Wüste Welt - Wolfgang Popp - E-Book

Wüste Welt E-Book

Wolfgang Popp

4,8

Beschreibung

Ein Roadtrip durch Marokko oder Auf der Suche nach dem verlorenen Bruder. Was sich für die meisten von uns wie eine wünschenswerte und entspannte Abwechslung vom grauen Alltag anhört, entwickelt sich für den Erzähler in Wolfgang Popps Roman »Wüste Welt«, zu einer abenteuerlichen Schnitzeljagd. Zwei Jahre lang hatte der Protagonist, ein Wiener Musiker, keinen Kontakt mehr zu seinem Bruder. Dann erhält er ein rätselhaftes SMS mit dem Hinweis auf dessen gegenwärtigen Aufenthaltsort: Marokko. Ohne zu zögern bucht er einen Flug nach Agadir, von seinem Bruder fehlt dort jedoch jede Spur. Eine abenteuerliche Reise quer durch das ganze Land beginnt. Der verschwundene Bruder bleibt ungreifbar, hinterlässt Hinweise und Spuren und ist ihm immer einen Schritt voraus. Wir folgen dem Erzähler nach Tafraoute ins Antiatlas-Gebirge, in die dunklen Gassen von Sidi Ifni und durch die felsige und sandige Wüste bis an die Atlantikküste. Wie schon bei der Arbeit zu »Die Verschwundenen« ist Wolfgang Popp auch dieses Mal auf den Spuren seiner eigenen Romanfigur nach Marokko geflogen, um den Orten und den dort erlebten Situationen die Gelegenheit zu geben, sich selbst in die Handlung einzuschreiben.

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That is life. That’s what it is. People like me come along, when you are not looking. The Drop (Regie: Michaël R. Roskam)

In the desert he can make himself invisible and travel at the speed of sound. And he is dressed like a woman. Jauja (Regie: Lisandro Alonso)

Ich wollte irgendwohin, wo Bäume waren. Alejo Carpentier, Die verlorenen Spuren

Schwarz. Ohne Zucker.

Die Stewardess schenkt den Kaffee ein und reicht mir die graue Plastiktasse.

Schlanke Finger, die Nägel kurz geschnitten, farblos lackiert. Menschen mit schönen Händen haben bei mir einen Vertrauensvorschuss.

Waren Sie vor einer Woche auch auf diesem Flug, frage ich sie.

Sie sieht mich an, versucht wohl abzuschätzen, ob das eine billige Anmache sein soll.

Nein. Bis letzte Woche bin ich Transatlantik geflogen, sagt sie. New York. Boston. Chicago. Ich bin heute das erste Mal nach Agadir im Einsatz. Warum?

Nicht so wichtig, sage ich. Es geht um einen Bekannten.

Sie nickt, löst die Bremse des Servierwagens und schiebt ihn eine Reihe weiter.

Ich greife zur Innentasche meiner Jacke. Spüre das Foto meines Bruders. Und lasse es, wo es ist.

Vier Stunden Flug bis Agadir. Die rote Erde im Norden Spaniens, die Turbulenzen, während wir an der Costa Brava entlangfliegen, die Windräder auf den Hügeln hinter Valencia. Und nur wenig später Berge, die aussehen wie Haufen aus Staub. Es ist mindestens zwei Jahre her, dass ich irgendetwas von meinem Bruder gehört oder gesehen habe. Und dann plötzlich vor einer Woche dieses geheimnisvolle SMS.

Der Flug vergeht überraschend schnell. Mich stört nur mein eingerissener rechter Daumennagel, passiert in der Früh beim Packen, und ich fahre unentwegt mit dem Zeigefinger über die Stelle. Als die Stewardess mit den schönen Händen vorbeikommt, bestelle ich noch einen Orangensaft.

Ich habe nachgefragt, sagt sie, als sie mir den Plastikbecher reicht. Keine meiner Kolleginnen ist heute vor einer Woche an Bord gewesen. Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann.

Wäre nicht notwendig gewesen, sage ich. Aber vielen Dank.

Hat schon seine Richtigkeit, dass Menschen mit schönen Händen bei mir einen Stein im Brett haben.

Wir drehen kurz vor der Küste und sinken dann langsam im Gegenwind. Die Wolken werden immer dichter. Als wir landen, ist der Himmel bedeckt. Die Grenzbeamten im Flughafengebäude agieren mit einer abweisenden Ernsthaftigkeit. Jeder einzelne von ihnen ein Gott, schwer damit beschäftigt, die Welt am Laufen zu halten. Keine Ahnung haben die, dass mein Bruder derjenige ist, der macht, dass die Welt sich dreht. Und zwar um ihn und ausschließlich um ihn.

Die Autovermietung befindet sich in einer winzigen Koje. Hinter dem Tresen sitzt ein Mann und liest Zeitung: Er ist Ende fünfzig, hat kurz geschnittenes, grau meliertes Haar und trägt einen gelben Pullover. Er schiebt mir ein Formular und einen Kugelschreiber herüber. Ich fülle das Blatt aus und drehe es dann so, dass er meine Angaben lesen kann. Tippe mit dem Kugelschreiber auf meinen Nachnamen.

Hat vor einer Woche ein Mann mit diesem Namen ein Auto bei Ihnen gemietet?

Ich bin sein Bruder, sage ich noch, als er mich zögernd ansieht.

Der Mann öffnet eine Schublade und holt einen Aktenordner heraus. Er blättert vor und zurück. Die gleiche rituelle Langsamkeit wie die Grenzbeamten vorhin. Schließlich bleibt er bei einer Seite hängen, an der er vorher bestimmt schon zweimal vorbeigeblättert hat.

Ach ja, sagt er, jetzt erinnere ich mich wieder. Übers Internet hat er den Wagen für zwei Wochen bestellt, aber als er dann hier war, hat er gemeint, er braucht den Wagen länger, vielleicht sogar bis zum Sommer.

Geht das denn, frage ich. Ein Auto zu mieten und kein genaues Rückgabedatum zu nennen.

Warum nicht, sagt der Mann, wir haben seine Kreditkartennummer, er kann das Auto haben, so lange er will.

Ist was mit Ihrem Bruder, fragt er dann noch.

Nein, sage ich und denke: nicht mehr als sonst.

Dann verlangt der Mann Pass und Führerschein von mir, beugt sich wieder über das Formular und vergleicht die Angaben. Er gibt mir die Ausweise zurück, zusammen mit dem Autoschlüssel und den Papieren, und erklärt mir den Weg zum Parkplatz.

Ich bedanke mich, nehme meine Tasche und gehe zum Ausgang. Gerade als sich die Schiebetür öffnet, höre ich, dass mir der Mann etwas nachruft. Er lehnt sich weit aus seiner Koje und winkt mit einem Buch in der Hand.

Das hat Ihr Bruder liegen gelassen. Als er den Wagen gemietet hat.

Er gibt mir das Buch. Ein Schritt ins Leere. Ein Agatha-Christie-Roman, von dem ich noch nie gehört habe.

Das ist nicht von meinem Bruder, sage ich.

Doch, bestimmt, sagt der Mann.

Nehme ich das Buch eben mit. Auch wenn ich mit Sicherheit weiß, dass es nicht meinem Bruder gehört. Der liest nämlich keine Romane. Hat er noch nie gemacht. Lieber sich in der Welt verlieren als zwischen zwei Buchdeckeln, das war immer sein Motto.

Danke, sage ich und rolle das Buch zusammen, sodass es in meine Jackentasche passt. Ich werde es wegwerfen, sobald ich außer Sichtweite bin.

Der Parkplatz ist klein, es gibt nur eine Reihe mit Mietautos. Ich finde den Wagen auf Anhieb und verstaue meine Tasche im Kofferraum, meinen kleinen Rucksack stelle ich auf den Beifahrersitz. Ich starte, und als ich den Gang einlege, spüre ich Agatha Christie in meiner Jackentasche. Ich stelle den Motor wieder ab, ziehe das Buch hervor und blättere die Seiten durch. Da ist nichts. Keine Notiz, kein eingelegter Kassenzettel, kein Foto. Doch dann finde ich hinten auf der Innenseite des Buchdeckels eine Eintragung. Hotel Salama, Tafraoute. Und es ist wirklich die Handschrift meines Bruders.

Ich suche die Straßenkarte aus meinem Rucksack, die ich in Wien noch gekauft habe. Ziehe mit dem Zeigefinger eine immer größer werdende Spirale um Agadir auf der Suche nach diesem Tafraoute. Da ist es, liegt mitten in einem Gebirge, das Antiatlas heißt. Antiatlas. Das passt so was von gut zu meinem Bruder. Der ist auch ein Anti. Ein Mann, der alles anders macht als die anderen. Einer, der aus Prinzip auf der anderen Seite steht, dort, wo das Gras grüner ist. Dieses Tafraoute liegt geschätzte hundertfünfzig Kilometer südlich von hier. Es ist erst früher Nachmittag. Selbst bei schlechten Straßenverhältnissen sollte ich es heute noch bis dorthin schaffen. Und wenn es tatsächlich ein Hotel Salama in diesem Tafraoute gibt, werde ich die Nacht dort verbringen. Und dann weitersehen.

Die Straße führt anfangs noch eben dahin. Es ist windig. In den Stacheln der Feigenkakteen hängen blaue und rosa Plastiksäckchen. Dann steigt das Land langsam an, die ersten zaghaften Serpentinen. Am Straßenrand niedere, gerade einmal kniehohe Steinmauern, dahinter vereinzelt Bäume, steinalt und knorrig, mit seltsam nadeligen Blättern. Ziegen stehen auf ihren Hinterhufen und versuchen, die olivenartigen Früchte an den Ästen zu erreichen. Dann tauchen am Horizont rote Granitfelsen auf, und die Straße wird immer schlechter. Einmal muss ich zwanzig Minuten warten, weil ein Bagger ein tiefes Loch im Asphalt zuschüttet.

Dann wird es wirklich steil, die Serpentinen immer enger, nach endlosen Kehren erreiche ich eine Passhöhe. Kein Baum, kein Strauch, eine Landschaft aus Stein und Erde, in Rot und Braun und allen Schattierungen dazwischen. Ich stelle den Wagen ab und steige aus. Aus irgendeinem Grund bin ich mir sicher, dass mein Bruder hier auch Halt gemacht hat und beginne deshalb den Boden abzusuchen. Mit den Schuhen schiebe ich Steine zur Seite, entdecke aber nur ein Stück Zeitung, alles auf Arabisch, sonst ist da nichts. Ich gehe vor zur Geländekante, wo der Hang steil abfällt. Die Sonne kommt heraus, und ich sehe vor mir etwas glitzern. Vorsichtig rutsche ich über das Geröll hinunter. Fehlt noch, dass ich mir hier den Knöchel breche. Kurz verliere ich wirklich das Gleichgewicht, fange mich aber im letzten Moment. Der glitzernde Gegenstand ist eine Sonnenbrille. Ein Glas fehlt, das andere ist gesprungen, aber ich erkenne sie trotzdem gleich wieder. Die Brille hat unserem Onkel gehört, und mein Bruder hat sie nach dessen Tod meiner Tante abgeschwatzt. Als Erinnerung, wie er damals zu ihr gemeint hat, obwohl ich wusste, dass unser Onkel meinem Bruder immer völlig gleichgültig gewesen ist. Ihm hat einfach die Brille gefallen. Meine Tante hat sie ihm geschenkt. Zusammen mit fünfhundert Euro, die sie ihm aus Rührung gleich dazugegeben hat. Ich habe ihr nichts abgeschwatzt, bin nur still dabeigestanden und habe dafür einen abschätzigen Blick von ihr geerntet. Stumm haben mir ihre Augen meine Kaltherzigkeit vorgeworfen, dass ich ohne ein Andenken an meinen Onkel auskommen konnte. Geld habe ich natürlich auch keines gesehen, dabei hätte ich es gut brauchen können damals. Mir war die Sache einfach zu blöd. Meinem Bruder nicht. Der versteht es, den Menschen das zu geben, was sie sich erwarten oder erhoffen, wenn er dafür das bekommt, was er will. Was gibt es Schöneres, als dass alle glücklich sind, hat er einmal gesagt, ganz ohne Ironie.

Für meinen Bruder war die Brille heilig. Sommer und Winter, Tag und Nacht, Sonne und Regen, er hat sie immer bei sich gehabt. Wenn er sie nicht getragen hat, dann steckte sie in der Brusttasche seines Hemds. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, ihn danach nur ein einziges Mal ohne diese Brille gesehen zu haben. Deshalb wundert es mich, dass sie hier zerbrochen auf dem Boden liegt. Eigentlich habe ich mir schon vor Jahren vorgenommen, mir keine Sorgen mehr um meinen Bruder zu machen. Weil ihm ohnehin nie etwas passiert. Die größten Dummheiten hat er schon angestellt, und nie ist etwas schiefgegangen. Das habe ich lange genug gemacht, ihm nachzulaufen, wenn er dabei war, etwas auszuhecken, um dann dieses unerträgliche Grinsen von ihm zu ernten und zu hören, dass er alles unter Kontrolle habe. Ich bin dann jedes Mal Flüche in mich hineinmurmelnd davon, habe mir geschworen, ihm nie wieder nachzurennen, bis zum nächsten Mal. Eigentlich hilft nur, nichts von ihm zu wissen. Nicht zu wissen, was er als nächstes vorhat, oder am besten gar keine Ahnung zu haben, wo er überhaupt war. Aber da bin ich nun einmal, die zerbrochene Brille bedeutet nichts Gutes, und so rutsche ich eben den Hang weiter hinunter, weil er ja da unten liegen könnte, gestolpert und abgestürzt, den Knöchel verstaucht, das Bein gebrochen, das Gesicht aufgeschlagen, und sehe zwar die Worte vor mir, verstaucht, gebrochen, aufgeschlagen, aber keine Bilder des blutenden oder Schmerzen leidenden Bruders, weil ich es ja selbst nicht glauben kann, weil es diese Bilder auch nirgendwo gibt, nicht in meinem Kopf und wahrscheinlich auch nicht in dem Kopf irgendeines anderen Menschen, eine Undenkbarkeit, mein Bruder verzweifelt oder hilflos.

Der Hang wird felsiger, und ich muss meine Hände zu Hilfe nehmen. Ein Stein bricht unter mir weg, und als ich den Sturz abfangen will, schürfe ich mir die Hand auf. Nur ein leichtes Brennen, aber als ich mir die Wunde ansehe, merke ich, dass sie doch einige Millimeter tief ist. Ich fingere ein Taschentuch aus meiner Hose und mache sie mir blutig dabei. Ich wickle es um den offenen Finger und klettere weiter bis zum Talboden. Wäre mein Bruder wirklich abgestürzt, dann müsste er hier irgendwo liegen. Da ist aber nichts. Auch keine Blutspuren oder Gewandfetzen sind zu sehen. Ich setze mich einige Minuten auf einen Felsblock und verschnaufe, weniger von der Anstrengung, mehr von dieser Situation, dass ich wieder einmal sein Was hast du, ist doch alles unter Kontrolle in meinem Kopf höre. Als die Stimme endlich wieder schweigt, mache ich mich auf den Rückweg. Oben angekommen, hole ich die Sonnenbrille meines Bruders aus der Jackentasche und setze sie auf. Durch die leere Öffnung und das gesprungene Glas lasse ich meinen Blick über die Landschaft schweifen, als könne ich auf diese Weise die Welt genauso sehen wie er. Aus den Augenwinkeln nehme ich eine kurze Bewegung wahr. Eine Eidechse sitzt auf einem Stein und schaut mich mit ihrem maskenhaften Grinsen an, als wäre sie eine Abgesandte meines Bruders, der hinter dem Horizont sitzt und lacht.

Das SMS kam an einem Montagmorgen knapp nach acht Uhr. Meine Freundin war im Bad, ich saß noch beim Frühstück, im Radio die Nachrichten, als das noch lautlos geschaltete Handy vibrierte. Es lag neben meinem Teller und kam seltsam schlingernd auf mich zu, das Geräusch, ein kurzes ersticktes Kichern. Und obwohl ich von meinem Bruder seit einer Ewigkeit nichts mehr gehört hatte, wusste ich sofort, dass er es war. Warum? Ich habe einmal gelesen, dass Quanten, obwohl weit voneinander entfernt, doch auf geheimnisvolle Weise miteinander kommunizieren. Für meinen Bruder und mich gilt Ähnliches. Und ich wäre glücklicher, würde es anders sein. Würde es da keinen Draht geben zwischen uns und keine Ahnungen und ich einmal nur mich selbst spüren können. Ich wischte über das Display meines Handys und wünschte, ich könnte das SMS dadurch zum Verschwinden bringen, es zurückschießen in den Dunst des Datennirwana, aus dem es zu mir gekommen war. Aber natürlich klappte die Nachricht auf, und ich las sie einmal, zweimal und dann noch ein drittes Mal, und obwohl der Text kurz war, blieb mir die Bedeutung völlig rätselhaft.

Waren das Tage bis jetzt. Mit Ideen gespielt und mit Menschen getanzt. Und jetzt in den Süden, damit die Dinge sich klären. HG 3734. Oh brother, where art thou?

Wollte da jemand aufräumen in seinem Leben? Ordnung schaffen? Oder sogar Reue zeigen? Und wenn ja, warum? War mein Bruder ernsthaft krank und wollte mit sich und mir ins Reine kommen? Oder war das wieder nur der gewohnte, fatale Lockruf, der verführerische Flötenpfiff des hinterlistigen Rattenfängers? Mein Daumen schwebte über dem Mistkübelsymbol, lag fast auf, da war kein Millimeter mehr zwischen dem Display und meiner Haut. Der Daumen blieb aber, wo er war, und genauso das SMS. Alles beim Alten. Mein Bruder wollte, dass ich ihm nachlaufe, und es funktionierte wie eh und je. Als meine Freundin mit nassen Haaren ins Wohnzimmer kam, hatte ich schon einen Direktflug nach Agadir gebucht, denn dorthin führte, so hatte es mir das Internet verraten, Flug HG 3734.

Tafraoute liegt in einer Talsenke, alle Häuser in der Farbe der Berge, als wären sie bewohnbare Felsen, die Fortsetzung der Landschaft. Das Hotel Salama befindet sich im Zentrum des Ortes, gleich am Marktplatz. Ich stelle den Wagen ab und gehe hinein. Die Lobby ist traditionell eingerichtet, es gibt zwei lange Diwane, darauf drapiert Dutzende Polster, dahinter ein offener Kamin. Dämmriges Licht dringt durch dunkelfarbige Glasfenster. Der Mann an der Rezeption lächelt zurückhaltend. Ich grüße und frage ihn nach einem Zimmer.

Für eine Nacht oder länger?

Weiß ich noch nicht, sage ich und gebe ihm meinen Pass.

Er trägt meine Daten in sein großes Buch ein. Als er fertig ist, ziehe ich das Foto aus der Innentasche meiner Jacke.

Das ist mein Bruder. War der vor ungefähr einer Woche hier?

Der Rezeptionist nimmt das Foto und geht einen Schritt zurück in den Lichtkegel seiner matt leuchtenden Deckenlampe. Zuerst scheint er unschlüssig, dann nickt er aber.

Ja, sagt er.

Könnten Sie nachsehen, wann das war und welches Zimmer er gehabt hat?

Der Rezeptionist blättert in seinem Buch. Es geht schnell. Viele Gäste scheint das Salama in letzter Zeit nicht gehabt zu haben.

Hier, sagt er, Ihr Bruder hat in Zimmer 118 gewohnt. Er dreht das Buch zu mir, sodass ich den Eintrag lesen kann. Da steht der Name meines Bruders und dahinter die Zimmernummer 118. Über der Spalte mit dem Datum hat aber jemand seinen Kaffee ausgeschüttet. Die Eintragung ist unleserlich.

Können Sie sich vielleicht noch daran erinnern, wann mein Bruder hier war, frage ich.

Ist schon einige Tage her, vielleicht sogar eine Woche, sagt er. Er ist aber nur zwei Nächte geblieben.

Ich frage ihn, ob Zimmer 118 frei ist, und er sucht das Bord hinter sich ab. Dann nimmt er einen Schlüssel vom Haken und reicht ihn mir. Die Stiegen hinauf und dann links. Es ist das letzte Zimmer auf der rechten Seite.

Alles Gute, sagt er dann noch, so als würde mein Bruder dort oben auf mich warten.

Der Gang ist nur schwach beleuchtet, die Zimmernummern sind kaum zu erkennen. Hinter keiner der Türen sind Stimmen zu hören. Ich scheine der einzige Gast zu sein. Als ich den Schlüssel ins Schloss stecke, bin ich nervös. Als könnte mein Bruder tatsächlich da drinnen auf dem Bett sitzen.

Ich bin seit fünfzehn Jahren mit meiner Freundin zusammen. Sie kennt meinen Bruder und sagt mir regelmäßig, dass sie ihn nicht leiden kann. Ich glaube ihr kein Wort. Sie will sich mir gegenüber einfach solidarisch zeigen, weil sie weiß, welche Schwierigkeiten ich mit ihm habe, aber natürlich kann sie sich seinem Charme genauso wenig entziehen wie alle anderen. Wenn er redet, hängt sie an seinen Lippen, und wenn er einen Scherz macht, lacht sie lauthals auf, aber was soll ich ihr das vorwerfen, mir geht es ja nicht viel anders. Jedenfalls wartete ich an dem Morgen, an dem das SMS kam, bis sie aus dem Haus war und versuchte dann erst, meinen Bruder zu erreichen, und dass ich ihm hinterherfliegen würde nach Marokko, das sagte ich ihr erst am Abend.

Natürlich ist da niemand in Zimmer 118, und ich werfe mich auf das leere Bett mit der grob gewebten rotorangen Überdecke. Lange hält es mich dort aber nicht, und so stehe ich wieder auf und beginne das Zimmer zu durchsuchen. Ich schaue unter der Matratze nach, hinter dem Bett und im Nachtkästchen. Nichts. Ich krieche auf allen Vieren über den Boden und unter den Schreibtisch. Jemand hat etwas unter eines der Tischbeine gesteckt. Es ist ein auf Briefmarkengröße zusammengefaltetes Blatt Papier. Ich hebe den Tisch mit meinem Rücken an und ziehe es heraus. An dem Tisch, der jetzt wackelt, falte ich das Papier auseinander. Es ist der Ausdruck eines Wikipedia-Eintrags über das Volk der Chleuh. Sie bewohnen den Antiatlas, steht da, gehören zu den Berbern, sind zwar Muslime, glauben aber an Geister, und ihre Frauen verfügen über zwei verschiedene Geheimsprachen. Die Wörter Geister und Geheimsprachen hat jemand mit einem gelben Leuchtstift markiert. Schon wieder Geister, die ich nicht gerufen habe, wie in dem SMS meines Bruders. Der Zettel stammt jedenfalls von ihm, da habe ich nicht den geringsten Zweifel. Ich falte ihn wieder zusammen und stecke ihn in die Hosentasche. Es ist knapp vor sieben, und ich habe Hunger. Ich gehe noch ins Bad und wasche mir das Gesicht mit kaltem Wasser. Mir hilft das, wenn eine unangenehme Stimmung sich mir auf die Haut zu legen beginnt. Zumindest bilde ich mir das ein.

Tafraoute sieht aus der Nähe nicht besonders einladend aus, genauso wenig seine Restaurants, die sich alle mehr oder weniger gleichen. Neonlicht, rostige Klappsessel, Plastiktischtücher. Und gähnende Leere. Vor dem Marrakesh sitzen zumindest drei ältere Männer, und so nehme ich am Nebentisch Platz. Die Männer haben einen Brotkorb vor sich stehen, Butter und eine Schüssel mit Oliven. Es nimmt aber nur ab und zu einer von ihnen einen Happen, in erster Linie rauchen sie eine nach der anderen. Alle drei tragen sie grob gewebte Kaftane, der eine, der seitlich zu mir sitzt, hat außerdem noch die Kapuze über den Kopf gezogen, sodass ich nur den glühenden Punkt seiner vorstehenden Zigarette sehe. Kaum dass ich sitze, kommt der Wirt mit der Speisekarte an. So rar wie die Gäste hier sind, will er offensichtlich nicht riskieren, dass ich es mir anders überlege und wieder aufstehe. Alkohol gibt es keinen, dafür frisch gepressten Orangensaft, ungewohnt um diese Tageszeit, aber warum nicht. Ist wahrscheinlich auch ganz vernünftig, weil ich gerade merke, dass ich den Tag über viel zu wenig getrunken habe. Der Wirt ist freundlich und spricht ganz passabel Englisch. Ich bestelle eine Tajine, Huhn mit Zitrone, das große Glas mit Orangensaft habe ich auf einen Zug ausgetrunken und bestelle gleich noch eines. Der Wirt lacht, als er das Glas vor mich hinstellt, und ich hole das Foto meines Bruders aus der Tasche.

Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen, frage ich. Ich suche ihn.

Der Wirt hält das Foto mit ausgestrecktem Arm, rückt seine Brille zurecht und kneift die Augen zusammen.

Ja, sagt er. Der war hier. Vor ungefähr einer Woche muss das gewesen sein.

Dann dreht er sich zum Nebentisch und spricht die drei Alten auf Arabisch an. Der Mann mit der Kapuze antwortet etwas und winkt dabei gleichzeitig mit einer betont lässigen Bewegung den Wirt zu sich. Er nimmt ihm das Foto aus der Hand und betrachtet es konzentriert. Sein Gesicht sehen kann ich immer noch nicht, aber ich merke, dass er einen tiefen Zug nimmt, weil die Glut seiner Zigarette sekundenlang aufglimmt. Dann nickt die Kapuze, der Mann steht auf und kommt herüber. Er zieht einen Stuhl heran und setzt sich zu mir an den Tisch. Jetzt sehe ich auch sein Gesicht, sonnengegerbt, faltig, unrasiert. Er könnte Ende fünfzig sein oder Anfang siebzig. Aber die Augen blitzen. Selbstbewusst, schalkhaft, schlau. Ein Mensch, der Fassaden bauen kann und deshalb auch weiß, wie man hinter sie blickt.

Ist Ihr Bruder, nicht?

Ich nicke.

Ist unschwer zu erkennen, sagt er, und fährt erst nach einer Pause fort. Ja, wir waren gemeinsam unterwegs.

Ach, ja? Und wann war das?

Der Mann zählt etwas an seinen Fingern ab.

Genau heute vor einer Woche hat er auch hier zu Abend gegessen. Da haben wir uns kennengelernt. Er hat mich gefragt, ob ich mich auskenne hier in der Gegend, und ich habe ihm gesagt, dass er den richtigen Mann gefunden hat.

Wo wollte er hin?

Die Geisterzeichnungen sehen.

Was für Zeichnungen, frage ich nach.

Sehr alte Felsritzzeichnungen aus der Steinzeit. Die Menschen hier sagen, dass sie von Geistern stammen.

Die wollte er sehen?

Ja, unbedingt. Er wäre am liebsten noch am Abend losgefahren. Ich habe ihm aber gesagt, das könne er sich aus dem Kopf schlagen. Die Straßen sind schlecht, und man muss mit dem Auto durch zwei Flüsse.

Da will ich auch hin, sage ich. Können Sie mich morgen hinbringen?

Der Mann sieht kurz in die Luft, so als müsse er überlegen.

Ja, morgen geht, sagt er schließlich.

Ich wohne im Salama, sage ich.

Ich bin um neun da, sagt er.

Als ich meinen Bruder vor einer Woche anrief, meldete sich sofort die Mailbox. Er musste das Handy ausgeschaltet haben. Ich schrieb ihm ein SMS und gab ihm meine Reisedaten durch. Geantwortet hat er nicht, und zurückgerufen hat er mich auch nicht, aber was habe ich mir auch erwartet? Wer sich auf meinen Bruder einlässt, weiß nie, woran er ist. Etwas mit ihm zu unternehmen, hat schon immer geheißen, keine Ahnung zu haben, was als nächstes passiert.

Am nächsten Morgen um neun ist nichts von meiner neuen Bekanntschaft zu sehen. Ich warte fünf Minuten, dann setze ich mich auf die Dachterrasse des Hotels und bestelle mir einen Kaffee. Von der Brüstung aus habe ich den Marktplatz und den Hoteleingang im Auge. Die noch tiefstehende Frühlingssonne taucht die umliegenden Berge in ein honiggelbes Licht, der Himmel indigoblau, der Kaffee stark. Kurz kann ich meinen Bruder vergessen und es kommt so etwas wie Urlaubsstimmung auf. Ich halte mein Gesicht in die Sonne, doch als ich die Augen schließe, ist er gleich wieder da, sein zufriedener Blick auf der orange leuchtenden Innenseite meiner Lider. Zwanzig Minuten nach neun taucht der Alte auf. Ich winke ihm zu und er winkt kurz mit seiner Zigarette zurück. Mein Bruder und er, sie haben einander bestimmt gut verstanden.

Anfangs ist die Straße noch gut, doch in einem kleinen Dorf lässt mich Ahmed auf eine unbefestigte Piste abbiegen, die zu einem Fluss hinunterführt.

Da müssen wir hinüber, sagt er.

Schaffen wir das mit dem Wagen?

Ahmed sagt nichts und deutet stattdessen hinüber zum anderen Ufer.

Ich bin kein guter Fahrer, im Gelände war ich überhaupt noch nie unterwegs und lasse den Wagen einfach langsam in das Kiesbett des Flusses rollen. Bald reicht das Wasser bis zur Bodenplatte, und wir bleiben fast stecken.

Mehr Gas, sagt Ahmed und hebt leicht die Füße an, so als würde das Wasser schon im Wagen stehen.

Die Räder drehen kurz durch, greifen schließlich, der Wagen macht einen Sprung, und dann sind wir draußen aus dem Fluss.

Auf der anderen Seite ist die Piste besser und ich habe wieder die Nerven, mich mit Ahmed zu unterhalten.

Warum sprechen Sie so gut Englisch, frage ich ihn.

Oxford, sagt er mit einer Engelsmiene.

Ich schaue ihn groß an, komme aber nicht dazu, nachzufragen, weil er gleich nachsetzt.

Ein Scherz, sagt er. Ich habe nie eine Universität von innen gesehen. Was ich an Fremdsprachen kann, habe ich von Touristen aufgeschnappt.

Nicht übel, sage ich.

Fast perfekt, sagt Ahmed und schmunzelt aus der Windschutzscheibe hinaus, dorthin, wo quer vor uns auf der Straße ein Baum liegt. Zum Glück ist er nicht besonders groß. Wir steigen aus und wuchten den Stamm zur Seite. Als wir zurückgehen zum Wagen, wischt sich Ahmed die Hände an seinem Kaftan ab.

Ist witzig, sagt er.