Wolfssommer - Hans Rosenfeldt - E-Book + Hörbuch

Wolfssommer Hörbuch

Hans Rosenfeldt

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Beschreibung

Der Auftakt einer neuen Thrillerreihe - von einem der größten schwedischen Krimi- und Drehbuchautoren! In der schwedischen Stadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, findet man eine tote Wölfin, in ihrem Magen menschliche Überreste. Als Polizistin Hannah Wester und ihre Kollegen in den Wäldern die Leiche entdecken, führt sie die Spur zu einem Drogendeal, der in Finnland blutig endete. Aber wie ist der Tote in den Wäldern von Haparanda gelandet? Wo ist das Geld, wo sind die Drogen? Das fragt sich auch Profi-Killerin Katja, die den Auftrag hat, beides zurückzubeschaffen. Doch sie ist nicht die Einzige, die auf dem Weg nach Haparanda ist. Plötzlich wird die kleine Grenzstadt zum Schauplatz brutaler Ereignisse, die schlimmer sind als alles, was Hannah sich jemals hätte vorstellen können.

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Zeit:11 Std. 4 min

Sprecher:Vera Teltz

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Hans Rosenfeldt

Wolfssommer

Thriller

 

 

Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein

 

Über dieses Buch

In der schwedischen Stadt Haparanda, dicht an der Grenze zu Finnland, wird eine tote Wölfin gefunden. Als die Behörden das Tier auf eine mögliche Vergiftung hin untersuchen, finden sie menschliche Überreste in dessen Magen. Nachforschungen ergeben weitere Ungereimtheiten: Anscheinend ist ein geplanter Drogendeal aus dem Ruder gelaufen, und plötzlich tauchen gleich mehrere Kriminelle in Haparanda auf – allen voran Profi-Killerin Katja, die für ihren russischen Auftraggeber Drogen und Geld zurückholen soll. Die ermittelnde Polizistin Hannah hat derweil schwer mit den Wechseljahren und mit ihrem Mann zu kämpfen. Außerdem muss sie sich um ihren kranken Vater kümmern, der glaubt, seine Tochter wolle ihn um Hab und Gut bringen. Doch Hannah steht ihre Frau.

Vita

Hans Rosenfeldt, Jahrgang 1964, schreibt Drehbücher, zuletzt für die international bislang erfolgreichste skandinavische Serie «Die Brücke», die zahlreiche Preise erhielt, sowie für «Marcella». In seinem Heimatland Schweden ist er ein beliebter Radio- und Fernsehmoderator.

 

Ursel Allenstein, 1978 geboren, übersetzt u.a. Sara Stridsberg, Kjersti Skomsvold und Christina Hesselholdt. 2011 erhielt sie den Hamburger Förderpreis und 2013 den Förderpreis der Kunststiftung NRW, 2019 den Jane-Scatcherd-Preis für ihre Übersetzungen aus den skandinavischen Sprachen.

Von Moos und Büschen umschlossen, lag sie auf der Seite.

Die Mücken summten um ihren Kopf, und sie atmete angestrengt, kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Ihr rechtes Auge starrte gen Himmel, zu den leichten Wolken, deren Ränder rosa und orange leuchteten.

Es war die warme Jahreszeit. In der es immer hell war.

Sie hatte den Eitergestank schon vor Tagen wahrgenommen, aber an der Entzündung würde sie nicht sterben. Auch nicht am Hunger. Sie war satt. Zum ersten Mal seit langem.

Doch die Wunde wollte nicht heilen, sosehr sie sich auch bemüht hatte, sie sauber zu lecken. Das Böse, Heiße hatte sich ausgebreitet und war ins Bein gewandert. Eine Zeitlang hatte sich das Rudel ihrem Tempo angepasst. Dann waren drei ihrer Jungen mit den anderen weitergezogen, nur das Kleinste war bei ihr geblieben. Dem Untergang geweiht.

Sie konnte nicht mehr jagen, er hatte es noch nicht gelernt.

Nicht einmal an die jungen Elche, die in der hellen Zeit eine leichte Beute darstellten, war zu denken. Selbst die kleineren Tiere entkamen ihr. Und für die Beeren, die notfalls den schlimmsten Hunger stillten, war es noch zu früh. Gestern hatten sie ein wenig Fleisch gefunden. Es war teils versteckt gewesen und hatte einen alarmierenden Geruch verbreitet, der sie zur Flucht mahnte, aber fürs Erste stärkte. So konnten sie ihren Weg fortsetzen, bis zu dem Felsen am Waldrand, wo sie noch mehr fanden. Viel mehr. Große Brocken. Die sie gar nicht alle fressen konnten.

Danach war sie mit ihrem Jüngsten weitergehumpelt, bis es langsamer geworden und winselnd ein paar wackelige Schritte zur Seite getorkelt war. Schließlich hatte es nicht mehr aufstehen können.

Sie hatte bei ihm ausgeharrt, bis es tot war, und sich dann wieder aufgemacht. Sie war nicht besonders weit gekommen. Irgendwann hatten die Krämpfe und das Zittern das Laufen unmöglich gemacht. Sie war im Moos zusammengesunken und auf der Seite liegen geblieben.

In der Wärme. Im Licht. Dem immer hellen.

Prolog

Alles war nach Plan verlaufen.

Anfangs nach dem ursprünglichen.

Als Erste vor Ort sein, den Jeep und den schwarzen Mercedes auf dem zerfurchten Gelände mitten im Wald parken, das die Holzlaster und die Forstmaschinen als Lade- und Wendeplatz nutzten. Die Kühler der Fahrzeuge in Richtung des schmalen Forstwegs gedreht, die Fenster heruntergelassen. Das nächtliche Vogelgezwitscher war das einzige Geräusch in der völligen Stille, bis Motorenlärm die Ankunft der Finnen verkündete.

Ein Volvo XC90, ebenfalls schwarz, tauchte auf. Wadim sah, wie Artjom und Michail ihre Waffen nahmen und im selben Moment aus dem Mercedes stiegen, als auch er und Ljuba aus dem Jeep sprangen. Er mochte Ljuba und glaubte, dass es auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie waren ein paarmal Bier trinken gewesen, und als sie gefragt worden war, wen sie begleiten wolle, hatte sie ihn gewählt. Für einen Moment überlegte er, ob er sie bitten sollte, lieber im Auto zu warten und sich vorsichtshalber zu ducken, weil er ein ungutes Gefühl hätte. Aber wie sollte es weitergehen, wenn er sie warnte?

Sollten sie zusammen durchbrennen? Bis ans Ende ihrer Tage glücklich leben?

Das war unmöglich. Sie würde sich nie von Zagorni abwenden, sobald sie begriff, was passiert war. So groß war die Liebe nun auch wieder nicht, da war er sich sicher. Also sagte er nichts.

Der Volvo hielt einige Meter von ihnen entfernt, und die vier Finnen stiegen aus. Bewaffnet. Sie sahen sich misstrauisch um, ehe sie sich verteilten.

Alles war still.

Die Ruhe vor dem Sturm.

Der Anführer der Gruppe, ein großgewachsener Mann mit kahlrasiertem Schädel und einem Tribaltattoo um das eine Auge, nickte dem kleinsten und hagersten der vier zu, der seine Pistole aus dem Holster zog, hinter den Volvo ging und den Kofferraum öffnete.

Bis zu diesem Punkt stimmten ihre Pläne überein.

Dann begann seine Planänderung.

Die Kugel des schallgedämpften Gewehrs schlug unter dem Auge des Finnen ein, der direkt neben dem Wagen stand. Die plötzliche Explosion aus Knochen, Blut und Hirn, als das Projektil in der nächsten Sekunde aus dem Hinterkopf austrat, ließ die anderen instinktiv handeln.

Im Prinzip fingen alle gleichzeitig an zu schießen.

Alle bis auf Wadim, der sich durch einen Hechtsprung hinter den Jeep in Sicherheit brachte.

Der Mann mit der Tätowierung im Gesicht fluchte laut und streckte Michail unverzüglich mit vier oder fünf tödlichen Schüssen in die Brust nieder. Artjom reagierte seinerseits. Der Tätowierte wurde von zwei Kugeln getroffen, wankte rückwärts, fand jedoch schnell wieder das Gleichgewicht und richtete die Waffe auf Artjom, der sich zu spät hinter den Mercedes warf. Mehrere Kugeln erwischten ihn am Bein, und er landete schreiend vor Schmerz im Kies. Blutend, brüllend und um sich schießend, steuerte der Tätowierte auf den Volvo zu. Er schien fest entschlossen, lebend davonzukommen. In der nächsten Sekunde fiel er röchelnd auf die Knie, ließ die Waffe fallen und presste beide Hände auf das, was noch von seinem Hals übrig war.

Irgendwo ertönten weitere Schüsse, weitere Schreie.

Artjom stemmte sich mühsam in eine sitzende Position, während er hilflos versuchte, das Blut zu stoppen, das im Rhythmus seines gestressten Herzschlags aus seinem Oberschenkel pumpte. Dann war eine neue Serie von Schüssen zu hören, und er erstarrte, die Verzweiflung in seinem Blick wich einer Leere, und seine Lippen formten noch einige stumme Worte, ehe sein Kinn auf die Brust sackte.

Der dritte Finne hatte in einem flachen Graben Zuflucht gesucht, von dem aus er unter den parkenden Autos hindurch freie Sicht hatte und mit einer gezielten Salve aus seinem Sturmgewehr Artjoms Rücken treffen konnte. Wadim wurde klar, dass auch er vollkommen sichtbar war, und er stürzte sich hinter den Jeep, um sich hinter einem der großen Reifen zu verstecken. Als er um das Auto herumgekrochen war, sah er auch den kleinsten der vier Finnen tot am Boden liegen.

Ljuba war nirgends zu sehen.

Aus dem Graben am Waldrand knallte es erneut, Kugeln schlugen in die Radfelge ein und durchlöcherten den Reifen. Ein Projektil durchschlug das Gummi und traf ihn direkt über dem Hintern. Der Schmerz durchzuckte ihn wie ein weißer Blitz. Er verbiss sich den Schrei, presste die Stirn gegen seine angezogenen Knie und machte sich so klein wie möglich. Als er nach einer Weile ganz sachte wieder die Luft aus seinen Lungen entweichen ließ, wurde ihm bewusst, dass das Feuer verstummt war.

Jetzt war es wieder still. Vollkommen still.

Keine Bewegung, keine Stimmen, keine Schmerzensschreie oder Flüche, kein Vogelgezwitscher, nichts. Als würde die ganze Umgebung den Atem anhalten.

Vorsichtig spähte er hinter dem Jeep hervor.

Immer noch kein Laut.

Langsam, sehr langsam streckte er den Kopf hervor, um einen besseren Überblick zu erlangen. Die Szenerie war in ein mildes Licht getaucht, wie es nur die Mitternachtssonne verbreiten konnte, die jetzt zwischen dem Horizont und den Baumwipfeln stand.

Er kam auf die Beine, die Kugel steckte noch in Muskel- und Fettgewebe, schien jedoch keine vitalen Organe verletzt zu haben. Er legte die Hand auf die Wunde. Sie blutete, aber nicht so stark, als dass er sie nicht selbst würde verbinden können.

«Ljuba?!»

Sie hockte an die hintere Stoßstange des finnischen Autos gelehnt da, die Pistole noch immer in der rechten Hand, und atmete flach und stoßweise. Die Vorderseite ihres grauen T-Shirts war blutdurchtränkt. Wadim begutachtete die Verletzungen. Das Blut strömte gleichmäßig hervor, demnach waren keine Arterien betroffen. Keine Luftblasen, also war vermutlich auch die Lunge intakt geblieben. Ljuba könnte durchaus überleben.

«Wer hat geschossen?», fragte sie keuchend und griff mit der blutigen Hand nach Wadims Jacke. «Wer hat zuerst geschossen, verdammte Scheiße?»

«Einer von uns.»

«Wie? Was soll das heißen, einer von uns? Wer?»

«Komm jetzt.»

Behutsam nahm er ihr die Pistole aus der Hand und steckte sie in die Tasche, ehe er sich vorbeugte und ihr hochhalf. Sie verzog vor Schmerz und Anstrengung das Gesicht, kam jedoch auf die Füße. Er legte ihren Arm um seine Schulter, fasste sie um die Taille und ging mit ihr zu der freien Fläche zwischen den geparkten Autos. Als sie auf Höhe des tätowierten Finnen waren, blieb er stehen, hob behutsam Ljubas Arm von seiner Schulter, löste den stützenden Griff um ihre Taille und trat zwei große Schritte zurück.

«Verzeih mir …»

Ljuba sah ihn zunächst verständnislos an, doch sie begriff, was er getan hatte und was er mit ihr vorhatte, noch ehe die Kugel des schallgedämpften Gewehrs ihre Schläfe traf und sie zu Boden geschleudert wurde.

Wadim presste seine Hand gegen die Wunde unten am Rücken, streckte sich und atmete mit einem tiefen Seufzer aus.

Dennoch, es war alles nach Plan verlaufen.

Die Stadt erwacht.

Wie sie es immer tut. Immer getan hat.

Der Vertrag von Frederikshamn im Jahr 1809. Mit einer einfachen Unterschrift verlor Schweden ein Drittel seines Gebiets und ein Viertel seiner Bevölkerung. Das Kaiserreich Russland bekam Finnland und damit auch Torneå, das bis dahin größte Handelszentrum der Region. Die neue Grenze wurde mitten im Fluss gezogen, und Schweden besaß plötzlich keine eigene Stadt mehr in dieser Gegend. Doch die benötigte man, darin waren sich alle einig, nur, wo sollte sie liegen? Es gab viele Vorschläge und lange Diskussionen. Während man sich zu einigen versuchte, wartete die Ansiedlung geduldig, wuchs von einem kleinen Dorf mit einigen wenigen Höfen zu einer Marktgemeinde, ehe sie schließlich zur Stadt ernannt wurde. Das war 1842, im Jahr vor ihrer Geburt.

Haparanda, nach Haaparanta, dem finnischen Wort für Espenstrand.

Es folgten gute Jahre, in denen sie rasant wuchs. Am besten ging es ihr, wenn es anderen schlechtging. Eine neutrale, grenznahe Stadt in einer kriegführenden Welt zu sein hatte Vorteile. Wiederholt war sie das einzige offene Tor zu Russland. Ein Nadelöhr zwischen Ost und West.

Güter, Briefe, Waren, Menschen.

Legal, illegal, lebendig, wertvoll, gefährlich.

Jeder erdenkliche Handel und Verkehr lief über sie. Und sie wuchs, gedieh und blühte.

Heutzutage ist sie ein bisschen müde geworden. Lässt das Leben ruhiger angehen. Schrumpft allmählich. Kein dramatischer Niedergang, doch jedes Jahr sterben mehr Menschen und verlassen sie, als geboren werden oder zuziehen.

Sie kennt ihre Einwohner. Nimmt an ihrem Leben teil, sieht und weiß alles. Hat Erinnerungen und Erwartungen. Braucht jeden Einzelnen von ihnen. Sie ist eine Stadt, und es gibt sie nur, solange die Menschen in ihr wohnen wollen. Wie ein Gott, der in dem Moment zu existieren aufhört, in dem niemand mehr an ihn glaubt.

Also begrüßt sie alle Neuzugänge und beweint alle, die verschwinden, still und geduldig, am ewigen Fluss.

Es gab genügend Parkplätze zur Auswahl, also fuhr Hannah möglichst nah an das Sportgeschäft heran, stieg aus und sah sich um, während sie ihr Hemd in die Uniformhosen steckte. Nachdem sie in der Polizeistation aufgebrochen war, hatte sie wieder eine Hitzewallung gehabt, und obwohl sie schon nach wenigen Minuten verflogen war, spürte Hannah noch immer die Hitze im Gesicht und den Schweiß, der ihr den Rücken hinunterlief.

Das Wetter war auch nicht gerade hilfreich.

Es war der dreizehnte Tag in Folge mit strahlendem Sonnenschein und Temperaturen über zwanzig Grad, außergewöhnlich warm für Juni. Deshalb war weniger los als sonst im Einkaufzentrum an der E4, wo ein Dutzend Läden nebeneinanderlagen und hofften, die Anziehungskraft von IKEA würde ein wenig auf sie abfärben. Heute funktionierte das eher mäßig, stellte Hannah fest, während sie sich unbewusst noch einmal dem Auto zuwandte, ehe sie die wenigen Schritte zum Eingang des Sportgeschäfts zurücklegte.

Im Laden war es kühler als draußen. Zwischen den Metallkleiderständern mit den Sonderangeboten befanden sich nur wenige Kunden. Hannah hob die Hand und grüßte die Frau hinter der Kasse. Sie kannte sie nicht persönlich, wusste aber, wer sie war. Tarja Burell, verheiratet mit Harald, dem jüngeren Bruder von Carin, die am Empfang in der Polizeistation arbeitete. Tarja erwiderte den Gruß und nickte zum Ladeninneren. Hannah wusste sofort, warum sie hier war.

Den jungen Mann kannte sie ebenfalls vom Sehen. Jonathan, genannt Jonte, der Nachname fiel ihr gerade nicht ein, was dafür sprach, dass er nicht zu den Stammgästen im Arrest gehörte. Hannah machte sich auf den Weg zu ihm. Jonte wankte gerade auf ein Pärchen Mitte dreißig zu, das ihm zu entkommen versuchte, ohne ihm die Genugtuung zu geben, es zu verjagen. Deshalb taten die beiden ganz einfach so, als wäre er Luft.

«Darf ich kurz mit Ihnen sprechen?»

Jonte drehte sich zu Hannah um. Das wachsbleiche Gesicht und die ruckartigen Bewegungen wiesen darauf hin, dass er starke Entzugserscheinungen hatte, und die geweiteten Pupillen räumten den letzten Zweifel aus. Vermutlich Heroin. Oder Subutex. Das Angebot – und damit auch die Zahl der Abhängigen – war in den letzten Jahren dramatisch gestiegen.

«Hä?», stieß der junge Mann hervor und schniefte laut.

«Ich möchte einfach nur kurz mit Ihnen sprechen, folgen Sie mir bitte.»

«Ich habe nichts getan.»

«Darüber können wir gerne diskutieren. Draußen.»

Sie legte sanft die Hand auf seine Schulter, doch er stieß sie so heftig weg, dass er dabei selbst fast das Gleichgewicht verloren hätte und einen Schritt zurücktreten musste, um nicht zu stürzen.

«Lassen Sie mich einfach in Ruhe. Ich frage nur nach ein bisschen Kleingeld.» Beschwichtigend zuckte er mit den Achseln. «Betteln. Das ist … das ist nicht mal verboten.»

«Gut, aber wenn Ihnen niemand etwas gibt, was machen Sie dann?»

«Hä, was meinen Sie?»

Hannah sah, wie er sich bemühte, verständnislos dreinzuschauen, aber sein Blick flackerte nervös.

«Dann drohen Sie mit Gewalt.»

«Na ja, aber das … ich würde es doch nicht wirklich …»

«Nein, aber Sie können hier nicht herumlaufen und den Leuten Angst einjagen, also kommen Sie jetzt.»

Wieder legte sie ihre Hand leicht auf seine Schulter, doch die Reaktion war dieselbe wie zuvor, eine heftige Rückwärtsbewegung, die seinen Körper stark ins Wanken brachte.

«Nehmen Sie Ihre dicken Finger weg!»

«Kein Problem», erwiderte Hannah und ließ seine Schulter los. «Wenn Sie dann mitkommen?»

«Ja, aber nur, wenn Sie mich nicht anfassen.»

Hannah trat einen Schritt zur Seite und bedeutete ihm vorzugehen. Auf wackeligen Beinen bewegte Jonte sich langsam zum Ausgang. Als sie an einem Tisch mit Markenboxershorts vorbeikamen, streckte er die Hand aus und riss einige Packungen an sich, die er hastig unter seiner dünnen Jacke verschwinden lassen wollte.

«Ist das Ihr Ernst?», fragte Hannah müde. «Glauben Sie, ich hätte meinen Blindenhund draußen vergessen, oder was?»

«Hä?», fragte Jonte noch einmal vollkommen unschuldig. Hannah nahm ihm seufzend die Packungen aus der Hand und warf sie wieder auf den Tisch. Ein barscher Stoß in den Rücken sollte ihm klarmachen, dass es jetzt definitiv reichte. Er schien zu verstehen und latschte ohne Protest weiter.

Als sie in das grelle Sonnenlicht hinaustraten, hielt Jonte inne und schirmte seine empfindlichen Augen mit der Hand ab. Ein weiterer Knuff lenkte ihn zu dem geparkten Polizeiwagen. Kurz davor blieb er plötzlich stehen, presste eine Hand auf den Bauch und krümmte sich. Der Schweiß perlte auf seiner Stirn.

«Mir geht es echt nicht gut», stieß er hervor.

«Weil Sie so viel Dreck konsumieren.»

Jonte antwortete nicht, aber Hannah glaubte, ein unmerkliches Nicken zu erahnen, ehe er weiter vorwärtsstolperte.

Sie schob ihn auf die Rückbank, und kurz darauf waren sie auf der Straße. Hannahs Blick fiel auf ihre Hände. Der Ehering saß zwar etwas enger als an jenem Tag, als sie ihn zum ersten Mal auf ihren Ringfinger geschoben hatte, und in ihr Hochzeitskleid würde sie wohl nie wieder hineinpassen, falls sie das je wollte. Aber ihre Finger waren nicht dick. Sie war nicht dick. Im letzten Jahr war ihr Bauch etwas runder geworden. Vor ein paar Wochen hatte sie einen Body-Mass-Index-Rechner im Internet gefunden und das Ergebnis erhalten, dass ihr BMI bei siebenundzwanzig lag. Sie überlegte, ob sie dem Mann auf der Rückbank erzählen sollte, wie lustig es war, dass ihr BMI genauso niedrig war wie sein IQ. Ein Blick in den Rückspiegel machte ihr jedoch klar, dass ihr Scherz sowieso nicht ankäme, denn der Passagier war mit dem Kinn auf der Brust eingeschlafen.

Also fuhr sie schweigend weiter. Bald waren sie auf der anderen Seite der E4, auf der Straße ins Stadtzentrum, die erstaunlich leer war. Die Kunden des großen Möbelhauses fanden nur selten den Weg in das ursprüngliche Zentrum, das sich auf der anderen Seite der Europastraße auftat und in mancherlei Hinsicht fast eine ebenso deutliche Trennlinie darstellte wie die einige hundert Meter entfernt liegende Grenze zu Finnland.

Hannah bog an dem roten zweistöckigen Haus links ab, in dem die Redaktion der Lokalzeitung Haparandabladet saß, die inzwischen nur noch zweimal wöchentlich erschien. Kurz darauf erreichte sie das längliche dreistöckige Gebäude aus gelben Ziegeln, das sich die Polizei unter anderem mit dem Finanzamt und der Sozialversicherung teilte.

In der Garage parkte sie auf einem der beiden Parkplätze, stieg aus, beugte sich über die Rückbank und rüttelte ihren Passagier wach. Jonte kletterte mit einiger Mühe aus dem Wagen und stolperte in Richtung der Tür, die zum Arrest führte, ohne dass sie ihm den Weg zeigen musste. Dann blieb er plötzlich stehen, stützte sich mit der Hand an die Wand und stöhnte. Als Hannah ihn erreichte, sah sie seinen stumpfen Blick, während er sich zu ihr umdrehte. Ohne die kleinste Vorwarnung wurde sie direkt unter dem Kinn von einem Schwall Erbrochenen getroffen und spürte sofort die Wärme, die sich auf der Vorderseite ihrer Uniformbluse ausbreitete. Im selben Moment stieg ihr der Gestank in die Nase.

«Verdammte Scheiße!»

Sie konnte gerade noch ausweichen, ehe der nächste kräftige Schwall aus Jonte hervorbrach, neben ihr auf dem Boden landete und auf ihre Schuhe und den Hosensaum spritzte.

Der junge Mann holte tief Luft, richtete sich auf und grinste erleichtert. Hannah versuchte, flach durch den Mund zu atmen, während sie die Tür zu dem kleinen Raum öffnete, in dem die in Gewahrsam genommenen Personen registriert wurden, bevor sie in einer der vier Zellen landeten, die mittlerweile wieder alle leer waren.

Die Frau, die sie letzte Woche wegen Drogenbesitzes festgenommen hatten, war inzwischen dem Haftrichter vorgeführt und nach Luleå verlegt worden. Am Wochenende hatten sie einen Autofahrer unter Drogeneinfluss festgenommen und zwei Bußgelder verhängt – für Falschparken und für das Fahren ohne Fahrerlaubnis. Am Sonntagmorgen dann hatten sie Sanitätern mit einer betrunkenen Frau geholfen, die sich das Handgelenk gebrochen hatte. Und ein angefahrenes Rentier im Straßengraben gefunden. Doch im Moment waren die Zellen gänzlich unbelegt.

Morgan Berg kam mit einer Tasse Kaffee in der Hand den Korridor entlang, blieb stehen und wich einen Schritt zurück, als er sah, wer oder was ihm da entgegenkam.

«Nimm du seine Daten auf», befahl Hannah und führte Jonte zu der an der Wand befestigten Bank gegenüber dem kleinen Registrierungsschalter. Ohne Antworten oder Einwände abzuwarten, drehte sie sich um, holte ihre Schlüsselkarte und öffnete die nächste Tür. Dahinter lag ein kurzer Gang mit blauen Spinden an der einen Wand sowie einigen Stühlen, Rohren und Kabeln an der Decke. Dies war aber kein geheimer Tunnel, sondern die Umkleidekabine der Herren, die man passieren musste, um zur Damenumkleide zu gelangen.

Hannah ging zu ihrem Schrank und fing an, sich auszuziehen. Sie wusste nicht, ob sie nur den Gestank auf der Zunge oder sogar etwas von dem Erbrochenen in den Mund bekommen hatte. Sie kämpfte, um sich nicht selbst übergeben zu müssen. Das war schon immer ihr schwacher Punkt. Als die Kinder klein gewesen waren, hatte Thomas sich um sie kümmern müssen, wenn sie gespuckt hatten. Angeekelt knöpfte sie ihre Bluse auf, riss sie herunter und warf sie auf den Boden. Dann bückte sie sich und befreite sich von Schuhen und Strümpfen. Als sie nur noch in BH und Hose dastand, klingelte ihr Telefon. Am liebsten hätte sie es ignoriert, aber sie warf dennoch einen kurzen Blick auf das Display.

Ein Anruf aus Uppsala.

Wo Gabriel studierte.

Nicht seine Nummer, aber womöglich die eines Kumpels, vielleicht hatte er sein Handy verloren, oder irgendetwas war passiert. Sie nahm das Gespräch an. «Ja, hier ist Hannah?»

«Äh, ja, hallo, spreche ich mit Hannah … Wester?», sagte eine Stimme, die ihren Nachnamen anscheinend erst irgendwo ablesen musste.

«Ja, wer ist da?»

«Verzeihung, mein Name ist Benny Svensén, und ich rufe von der SVA an.» Er verstummte kurz, als überlegte er, ob er die Abkürzung erklären müsste, ehe er sich dann offensichtlich dagegen entschied. «Ich würde gern mit Ihnen über diese Wölfe sprechen, denn dafür sind Sie doch zuständig, oder?»

Das war sie wohl.

Sie leitete die Ermittlungen in einem vermuteten Verstoß gegen das Jagdrecht und den Tierschutz, bei dem es um Wölfe ging. Am vergangenen Mittwoch hatte ein deutscher Wanderer angerufen und in eher bescheidenem Englisch aufgeregt erklärt, er habe einen toten Wolf gefunden. Nachdem sie eine Weile aneinander vorbeigeredet hatten, war es Hannah schließlich gelungen, den genauen Fundort aus ihm herauszubekommen. Als sie an selbigem eintrafen, stellte sich heraus, dass es sich nicht um einen toten Wolf handelte, sondern um zwei. Eine Fähe und einen Welpen. Sie wiesen keine sichtbaren äußerlichen Verletzungen auf, aber es schien trotzdem unwahrscheinlich, dass beide im Abstand von nur einem Meter eines natürlichen Todes gestorben waren. Daher schickten sie die Wolfsleichen vorschriftsgemäß an die Staatliche Veterinärmedizinische Anstalt, die nun anscheinend Benny Svensén damit beauftragt hatte, sich bei ihr zu melden.

«Vermutlich schon», antwortete Hannah also und unterdrückte ihren Würgereiz. «Wenn es um eine Fähe und einen Welpen geht, die letzten Mittwoch in der Nähe von Kattilasaari gefunden wurden.»

«Ja, genau die. Andere Wölfe haben wir gerade nicht da.»

«Das kann ich aber nicht wissen, oder?»

«Nein, natürlich nicht, aber …»

«Egal. Weshalb rufen Sie an?» Sie bereute bereits, dass sie ans Telefon gegangen war, denn sie wollte sich schnellstmöglich ihrer letzten Kleidungsstücke entledigen und unter die Dusche steigen. Außerdem glaubte sie zu wissen, worum es ging. Die Wölfe waren vergiftet worden. Das war eine Straftat, aber die Ermittlungen würden mit großer Wahrscheinlichkeit sofort eingestellt werden, wenn sie über den Staatsanwalt in Luleå liefen. Wölfe waren in dieser Gegend seltene Gäste, und soweit Hannah wusste, hatten sie auch keine festen Reviere. Aber es kam vor, dass sie aus anderen Teilen Schwedens, aus Russland, Finnland oder Norwegen einwanderten. Sobald sie entdeckt wurden, dauerte es aber für gewöhnlich nie lange, bis sie «verschwanden».

«Die Todesursache war Vergiftung», hörte sie Svensén dann auch tatsächlich sagen und konnte sich genau vorstellen, wie er die Nachricht vom Obduktionsbericht ablas.

«Gut, dann weiß ich Bescheid», antwortete sie, während sie ihre Hose aufknöpfte und sie sich von den Beinen trat. «Es ist gerade etwas ungünstig, würden Sie mir bitte einfach den Bericht zuschicken?» Es war nicht zu überhören, wie gern sie das Gespräch beenden wollte. Glaubte sie. Benny Svensén schien dafür aber nicht empfänglich zu sein.

«Da ist noch etwas.»

«Was denn?», fauchte sie und versuchte nicht länger, ihre Ungeduld zu verbergen. Doch als sie dem lauschte, was Svensén jetzt zu sagen hatte, vergaß sie für einen Moment, dass sie gerade halbnackt und mit Erbrochenem besudelt in der Umkleidekabine stand.

Sie musste sich verhört haben.

«Er hat einen Menschen gefressen?», wiederholte Gordon Backman Niska und fixierte Hannah. Sein Ton verriet, dass auch er es nicht richtig glauben konnte und gleichzeitig über die Konsequenzen grübelte, falls die Information der Wahrheit entsprach.

«Beide Tiere, laut SVA», bestätigte Hannah und nickte.

Gordon seufzte schwer, ehe er agil von seinem ergonomischen Bürostuhl aufsprang, zum Fenster schritt, das auf den Strandvägen hinausging, und auf den gegenüberliegenden Parkplatz hinunterblickte. Mit seinen sechsunddreißig Jahren war er der jüngste Kommissar, den es in Haparanda je gegeben hatte, und unter seinem hellblauen Slim-Fit-Hemd vermutlich auch der durchtrainierteste. Wer zusätzliche Beweise brauchte, fand an der Wand hinter seinem Schreibtisch mehrere Urkunden von Ironman-Wettkämpfen, Ultra-Langlaufskirennen und anderen sportlichen Härtetests. Hannah und Morgan warteten schweigend, während Gordon sich eine Portion Snus unter die Oberlippe schob.

Manchmal konnte Hannah den Tabak schmecken, wenn sie die Zunge in seinem Mund hatte. Sie mochte diese herbe Note nicht.

«Die Wölfe haben also einen Menschen getötet und gefressen», fuhr Gordon fort. Er sagte es wie eine Feststellung und mit einer unterschwelligen Müdigkeit angesichts der zu erwartenden Folgen.

Dem Medienrummel. Den Schlagzeilen.

Die Wildtierfrage im Allgemeinen und die der Wölfe im Besonderen spalteten die Nation. Die Debatte wurde von Jahr zu Jahr erbitterter und hasserfüllter. Drohungen, Schikanen und Verleumdungen gehörten auf beiden Seiten zum Alltag. Manchmal sogar Sachbeschädigung oder Gewalt. Für die Wolfshasser wäre es natürlich ein Traum, wenn sie anstelle von getöteten Schafen und Jagdhunden sowie Angriffen auf Menschen in kasachischen Gebirgsregionen endlich auf einen Wolf verweisen könnten, der in Schweden einen Menschen gerissen hatte. Je lauter sie wurden und je mehr Gehör sie fanden, desto stärker würde im Gegenzug jedoch auch der Widerstand der Naturschützer wachsen, die Polarisierung würde zunehmen und auf weitere Jagdthemen übergreifen. Und in Gordon Backman Niskas Polizeigebiet gab es viele Jäger.

«Sie haben Teile eines Menschen gefressen», sagte Hannah. «Wir wissen nicht, ob sie ihn auch getötet haben.»

«Was denn sonst?», fragte Gordon und drehte sich zu ihnen um.

«Die Person könnte doch auch aus anderen Gründen gestorben sein», entgegnete Hannah und zuckte mit den Schultern. «Ein Wanderer oder Fischer, der einen Herzinfarkt erlitten hat oder was auch immer.»

Möglich war das schon, aber sie hörte selbst, wie unglaubwürdig es klang, was Gordon ihr mit seinem skeptischen Blick bestätigte.

«Das erscheint nicht besonders wahrscheinlich, oder?»

«Dass sie einen Menschen töten, ist auch nicht besonders wahrscheinlich», gab Morgan mit seiner ruhigen, tiefen Stimme zu bedenken. «Abgesehen von dieser Biologin im Tierpark Kolmården ist seit über zweihundert Jahren kein Mensch mehr in Schweden von einem Wolf angefallen worden.»

Weder Hannah noch Gordon kamen auf die Idee, Morgan zu fragen, woher er das wusste. Sie waren es gewohnt, dass er fast immer über alles informiert war. Er hatte schon mehrmals an Quizsendungen teilgenommen und gewonnen. Im Jahr 2003 hatte er bei Wer wird Millionär? drei Millionen Kronen abgestaubt und noch zwei Joker übrig gehabt. Das wussten alle in Haparanda, aber keiner – am allerwenigsten Morgan selbst – redete groß darüber.

«Immerhin haben wir ein bisschen Glück, denn eines der Tiere war ein schwedischer Wolf aus dem Süden mit einem eingesetzten Chip», erklärte Hannah. Gordon forderte sie mit einem Blick auf, das näher zu erläutern. «Die Leichenteile haben höchstens anderthalb Tage in den Mägen der Wölfe gelegen, sagt die SVA, wahrscheinlich sogar kürzer. Wenn die Leute von der Bezirksregierung den Weg des Wolfes verfolgt haben, können wir ihn vielleicht nachgehen und den Rest der Leiche finden.»

«Wie weit läuft ein Wolf in sechsunddreißig Stunden?»

«Zwischen zwanzig und fünfundvierzig Kilometer in vierundzwanzig Stunden», antwortete Morgan.

«Die Wölfin war verletzt», warf Hannah ein. «Sie konnte sich nicht so schnell bewegen.»

«Eine verletzte Fähe mit einem Jungen», sagte Morgan. «Das verändert die Situation ein bisschen, da nimmt sie alles, was sie kriegen kann. An langsamer Beute …»

«Wie detailliert sind denn diese GPS- oder Satellitendaten oder was auch immer die verwenden?», fragte Gordon seufzend, weil er sich durchaus im Klaren darüber war, was der Kollege andeutete.

«Keine Ahnung», antwortete Morgan erstaunlicherweise. «Aber ich könnte anrufen und es herausfinden.»

«Ja, tu das bitte. Finde die Person, die für den Chip dieses Tieres zuständig ist, und sorge dafür, dass sie uns eine möglichst detaillierte Karte schickt.»

Morgan strich über seinen imposanten Vollbart, als wollte er noch etwas ergänzen, nickte dann aber nur und verließ den Raum.

Gordon ging am Schreibtisch vorbei zu der Wand, wo eine Karte des Polizeigebiets hing, neben einem Whiteboard, das derzeit von einem kombinierten Dienst- und Urlaubsplan bedeckt war. Nicht ganz überraschend hatte Gordon das größte Büro. Wenn Hannah zwei Schritte an ihrem eigenen Schreibtisch vorbeiging, stieß sie gegen die nächste Wand.

«Wo wurden die Wölfe gefunden?»

Hannah ging zur Karte und zeigte mit dem Finger auf einen Ort, der etwa dreißig Kilometer nordwestlich von Haparanda nahe der Insel Kattilasaari lag. Gordon stellte sich hinter Hannah. Dicht, so dicht, dass sie seine Wärme spüren konnte.

«Und du wurdest heute angekotzt?»

Hannah drehte sich um und zog den Kragen ihrer frischen Bluse hoch, um daran zu schnuppern.

«Riecht man das?»

«Nein, ich habe es nur gehört.»

«Das war dieser Typ, Jonte … irgendwas. Der gerade auf Turkey war.»

«Lundin.»

«Genau. Lundin.» Sie konzentrierte sich wieder auf die Karte. «Na, jedenfalls haben wir sie hier gefunden.»

«Sechsunddreißig Stunden, sagen wir also dreißig Kilometer pro Tag, das macht einen Radius von fünfundvierzig Kilometern.» Gordon las den Maßstab der Karte ab, nahm ein Lineal und einen Zirkel vom Schreibtisch, zeichnete einen entsprechenden Kreis und studierte sein Werk. «Verdammt viel Wald. Wir brauchen Verstärkung.»

«Vielleicht sollten wir erst abwarten, was Morgan herausfindet. Wenn diese Sendedaten nicht detailliert genug sind, finden wir ihn nie.»

«War es denn wirklich ein Er, wissen wir das?»

Hannah rief sich das Gespräch mit Svensén in Erinnerung. Er hatte lediglich von einem «Menschen» gesprochen, aber kein Geschlecht erwähnt.

«Nein, entschuldige, darüber hat er nichts gesagt.»

«Wir haben nicht zufällig das Glück, dass jemand als vermisst gemeldet wurde?»

Hannah schüttelte den Kopf. Gordon seufzte erneut und ging mit einem letzten Blick auf die Karte zurück an seinen Schreibtisch.

«Na gut, dann warten wir auf Morgan und entscheiden danach, wie wir weiter vorgehen.»

Anscheinend war die Besprechung beendet. Aber als Hannah gerade in den Flur hinausgehen wollte, fiel Gordon doch noch etwas ein.

«Ich weiß, dass dir das bewusst ist, aber dieser Fall muss unter uns dreien bleiben, bis wir genauer wissen, womit wir es zu tun haben.»

Gordons dunkle Augen signalisierten einen Ernst, wie Hannah ihn sonst nur selten bei ihm sah. Normalerweise lachte er viel, war ungezwungen und locker, ohne seinen Job deswegen auf die leichte Schulter zu nehmen oder an Autorität einzubüßen.

Hannah nickte nur, verließ das Büro und ging den Korridor entlang, während sie feststellte, dass dies bisher ein richtig beschissener Tag gewesen war.

Zehn Personen.

Gordon versuchte, sich zu erinnern, ob im Konferenzraum im ersten Stock überhaupt schon jemals ein solcher Andrang geherrscht hatte. Sie fanden dennoch alle Platz an dem Tisch aus hellem Holz, und Morgan lehnte sowieso an der Wand, die über die ganze Länge von oben bis unten mit gefüllten Bücherregalen bedeckt war. Die braunen und schwarzen Ledereinbände, die von der Zeit und dem Gebrauch zerschlissen waren, erinnerten weniger an einen modernen Besprechungsraum als an ein Archiv. Die Bücher dominierten den Raum. Sie – und das riesige Polizeiwappen, das an einer der schmaleren Wände hing, eingeklemmt zwischen vergilbten Fotos von ehemaligen Polizeichefs, denen nun alle ihre Rücken zukehrten. Ihre Blicke waren auf Gordon gerichtet, der vor der heruntergezogenen Leinwand am anderen Ende des Raums stand. Der Projektor an der Decke surrte und zeigte eine Karte mit einer dünnen blauen Linie, die im Zickzack durch Nordschweden führte, ehe sie kurz vor Haparanda endete.

«Was sehen wir da?», fragte Roger Hammar, der größte und dürrste Mitarbeiter, der aufgrund seiner hoch aufgeschossenen Erscheinung und seiner tiefen Stimme «Lurch» genannt wurde, eine Referenz, die an den meisten Kollegen unter vierzig unbemerkt vorüberging. Statt ihm direkt zu antworten, drehte Gordon sich zu einer der vier Personen im Raum um, die nicht von der Polizei waren, und nickte auffordernd.

Jens, ein energiegeladener junger Angestellter der Bezirksregierung in Luleå, hatte eine viel bessere Idee gehabt, als Morgan die Karte wie gewünscht per E-Mail zu schicken. Er wollte lieber persönlich vorbeikommen. Morgan hatte mit ruhiger Stimme deutlich gemacht, dass sie die Darstellung auf der Karte durchaus allein lesen konnten, aber Jens war beharrlich geblieben.

Morgan vermutete, dass bei der Bezirksregierung in Luleå nicht allzu oft etwas Spannendes passierte.

«Sie haben letzte Woche zwei tote Wölfe gefunden, und zwar hier», erklärte Jens und reckte sich auf seinem Stuhl, während er mit dem Laserpointer auf die Karte deutete. Gordon hörte, wie Hannah laut seufzte. Sie stand am Fenster neben P-O, der zehn Jahre jünger war als sie, mit seinem schlohweißen Haar und seinem hageren Gesicht allerdings so aussah, als könnte er jeden Moment in Pension gehen. Gordon beobachtete, wie Hannah die Augen verdrehte, und wusste, dass sie dasselbe dachte wie er, als der kleine rote Punkt kurz vor Kattilasaari auftauchte. Wie schwer konnte es sein, einfach aufzustehen, nach vorn zu gehen und mit dem Finger auf etwas zu zeigen? Und gab es eigentlich etwas noch Lächerlicheres als einen Laserpointer?

«Wie Sie bereits wissen, hatte eines der Tiere einen Chip, und deshalb können wir genau sagen, welchen Weg es genommen hat.» Der rote Punkt begann, die blaue Linie entlangzuwandern. «Es war Teil eines größeren Rudels, das von Süden kam, dann hier entlang, im Osten, um Storuman herumwanderte, zwischen Arvidsjaur und Arjeplog weiter Richtung Norden zog, bis Jokkmokk, wo das Tier sich von den anderen trennte, nach Südosten weiterbewegte und vermutlich bis nach Finnland gelangt wäre. Aber dann ist es hier gestorben.» Der Punkt war wieder auf seinem Platz vor Kattilasaari. «Um 4.33 Uhr hört es auf, sich zu bewegen, und Sie haben gefragt, wo es in den letzten anderthalb Tagen davor war.» Jens ließ seinen kleinen Punkt an einer Stelle nördlich von Vitvattnet landen. «Da war es hier. Es hat in den letzten sechsunddreißig Stunden einundvierzig Kilometer zurückgelegt.» Jetzt schaltete Jens den Laserpointer aus und lehnte sich wieder zurück, sichtlich zufrieden mit seinem Auftritt. Die anderen schwiegen nachdenklich, bis Roger erneut das Wort ergriff.

«Gut, aber warum gucken wir uns das an? Warum verfolgen wir die Spur eines toten Wolfs?»

Die Frage war durchaus berechtigt, weil Gordon noch nichts über den Grund ihrer Zusammenkunft verraten hatte. Je weniger Leute die genauen Umstände kannten, desto besser, davon war er überzeugt.

Doch jetzt wurde es allmählich Zeit.

Sechs Polizeibeamte und vier Zivilisten.

Er hatte Verstärkung aus Kalix angefordert, doch als man dort niemanden entbehren konnte, hatte er seinen Bruder Adrian angerufen, von dem er wusste, dass er den Mund halten konnte. Und Morgan hatte seine Nachbarn um Hilfe gebeten, ein Paar Mitte sechzig, das er gut kannte und für das er die Hand ins Feuer legte, außerdem noch Jens von der Bezirksregierung. Schon als Morgan erzählt hatte, dass der sein persönliches Erscheinen für unabdingbar hielt, hatte Gordon das Gefühl beschlichen, der Mann wäre ein Wichtigtuer. Der Gebrauch des Laserpointers hatte ihn in dieser Vermutung nur bestärkt. Sicher hatte der Typ irgendwo einen Twitteraccount, auf dem diese brisanten Informationen unter keinen Umständen auftauchen durften. Deshalb sah Gordon den eifrigen jungen Mann jetzt eindringlich an.

«Bis wir genaue Erkenntnisse darüber haben, was passiert ist, darf absolut nichts von dem, was ich jetzt mitteile, an die Öffentlichkeit dringen», sagte er und sah, wie alle ringsherum nickten. Der Ernst in seiner Stimme war unüberhörbar. «Die betreffenden Wölfe haben Teile eines Menschen gefressen.»

«Welche Teile?», fragte Jens.

Gordon drehte sich zu ihm. Was ist das denn für eine idiotische Frage?, verriet sein Blick.

«Spielt das irgendeine Rolle?», fragte er dann laut und wandte sich an die anderen. «Wir müssen den Rest der Leiche finden.»

Schon seit zehn Minuten war ihnen kein anderes Auto mehr entgegengekommen. Der Tempomat war auf achtzig Stundenkilometer eingestellt, die Straße verlief gerade und einsam durch die Landschaft.

Als der Schnee endlich geschmolzen war, hatte es der Frühling wie immer eilig gehabt und die Natur in ein sommerliches Grün gehüllt. Jetzt blühte es überall am Straßenrand. Für Hannah waren es nur anonyme kleine Farbkleckse in Weiß, Lila und Blau. Thomas wusste bestimmt, wie die Pflanzen hießen, Gordon vielleicht auch. Sie hatte nie gefragt. Ohne den Blick auf einen bestimmten Punkt zu richten, betrachtete sie den lichten Wald jenseits des Wagenfensters. Die Fichten bildeten einen dunklen Kontrast zu den frisch ausgeschlagenen Laubbäumen mit ihrem zarteren Grün. Hier und da entdeckte Hannah ein Gebiet mit Kahlschlag, ein wogendes Feld oder eine Wiese auf den Bergen am Horizont. Sie waren niedriger als die Baumgrenze und wirkten wie eine sanfte grüne Welle, die sich durch die Landschaft bewegte.

Eine Dünung aus Wald.

Die Aussicht vermittelte ein Gefühl der Stille und Ruhe. Man konnte sich leicht fernen Vogelgesang und das Rauschen des Windes in den Blättern vorstellen. Vorstellen – und sich danach sehnen.

Sowie sie aus Haparanda hinausgefahren waren, hatte Jens angefangen, von seiner Stelle zu erzählen, wie er dazu gekommen war, wie langweilig seine Arbeit vielleicht klingen mochte und wie spannend sie tatsächlich war. Natürlich nicht so spannend wie dies hier, aber trotzdem. Wie künftige Entscheidungen über die sogenannte Schutzjagd beeinflusst würden, wenn sich herausstellte, dass ein Wolf tatsächlich einen Menschen getötet hatte. Er selbst habe noch nie eine Leiche gesehen, erklärte er und vermutete, das treffe auf die meisten Leute in seinem Alter zu.

Hannah war vierzehn gewesen, als sie zum ersten Mal einen toten Menschen gesehen hatte, schwieg jedoch.

Keiner von ihnen sagte etwas.

Gordon und sie hatten ihre höflichen Folgefragen und einsilbigen Antworten längst eingestellt, und die letzte Viertelstunde hatte Jens vom Rücksitz aus einen Monolog gehalten. Das wurde ihm offenbar erst bewusst, als es nur noch wenige Minuten bis zum Ziel waren.

«Meine Freundin findet, ich würde zu viel reden», sagte er beinahe entschuldigend.

«Ihre Freundin hat recht», stellte Hannah fest.

Jens nickte angesichts ihres nicht allzu feinfühligen Kommentars und verstummte. Hannah registrierte, wie Gordon ihr einen amüsierten Blick zuwarf. Mit Jens im Auto zu sitzen war eine Prüfung, aber gleichzeitig war er ihnen eine größere Hilfe gewesen, als sie gedacht hatten. Er hatte dafür gesorgt, dass sie die Karte auf ihre Handys laden konnten und mit denselben Satelliten verbunden wurden, die auch zur Verfolgung der Wolfswanderungen verwendet wurden und die jetzt offenbar sofort erkannten, wenn man nur wenige Meter von der ursprünglichen Strecke abwich. Weder Hannah noch Gordon verstanden genau, wie das funktionierte, aber Hauptsache, es klappte.

Morgan hatte seine Nachbarn mit zum Fundort vor Kattilasaari genommen, von wo aus sie der Strecke der Wölfe in nordwestlicher Richtung folgen würden. Lurch, P-O und Ludwig aus der Station nahmen Gordons Bruder mit zu dem Punkt, wo die Tiere die Straße 398 zwischen Rutajärvi und Lappträsket überquert hatten. Dort würden sie sich aufteilen. Zwei von ihnen sollten in südöstliche Richtung gehen und nach ungefähr zehn Kilometern hoffentlich auf Morgan und seine Nachbarn stoßen. Die anderen beiden würden der Spur nach Nordosten folgen und nach einer etwa gleich langen Strecke dann wiederum Gordon, Hannah und Jens treffen. Der Plan war, dass jede der vier Gruppen etwa zehn Kilometer absuchte und sie die Leiche, wenn alles glattlief, innerhalb von zwei oder drei Stunden finden würden.

Sie fuhren von Süden nach Vitvattnet hinein und parkten vor dem roten Bahnhofsgebäude. Wie viele kleinere Orte in Schweden hatte er seine Blütezeit nach der Fertigstellung der Eisenbahnstrecke erlebt, und wie so viele andere war die Einwohnerzahl gesunken, und das geschrumpfte Dorf hatte an Bedeutung verloren, als die Eisenbahn wieder verschwunden war. Einst hatte es hier eine Post, ein Missionshaus, Cafés, Läden, eine Tankstelle und eine eigene Schule gegeben. Heute fanden sich hier nur noch ein kleiner Laden und zwei Benzinzapfsäulen.

Hannah stieg aus dem Auto. Sie war nicht zum ersten Mal in Vitvattnet, und genau wie bei ihren früheren Besuchen sah sie auch diesmal kein einziges Lebewesen auf der Straße. Arbeit, Ausbildung, Erledigungen, Freizeit – alles fand woanders statt.

Gordon kam zu ihr und reichte ihr eine Flasche Mückenspray. Auf dem offenen Platz vor dem Bahnhofsgebäude gab es keine Blutsauger, aber zwischen den Bäumen und im schattigen Gestrüpp würde das anders werden.

Jens holte sein iPad hervor, und sie überquerten die Schienen und betraten den Wald dahinter. Auf dem Display saß der Punkt genau auf der dünnen blauen Linie. «Da müssen wir lang», erklärte Jens und deutete zwischen die Bäume nach Südosten.

Sie begannen ihre Wanderung. Jens mit gebeugtem Kopf, den Blick auf das iPad gerichtet. Hannah und Gordon gingen rechts und links von ihm, während sie den Boden absuchten, der über den Wurzeln und unter heruntergefallenen Ästen vor allem mit weichem Moos sowie Preiselbeer- und Blaubeerbüschen bedeckt war. Hannah dachte an Thomas. Warum hatte sie ihn nicht angerufen und um seine Mithilfe gebeten? Er liebte es, in der Natur zu sein. Jagen, angeln. Ab und zu war sie mitgekommen, als die Kinder noch klein gewesen waren, und hatte einen gewissen Enthusiasmus vorgetäuscht, damit ihr Widerwille gegen solche Freizeitaktivitäten nicht auf die Kinder abfärbte. Sie hatte so getan, als wäre sie gern von Mücken umgeben – die immer sie stachen, nie Thomas – und würde auch gern in irgendeiner windgeschützten Ecke oder auf irgendeinem zugefrorenen See hocken, wo sie lauwarmen Kaffee aus Plastikbechern tranken und Butterbrote aßen.

Das war lange her.

Den Blick auf den Boden gerichtet, setzten sie ihren Weg schweigsam fort. Dann und wann korrigierte Jens ihren Kurs. Die Baumkronen hielten das direkte Sonnenlicht ab, aber es wurde trotzdem warm in dem beinahe windstillen Wald. Hannah knöpfte die oberen beiden Knöpfe ihrer Bluse auf, während sie wachsam ihren Blick schweifen ließ. Sie überquerten die Straße nach Bodträsk und verschwanden auf der anderen Seite wieder zwischen den Bäumen. Hannah verscheuchte ein paar aufdringliche Fliegen, die um sie herumsummten. Das Gefühl der Frische, das sie nach ihrer Dusche in der Polizeistation empfunden hatte, war wie weggeblasen. Verschwitzt und atemlos schielte sie zu den anderen hinüber. Jens war auf sein Display konzentriert. Gordon wirkte vollkommen unangestrengt.

Nach einer knappen Stunde, in der sie laut Jens ungefähr vier Kilometer gelaufen waren, flatterten ein paar große schwarze Krähen auf, als sie die Menschen hörten. Hannah wusste sofort, dass sie gefunden hatten, wonach sie suchten, noch ehe sie es sah.

«Bleiben Sie hier stehen», befahl sie Jens, während Gordon und sie weitergingen.

Begraben war nicht das richtige Wort. Die Leiche lag nur teilweise versteckt unter Tannenzweigen, Moos und Ästen, auf denen ein paar Steine platziert worden waren. Sie lag auf dem Rücken, der eine Arm ragte unter der natürlichen Tarnschicht hervor. An der Hand fehlten alle Finger bis auf den Daumen, und von den entblößten Körperteilen waren große Brocken abgerissen worden. Auf den ersten Blick konnte man diese Verstümmelungen den Wölfen zuschreiben. Weiter oben, an den Schultern, am Hals und seitlich am Rumpf, der ebenfalls nicht ganz bedeckt war, gab es kleinere Wunden wie von hackenden Vogelschnäbeln. Dicke Fliegen umschwirrten die menschlichen Überreste. Ein süßlicher, stechender Geruch stieg Hannah und Gordon in die Nase, als sie sich näherten.

Eigentlich durften sie nichts anfassen, denn der Mensch vor ihnen war zweifellos tot, und die Kriminaltechniker wünschten sich einen Fundort, der möglichst wenig kontaminiert war. Dennoch trat Gordon vor und entfernte vorsichtig einige Nadeln und Äste vom Gesicht des Leichnams.

«Es ist ein Mann», stellte er fest.

«Wenn es nicht Wölfe mit sehr speziellen Eigenschaften waren, kommen sie als Täter jedenfalls nicht in Frage.» Hannah deutete auf das unvollkommene Grab. «Es sieht ganz so aus, als hätten wir es mit einem Mord zu tun.»

«Tja, wobei ich mir nicht sicher bin, was eigentlich schlimmer ist», erwiderte Gordon und trat ein paar Schritte zurück. «Wir müssen den Fundort untersuchen, dazu brauchen wir Leute. Sie wissen ganz genau, wo wir sind, oder?» Gordon drehte sich fragend zu Jens um, der genau dort stehen geblieben war, wo sie es ihm befohlen hatten. Er sah blass aus und nickte nur.

«Geben Sie mir die Koordinaten», bat Gordon und zückte sein Handy.

Hannah sah sich um. Wenige hundert Meter zuvor hatten sie einen kleineren Weg überquert. Eigentlich müsste er in nicht allzu großer Entfernung nach rechts weiterführen. Sie verließ den Fundort und stiefelte durch den Wald.

Nach ein paar Minuten erreichte sie den kleinen Pfad. Eigentlich waren es lediglich zwei Radspuren, die sich vorwärtsschlängelten, und ein Seitenstreifen, der es an einigen Stellen ermöglichte, dass zwei Fahrzeuge einander passieren konnten. Hannah wischte sich den Schweiß von der Stirn und warf einen Blick zurück in den Wald, aus dem sie gekommen war. Wenn das Opfer nicht am Fundort ermordet worden war und man die Leiche hertransportiert hatte, musste der Täter ungefähr dort geparkt haben, wo sie jetzt stand. Ohne genau zu wissen, wonach sie suchte, folgte Hannah langsam weiter dem Weg.

Blutspuren? Verlorene Gegenstände? Reifenspuren vielleicht?

Die Chance auf Letztere schien eher gering. Nach mehreren Wochen ohne Niederschlag war der Weg trocken und hart. Sie ging einige Schritte weiter, ehe sie anhielt, weil sie etwas auf dem Boden entdeckt hatte.

Scherben. In verschiedenen Farben.

Durchsichtig weiß, rot und gelb.

Sie widerstand dem Impuls, sie aufzuheben, war aber dennoch ziemlich sicher, dass sie von einem Auto stammen mussten. Scheinwerfer, Bremslichter und Blinker. Was auf Schäden vorn und hinten am Fahrzeug hindeutete.

Also waren es zwei Autos gewesen. Ihre Knie protestierten ein wenig, als sie neben einem großen Stein am Waldrand in die Hocke ging. An der einen Seite entdeckte sie dunkelblaue Farbe. Lackabschürfungen. Natürlich konnte man unmöglich sagen, wie lange sie schon dort hafteten, aber die unmittelbare Nähe zu zerbrochenem Glas legte nahe, dass beiden Spuren dasselbe Ereignis zugrunde lag.

Hannah richtete sich auf und sah sich um, als könnte ihr der einsame Weg mehr darüber erzählen, was passiert war. Aus dem Wald wehte der Wind Gesprächsfetzen von Gordons Telefonat mit der Leitstelle in Luleå heran. Mitunter zog sie vorschnelle Schlüsse, dessen war sie sich bewusst, doch in diesem Fall war sie sich ziemlich sicher.

Hier war niemand hergefahren, um eine Leiche zu entsorgen.

Stattdessen waren zwei Autos zusammengestoßen, jemand war bei dem Unfall ums Leben gekommen, und der Fahrer des anderen Wagens hatte beschlossen, das Opfer zu entsorgen. Hatte es in den Wald geschleift und notdürftig außer Sichtweite des Weges versteckt, ehe er weitergefahren war.

Hannah stutzte. Beide Fahrzeuge waren fort.

Dann mussten in dem einen mindestens zwei Personen gesessen haben. Oder vielleicht auch nicht. Ein einzelner Mensch hätte auch erst sein eigenes Auto wegbringen und dann zu Fuß zurückkehren können, um den Wagen des Opfers verschwinden zu lassen. Weit hergeholt, aber nicht unmöglich, denn auf den verlassenen Wegen in dieser Gegend konnte man sich stundenlang ungesehen und ungestört bewegen.

Hannah musste sich zu einer neuen Erkenntnis durchringen. Sie konnte lediglich sicher sein, dass ein Mann gestorben war und jemand – eine oder mehrere Personen – alles getan hatte, damit die Leiche nicht gefunden wurde. Wozu es vielleicht auch nie gekommen wäre, hätte ein anderer Mensch nicht die Idee gehabt, ein paar Kilometer entfernt zwei Wölfe zu vergiften.

Katja wartete.

Warten konnte sie gut.

Das hatte sie einen Großteil ihrer Kindheit geübt. Geduld sei der Schlüssel zum Erfolg, war ihr eingebläut worden. Wie sie wusste, bemühten sich andere in solchen Situationen, überhaupt nichts zu denken, damit die Zeit schneller verging. Den Kopf vollkommen zu leeren, in sich selbst abzutauchen.

Nicht jedoch sie. Ihr wurde das viel zu schnell langweilig.

Also streifte sie durch die fremde Wohnung. Zwei Zimmer und eine Küche im siebten von elf Stockwerken in einem Block am Rande von Sankt Petersburg. Sie war bereits in dem kleinen Schlafzimmer gewesen, hatte auf dem Einzelbett mit der Häkeldecke und den beiden Zierkissen gesessen und neugierig den Inhalt des Nachttischs untersucht, der verriet, dass die Räume von einer gläubigen Frau mit Lesebrille und ohne aktives Sexualleben bewohnt wurden.

Auf der Kommode neben dem Fenster stand das Foto eines Mannes, den sie wiedererkannte.

Stanislaw Kusnetsow.

Vor einem Schminkspiegel lagen einige wenige, einfache Make-up-Artikel. Ohne nachzudenken, sortierte Katja sie nach Größe und Form um, hier die runden, dort die eckigen, die drei Lippenstifte nach Farben von hell nach dunkel. Währenddessen schweifte ihr Blick aus dem Fenster zu den anderen elfstöckigen Häusern. Sie waren um einen Innenhof mit zu wenigen Bäumen und zu spärlichem Grün gruppiert, als dass man sich dort gerne aufhalten würde, es sei denn, man war gezwungen, der Kinder wegen auf den seelenlosen und heruntergekommenen Spielplatz in der Mitte zu gehen.

In den Kommodenschubladen lagen Unterwäsche, Strümpfe, Bettwäsche, Taschentücher und Schals. Katja verbrachte einige Minuten damit, sie zusammenzulegen und zu ordentlichen Stapeln zu schichten, ehe sie den Schrank öffnete.

Kleider, Blusen und Röcke.

Nicht sonderlich viele von jeder Sorte. Flink räumte sie die Kleiderbügel um, sodass die passenden Kleiderstücke nebeneinanderhingen, von links nach rechts, Blusen, Röcke, Kleider. Nachdem sie einen letzten Blick auf die nichtssagende Kunst an den dunkelgrünen Wänden geworfen hatte, verließ sie das Schlafzimmer und trat ins Wohnzimmer.

Ein Dreisitzer-Sofa, das definitiv noch aus den Neunzigern stammte, mit einem fleckigen Sofatisch davor. Darunter ein mattgrüner Knüpfteppich. Ein eingesunkener Sessel. Alles war zu einem Fernseher an der Wand hin ausgerichtet. Daneben stand ein dunkles Bücherregal, das ebenso viele Fotoalben wie Bücher enthielt und gerahmte Fotos, vermutlich von Familienangehörigen.

Katja zog wahllos ein Album heraus und setzte sich auf den Sessel. Die Aufnahmen stammten wohl aus den siebziger Jahren, da der Junge, der Stanislaw sein musste, darauf etwa sechs oder sieben Jahre alt war. Die meisten Fotos zeigten ihn und seine ältere Schwester, manchmal gemeinsam mit einem Mann, von dem Katja annahm, dass es der Vater war, der ihren Informationen zufolge vor acht Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Auf einem der Bilder stand er in der Tür einer kleinen Datscha irgendwo auf dem Land, blinzelte in die Sonne, schirmte die Augen mit der Hand ab und lächelte breit.

Ohne Vorwarnung blitzte in ihrem Kopf das Bild jenes Mannes auf, den sie mehrere Jahre lang als ihren Vater bezeichnet hatte. Auch er in einer Tür, kein Lächeln, definitiv keine Sonne.

Sie verdrängte die Erinnerung sofort wieder, schlug das Album zu, stand auf und stellte es zurück ins Regal, ehe sie ans Fenster trat. Der dichte Verkehr auf der Afonskaja ulitsa war hier oben nur als entferntes Rauschen hörbar. Sie steckte ihren Finger in den einzigen Blumentopf auf dem Fensterbrett und stellte fest, dass die Pflanze Wasser brauchte, ehe sie das Wohnzimmer verließ und sich ins Bad begab. Eine graue wasserfeste Tapete und ein PVC-Boden in einem etwas helleren Ton. Sechs weiße Kacheln in einem Rechteck über dem Waschbecken. Eine hohe, aber kurze gusseiserne Badewanne auf verzierten Löwenfüßen, mit einem Duschvorhang, der mit irgendwelchen Engeln bedruckt war.

Für einen Moment fühlte sie sich in den großen Saal zurückversetzt.

Die zwölf Badewannen, in einer Reihe, mit vier Grad kaltem Wasser gefüllt.

Sie wandte sich dem Spiegelschrank über dem Waschbecken zu. Ehe sie ihn öffnete, betrachtete sie sich selbst. Das schwarze, zu einem kurzen Pagenkopf geschnittene Haar, die markanten Augenbrauen über den braunen Augen, die hervortretenden Wangenknochen, die gerade Nase, die vollen Lippen. Wie immer, wenn der Job nichts Gegenteiliges verlangte, war sie ungeschminkt. Sie wusste, dass sie als hübsch galt und dies ein Vorteil war, um sich den Menschen zu nähern. Vor allem Männern, aber im Laufe der Jahre hatte sie herausgefunden, dass die Leute, unabhängig vom Geschlecht, attraktiven Menschen gegenüber aufgeschlossener waren.

Der Inhalt des Badezimmerschranks war das reinste Durcheinander. Sie klappte den Toilettendeckel herunter, nahm die einzelnen Utensilien heraus und legte sie dort ab. Pflaster, Zahnpasta, Zahnseide, Nasenspray, Deodorant, Hautcreme, Nagelschere, Fußfeile, Haarnadeln, einige Ohrclips, Badesalz, Taschentücher aus Zellstoff, Medikamente, einige verschreibungspflichtig, andere nicht. Doch auch hier nichts, was darauf hindeutete, dass die Frau, deren Badezimmerschrank sie gerade ausräumte, ein aktives Sexualleben führte. Dafür hatte sie, der Tube nach zu urteilen, die jetzt auf der Toilette lag, schon einmal eine Pilzinfektion im Unterleib gehabt.

Als der Schrank leer war, wischte Katja ihn mit angefeuchtetem Toilettenpapier aus, ehe sie die Utensilien nach vier Hauptgruppen geordnet wieder einräumte: Medikamente, Körperpflege, Haarpflege, Sonstiges.

Zufrieden mit dem Werk, das sie in den letzten zwanzig Minuten vollbracht hatte, ging sie in die kleine Küche. Eigentlich könnte sie etwas essen, dachte sie, öffnete den Kühlschrank und holte Butter, Käse, Eier und ein Bier heraus. Während die Eier auf dem Herd kochten, öffnete sie die hellgrünen Küchenschränke auf der Suche nach Brot, Tellern und Besteck. Sie wurde fündig und deckte für sich auf dem kleinen Küchentisch am Fenster. Die Zeitung, für die Kusnetsow schrieb, lag in einem geflochtenen Korb auf dem Boden. Katja hob sie auf und legte sie neben den kleinen Teller. Als die Eier fertig waren, schreckte sie sie unter dem Wasserhahn ab und stellte den Topf auf einen Untersetzer.

Dann setzte sie sich und begann zu essen und dabei zu lesen. Ihr fiel ein, dass es nett wäre, ein bisschen Musik zu hören, und sie sah sich nach einem Transistorradio oder Ähnlichem um. Doch sie fand nichts, aber vielleicht war das auch besser so. Würde aus der Wohnung Musik ertönen, wenn sie kamen, könnten sie vielleicht etwas ahnen. Vermutlich trafen sie aber erst in ein paar Stunden ein.

Also wartete sie.

Warten konnte sie gut.

Der restliche Nachmittag verflog einfach.

Hannah war im selben Moment zum Fundort zurückgekehrt, als Gordon sein Gespräch beendet hatte.

«Was hat Luleå gesagt?»

«Die Abteilung für schwere Verbrechen wird den Fall übernehmen.»

Keine große Überraschung. Eine versteckte Leiche wurde so lange als Mord angesehen, bis man das Gegenteil bewiesen hatte, und für Morde war Luleå zuständig.

«Und wer?»

«Erixon.»

Erixon mit X. Vorname Alexander, allgemein nur X genannt. Hannah kannte und schätzte ihn. Er hatte die Ermittlungen bei einigen ihrer Fälle schon früher geleitet. Zuletzt, als im vergangenen Frühjahr eine Leiche aus dem Kukkolafors gezogen worden war.

Sie erzählte, was sie unten am Weg gefunden hatte und dass höchstwahrscheinlich zwei Fahrzeuge in den Unfall verwickelt gewesen waren, darunter ein blaues. Gordon lauschte und nickte, ehe er sie bat, zurückzugehen und ihren Wagen aus Vitvattnet zu holen.

«Nimmst du den bitte mit?», fragte er mit einem Nicken in Richtung Jens, der unbeschäftigt und überflüssig ein Stück entfernt neben einem entwurzelten Baum stand.

«Muss ich?»

«Ja.»

«Na, dann komm», sagte sie und winkte Jens herbei. Sie verließen den Ort auf demselben Weg, den sie gekommen waren, während Gordon die anderen Teams im Wald anrief, um ihnen mitzuteilen, dass sie die Suche abbrechen und zurückkehren konnten.

Eine Dreiviertelstunde später parkte Hannah ein wenig näher am Fundort, aber noch in gebührendem Abstand. Jens musste im Auto warten, während Gordon und sie gemeinsam die Straße und ein weitläufiges Gebiet um das Grab im Wald absperrten. Die Spurensicherung würde sicher frühestens in einer Stunde eintreffen – der Nachteil eines kleinen Ortes, von dem alle wichtigen Ressourcen mindestens hundert Kilometer entfernt waren –, weshalb Gordon sie bat, Jens zurückzufahren und ihnen etwas zu essen zu holen.

Auf dem Rückweg zum Auto spürte Hannah plötzlich, wie sich die Hitze in ihrem Gesicht und am Hals ausbreitete, bis sie auf den ganzen Körper übergriff, während sich jede einzelne Pore zu öffnen schien und der Schweiß zu strömen begann. Ohne in den Spiegel zu sehen, wusste sie, dass sie knallrot und nassglänzend war. Während sie sich neben Jens setzte und den Wagen startete, stellte sie den Regler der Klimaanlage auf die niedrigste Stufe und widerstand dem Impuls, das Fenster herunterzulassen.

Schon das zweite Mal an diesem Tag.

Es war schlimm genug, dass sie mehrmals in der Woche von diesen Hitzewallungen ereilt wurde, aber würde das in Zukunft immer so weitergehen? Ein Gefühl, als hätte sie mehrmals am Tag eine anstrengende Sporteinheit absolviert, allerdings ohne positive Trainingseffekte. Sie war einfach nur klatschnass, und ihr Gesicht leuchtete wie eine Tomate.

«Darf ich die Heizung ein bisschen aufdrehen?», fragte Jens nach einigen Kilometern.

«Nein, dürfen Sie nicht.»

«Es ist ein bisschen frisch.»

«Wenn Ihr Körper Sie in einigen Jahren jeden Tag ärgert, dürfen Sie die Temperatur im Auto bestimmen, ja?»

Jens nickte vollkommen verständnislos, ehe er einen Versuch unternahm, mit ihr über die Ereignisse der letzten Stunden zu plaudern, aber das einsilbige Grunzen, das von ihr zurückkam, ließ ihn bald verstummen. Erst als sie auf den Parkplatz vor der Polizeistation einbogen und er ausstieg, öffnete er wieder den Mund.

«Sie können dann ja mal berichten, wie es weitergegangen ist.»

«Warum sollte ich?»

«Ich bin einfach nur neugierig, und inzwischen habe ich auch das Gefühl, ich wäre irgendwie beteiligt.»

«Ja, natürlich», log Hannah hemmungslos, um die Unterhaltung so schnell wie möglich zu beenden. «Morgan hat ja Ihre Kontaktdaten, wir werden Sie auf dem Laufenden halten. Fahren Sie vorsichtig.» Sie winkte ihm zum Abschied, glücklich, ihn zum letzten Mal gesehen zu haben, und fuhr zum Coop. Eigentlich mochte sie den ICA Maxi lieber, aber der Coop lag näher. Bei den Kühltruhen mit dem Fertigessen stellte sie das Abendessen zusammen. Gordon wollte etwas Nährstoffreiches. Sie wählte einen Krabbensalat. Alles, worauf sie selbst Lust hatte, musste in der Mikrowelle aufgewärmt werden, also nahm sie stattdessen einen Wrap mit Hähnchenfleisch. Ein kleines Vollkornbaguette für Gordon, zwei Flaschen Cola und eine Tüte Nacho-Chips rundeten ihren Einkauf ab.

Als sie zum Fundort zurückkehrte, standen bereits mehrere andere Autos hinter der Absperrung. Die Männer von der Spurensicherung waren eingetroffen, und Gordon hatte sie über alles in Kenntnis gesetzt, was sie wussten. Der Arzt, der mit den Technikern gekommen war, hatte den Totenschein ausgestellt, und jetzt machten sie sich an die Arbeit. Weil Gordon und Hannah dabei nicht großartig helfen konnten, setzten sie sich zum Essen auf einen Stein außerhalb des Absperrbandes, sahen den Kollegen zu und redeten nicht viel. Die Sonne stand immer noch hoch am Himmel, die Insekten summten in der Hitze, und hier und da hörten sie Bruchstücke der kurzen und gedämpften Kommunikation der Techniker.

Nachdem sie ihre Mahlzeit beendet hatten, bot Hannah an, zurückzufahren und mit dem Papierkram anzufangen, denn es reichte aus, wenn einer von ihnen vor Ort blieb. Gordon konnte in einem Wagen der Spurensicherung zurückfahren.

 

Zweieinhalb Stunden später klopfte er genau in dem Moment an ihren Türrahmen, als sie ihr Dokument schloss.

«Du bist noch da», stellte er fest und sank auf ihren einzigen Besucherstuhl.

«Wollte gerade gehen. Bist du eben erst gekommen?»

«Ja, sie haben den halben Wald durchsucht.»

«Wissen wir, wer der Mann ist?»

Gordon schüttelte den Kopf und unterdrückte ein Gähnen.

«Keine Personaldokumente, nichts.»

«Was machen wir jetzt? Gehen wir mit einem Bild raus?»

«Das wollen wir morgen besprechen, X und ich.»

Gordon erhob sich müde, und Hannah loggte sich aus. Sie begleitete ihn auf den Flur.

«Die ursprüngliche Todesursache war jedenfalls ein gebrochener Nacken.»

«Wie lange hat er schon da gelegen?»

«Das lässt sich anscheinend nur schwer sagen. Vor einer Woche wurde er zum Wolfsfutter, zu dem Zeitpunkt muss er also schon dort gewesen sein.»

Sie waren am Ende des Flurs angelangt. Gordons Büro lag direkt vor der Tür, die zur Treppe führte.

«Bis morgen», sagte er und legte die Hand auf die Klinke seiner Bürotür. Offenbar wollte er noch eine Weile bleiben. Erstaunt stellte Hannah fest, dass sie mit der Frage gerechnet hatte, ob sie auf ihn warten und auf dem Heimweg noch zu ihm kommen wolle. Sie hatte es sich sogar erhofft.

Das war zu irritierend, es sah ihr ganz und gar nicht ähnlich.

«Ja, bis morgen», erwiderte sie, schob die Treppenhaustür auf und ging.

 

Eine Minute später trat sie durch den verglasten Eingang und holte tief Luft, während die Tür hinter ihr zufiel.

Es war hell wie am Tag, still wie in der Nacht.

Auf der E4 waren nur wenige Autos unterwegs, sodass sie den Fluss und das Vogelgezwitscher vom Ufer hinter dem Haus hörte, während sie zu Fuß nach Hause ging. Ihr fiel auf, dass sie den ganzen Tag über nicht mit Thomas gesprochen und ihm weder erzählt hatte, was passiert war, noch, warum sie so spät kam. Andererseits hatte er sich auch nicht gemeldet und nachgefragt. Jetzt war es zu spät. Er war sicher schon ins Bett gegangen.

Sie setzte ihren Weg auf der Strandgatan fort, bog in die Packhusgatan ein und kam an der Stadsbiblioteket vorbei. Thomas war früher oft mit den Kindern hier gewesen, sie selbst nur hin und wieder. Jetzt hatte sie schon seit Jahren kein Buch mehr ausgeliehen. Und auch keines gelesen. Sie bog links in die Storgatan ab, ohnehin nicht die meistbefahrene Straße der Welt, aber um Mitternacht an einem Montag im Juni war Hannah hier allein unterwegs. Dann passierte sie das große gelbe Holzhaus, in dem der Odd-Fellow-Orden seinen Sitz hatte, und stellte fest, dass sie Hunger hatte, als sie an den Ladengeschäften und der geschlossenen Konditorei vorbeikam. Seit dem Wrap und den Nacho-Chips waren viele Stunden vergangen. Normalerweise würde sie jetzt rechts in die Köpmansgatan abbiegen, den Marktplatz, das Stadshotellet und den Wasserturm passieren und den Weg nach Hause fortsetzen. Doch ein Gedanke ließ sie nicht los.