es mochte Verärgerung sein, aber vielleicht auch Reue oder gar Gier.
Ohne nachzudenken, tat sie, was sie stets getan hatte, wenn sie ein Geheimnis lockte. Sie sandte den Geist aus, drängte durch das matte Gespinst der offensichtlichen Gedanken und … traf auf eine Mauer, über Jahrhunderte gewachsen und wie alte Weinreben verflochten.
Ihr Besucher kniff die Augen zusammen, ballte die auf dem Tisch liegenden Hände zu Fäusten, doch jetzt war der Ehrgeiz der Alten geweckt. Es konnte nicht angehen, dass so ein Bursche sie aussperrte. Mit einem tiefen Atemzug tauchte sie tiefer in ihr Inneres ein, zog, einer herannahenden Welle gleich, Kraft aus dem Angriff, türmte die Macht auf, um sie gegen die Abwehr des Mannes anbranden zu lassen.
Der Ansturm baute sich auf, schwoll an, wie ein lauter werdender Ton. Mit einem Mal begannen die Tassen auf dem Tisch zu klirren, dann sogar das Geschirr im Schrank. Wie zum Marsch spielte die zitternde Küche auf.
Doch schließlich sackte der Fuß ihres Turmes weg, war der Vorrat erschöpft, bevor die Alte die Lanze aus geistiger Energie durch den Schild des Gegners rammen konnte, und die Kraft rieselte wie trockener Sand daran herab.
»Du hast viel gelernt«, stellte sie schwer atmend fest. Ein unwilliges Schnalzen löste sich von ihrer Zunge. Als sie wieder zu Atem gekommen war, machte sie eine wegwerfende Handbewegung und stand auf, um zwei Teller zu holen und auf den Tisch zu stellen.
In der unendlich scheinenden Zeit, die ihr alter Körper für diese Handlung brauchte, hob der Leichnam an ihrem Tisch verstohlen die Hand, um sich an die Schläfe zu fassen.
»Ha!«, rief sie. »Das habe ich gesehen.«
Ihr Gast zuckte mit den breiten Schultern und sagte ruhig: »Du warst eine der Besten.«
»Warst, hm?« Sie legte auf jeden Teller ein Stück Kuchen und schob ihm einen zu. »Iss! Dann ist es auf zweierlei Weise ein Leichenschmaus.«
Der Bletzer nickte, brach mit sauberen Fingern, an denen manikürte Fingernägel beinahe perlmuttern schimmerten, ein Stück Kuchen ab und steckte es sich in den Mund.
»Warum jetzt?«, fragte sie und kicherte leise, als sie auf ihre eigenen Fingernägel sah, die sich wie Maulwurfskrallen in das Gebäck gruben. Sie goss sich noch etwas Kaffee auf die Untertasse und weichte den hellen Kuchen darin ein.
Ihr Gast schluckte und sagte, beinahe entschuldigend: »Ich will nicht, dass du mir wieder in die Quere kommst.«
Sie stopfte sich den Kuchenbrei in den Mund. »Ist mir gut gelungen«, meinte sie selbstzufrieden.
»Ja«, stimmte er ihr zu.
Sie blickte ihn schelmisch an. »Ich meinte den Kuchen.«
»Ich auch«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen.
Sie hätte ihm gern erklärt, dass sie nur getan hatte, was nötig gewesen war, um die Gesellschaft der Übernatürlichen zu schützen, um die göttliche Ordnung aufrechtzuerhalten, aber er hätte es nicht verstanden. Und sie wollte nicht den Eindruck erwecken, um ihr Leben zu feilschen.
»Und was ist es diesmal?«, fragte sie. »Ruhm? Macht? Freiheit - weiß der Henker, was du damit anfangen wolltest. Es ist doch wohl nicht Reichtum, oder? Dann wäre ich sehr enttäuscht.«
Er schob den Teller von sich und griff in die Tasche seiner Anzugweste, um eine Taschenuhr hervorzuholen.
»Nichts dergleichen«, sagte er, als er sie aufschnappen ließ und einen prüfenden Blick darauf warf.
»Sondern?«, wollte sie wissen und schlürfte den von Kuchenkrümeln sandig gewordenen Kaffee aus der Untertasse.
Er erhob sich. »Dein Chronometer geht falsch.« Mit zwei Schritten war er bei der billigen roten Plastikuhr, die an einem Nagel an der Wand hing, und stellte sie richtig. Als er sich ihr wieder zuwandte, flackerte das Licht der Küchenlampe.
Ein mattes Gefühl sickerte in ihr Herz, ließ die ohnehin starren Glieder taub werden, und sie erkannte, dass es die Angst vor dem Tod war. »Alte Närrin«, schalt sie sich flüsternd, doch sie brachte es nicht über sich, den Bletzer anzusehen. Ihr Blick fand das blassblaue, verwaschene Muster der Tischdecke, glitt daran entlang, bis er auf die mattroséfarbenen Blüten der Vase und dann auf die schwarzen Tulpen darin traf. Totenblumen.
»Ich dachte, es sei unmöglich, gänzlich schwarze Tulpen zu züchten«, sagte sie, auch um sich selbst abzulenken, und erschrak, wie matt und brüchig ihre Stimme klang. Die Stimme einer alten Frau …
Sie hatte geglaubt, auf den Tod vorbereitet zu sein, ihn manchmal sogar herbeigesehnt. Doch jetzt, wo er in so adretter Form vor ihr stand, wollte sie lieber doch noch ein oder zwei Jahrhunderte dranhängen. Hast du Angst vor dem Tod oder vor dem Sterben?, fragte sie sich, konnte die Frage aber nicht beantworten.
»Für mich ist nichts unmöglich«, sagte ihr Gast und legte die Hände an die Seiten ihres Kopfes. Das Flackern der Birne wurde stärker, und nun gesellte sich ein elektrisches Summen hinzu, das dumpfer wurde, als sich die weichen Hände des Mannes über ihre Ohren legten.
»Halt«, sagte sie, und gehorsam senkte er die Hände wieder. Sie stand auf und holte zwei weitere Teller aus dem Schrank, stellte sie auf die Anrichte und legte silberne Kuchengabeln darauf. »Für unerwartete Gäste«, erklärte sie und nahm wieder Platz.
Als wäre dies die letzte wichtige Aufgabe in ihrem Leben gewesen, spürte sie eine betäubende Ruhe einkehren. Eintausend Jahre waren wirklich genug. »Ich bin bereit.«
Die Hände glitten wieder an ihren Kopf, kühl und matt wie Nebel in der Nacht. Die Angst nahm zu, und mit ihr kam eine Erkenntnis, die so sicher, so unverrückbar war, wie der Morgen auf die Nacht folgte. »Du wirst mir in Kürze folgen«, sagte sie, und ihre Stimme war wieder fest und bestimmt. Sie war eine Hagr und keine siechende Großmutter!
»Das glaube ich kaum«, sagte der Bletzer und brach ihr mit einem Ruck das Genick. Ein scharfer Schmerz durchzuckte sie, und mit einem lauten Knall barst die Birne über dem Tisch. Kurz sah sie, den Kopf nach hinten gedreht, sein beinahe mitfühlendes Gesicht, dann endete der Schmerz … endete alles. Die Alte aus dem Wald war nicht mehr.
ERSTER TEIL:
DIE RUHE VOR DEM STURM
Anno Domini 2007, in dem das Live-Earth-Konzert auf allen sieben Kontinenten stattfindet, die Blauzungenkrankheit sich in Deutschland ausbreitet, Zehntausende buddhistische Mönche in Burma demonstrieren und das Grab Herodes’ des Großen gefunden wird.
TRANSFORMATION
Natürlich!«, rief Georg, sprang auf, warf einen Fünfziger auf die Theke und nahm seinen Mantel. »Kommen Sie!«
Die Kneipe war mehr als gut gefüllt, weshalb neben dem Eingang einige Nachtschwärmer standen und darauf warteten, dass Plätze frei wurden. Einer von ihnen, ein gedrungener Mann mit großem Kopf und wenig kleidsamer Lederweste, machte einen erwartungsvollen Schritt vor, blieb dann aber stehen, als er sah, dass Georgs Begleiter sich nicht erhob.
Rigel sah Georg skeptisch an und nippte zum ersten Mal an seinem Whisky.
»Kommen Sie schon! Ich weiß, was er vorhat.«
Rigel machte immer noch keine Anstalten aufzustehen. Offensichtlich hatte Georg mit dem letzten Vertrauensvorschuss sein Konto an die Dispogrenze gebracht. Er trat nah an seinen leicht nach Whisky riechenden Kollegen heran und sagte leise: »Hagen von Stein will wieder zum Wariwulf werden!«
Der Soldat der Correctores Haereticorum blickte zu ihm auf; im Halbdunkel der Kneipe schienen seine blauen Augen von einem Eigenleuchten erfüllt zu sein. Der große Mann saß noch immer in sich zusammengesunken da und hatte ihm nur den Kopf zugedreht, aber auch so waren die breiten Schultern und die muskulöse Gestalt des durchtrainierten Nahkämpfers nicht zu übersehen.
»Kommen Sie schon«, drängte Georg und widerstand nur mühsam dem Drang, Rigel an der Schulter vom Barhocker zu ziehen. »Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe?«
»Doch«, gab Rigel zurück, und seine raue Stimme fräste sich wie ein Diamantbohrer durch den Klangteppich aus sanften Jazztönen und dem Hintergrundgemurmel der anderen Gäste. Hinter einem der Holzgitter, mit denen einige Nischen vom terrassenartig angelegten Hauptraum der Kneipe abgegrenzt waren, erklang lautes, beinahe hysterisch klingendes Gelächter, das Georgs Gedanken treffend untermalte.
»Und worauf warten Sie dann?«, fragte er ungläubig. Endlich ergab alles einen Sinn, und Rigel saß stoisch und ungerührt da wie eine Statue.
Der Soldat seufzte, schob das Glas von sich und drehte sich im Sitzen zu ihm um. »Darauf, dass Sie mir erklären, wo Sie jetzt hinwollen.« Die weißen Pflaster auf seiner rechten Wange wiesen noch deutlich auf ihre Begegnung mit der russischen Hecetisse hin, die ihm die tiefen Schnitte verpasst hatte, den Tag, an dem Rigels eiserner Geist so weit verbogen worden war, dass er auf Georg geschossen hatte.
Georg öffnete den Mund, um zu antworten, klappte ihn dann aber wieder zu, als er erkennen musste, dass er keine Ahnung hatte. Vielleicht hatte er in die Zentrale fahren wollen, um Nachforschungen anzustellen, aber das ging natürlich nicht. Immerhin war er bis auf Weiteres suspendiert.
»Blinder Aktionismus hat Ihnen in letzter Zeit keine wirklich guten Dienste geleistet«, sagte Rigel, drehte sich wieder der Theke zu und klopfte mit der riesigen Hand auf den Hocker neben sich.
Georg betrachtete seine Reflexion im Spiegel. Er wirkte deutlich entspannter, als er sich fühlte. Der Dreitagebart ließ sein Gesicht kantiger erscheinen, und zusammen mit dem legeren dunklen Jackett, dem weißen Hemd und der schwarzen Hose wirkte er wie ein Club-Gänger, der sich hier auf das Nachtleben einstimmen wollte. Den Krieger für die Sache des Guten sah man ihm auf jeden Fall nicht auf den ersten Blick an.
Er ließ sich wieder auf den Hocker sinken und schüttelte amüsiert den Kopf, als ihm auffiel, wie klein und beinahe zierlich er sich neben dem muskulösen Kerlinger ausnahm, dessen kurz geschorenes Haar ihn noch martialischer wirken ließ. Dabei war er selbst nicht unsportlich, hatte zeitweise sogar sichtbar Bauchmuskeln aufzuweisen gehabt - natürlich vor dieser ganzen Sache und dem damit verbundenen Stress. Auch die dunklen Augenringe, die sich seiner braunen Augenfarbe anzupassen schienen, ließen ihn nicht eben fit erscheinen.
»Also?«, sagte Rigel und nippte erneut an seinem Whisky, wobei die Adern an seiner Hand und dem Unterarm wie Flüsse auf einer Landkarte wirkten.
Georg nahm den Fünfziger wieder an sich, steckte ihn unachtsam in die Innentasche seines Jacketts und winkte der Bedienung. Als die Frau mit dem dreifarbig blondierten Haar herankam und fragend auf das Whiskyglas wies, schüttelte er den Kopf.
»Eine Cola«, bestellte er stattdessen. Er musste so nüchtern bleiben, wie es nach drei Gläsern Whisky möglich war. Wer wusste, was heute Nacht noch geschah. Sein Blick fiel auf die steinharten Brustmuskeln seines Kollegen, und er setzte hinzu: »Light!«
Die Bedienung nickte und wandte sich ab.
»Einzelheiten«, hakte Rigel nach und schmirgelte seine angegriffenen Stimmbänder mit einem weiteren Schluck aus seinem Glas.
»Ich bin immer wieder von der Fülle Ihres Wortschatzes verblüfft«, sagte Georg, doch Rigels Mundwinkel blieben wie festgetackert an Ort und Stelle. Nur eine Augenbraue erlaubte sich einen ungewöhnlichen Gefühlsausbruch und wanderte einige Millimeter nach oben.
»Es passt alles zusammen.« Georg dämpfte die Stimme. »Hagen von Stein will seine Weihe zum Wariwulf nachstellen, und wenn die Prophezeiung der Frau aus dem Henoth stimmt …«
»Wovon wir ausgehen, weil Sie selbst so umfangreiche Erfahrungen mit übernatürlicher Wahrnehmung haben?«, fragte Rigel, und es war nicht erkennbar, wie er es meinte.
Georg zuckte mit den Achseln. Er hatte nicht vor, sich auf eine Diskussion darüber einzulassen, ob es eine gute Idee gewesen war, sich an Acheloos zu wenden. Der seltsame Hexer, der in der Kanalisation lebte, hatte ihm im Austausch für einen Großteil seiner Kindheitserinnerungen die Gabe geschenkt, in die Zukunft zu sehen.
Georg erschauderte bei der Erinnerung daran, wie der Mann ihm in einem widerwärtigen Kuss große Teile seiner Jugend aus dem Leib gesaugt und dafür - einem degenerierten Geier ähnlich, der seine Jungen fütterte - die Gabe der Hellsicht in ihn gespien hatte.
Es gab jedoch keine Zweifel: Bisher hatten diese Visionen ihm gute Dienste geleistet. Sie hatten aber auch dafür gesorgt, dass er bei den Korrektoren fürs Erste zur Persona non grata geworden war; sein Chef war von dem Gedanken, dass Georg einen mächtigen Hexer in sein Hirn gelassen hatte, nicht eben begeistert.
Georg wischte Rigels Einwand mit einer Geste fort und sagte: »Sie sprach von einem durstigen Fürst, damit ist eindeutig von Stein gemeint. Ein unendliches Leben wird endlich - er will seinen Bletzer-Fluch abstreifen und wieder zum Wariwulf werden! Und zwar schon in einer Woche.«
Rigel warf ihm über den Spiegel hinter der Theke einen Blick zu, der nur mit viel Wohlwollen als fragend durchging. Georg antwortete trotzdem. »Fünfundzwanzig von drei - fünfundzwanzigster März.«
»Nächsten Sonntag«, sagte Rigel, als die Bedienung die Cola vor Georg abstellte.
Georg ergriff das vom Kondenswasser feuchte Glas und stürzte die kühle Flüssigkeit herunter. Sein Mund war mit einem Mal wie ausgetrocknet. Er wies stumm auf das Glas, und die Bedienung wandte sich ab, um ihm eine weitere Cola zu holen.
»Und wie kommen Sie auf die Weihe?«, fragte Rigel und ließ den Kopf kreisen. In seinem breiten Nacken knackte es laut.
»Wissen Sie, wie eine Weihe zum Wariwulf abläuft?«
Rigel schüttelte den Kopf. »Theorie war noch nie meine Stärke.«
»Mit so einer Weihe wurden - und vermutlich auch: werden - die Wariwulf in die Gemeinschaft Gottes aufgenommen.«
»Pah!«, machte Rigel, und Georg konnte es ihm nachfühlen. Die Wariwulf mochten sich als der Gemeinde Christi angehörig fühlen, aber der Vatikan sah das wegen all ihrer Morde und dunklen Machenschaften anders. Also sahen es auch die Korrektoren anders und somit - von Amts wegen - ebenso Rigel und er.
Es gab Krieg an vier Fronten, wo sich mehr oder weniger allesamt gegenseitig bekämpften: Wariwulf, Vargren, Korrektoren sowie Bletzer und Bluotvarwes. Und dann gab es noch Splittergruppen, wie die Dienestbietære, den Wariwulf treu ergebene Bletzer; Vargren, die mit den Blutsaugern gemeinsame Sache machten; eine Gruppe von Korrektoren, die den Anspruch der Wariwulf anerkannten, Krieger Gottes zu sein. Dazu kamen die Hagren und Hecetissen, die sich gegenseitig bekriegten, aber auch jede der anderen Parteien mal unterstützten und mal behinderten. Und in jeder Schlacht wurde das Blut Unschuldiger vergossen.
Georg verscheuchte diese trüben Gedanken, nahm dankend seine zweite Cola entgegen und fuhr fort, als die Frau hinter der Theke sich wieder anderen Gästen zugewandt hatte. »Die Weihe ist Teil eines Gottesdienstes. Im Offertium wird das Blut der anwesenden Wariwulf gesammelt und gesegnet.«
»Darum hat er die Nachfahren der Wariwulf, die damals anwesend waren, ausbluten lassen«, schloss Rigel.
»Genau. Mit diesem Blut werden dann heilige Zeichen auf die Brust des Anwärters gemalt, die in seinen Körper übergehen. Eine Mischung aus christlicher Symbolik und wüstem Heidenbrauch.«
Ein leises Klicken neben ihnen machte Georg auf die Trinkerin aufmerksam, die ihm vor Kurzem noch Avancen gemacht hatte. Sie versuchte erneut, mit ihrem defekten Feuerzeug eine Zigarette anzuzünden. Diesmal aber kam die Hilfe von ihrer anderen Seite, wo sich unterdessen ein deutlich älterer Mann in Pullunder und Kordhose niedergelassen hatte.
Wir sind nicht allein, erinnerte sich Georg und sprach noch leiser: »Demnach fehlte ihm nur noch die Reliquie, die damals Verwendung fand, um den Gottesdienst besonders zu heiligen.«
»Und die haben Sie sich abknöpfen lassen.« Rigels Stimme enthielt keinen Vorwurf. Das war auch nicht nötig, Georg machte sich selbst schon genug davon. Er hoffte noch immer, dass die Hexe Lea, die ihm die Reliquie vor der Nase weggeschnappt hatte, ihre Drohung nicht wahr machen würde, sie von Stein zu übergeben. Aber die Hoffnung war nicht groß, denn er konnte nur zu gut nachvollziehen, was sie antrieb. Ihr geliebter Patenonkel Karl war von DeWulfen, dem Anführer der Vargren, in Stücke gerissen worden. Und für sie musste es so aussehen, als unternähmen die Korrektoren nicht das Geringste in dieser Angelegenheit. Darum wollte sie sich mit der Reliquie jetzt die Hilfe des mächtigen Bletzers sichern, damit dieser den Vargr tötete.
Karl war Georgs Freund und Mentor gewesen, und auch er wollte DeWulfen am liebsten tot sehen. Aber es war ihm auch klar, dass DeWulfen und von Stein sich im direkten Vergleich zueinander verhielten wie Heuschnupfen und Cholera.
Rigel räusperte sich und riss Georg damit aus seinen Gedanken. »Wie dem auch sei«, fuhr er fort, »jetzt hat er möglicherweise alles, was er braucht.«
»Sie haben sich eine wichtige Frage noch nicht gestellt«, sagte Rigel. Die Bedienung stellte eine Schale mit Nüssen auf den Tresen. Rigel leerte sie mit einem Griff zur Hälfte und warf sich die gesalzenen Erdnüsse in den Mund.
Georg wartete ungeduldig. Schließlich fragte er: »Und welche?«
»Warum?«, meinte der Soldat.
Georg lehnte sich zurück, erinnerte sich im letzten Augenblick daran, dass er auf einem Hocker ohne Lehne saß, und richtete sich wieder auf. Das war eine verdammt gute Frage. Warum wollte der Bletzerkönig, der unangefochtene Herr über alle Blutsauger im Land und ein gutes Stück darüber hinaus, sein unsterbliches Leben aufgeben und wieder zum sterblichen Wariwulf werden?
»Wenn wir das wissen, wissen wir auch, ob wir etwas unternehmen müssen«, sagte Rigel und ließ weitere Nüsse in seinem Mund verschwinden. Seine hellen Augen zuckten zur Seite, um im Spiegel eine Gruppe junger Leute zu mustern, die ausgelassen zur Tür hereinkamen.
»Natürlich müssen wir etwas unternehmen«, sagte Georg.
»Mir ist es nur recht, wenn er zum Werwolf wird. Dann kann er mir wenigstens nicht im Kopf herumfuhrwerken.« Rigels Blick verfolgte die Gruppe weiter, die sich nun an einem der Tische im hinteren Bereich der Kneipe niederließ, der offenbar für sie reserviert worden war. »Und er stirbt in ein paar Jahrzehnten von ganz allein.«
Georg schüttelte den Kopf. Was immer von Stein vorhatte, es war sicher nichts, worüber sich die Korrektoren freuen würden.
Georgs Handy tschilpte zweimal kurz und kündigte damit eine neue Textnachricht an. Er zog es aus der Tasche, blickte darauf und runzelte die Stirn. Das Display war schwarz, doch dann bildeten sich schimmernd weiße Buchstaben, die wie aus schlammigem Wasser auftauchten. Sie formten eine Adresse und versanken dann wieder. Neue Buchstaben tauchten auf: »Die Alte vom Wald ist tot«, stand kurz da zu lesen, dann piepte das Handy erneut, und mit jäher Helligkeit flammte das Logo des Netzanbieters auf.
Georg schüttelte den Kopf und rief die Liste der eingegangenen SMS auf. Sie enthielt keine neuen Einträge.
»Etwas Wichtiges?«, fragte Rigel, aber Georg hob abwehrend die Hand, öffnete eine neue SMS und tippte die Adresse aus dem Gedächtnis ein, bevor er sie vergaß.
Dann sagte er: »Irgendjemand hat uns eine Adresse geschickt.«
»Eine Falle«, vermutete Rigel, stand trotzdem auf, und als Georg ihn verwundert ansah, sagte er mit einem schmalen Lächeln: »Es ist keine Falle mehr, wenn man weiß, dass es eine Falle ist.«
Komische Logik, dachte Georg, legte den zerknitterten Fünfziger wieder auf die Theke und folgte dem Soldaten zur Tür.
 
Während Rigel den Mercedes mit wie üblich stark überhöhter Geschwindigkeit über die spärlich befahrene Autobahn steuerte, zog Georg sein Handy hervor und wählte die Nummer der Zentrale.
Es bedurfte zahlreicher Bestätigungen durch Rigel und sogar durch Germann, bis man ihn endlich durchstellte. Dann dauerte es weitere Minuten, bis der Abt des Klosters das offensichtlich kabellose Telefon bis zu Georgs Vater getragen hatte. So viel zum Armutsgelübde.
»Was hast du dir dabei gedacht?«, waren die ersten Worte Friedmund von Vitzthums, Korrektor a.D.
»Ich habe erfahren, dass es doch nicht blind macht«, sagte Georg und bemerkte zu spät, dass er in die über mehr als dreißig Jahre kultivierte Gewohnheit verfiel, seinem Vater mit Sarkasmus zu begegnen. Humor war etwas, dass Friedmund von Vitzthum nur in sehr kleinen Dosen genoss, und darum hatte Georg den Witz, wenn auch in der bittersten Form, freudig in sein Leben geholt, um sich von ihm abzugrenzen.
»Bitte?«, fragte der Mann auf der anderen Seite und legte die Strenge in seine Stimme, die Georg schon seit einem Jahrzehnt nicht mehr wirklich beeindruckte, sondern nur noch wütend werden ließ.
»Geht es euch gut?«, fragte er mühsam beherrscht.
»Das müsste ich wohl eher dich fragen.«
Georg war davon überzeugt, dass sein Vater sich wirklich Sorgen um ihn machte, auch wenn seine Worte eher wie ein Vorwurf klangen.
»Mir geht es gut«, sagte er darum.
»Deine Mutter war außer sich vor Sorge. Sie hat die Karten gelegt, aber sie waren nicht eindeutig.«
Georg schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Lassen die Mönche solche heidnischen Bräuche denn in ihren heiligen Hallen zu?«
Seine Mutter war eine der ersten deutschen Wissenschaftlerinnen gewesen, die sich ernsthaft mit den Parawissenschaften befasst hatten. Lange Zeit ohne Erfolg, bis sie auf die Spur einer echten Hecetisse gestoßen war. Sein Vater hatte ihr das Leben gerettet und ihr eine Welt voller übernatürlicher Wunder offenbart.
Es zeugte von der Willensstärke und Flexibilität seiner Mutter, dass sie Hexen, Vampire, Werwölfe, Flüche, Visionen und Schutzzeichen mühelos in ihr Weltbild eingebaut hatte
»Ich würde es ihnen nicht unter die Nase reiben«, beantwortete sein Vater Georgs Frage, und dieser hörte das Lächeln heraus. »Aber du weißt, deine Mutter hat damit schon …«
»Beachtliche Erfolge erzielt«, vollendete Georg den Satz. Seine Mutter hatte natürlich über die Welt hinter dem Spiegel nichts veröffentlichen dürfen, hatte aber im Rahmen kirchlicher Organisationen forschen können und sich nicht zuletzt seinen Vater im Gegenzug geangelt.
Georg hatte immer gedacht, seine Mutter wäre ein wenig über das Ziel hinausgeschossen, weil sie an das Tarotkartenlegen und Aus-der-Hand-Lesen glaubte. Doch mittlerweile war er sich da nicht mehr so sicher. Manchmal fragte er sich, ob sie nicht selbst eine geringe Hexe war. Außerdem konnte auch er nun in die Zukunft sehen … er würde seinen Eltern viel zu erklären haben.
»Ich wollte nur sicher gehen, dass es euch gut geht.«
Sein Vater seufzte. »Es geht uns gut, Junge. Keine Sorge. Es wimmelt hier nur so vor Kerlingern, und die Bannsprüche sind auf dem neuesten Stand. Ich habe sie persönlich geprüft.«
Georg nickte zufrieden und kniff die Augen zusammen, als Rigel einen Kleinbus schwungvoll rechts überholte und kurz vor dem Heck eines Lasters wieder einscherte.
»Pass auf dich auf, mein Sohn«, forderte sein Vater ernst. »Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl bei dieser ganzen Angelegenheit.«
»Einen von den Kötern habe ich mir schon geholt«, versuchte Georg wagemutig zu klingen.
»Denk daran - mit dem wachen Geist, nicht mit dem Schwert besiegt man Monster.«
Georg hatte seines sehr wohl mit dem Schwert besiegt, aber diese Diskussion konnte warten.
»Gib Mutter einen Kuss von mir«, sagte er.
»Ja«, meinte sein Vater und legte auf.
Rigel warf einen kurzen Blick zur Seite, seine Züge blieben ausdruckslos.
»Eltern«, sagte Georg mit einem entschuldigenden Lächeln. »Sind Ihre auch so überprotektiv?«
Rigel gab Gas und rückte einem tiefer gelegten Golf auf die Pelle. »Meine Eltern wurden getötet, als ich sechs Jahre alt war.«
»Oh«, sagte Georg erschrocken. »Das … tut mir leid!«
Manchmal vergaß er, dass er über Rigel kaum etwas wusste. Anders als bei Karl sprach der Kerlinger selten über seine Vergangenheit und sein Privatleben. Wenn er denn überhaupt eines hat.
Originalausgabe 10/2008 Redaktion: Angela Kuepper
Copyright © 2008 by André Wiesler
Copyright © 2008 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlagillustration: Dirk Schulz
 
eISBN : 978-3-641-03312-5
 
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