X - Valentina Mira - E-Book

X E-Book

Valentina Mira

0,0

Beschreibung

Valentina hat sich ein Tattoo auf den Ringfinger stechen lassen, ein X, genau an der Stelle, wo das kleine Muttermal war, das gleiche wie auf dem Finger ihres Bruders. Als Kind war sie stolz auf dieses Zeichen der Zusammengehörigkeit, aber dann tauchte ihr Bruder ab, schloss sich der neofaschistischen Bande von G. an. Zum letzten Mal gesehen hat sie ihn im Video einer Überwachungskamera. An einem Weihnachtsabend ist er in die Garage der Eltern eingebrochen und hat ihre Autos zertrümmert. X ist ein Roman in drei Dutzend Briefen, die Valentina ihrem Bruder schreibt. Im Zentrum steht der Sommer 2010: Valentina hat gerade ein gutes Abitur gemacht, sie will studieren, aber zuerst wird gefeiert, gelacht und getrunken. G. ist auch auf dem Fest, er ist nicht nur ein Freund ihres Bruders, er ist auch ein Freund von ihr. Doch in dieser Nacht wird G. zu Valentinas Vergewaltiger. Valentina zeigt G. nicht an, sie schweigt, verschließt sich, isst nicht mehr. Nur ihrem Bruder versucht sie sich anzuvertrauen, aber er wendet sich von ihr ab. Erst Jahre später entschließt sich Valentina zu einem Befreiungsschlag.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 232

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Valentina hat sich ein Tattoo auf den Ringfinger stechen lassen, ein X, genau an der Stelle, wo das kleine Muttermal war, das gleiche wie auf dem Finger ihres Bruders. Als Kind war sie stolz auf dieses Zeichen der Zusammengehörigkeit, aber dann tauchte ihr Bruder ab, schloss sich der neofaschistischen Bande von G. an. Zum letzten Mal gesehen hat sie ihn im Video einer Überwachungskamera. An einem Weihnachtsabend ist er in die Garage der Eltern eingebrochen und hat ihre Autos demoliert.

X ist ein Roman in drei Dutzend Briefen, die Valentina ihrem Bruder schreibt. Im Zentrum steht der Sommer 2010: Valentina hat gerade ein gutes Abitur gemacht, sie will studieren, aber zuerst wird gefeiert. Auf dem Fest ist auch G., ein Freund ihres Bruders. Auch sie ist mit ihm befreundet, doch in dieser Nacht wird G. zu Valentinas Vergewaltiger. Valentina zeigt ihn nicht an, sie schweigt, verschließt sich, isst nicht mehr. Nur ihrem Bruder versucht sie sich anzuvertrauen, aber er wendet sich von ihr ab. Es dauert Jahre, bis sich Valentina zu einem spontanen Racheakt entschließt und ihrer Wut freien Lauf lässt. Für G. hat das keine Folgen, aber Valentina wagt endlich zu glauben, »dass vielleicht soeben meine Befreiung begonnen hat«.

Teile dieser Übersetzung entstanden im Rahmen eines Atelierstipendiums der Stiftung Landis & Gyr. Die Übersetzerin bedankt sich herzlich dafür.

Übersetzerin und Verlag bedanken sich bei folgenden Institutionen:

Die Übersetzung wurde gefördert von Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung.

Questo libro è stato tradotto grazie a un contributo per la traduzione assegnato dal Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale italiano.Die Publikation der Übersetzung erfolgt mit der freundlichen Unterstützung des italienischen Außenministeriums.

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021 bis 2024 unterstützt.

Die Originalausgabe ist 2021 unter dem Titel X bei Fandango Libri s.r.l. in Rom erschienen.

© 2021 Fandango Libri s.r.l.

© 2023 Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich

(für die deutschsprachige Ausgabe)

www.rotpunktverlag.ch

www.editionblau.ch

Umschlagbild: © Nicholas Fols

Lektorat: Anina Barandun

Korrektorat: Sarah Schroepf

eISBN 978-3-03973-009-4

1. Auflage 2023

»Nenn ihn Voldemort, Harry. Nenn die Dinge immer beim richtigen Namen. Die Angst vor einem Namen steigert nur die Angst vor der Sache selbst.«

Joanne Kathleen Rowling

INHALT

X

An den roten Power Ranger

Das Herz des Zauberwürfels

Es ist ernst

Weihnachtslied

Peitschenfest

Bruchstücke

Fear of the Dark

Mutter

Nein

Messer

Papa

Die Liste

Krokodile

Quis custodiet custodes?

Beichte

Früchtewolf

Warten

Titanic

Eisberg

Tabus

Scham Nr. 2 in c-Moll

Vademecum

Schönheit

Milch

Geschenke

Hunger

GTA

Vergissmeinnicht

Kaninchen

Du hast mich gezwungen

Nein heißt nein

Wölfin

Befreiung

Widerstand

Bonus Track

Dank

Autorin

Übersetzerin

X

Dieses Buch ist nicht das, was meine Mutter lesen möchte.

Es ist auch nicht das, was mein Vater lesen möchte.

Und obendrein wird mein Bruder es nie lesen.

Vor allem, weil man ihn nicht gerade einen guten Leser nennen kann. Aber auch, weil er seit sieben Jahren nicht mehr mit mir spricht.

Um ehrlich zu sein, ist es auch nicht das Buch, das ich schreiben möchte. Ich muss aber. Das Bedürfnis ist so groß geworden, dass ich nicht mehr anders kann. Als wäre jetzt der Moment gekommen. Ich weiß nicht, ob man das versteht. Als hätte in der verfluchten Sanduhr, in der ich wie ein Strauß leben konnte, mit dem Kopf im Sand, nun endlich auch das letzte Sandkorn beschlossen, sich in Bewegung zu setzen und wie alle anderen runterzufallen. Was den Strauß im Sand der Uhr tötet. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als das Glas, die Zeit, zu zertrümmern. Oder wenigstens zu versuchen, die Sanduhr umzudrehen. Und neu anzufangen. Zumindest dafür zu sorgen, dass ich eine Chance habe, es zu tun.

Während ich schreibe, betrachte ich das kleine X, das ich mir auf den Ringfinger habe tätowieren lassen. Davor befand sich an dieser Stelle ein winziges Muttermal: Mein Bruder hatte – hat? – ein genau gleiches.

Wenn mich jemand fragt, was das X bedeute, ob es ein Buchstabe oder eine römische Zahl sei, gebe ich keine Antwort. Ließe sich das, was hinter einem Tattoo steckt, in wenigen Worten mitteilen, hätte man gar kein Bedürfnis, es sich stechen zu lassen. Dafür sind Symbole doch da: Synthese. Das Unbewusste von Individuen fischt im kollektiven Unbewussten, um mit dem Unbewussten anderer Individuen zu kommunizieren.

Ich werde hier zum ersten Mal erzählen, was hinter diesem Tattoo steckt. Um das Erlebte nicht zu vergessen, es zu verarbeiten, es zu begreifen. Das Motiv – der Grund, warum ich mir diese kleine Marke auf den Finger setzen lassen wollte – ist viel simpler als das Erlebte. Ich wollte immer vor Augen haben, dass ich Nein sagen kann. Dass ich manchmal Nein sagen muss. Das war für mich nie eine Selbstverständlichkeit, und als mir das bewusst wurde, beschloss ich, mit meinem Körper einen Pakt zu schließen, um es nicht mehr zu vergessen.

Aber, um noch einmal zurückzukommen auf die Symbole, auf das individuelle und das kollektive Unbewusste, die immer miteinander kommunizieren, auch wenn sie nicht wollen: Ein X bedeutet sehr vieles.

X ist das Tabu, das Verdrängte. Mein Verdrängtes, dein Verdrängtes, das Verdrängte aller. Nur wenn man aufhört, sich so zu verhalten, als würde es nicht existieren, kann man weitermachen. Davon bin ich überzeugt.

X markierte auf den Landkarten, die wir als Kinder zeichneten, den Piratenschatz.

X ist die Lust, Geheimnisse auszugraben. Alle. Und mit diesen Geheimnissen endlich Schluss zu machen.

X sind zwei Wege, die sich kreuzen und dann wieder voneinander entfernen, aber den einen gemeinsamen Punkt gab es, er bleibt. Zuerst war an diesem Kreuzungspunkt ein kleines Muttermal. Am Kreuzungspunkt zweier gleicher, gegenläufiger Linien. Wie Schwester und Bruder.

X ist ein stilisierter Schmetterling, der früher eine Raupe war und nun wie das schöne Wesen behandelt wird, das er nicht ist, als das er sich nicht fühlt. Vielleicht hat sich dieser Schmetterling gerade die Nase korrigieren lassen. Vielleicht lag das in seinem Schicksal – eine Operation als Verpuppung, ein neues Gesicht für alte Lügen. Es lag vielleicht in seiner Natur, vielleicht übt die Natur selbst Gewalt aus, und die Schmetterlinge üben am meisten Gewalt aus von allen. Aber auch sie verdienen es, sich erklären zu dürfen, damit sie endlich aufhören, sich wie Raupen zu fühlen, die alle anderen mit festlich bemalten Ikarusflügeln zum Narren halten.

X ist ein Kreuz. Ein schiefes – so schief wie die Art und Weise, auf die manche Figuren in dieser Geschichte ihre Spiritualität leben. Ein zum Teil katholisches, zum Teil keltisches Kreuz. Manchmal ist es schwierig, die beiden voneinander zu unterscheiden, beide haben sich verzogen. Was ich erzählen werde, hat auch mit einer Handvoll Faschisten zu tun, vor allem aber mit dem unbewussten Faschisten in uns allen. Es geht um Tabus. Um die Schwierigkeit, sie zu brechen. Um die Notwendigkeit, es zu tun, es jetzt zu tun. Bevor sie uns zerbrechen.

X ist vor allem, und das gilt teilweise auch für mich, die ich darüber schreiben will, eine Unbekannte. Um die Gleichung zu lösen, muss die Unbekannte gefunden werden. Ich werde es versuchen.

Mir ist klar, dass der Piratenschatz nicht für alle interessant ist. Dass es mühselig ist, ihn zu finden, dass man sich auf eine alte Karte verlassen muss, die von irgendjemandem gezeichnet wurde. Dass dieser Irgendjemand sehr vage geblieben ist in Bezug auf das Ziel der Suche. Es scheint zu viel Zeug wild durcheinander unter dem Sand zu liegen.

Übrigens weiß ich genau, dass manche Leute der Meinung sind, die Tabus – die vielen X, die wir tagtäglich totschweigen – hätten Tabus zu bleiben. Sie glauben, dass es einen Grund gibt, warum über manches nicht gesprochen wird. Dass anständige Leute das nicht tun. Dass Familien zerbrechen, Beziehungen zerstört werden könnten. Man fürchtet die Schande, und das ist gut und richtig. Aber Scham und ein gesundes Schamgefühl sind nicht dasselbe. An Tabus sind Familien zerbrochen. An Tabus sind Personen zerbrochen. Ich könnte eine von ihnen sein. Auch du, Leserin oder Leser. Meines Wissens könnten wir alle eine von ihnen sein.

Ich habe unbändige Lust, im Leben weiterzumachen, aber mir ist bewusst geworden, dass ich das nicht tun werde, wenn ich nicht aufhöre, Strauß zu spielen. Und dass es vielleicht ratsam wäre, darüber zu sprechen. Ich verabscheue Scham, für mich ist sie nur fruchtbarer Boden für Mauern, Stillschweigen, omertà. Vor allem fruchtbarer Boden für Gewalt. Weil Gewalt Scham erzeugt. Und Scham wiederum Gewalt hervorruft. Ein mir wohlbekannter Teufelskreis, und ich bin es so leid, Spielfigur in einer fremden Partie zu sein. Dieser Kreislauf muss durchbrochen werden, damit man sich nicht in den eigenen Schwanz beißt wie Nietzsches Schlange der ewigen Wiederkunft, die sich nur von sich selbst ernährt, ohne je satt zu werden. Man muss vermeiden, es traumatisierten Kindern nachzumachen, die das Erlebte immer wieder nachspielen und vergeblich versuchen, es zu verarbeiten. Man muss den Mut finden, zu reden.

Wie vermutlich klar geworden ist, oder vielleicht auch nicht, ist das ein Buch über Gewalt. Aber auch über Liebe. Unter diesem X ist nämlich beides zu finden. Was mich betrifft, bin ich sicher, dass ich mich mit dem ersten Thema auseinandersetzen muss, um des zweiten je würdig zu sein. Weil ich mich, zuerst aufgrund einer Reihe von Zufällen und dann aufgrund mehr oder weniger frei gefällter Entscheidungen, zu sehr von dieser Gewalt habe durchdringen lassen. Irgendwann wurde ich zu etwas, was man als Gewaltstimulanz bezeichnen könnte. Vom Rotkäppchen zur Wölfin. Ich drohte es zu werden – eine Zeit lang sah es so aus, und die Gefahr ist noch nicht gebannt. Friss oder du wirst gefressen. Nachdem ich mich lange nicht hatte beugen wollen, wurde ich irgendwann, in einem heiklen Moment – sei es, weil mir die Kräfte ausgingen, sei es aus Feigheit – selbst zu einem Rädchen in diesem mir verhassten System.

Was ich hartnäckig »Geschichte« nenne, sind in Wirklichkeit Briefe, ist eine Flut, ein Tsunami an Briefen, die ich zu schreiben anfing, nachdem etwas bis heute Unerklärliches geschehen war. Auf jedem dieser Briefe steht der Name meines Bruders. Meines Bruders, der vor sieben Jahren einfach so verschwand, ohne jede Begründung. Eines Nachts – an Weihnachten 2018 – zeichneten die Überwachungskameras in der Garage unserer Eltern auf, wie er sich an ihren Autos ausließ. Während mein Vergewaltiger für ihn Schmiere stand.

Dieses Buch ist nicht das, was meine Mutter lesen möchte.

Es ist auch nicht das, was mein Vater lesen möchte.

Und obendrein wird mein Bruder es nie lesen.

AN DEN ROTEN POWER RANGER

Ich weiß nicht recht, wo ich anfangen soll. Sieben Jahre Funkstille sind echt lang. Ich muss mich auf meinen Instinkt verlassen. Und der führt mich – warum auch immer – zu einer Erinnerung, oder genauer gesagt zum Detail einer Erinnerung. Ich schreibe sie am besten einfach mal auf.

Die Erinnerung bist du im Wohnzimmer, das Detail ist die Art, wie dein rotes Power-Ranger-Kostüm sich mit dem Orange des Sofas beißt.

Es ist Karneval, und meine Mutter hat mich gezwungen, ein Sissi-Kleid anzuziehen. Ich kann noch nicht wissen, dass sie ein völlig untaugliches Vorbild ist, die magersüchtige österreichische Prinzessin Sissi, deren lila-perlweißes Kleid der große Renner unter uns Mädchen der neunziger Jahre ist, dieser Generation, die eine der höchsten Todesfallzahlen wegen Magersucht aufweisen wird. All das kann ich noch nicht wissen: Ich bin acht Jahre alt, bin noch klein. Ich weiß aber, dass der Stoff juckt und das Kleid unangenehm zu tragen ist mit diesem Reif, der es in Form hält und zwingt, offen zu stehen wie die Kronblätter der Blüte, die ich nicht sein will, als die ich mich nicht fühle, die ich als langweilig empfinde – ich fühle mich zu Bewegungslosigkeit verurteilt, damit andere mich anschauen können. »Was für ein schönes Mädchen«, puh. Ich laufe, ohne dass Mama es merkt, ins Zimmer und ziehe das Sissi-Kostüm aus. Du hast mir vom Sofa aus noch zugezwinkert, du, mein Bruder, mein Komplize. Ich mache ganz schnell, aber doch mit dem Gefühl, das Recht auf meiner Seite zu haben, öffne den Schrank und ziehe deinen orangen Goku-Anzug an. Und dann fühle ich mich endlich – endlich – frei. Frei zu spielen, zu springen, zu hüpfen.

Wir verbringen den Nachmittag damit, miteinander zu kämpfen, machen die beiden Sofas vor dem Fernseher zu unserem Archipel des Vergnügens, unserem Wrestlingring. Du spielst Rey Mysterio, einen quirligen kleinen Akrobaten. Ich bin John Cena, der harte Kerl aus Übersee. Aber unsere Ringkämpfe sind konfus – ab und zu schleudere ich dir eine Energiewelle entgegen, beziehe mich auf die falsche Fernsehsendung, und du kitzelst mich, statt mich zu Boden zu werfen und bis zehn zu zählen. Aber wir haben Spaß, lachen viel. Bei unseren Spielen ist am Schluss nie jemand wirklich k. o.

Eine andere Erinnerung. Nachdem du gegangen warst, wurde mir bewusst, dass ich die Erinnerungen hätte konservieren sollen, solange es noch möglich war. Und dass es weniger sind, als ich gerne hätte. Fast alle sind etwas albern.

Sie gehören zu den wertvollsten Dingen, die ich habe.

Nun also diese Erinnerung: Wir verbringen den Nachmittag damit, uns Trickfilme anzusehen, die Papa als »Mädchenzeug« einstufen würde: Rossana, Mila Superstar, Sailor Moon. Du machst mir die Türen auf zur Freiheit, ein bisschen Junge zu sein, und umgekehrt öffne ich dir die Türen zur sogenannten Mädchenwelt. Mit der Zeit wird uns klar werden, dass das eh alles Quatsch ist. Wir haben einfach mehr Wissen über die Welt, über den anderen. Mein erster Anderer warst du.

»Dulefu bilefist dolefof!«, rufst du fröhlich. Durch deine Eckzahnlücke erspähe ich schon die Zunge, die du mir gleich rausstrecken wirst. Als wäre das nötig: Du hast eben du bist doof in Löffelsprache zu mir gesagt. Ich habe sie dir heute beigebracht, eine Neuigkeit aus der Schule, und du bist davon ganz besessen. Jedes Mal, wenn ich mit meinem Altersvorsprung von gerade mal einem Jahr etwas Neues nach Hause bringe, bist du hin und weg. Mich macht es stolz, Stückchen der Welt vor dir zu entdecken und sie dir mitbringen zu können, zu sehen, wie deine Augen leuchten, wenn du du bist doof in einer Sprache sagst, die zu Hause allein uns gehört, die Mama und Papa nicht verstehen können, weil sie bei uns zu Hause nur mir und dir und sonst niemandem gehört.

Wir können Geheimsprachen brauchen, du und ich. Weil Papa in letzter Zeit immer schlecht gelaunt ist. Auf seine Weise hat auch er eine Geheimsprache erfunden. Aber sie gefällt mir nicht, und dir ebenso wenig. Papa spricht diese Sprache nur, wenn er traurig ist. Vielleicht hat er Probleme auf der Arbeit, vielleicht hat er Schwierigkeiten, genug für uns vier zu verdienen – für dich, mich, Mama, die zwar studiert hat, aber ganz für die Familie da ist, weil sie die Rollen so verteilt haben. Wenn er in diesem Zustand ist, spricht er die Sprache der Stille. Wir nehmen die Anzeichen inzwischen schon im Voraus wahr – gewöhnlich kommt er später nach Hause und schließt die Tür ganz langsam, fast lautlos. Als hätte er Angst, auf wer weiß was zu stoßen, als müsste er sich hereinschleichen. Als wäre das hier nicht sein Zuhause. Oder als hätte er Angst vor sich selbst, vor den Geräuschen, die er verursacht, und wollte sie daher in Watte packen oder sich selbst in Watte packen, zum Schutz vor unserem Kinderlärm oder um uns zu schützen vor dem, was er tun könnte.

Wir sitzen am Tisch. Stille kehrt ein. Nur du kapierst es nicht und machst weiter. Wiederholst: »Dulefu bilefist dolefof!« Ich versuche, dir mit meinem Blick zu sagen: Hör auf, siehst du nicht? Siehst du nicht, dass jetzt nicht der Moment ist? Der wird heute alles zu Kleinholz schlagen, Bruderherz, wer weiß, was ihm auf der Arbeit passiert ist. Wer weiß, was generell mit ihm los ist. Sei still. Du weißt doch, was sonst passiert.

»He, gibst du keine Antwort? Klar, vor Mama und Papa kämpfst du nicht mehr, nein, nein, du aufgeblasene Pute.« Du provozierst mich mit deinen gespielten Kinderbeleidigungen. Ich weiß, dass sie nicht echt sind, aber du darfst jetzt nicht. Niemand darf jetzt.

Aus dem Augenwinkel registriere ich Papas Bewegungen. Sehe, wie er nervtötend langsam die Rotweinflasche vor sich auf den Tisch stellt, nachdem er sich zum vierten, vielleicht fünften Mal eingeschenkt hat. Für die jungen, empfindlichen Sinne eines abstinenten Wesens ist Wein widerlich: Er riecht nach Eisen, ein bisschen wie Blut.

»Höleför auleff«, murmle ich in Löffelsprache und werfe dir einen Blick zu, der vielsagend sein soll. Hör auf. Nicht hier, nicht jetzt. Nicht vor ihm.

Papa knirscht mit den Zähnen. Ich habe mir angewöhnt, das als gereizte Ungeduld mir gegenüber aufzufassen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ihn allein schon meine Stimme reizt. Dieser Mann ist Lichtjahre entfernt von meinem alten Papa, der mir den Handstand beibrachte und vor dem Schlafengehen Märchen erzählte. Die Wahrheit ist, dass Papa vor dieser schlimmen Zeit die sanfteste Person der Welt war. Aber jetzt ist mir schleierhaft, warum er sich so verändert hat und was mit ihm los ist.

Ich habe Durst. Nehme die Wasserflasche von der Tischmitte, sehe, wie er mich beobachtet. Als wollte er meine Bewegungen kontrollieren. Schlimmer: Als würde er erwarten, dass ich gleich einen Fehler mache. Schrecklich. Es erinnert mich an damals, als ein alter Mann Mama beim Parken zusah und ihr eine ordinäre Bemerkung rausrutschte (»Echt jetzt, leck mich am Arsch!«). Sie entschuldigte sich bei uns für das Fluchen, doch der Typ schaute immer noch und schien überzeugt, dass sie einen Fehler machen würde, dass sie alles falsch machen würde, und dann päng! fuhr sie gegen ein Mofa, das tatsächlich umfiel. Sie war rot vor Scham, als sie es wieder aufstellte. Und statt ihr zu helfen, machte der alte Mann Sprüche über Frauen am Steuer. »Das wird teuer«, so was, und noch ein paar weitere billige Beleidigungen. Was wollte er von ihr? Was will Papa jetzt von mir? Ich bin acht, ich werde mir doch was zu trinken einschenken können, wiederhole ich in Gedanken, vor allem, um mich selbst davon zu überzeugen. Mit der Flasche in der Hand und diesen Gedanken im Kopf drehe ich den Deckel auf und merke, dass mir die Finger zittern. Sein Blick ist schwieriger zu ertragen, als ich gedacht hätte. Ich will gerade einschenken, da rutscht mir die Flasche – einfach so, ohne Grund – aus den Händen, es poltert, und am Ende ist das Wasser überall, außer in meinem Glas.

Papa wettert: »Zwei linke Hände, wie deine Mutter!«, und knallt das Messer so übertrieben laut auf den Tisch, dass er mir Angst eingejagt. Warum das Messer? Er hatte es davor doch gar nicht in der Hand. Mama sagt nichts, sie geht nicht auf ihn ein, wenn er sich so aufführt. Wenn er diesen bestimmten Blick hat – den bösen. Sie nimmt eine Serviette und hilft mir mit gesenktem Kopf, das Tischtuch zu trocknen.

Du hingegen kicherst nervös, das ist dein (heiliger, sakrosankter) Trick, Situationen ihre Dramatik zu nehmen: »Haha, zwei linke Hände, hahaha!« Ich blitze dich wütend an. Papa ärgert sich über deinen allzu fröhlichen Ton, packt die Flasche und hebt sie rabiat in die Höhe, bedrohlich, als wollte er sie dir über den Kopf hauen.

Alles passiert in Sekundenschnelle. Der Wein hat ihn in einen Wolf verwandelt, wie der Vollmond in den Geschichten, die wir uns vor dem Schlafengehen erzählen. In der Schule bin ich für meine Wortkargheit bekannt, aber jetzt flippe ich aus, flippe total aus und schreie ihn an: »Du darfst ihn nicht anrühren! Du darfst ihn nicht anrühren, verstanden?«

Ich stürze mich auf Papa, ohne mir Gedanken zu machen, wie klein ich bin, und Mama geht dazwischen.

Er flüchtet sich ins Schlafzimmer, aber erst, nachdem er auch sie mit dieser leeren Scheißflasche bedroht hat.

Abends kannst du nicht einschlafen, also erzähle ich dir eine Geschichte. Von einem Kind, das sich als roter Power Ranger verkleidet, dadurch unschlagbar, superstark wird und alle Bösen besiegt. Du schläfst ein, bevor ich zu einem Ende komme. Als auch ich schlafe, träume ich vom Wolf. Er verfolgt mich durch die Zimmer der Wohnung. Ich habe weder eine Ahnung, was er von mir will, noch, wer sich unter diesem Fell versteckt. Als ich aufwache, schlägt mir das Herz so heftig in der Brust, dass ich den Eindruck habe, es könnte sich jeden Moment wie ein Kolibri in die Lüfte erheben. Aber leider ist es nur ein Herz. Das hierhergehört: an diesen Ort der Geheimnisse, des Schweigens und der kleinen Freude, im Unglück wenigstens einen Gefährten zu haben, ein kleines Licht im Dunkeln. Dich.

DAS HERZ DES ZAUBERWÜRFELS

Um beim Thema Herz zu bleiben: Ich glaube fast, in mir steckt statt eines Herzens ein Zauberwürfel.

Als er frisch aus der Verpackung kam, waren alle Farben perfekt geordnet, sechs gleiche Seiten. Perfekt wie sein Fastzwillingsherz: deins. Dann brachte das Leben wie ein kleiner Wildfang alle meine Seiten durcheinander.

Ein zu wütend ausgesprochenes Wort und zack!, war eine Seite verschoben.

Ein Junge hebt mir nach einem Ringelreihen den Rock und zack!, wieder eine Seite.

Ein Freund geht für immer weg und zack!, die nächste.

Zack, zack, ZACK! Bis es irgendwann auch für mich unmöglich wurde, in diesem Harlekinherz mit den falsch angeordneten Farbflächen einen Sinn zu sehen.

So wurde es zu dem Geduldsspiel, das es heute ist.

Jetzt nähern sich viele meinem Würfelherz, weil sie der Herausforderung nicht widerstehen können, diese Aufgabe zu lösen. Die meisten unterschätzen sie: In die Irre geführt vom schlichten Anblick, übersehen sie, welch hochkomplizierter Algorithmus dahintersteckt. Sie drehen an einer Seite oder zwei. Hantieren gedankenverloren ein wenig am Würfel herum. Um ihn dann mit einem Schnauben ins Regal zurückzulegen, sobald ihnen die Täuschung bewusst wird.

Ab und zu, viel seltener, passiert es, dass jemand beschließt – bestimmt mehr von den Farben als von den Kanten angezogen –, sich richtig reinzuknien. Die Sache wird zu einer persönlichen Angelegenheit. Tage, sogar Jahre vergehen mit dem Versuch, in meinem Würfelherz einen Sinn zu sehen.

Aber dann beschließt auch dieser Jemand, das Handtuch zu werfen. Frustriert und enttäuscht schmettert er das Spielzeug, das ihm schlaflose Nächte bereitet hat, gegen die Wand, und wendet sich simpleren Zeitvertreiben zu.

Und ich finde mich mit einem verbeulten Zauberwürfel wieder, dem vielleicht auch eine beim Aufprall weggespickte Farbfläche fehlt. Super!, geht mir durch den Kopf, ein Spiel, bei dem man nicht gewinnen kann und das auch noch kaputt ist! Wer möchte es denn noch haben, ein solches Herz?

Ein Zauberwürfel bietet einfach viel zu viele Kombinationen.

Dreiundvierzig Milliarden Milliarden, um genau zu sein.

Von diesen dreiundvierzig Milliarden Milliarden ist nur eine die richtige.

Es gibt aber eine Methode zum Lösen von Zauberwürfeln. Behaupten Leute, die es besser wissen als ich, und ich glaube ihnen. Sie heißt »Schicht um Schicht«.

Das Geheimnis liege darin, beim zentralen Kreuz, beim X anzufangen.

Den Mittelpunkt eines Würfels finde man instinktiv, sagen Kenner.

Mir kam es absurd vor, als ich das hörte, richtig absurd: dass ein mathematisches Geduldspiel wie der Zauberwürfel ganz ohne Formel gelöst werden könne, rein intuitiv. Aber es stimmt.

Seit ich beschlossen habe, dem Instinkt zu folgen und dir diese Briefe zu schreiben, fühle ich mich ein wenig erleichtert, ganz ehrlich.

Ich fürchte, dass der Weg zu meinem Zauberwürfelherz zwingend über dich führt.

ES IST ERNST

Es gibt eine weitere Erinnerung, die mein Unbewusstes, dieser undressierte Hund, auszugraben beschlossen hat. Schwanzwedelnd hat er mir die Knochen dargebracht. Und gesagt, sie sei fundamental, andernfalls würden wir uns nicht verstehen. Ich müsse dir aber zuerst das Spiel in Erinnerung rufen, das wir oft zusammen spielten. Entweder sagtest du mir jedes Wort nach oder ich dir, im genau gleichen Tonfall, bis zur Erschöpfung. Es machte Spaß, fing ohne Vorankündigung einfach plötzlich an und konnte ewig weitergehen. Oder aufhören: Es endete nicht, wenn wir müde waren, sondern dank des safe word, das wir uns ausgedacht hatten. Weißt du noch? Klar weißt du noch. Manche Dinge brennen sich hoffnungslos in die Erinnerung ein und lassen sich partout nicht vergessen. »Es ist ernst«: Mit diesem Satz war das Spiel zu Ende. Das Schönste war, dass man einander nicht hintergehen durfte: Alles basierte auf Vertrauen. Sobald jemand »es ist ernst« sagte, war es fertig, hörte das Nachahmspiel auf.

Jetzt kann ich die Knochen der anderen Erinnerung ausgraben – auf diese hier komme ich später zurück.

Ein Abend wie viele andere. Einer jener Abende, an denen Mama »Zeit zum Schlafengehen!« ruft und wir mit vereinten Kräften darauf beharren, dass keineswegs Zeit zum Schlafengehen ist. Keine Ahnung, wie man die Kindheit ohne Geschwister überleben kann. Vielleicht überlebt man dann das Erwachsenenalter besser, würde ich heute sagen. Wie auch immer. Wir sitzen jedenfalls wieder auf dem orangen Sofa – ich links, du rechts, die Plätze sind fest vergeben – und wollen uns unbedingt nochmals alle Star-Wars-Folgen ansehen. Mama drückt ein Auge zu, sie hat sich von unserem Drängen erweichen lassen und ist auch einverstanden, dass wir uns vor Leia, die zum x-ten Mal »Du bist meine einzige Hoffnung« zu Obi-Wan sagt, mit Süßigkeiten vollstopfen.

Du schiebst ein Kinder Délice nach dem anderen rein, bist ein Fass ohne Boden, von-Natur-aus-schlank auf Lebzeiten. Ich mache mich über die Kinder Pinguì her, genieße die süße Creme aus künstlicher Milch, das herrliche Geräusch, jenes kaum hörbare crunch, das der Schokoüberzug beim Reinbeißen macht. Wir schauen uns die Episoden auf einer Videokassette an, und sobald Werbung kommt, spulen wir vor, wissen aber nie genau, wann es Zeit ist, auf die Play-Taste zu drücken. Um bloß keine Sekunde des Films zu verpassen, stoppen wir lieber einen Moment vor Ende der Werbespots.

Und jetzt fängt sie an.

Die Werbung, die für uns total Kult wurde. Die vom Boot an der Mole. Weißt du noch? Aus dem Nichts und mit einer wenig plausibel zusammengeschnittenen Tonspur erklingt eine bekümmerte, viel zu bekümmerte Stimme, als dass sie glaubwürdig wäre, eine Stimme, die theatralisch sagt:

Ein Boot.

Klein-und-marode.

Das Wort »Boot« spricht der Synchronsprecher mit weichem B aus, es klingt fast wie »ein Woot«. Wir hören es. Du stellst auf Pause. Wir schauen uns an. Und schon sehe ich in deinen Augen das amüsierte Flackern, das ich bei dir so schnell erkenne und du bei mir, ein gigantisches Riesengelächter bricht los, wir machen uns fast in die Hosen – »spul zurück, spul zurück, ich will es noch mal hören!« –, ein wunderbares Gelächter, ein Gelächter, das wir einander gegenseitig zuspielen, du mir, ich dir, ein (positiver? negativer? keine Ahnung, spielt auch keine Rolle) Kreislauf, der uns vergessen lässt, worüber wir ursprünglich gelacht haben.

Jedes Mal, wenn wir daran zurückdachten oder die Videokassette noch einmal abspielten, war es gleich, und immer erreichten wir den Punkt, an dem wir nur noch deswegen lachten, weil der andere auch lachte, weil es schön war zu lachen, weil Lachen, wenn man es genau bedenkt, das Schönste der Welt ist, aber nicht allein lachen, sondern zusammen mit jemandem, der weiß, dass darin der Sinn des Lebens liegt: im Lachen über das kleine, marode Boot. Also über nichts. Über alles. Über das Leben. Über die an diesem Tag noch einmal abgewendete Einsamkeit.

Ich habe im Internet nach dieser Werbung gesucht und sie gefunden.

Na ja, oje.

Zuerst musste ich lachen, ich gebe zu, dass ich lachen musste. Dann wurde mir bewusst, dass mein Lachen über diese Werbung zum ersten Mal einsam war. Das Echo deines Lachens fehlte. Eigentlich war es nur lustig gewesen, weil du lachtest. Und am Ende fühlte ich mich wie dieses Woot. Klein-und-marode. Mit seiner schlecht zusammengeschnittenen Tonspur und dem Schicksal, in den Werbeunterbrechungen zwischen Neunziger-Jahre-Filmen wie Casper und Flipper eingeblendet zu werden.

Aber vielleicht – ich sage, vielleicht – haben wir noch eine Chance. Vielleicht können diese Briefe den Kreislauf durchbrechen. Die Möglichkeit, das Schweigen nachzuäffen, war bei unserem Spiel, bei dem einer dem anderen jedes Wort nachsagt und umgekehrt, nicht vorgesehen. Damals mussten es Worte sein. Schweigen zählte nicht. Möglicherweise funktioniert es trotzdem: neues Spiel, neue Regeln.

Gilt es, wenn ich nach all diesen Jahren »es ist ernst« sage? Komme ich noch rechtzeitig?

WEIHNACHTSLIED

Vergewaltigung.