WUT - Raphael Thelen - E-Book

WUT E-Book

Raphael Thelen

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Beschreibung

Ein Roman aus dem Herzen der Generation Klima Raphael Thelen zeigt in seinem fesselnden Debütroman, wie die vermutlich größte Katastrophe in der Geschichte der Menschheit nicht nur unsere Ökosysteme, sondern auch unser Inneres verheert. Und er erkundet, wie weit ziviler Ungehorsam heute gehen darf – oder sogar muss? Berlin, Hochsommer. Vallie, Sara und Wassim demonstrieren in den glühenden Straßen für mehr Klimaschutz. Scheinbar haben sie schon viel erreicht, sind mit Größen aus der Politik per du, gewinnen Prozesse gegen mächtige Konzerne. Und trotzdem ändert sich nichts, trotzdem rast der Planet beinahe ungebremst auf die Apokalypse zu. Sara und Vallie, die sich eigentlich lieben, sind längst ausgebrannt und finden kaum mehr zueinander. Hat das alles noch einen Sinn? Das fragen die drei sich mittlerweile ständig. Doch heute ist etwas anders. Sara und Wassim reißen aus dem geordneten Demonstrationszug aus und Vallie mit sich. Was haben sie vor? Und wie wird die Gegenseite reagieren? Ein bis ins Mark spannendes Katz-und-Maus-Spiel entspinnt sich, bei dem die drei über sich hinauswachsen müssen – oder alles verlieren.

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Seitenzahl: 137

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Raphael Thelen

Wut

Roman

Originalausgabe

© 2023 Arche Literatur Verlag,

ein Imprint der Atrium Verlag AG, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Diek Design/Sarah Hensmann, Jemgumunter

Covermotiv: Patrick Hendry/Unsplash

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03790-107-6

 

www.arche-verlag.com

www.facebook.com/ArcheVerlag

www.instagram.com/arche_verlag

für meine Mutter

»Now is the time to turn rage into action.«

António Guterres

1

Unsere jungen Gesichter waren zu Masken erstarrt.

Wir liefen die Straße des 17. Juni runter, ich krallte meine Finger ins Fronttransparent.

»What do we want?«, rief jemand weiter hinten in der Demo.

»Climate Justice!«

»When do we want it?«

»Now!«

Früher hatte ich bei dem Ruf eine Gänsehaut bekommen.

Über den Baumkronen des Tiergartens kam der DE-Tower in den Blick. Wir protestierten seit Jahren gegen den Konzern; die Politik, unsere Eltern, die Wirtschaft applaudierten uns, und dann schütteten sie alle weiter mit beiden Händen Öl in das Feuer, das unsere Zukunft hätte sein sollen. Es passiere doch schon viel, sagten sie, und dass wir ein bisschen Geduld zeigen sollten und Dankbarkeit, doch in Wahrheit passierte nichts, wir rasten weiter auf die 1,5-Grad-Grenze zu, und dahinter lauerten die Kipppunkte des Klimas. Schieb einen Teller auf den Tischrand zu – lange Zeit passiert nichts. Bis er kippt. Unsere Aussicht aufs Leben: dieser Scherbenhaufen.

Und während wir mal wieder aufs Brandenburger Tor zuliefen, mal wieder der Ruf »Whose Streets? Our Streets« erklang, den selbst ich nicht mehr glaubte, weil wir immer nur brav der Polizei auf der abgesprochenen Route folgten, sagte Wassim aus dem Nichts:

»Lasst uns eskalieren heute.«

»Was?«, sagte Sara.

»Lasst uns eskalieren heute, vorne am Potsdamer Platz bei der DE-Zentrale. Wenn wir mit der Demo daran vorbeikommen, brechen wir seitlich aus und laufen rein. Wir sind knapp tausend hier, einige Hundert werden uns schon folgen, und die Polizei erwartet das nicht, die kriegen das erst mit, wenn’s zu spät ist.«

Ich kam kurz aus dem Tritt. Das war nicht Wassims Stil.

Als sie uns zum ersten Mal ins Wirtschaftsministerium eingeladen, uns zum ersten Mal ernst genommen hatten, hatte Wassim dem Minister lächelnd die Tür aufgehalten, während des Gesprächs genickt. Bei unseren Treffen war er es, der allen Tee aus seiner silbernen Thermosflasche einschenkte und bloß in kritischen Augenblicken einen Gedanken einwarf.

Es passte eher zu Sara, die lange schon keinen Bock mehr hatte auf Latschdemos, mehr machen wollte, oft sagte, sie laufe bloß noch mit, weil sie sich sonst so allein fühlen würde mit der ganzen Scheiße. Jetzt schlug sie in Wassims ausgestreckte Hand ein, warf mir einen herausfordernden Blick zu.

Später haben Wassim und ich mal über diesen Tag gesprochen. Er meinte, es habe schon länger in ihm gebrodelt. Eigentlich schon seit dem Jahrestag der Beerdigung.

Die Polizei vor uns erreichte das Brandenburger Tor, ein paar Touristinnen hörten auf, Selfies zu machen. Wassim bemerkte meine Irritation.

»Was denn, Vallie?«, sagte er so laut, dass einige, die hinter uns liefen, auf unseren Wortwechsel aufmerksam wurden. »Warum denn nicht?«

Ich hatte das Gefühl gehabt, ihn, Sara und die anderen so gut zu kennen. Dass Dinge sich so schnell ändern konnten, hatte ich nicht erwartet.

»Weil tausend Gründe«, sagte ich. »Weil wir das noch nie gemacht haben. Weil die Polizei uns dann zusammenprügelt. Weil wir nichts geplant, keine Strategie haben.«

»Und was nennst du das hier, Vallie? Zum x-ten Mal am Brandenburger Tor vorbeilaufen, ist das eine Strategie? Guck doch mal hin.« Wassim zeigte auf die endlosen Autoreihen auf der anderen Straßenseite, auf die Bäume, die im Tiergarten verdorrten, unseren mickrigen Protestzug.

Ich guckte nicht hin. Es war Juli, noch früher Vormittag, aber schon wieder schwülheiß, und der Tag sollte noch heißer werden. Für später gab es eine Unwetterwarnung, inklusive Sturmböen. Zuletzt hatte das immer Tote bedeutet.

»Wir spazieren durch die Gegend, und um uns rum geht die Welt unter«, sagte Wassim.

»Und was willst du – einen Riot?«, fragte ich. »Sag mir, wann das mal was Sinnvolles erreicht hat.«

»Stonewall«, sagte Sara, und das Wort stand einen Augenblick still in der schwülen Luft. Der Aufstand im Stonewall Inn 1969. Polizisten hatten in New York mal wieder eine Bar der queeren Community gefilzt, Menschen rumgeschubst und beleidigt, aber dieses Mal waren Gläser und Flaschen auf die Cops geflogen. Ausschreitungen folgten, angeführt von Schwarzen Frauen breiteten sie sich aufs ganze Land aus. Stunde null einer Freiheitsbewegung.

»Yes«, sagte Wassim. »Und heute feiern wir den Christopher Street Day, als gäbe es kein Morgen mehr.«

Ich guckte die beiden an. Heute gab es wirklich kein Morgen mehr, und ohne den CSD gäbe es das zwischen Sara und mir wahrscheinlich nicht, auch wenn ich mir oft unsicher war, ob es noch lange halten würde. Manchmal musste ich an die Albatrosse auf den Falklandinseln denken, von denen ich gelesen hatte. Die Vögel wollen ihr ganzes Leben mit ihren Partnerinnen verbringen, tanzen jedes Mal, wenn sie sich nach langen Flügen wiedersehen, doch seit einigen Jahren war etwas aus dem Gleichgewicht. Die Albatros-Liebe war gestört, mehr und mehr Beziehungen wehten auseinander, und Wissenschaftler sagten, dass es an der Klimakrise lag.

»Wir stürmen keine Konzernzentrale«, sagte ich. »Vor allem, weil die DE doch eh schon erledigt ist.«

Von vorne kam ein Polizist auf uns zu, der, mit dem wir immer die Route absprachen. Ein älterer Typ mit Schnauzbart und Berliner Dialekt. Er lief neben uns her und sagte, dass wir unsere Abschlusskundgebung nicht am geplanten Ort machen könnten, wegen der Autokolonne eines internationalen Politikers gebe es eine unerwartete Straßensperrung.

Es tue ihm leid, sagte er, Berlins Straßen seien für die Polizei mittlerweile wie ein riesiges Tetris-Spiel, in dem sie Demos, Politikerinnen und Wirtschaftsbosse ineinanderschachteln müssten, während die Geschwindigkeit immer weiter zunehme. Für uns sei heute auf jeden Fall am Potsdamer Platz Schluss.

Ich ließ es nicht auf eine aussichtslose Diskussion ankommen, nickte ihm zu, bedankte mich und spürte die Seitenblicke von Wassim.

»Du bedankst dich auch noch?«, sagte er.

»Es ist nicht seine Schuld?«

»Hey, voll nice, dass sie unseren Protest unterdrücken.«

»Was ist los?«, sagte ich.

Wassim wandte sein Gesicht ab, biss die Zähne zusammen, der Strang seiner Kiefermuskeln zeichnete sich unter der Haut ab. So kannte ich ihn nicht. Wut war nicht unser Metier. Wut war was für Asoziale im Fernsehen. Definitiv nichts für den politischen Raum. Wut war Zerstörung. Wir waren konstruktiv, und politische Arbeit war halt ein Marathon und kein Sprint.

»Selbst Jesus hat die Geldwechsler mit einer Peitsche aus dem Tempel vertrieben«, sagte Sara. »Und viel Zeit ist nicht mehr.«

Ich wusste nicht, wie sie das immer machte, so in mich reinzuschauen. Sie war aufgewachsen mit vollgewichsten Kondomen und Spritzen im Park vor der Haustür; ihre Mutter hatte sie allein großgezogen und ihr alles mitgegeben, um dort klarzukommen, dazu Erinnerungen an eine Heimat, die Sara nie gesehen hatte.

Was hatten meine Eltern mir mitgegeben?

Äpfel und Möhren für die Schule, unverwüstliche Kleidung einer teuren Marke aus Österreich und Millionen Glaubenssätze, die die Tage auf dem Spielplatz füllten wie Sand:

»Nicht streiten.«

»Sag immer schön Danke.«

»Sei lieb.«

Sie hatten akzeptiert, dass ich Computer Science studierte, was aber bald nur noch nebenherlief, nachdem ein Prof eine Kommilitonin rassistisch beleidigt hatte, wir daraufhin seine Vorlesungen bestreikten, er sich entschuldigen musste. Zum ersten Mal hatte ich den Kick des Protests gespürt. Stumm in Vorlesungen sitzen ging nicht mehr, was meine Eltern nervös machte – gerade sie –, aber sie waren auch stolz, als sie mich später in Talkshows sahen.

Ihre Tochter hatte es weit gebracht in diesem System – die größte Bewegung Deutschlands seit Jahrzehnten. Wir waren ganz oben, hatten Einfluss in den sozialen Medien, Zugang zu jeder Zeitung und jeder Redaktion, die privaten Telefonnummern von Ministerinnen im Handy. Wir hatten das breitestmögliche Bündnis geschmiedet, niemand, der ernst zu nehmen war, kam mehr ums Klima rum.

Auf seinem MacBook legte mein Vater Ordner für die Artikel über mich an, wenn ich in einem Interview irgendwo auftauchte, erzählten meine Eltern ihren Freunden davon; alle Türen würden mir jetzt offenstehen, sagten sie, aber wo führten die hin in unserer Situation? Wir hatten den Gipfel erklommen und standen trotzdem weiterhin vor dem Abgrund.

»Habt ihr’s schon gesehen?« Lisa schloss von hinten auf und hielt uns ihr Handy hin. »Nina Müller, die Sau, hat angekündigt, den DE-Firmensitz ins Ausland zu verlegen. Damit ist unser kleiner Sieg kaputt.«

Wir nannten Lisa manchmal liebevoll »die Zange«. Sie machte sich die meisten Gedanken über Strategien, darüber, wie wir die Gegenseite unter Druck setzen konnten. Es war ihre Idee gewesen, die DE – die Deutsche Energie – vor Gericht zu bringen, um den Konzern rechtlich zu zwingen, sich an die Vorgaben des Pariser Abkommens zu halten. Dass wir damit Erfolg hatten, hatte uns überrascht. Das Urteil: Die DE müsse ihre Emissionen innerhalb von zehn Jahren um knapp die Hälfte senken. Ein Durchbruch, ein Triumph. Wir hatten das System genutzt und gewonnen.

Nach der Urteilsbekanntgabe hatten wir ein Jubelselfie auf den Stufen des Gerichts aufgenommen, unser Vertrauen in den Rechtsstaat schien sich ausgezahlt zu haben. Konzerne in ganz Europa zitterten. Ein Funken Hoffnung. Die Nachricht vom DE-Umzug fühlte sich an wie ein Tritt in die Magengrube.

Ich holte mein Handy raus. Einige Minister empörten sich müde auf Twitter, andere boten Müller wahrscheinlich schon Steuererleichterungen an, falls sie doch bliebe. Doch Müller würde das durchziehen. Während einer Aufsichtsratssitzung soll sie mal fast eine Assistentin geschlagen haben, weil die ihr ein Glas Wasser über die Hose gekippt hatte.

»Das ist doch alles für’n Arsch«, sagte Sara.

»Ja«, sagte ich und guckte sie an.

Vielleicht waren sie und ich wirklich mal Albatrosse gewesen, denn es gab sie, diese Momente tiefer Verbundenheit, wenn wir mal die Gelegenheit fanden, mittags gemeinsam zu kochen, auf dem Balkon Sonnenstrahlen zu fangen, Gedanken zu teilen; wenn zwischen uns fast alles leicht und alles andere bedeutungslos schien.

Aber wir schwebten immer seltener so mit aufgespannten Schwingen nebeneinander über der Welt, hetzten stattdessen von Demo zu Orga-Treffen, von Interview zu Strategiesitzung. Keine Zeit, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, mit nackten Bäuchen auf einer italienischen Insel in der Sonne zu liegen. Morgens kaum jemals Zeit, nach dem Sex noch zusammen zu frühstücken, oft nicht mal für Sex. Und wenn wir doch mal zusammen aufwachten und frei hatten, las bald eine von uns auf ihrem Handy wieder irgendeine Nachricht darüber, wie Kängurus in Buschbränden verreckten, weil sie auf der Flucht in Stacheldrahtzäunen hängen blieben, und die Stimmung war kaputt.

Früher hatte es in Liebesgeschichten geheißen: Lass uns zusammen durchbrennen. Bei uns war es mehr: Lass uns zusammen ausbrennen.

Und auch die Bewegung, unsere Familie, zerfiel. Viele stiegen frustriert aus. Andere bissen bloß noch die Zähne zusammen.

»Whose Streets? Our Streets!«, schallte es von hinten.

Haltet die Fresse.

Die ganzen Plakate mit den gemalten Eisbären, den gewitzten Sprüchen und bunten Farben kamen mir immer mehr vor wie Anklagen gegen mich, wie Spiegel meines Scheiterns.

Ich spürte Wassim und Sara neben mir, spürte, wie mit jedem Schritt ihre Anspannung wuchs. Doch Gewalt war keine Lösung. Wir würden friedlich bleiben. Politik und Konzerne hörten nicht auf uns, aber wir konnten sie nicht zwingen.

Dann tauchten vor uns die Glasfassaden des Potsdamer Platzes auf. Die riesigen Werbebanner. Die verstopften Straßen. Die Reste der Berliner Mauer, die Passantinnen, die davon Fotos machten, ohne wirklich zu verstehen, was sie da sahen: das Zeugnis einer friedlichen Revolution.

Wassim warf einen Blick zu Sara. Die beiden nickten einander zu, ließen das Fronttransparent fallen, und Sara brüllte: »Kommt, Leute, heute schreiben wir Geschichte!«

Sie stürmten los. Die anderen rannten hinterher. Rissen mich fast um.

Und dann mit.

2

Mein Lehrer stand vorne an der Tafel, Deutschlehrer und Klassenlehrer. Groß, Anfang sechzig. Auf mich wirkte er uralt. Ich wusste nicht, was ihn so alt gemacht hatte; der ewige Kampf, die Schüler zu disziplinieren, sie immer wieder aufzufordern, den Mund zu halten, aufzupassen. Oder ob es nicht das Außen war, das ihn hatte alt werden lassen, sondern sein Innen.

Auf dem Lehrplan stand Wilhelm Tell: »eher den Tod, als in der Knechtschaft leben«, doch der Lehrer setzte am Ende der Stunde zu seiner bekannten Tirade an. Wir sollten uns anstrengen. Auf dem Arbeitsmarkt warte keiner auf uns, überhaupt warte da draußen niemand auf uns. Ranklotzen, sonst die große Schmach: Arbeitslosenhilfe. Und: unser Scheitern, unsere Schuld. Nicht seine, nicht die unserer Eltern, nicht die der Gesellschaft.

Das war seine Weltsicht. Sein Innen. Wahrscheinlich hatte auch er es irgendwo verpasst bekommen, wahrscheinlich trug er es deshalb nach außen. Und wahrscheinlich wirkte er deshalb so alt.

Beim Rausgehen kam er zu mir, Zigarettenatem, die Packung Marlboro in der Brusttasche seines orange-weißen Polohemds, und fragte, ob ich ihn zu seinem Auto begleiten könne, es gäbe da was.

Während wir nebeneinander hergingen, wollte er wissen, was ich von der Lektüre hielt, von Tell, und ich sagte, dass ich das Stück interessant fände und gern mehr erfahren würde. Er nahm seine Ledertasche auf die andere Schulter und sagte, er könne mir irgendwann mal nach dem Unterricht mehr erzählen, und ich lächelte, zögerte und sagte, ja, okay. Als wir am Sportplatz vorbeiliefen, sprach er vom Urlaub mit seiner Frau in der Schweiz. Sie seien auch auf dem Rütli gewesen, und insgesamt sei es eine schöne Reise gewesen, aber so eine Ehe könne sehr lang sein, und wahrscheinlich wisse ich das noch nicht, aber die schlimmste Einsamkeit verspüre man zu zweit.

Auf dem Lehrerparkplatz stieg er in sein Auto, guckte mich noch mal an und fuhr dann weg, und ich blieb zurück und fragte mich, was er gewollt hatte, fühlte mich ein bisschen wie ein Taschentuch voll Sperma, fand den Gedanken aber übertrieben, als ich später zu Hause auf meinem Bett lag. Er hatte wahrscheinlich nur wissen wollen, wie es mir ging.

Am nächsten Tag hatten wir Deutsch in der ersten Stunde, der Lehrer lächelte mich an. Ich lächelte zurück.

3

Schnauzbart-Polizist fand mich mit seinen Augen, kurz klebten unsere Blicke aneinander, dann wurde ich nach vorne gedrängt. Die Bundesbahn hatte ihren schicken Glasturm am Potsdamer Platz verkauft, um den Gewinn an ihre Shareholder auszuschütten. Die DE besaß jetzt eines der höchsten Gebäude Berlins, hundertdrei Meter, sechsundzwanzig Stockwerke, die spitz über uns aufragten, als wollten sie ein Loch in die Atmosphäre stechen.

Wir rannten nach rechts Richtung Eingang. Die Polizei war längst nicht so verpennt, wie Wassim und Sara erwartet hatten; ich hörte ihre Befehle aus knarzenden Lautsprechern über den Platz hallen, hörte unsere Schreie und sah Sara über eine Bordsteinkante stürzen, blickte mich um, sah Lisa ihr aufhelfen, wurde weiter vorwärts gedrängt.

Innerhalb von Sekunden erreichten wir den Glaskasten der S-Bahn-Station, waren abgeschirmt von der Polizei. Die preschte bald darauf seitlich in den Demo-Zug, schnitt den hinteren Teil von uns ab. Sara sah ich nicht mehr.

Wir erreichten den Eingang, zwei DE-Mitarbeiter kamen uns entgegen, sprangen zur Seite, wir stürzten durch die Türen ins Foyer, Wassim ein kleines Stück vor mir. Neben uns fuhr ein Sicherheitsmann von seinem Stuhl hoch, drei weitere standen beim Empfang. Einer griff zum Telefon, duckte sich dann hinter den Tresen, die anderen hechteten seitlich raus, um sich uns in den Weg zu stellen. Die Türen eines der fünf Aufzüge schoben sich auf, die Kabine groß wie ein SUV. »Zu den Treppen!«, schrie Wassim. Die beiden Sicherheitsmänner positionierten sich, doch wir strömten zwischen ihnen hindurch.

Knallend flog die Tür zum Treppenhaus auf, grau gestrichene Stufen, graue Wände mit einem neongrünen Streifen – konzipiert für den Fall eines Brandes und nur von denen benutzt, die Fitness für einen Lebenssinn hielten. Die ersten paar Stufen nahmen wir im Doppel, im dritten Stock brannte mir die Luft in den Lungen. Für mich war Fitness kein Lebenssinn. Nicht mehr.

Auch Wassim und die anderen hinter uns wurden langsamer, doch das Stampfen unserer Füße, tausendfach von den Wänden zurückgeworfen, füllte weiter das ganze Treppenhaus. »Wohin?«, brüllte ich zu Wassim schräg vor mir. »Ganz nach oben!«, rief er. In seinem Gesicht das breiteste Grinsen.

Zwei Stockwerke später wagte ich einen Blick zurück, das Treppenhaus war voll, unsere Gruppe erstreckte sich bis zum nächsten Absatz und darüber hinaus. Weit über hundert Leute mussten wir sein. Nicht das, was Wassim versprochen hatte, aber auch nicht nichts.

Aber was machten wir überhaupt? Ganz nach oben, und dann? Runterpinkeln? Brandbomben werfen?

Im zehnten Stock öffnete eine Frau im roten Kostüm die Treppenhaustür, in der Hand eine Müslischale, die sie beinahe fallen ließ. Im fünfzehnten Stock standen die Sicherheitsmänner auf dem Absatz, ihre Arme ineinandergehakt. Ich sah sie erst, als es zu spät war zu stoppen, wurde gegen sie gedrängt. Sie retteten sich zur Seite, wurden gegen die Wand gedrückt. Wir zogen vorbei.