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Xenia ist eine Waise, die ihrem Onkel in den Sommerferien dabei hilft, Antiquitäten zu verkaufen. Dabei findet sie einen alten Spiegel, der sie magisch anzieht und sie in die Zwischenwelt des Limbo transportiert. Das Limbo ist ein Labyrinth voller mystischer Kreaturen. Eine andere Welt, in der Zeit und Raum keine Bedeutung haben. Dort findet Xenia eine Verbündete in Deliah, deren Seele im Limbo gefangen ist. Deliah führt sie zu dem magischen Buch Nomi, dem wegen eines Fluchs einige Seiten fehlen. Xenia und sie schließen einen Pakt, die fehlenden Buchseiten aufzutreiben und Deliah und Nomi von dem Fluch zu befreien. Durch die Spiegel der Zwischenwelt kann Xenia zwischen dem Limbo und unserer Welt hin- und herspringen. Sie trifft neue Gefährten und findet Wege, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Aber sie erfährt auch mehr über ihre eigene Herkunft und lernt, welche besondere Verbindung sie zum Limbo besitzt.
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Seitenzahl: 193
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Kapitel 1 – Hinter dem Spiegel
Kapitel 2 - Onkel Glen
Kapitel 3 - Limbo
Kapitel 4 - Entropy
Kapitel 5 - Wot-Wot?
Kapitel 6 - Untergrund
Kapitel 7 - Auris
Kapitel 8 - Ziggurat
Kapitel 9 - Spiderlinge
Kapitel 10 - Cabinda
Kapitel 11 - Visionen
Kapitel 12 – Eschers Alptraum I
Kapitel 13 – Piraten!
Kapitel 14 - Der Wächter
Kapitel 15 - Arkadia
Kapitel 16 - Die Dunkelhexe
Kapitel 17 - Eschers Alptraum II
Kapitel 18 - Das Schloss
EPILOG
"Wer an den Spiegel tritt, um sich zu ändern, der hat sich schon geändert." Lucius Seneca (4 v. Chr. - 65 n. Chr.)
Ein alter Pick-Up Truck ratterte über die buckelige Piste in Richtung Sonnenuntergang. Neben dem Feldweg verlief ein Strang rostiger Gleise, die seit Jahren keinen Zug mehr gesehen hatten. Am Horizont tauchte ein einsames Haus am Rand der Bahnstrecke auf. Es sah verlassen und unheimlich aus.
Als Xenia ihren Truck mit quietschenden Bremsen zum Stehen brachte sah sie aber, dass in der Küche noch Licht brannte. Sie nahm ihre Arbeitshandschuhe und den Werkzeuggürtel und schlug die schwere Autotür zu. Die makellos goldglänzende Aufschrift "Glen's Spiegel Wunderland" stand in krassem Kontrast zu ihrem verbeulten alten Geländewagen.
Xenia stieg die Treppen hinauf, die unter ihren Stiefeln knirschten und knarzten und zog die Klingelschnur, woraufhin einige Glocken bimmelten. Sie hörte Geräusche aus der Küche. Teller und anderes Porzellan wurden scheppernd beiseite gekramt und schlurfende Schritte näherten sich der Tür. Eine alte Frau öffnete.
"Ja?" fragte sie.
"Ich komme von Glen's Spiegel Wunderland. Wir haben vorhin telefoniert", sagte Xenia.
"Ach natürlich!" erwiderte die alte Frau und öffnete die Eingangstür, um sie einzulassen.
"Bitte kommen sie doch herein, junge Dame!
Sie knipste das Licht an und Xenia betrat das Wohnzimmer. Die alte Frau musterte sie etwas verwirrt, denn Xenia entsprach in ihren schweren Stiefeln, der Latzhose und der Kappe auf dem Kopf nur wenig ihrem Bild einer jungen "Dame". Sie winkte und Xenia folgte ihr. Die Werkzeuge an ihrem Gürtel klapperten, als sie gemeinsam die Treppe hochstiegen.
Die alte Frau öffnete die Tür zu ihrem Schlafzimmer und ging in Richtung Fenster, wo der von einem Bettlaken verhüllte Spiegel stand. Sie entfernte das Laken. Xenia pfiff anerkennend und sagte:
"Wow! Ein toller alter Spiegel!"
Die Frau stimmte ihr zu:
"Nicht wahr? Die Schnitzereien sind sehr hübsch."
Der Spiegel war mannshoch und schien nahtlos aus einem einzigen Stück Holz geschnitzt zu sein. Er war trotz seines Alters nicht angelaufen und Xenia spiegelte sich makellos in der silberhellen Oberfläche.
Rund um die Spiegelfläche rankten sich Ornamente aus Pflanzen- und Tiermotiven, die so detailliert waren, dass sie fast lebendig wirkten. Xenia war ehrlich begeistert aber bremste ihren Enthusiasmus für die Preisverhandlung.
"So etwas habe ich noch nie gesehen", musste sie allerdings zugeben. Und sie strich entzückt mit den Fingern über das polierte Ebenholz.
Die alte Dame schimpfte:
"Und mir steht er nur noch im Weg. Die Zeiten, wo ich mich gerne im Spiegel betrachtet habe, sind lange vorbei."
"Und wie viel wollen sie dafür haben?" erkundigte sich Xenia.
Die Frau überlegte und gab dann zu:
"Darüber habe ich noch nie wirklich nachgedacht. Was denken sie denn, was er wert ist?"
"Ich kann ihnen jetzt Hundert dafür geben. Er ist zwar wirklich sehr schön, wird aber schwierig zu verkaufen sein. Heutzutage stellt sich niemand mehr solche monstermäßigen Ankleidespiegel ins Haus."
"Wissen sie, ich bin froh, wenn er endlich rauskommt. Ich akzeptiere!"
Xenia verbarg ihre Überraschung, denn sie hatte mit zäheren Verhandlungen gerechnet. Ein antiker Spiegel mit den kunstvollsten Schnitzereien, die sie jemals gesehen hatte - für hundert Scheine. Onkel Glen würde begeistert sein! Äußerlich tat sie gelassen, während sie den Spiegel in Filzdecken einschlug und für den Abtransport vorbereitete. Sie holte die Sackkarre vom Auto und bugsierte den Spiegel ganz vorsichtig, Stufe für Stufe, die Treppe hinunter.
Als sie endlich alles auf der Ladefläche festgezurrt hatte, war es tiefste Nacht und über ihr glänzte ein schier endloser Sternenhimmel. Ein paar Zikaden zirpten, ansonsten war es still. Xenia wischte den Schweiß von der Stirn und bezahlte die alte Frau. Müde aber zufrieden machte sie sich zurück auf den Weg zu Onkel Glen.
Die schwachen Lampen des alten Geländewagens erhellten kaum die Auffahrt zu "Glen's Spiegel Wunderland", aber Xenia konnte den Weg auch im Dunkeln oder mit geschlossenen Augen finden.
Dutzende Schilder wiesen darauf hin, dass man auch Möbel und andere Antiquitäten, sowie "Americana" - Erbstücke aus dem Civil War - im Angebot hatte. Xenia kannte jedes Schlagloch auf dem Weg und umfuhr sie behutsam. Als sie vor dem Lager hielt und hupte, kam Onkel Glen aus dem Haus. Kauend und mit einem Sandwich in der Hand begrüßte er sie.
"Xenia Schatz, was bringst du mir heute Schönes?" fragte er.
"Ich hab den Star für deine Sammlung gefunden! Willst du mal sehen?"
Onkel Glen deutete auf sein Sandwich.
"Komm erst mal rein und iss' was! Du hast doch sicher den ganzen Tag wieder nur geschuftet."
Xenias Magen knurrte in diesem Moment so laut, dass sie beide darüber lachen mussten.
"Stimmt!" sagte sie und folgte ihm ins Haus.
Am runden Küchentisch saßen sie einander gegenüber und Xenia strich Erdnussbutter auf eine Scheibe Toast. Onkel Glen beobachtete sie dabei und störte nicht ihre Konzentration, während sie die Oberfläche des Toasts perfekt gleichmäßig bestrich.
"Deine Tante wäre so stolz auf dich!" sagte er plötzlich.
Verdutzt blickte sie zu ihm herüber.
"Was meinst du damit?"
"Einfach alles, Xenia. Wir sind sicher nicht die Eltern, die du verdient hast. Aber deine Tante Isa und ich haben dich immer geliebt. Du bist das Beste, was uns je passiert ist! Ich hätte mir nur gewünscht, sie hätte deinen einundzwanzigsten Geburtstag noch erleben können..."
Xenia war gerührt und zugleich verwirrt. Sie stand auf und sie umarmten einander. Sie ließ ihn los und sah ihn besorgt an. Onkel Glen holte ein großes Stofftaschentuch heraus und schnäuzte sich geräuschvoll.
"Was ist denn los mit dir?" fragte sie. "Ist irgendwas passiert?"
Er wischte sich die Tränen weg und steckte das Tuch wieder ein.
"Ich bin in letzter Zeit manchmal nicht ganz ich selbst, entschuldige bitte!"
Er stand auf und nahm eine große Flasche Mandelmilch aus dem Kühlschrank und goss ihnen beiden ein. Sie stießen an.
"Prost Kleine!"
"Prost Dicker!"
Xenia trank durstig und hatte einen weißen Schnurrbart, als sie wieder aus dem Glas auftauchte. Ihr Onkel lachte und deutete auf seine Oberlippe. Sie wischte sich den Milchbart ab und biss hungrig in ihr Sandwich. Mit vollem Mund sagte sie:
"Ich werd' mal den Spiegel auspacken. Du wirst bestimmt begeistert sein!"
"Soll ich dir dabei helfen?" fragte er.
"Nein, warte lieber und lass' dich überraschen. So einen Spiegel hat Glen's Spiegel Wunderland noch nicht gesehen!"
"Dann lass mich dir wenigstens beim Abladen helfen!"
Er aß die letzte Ecke Brot und wischte sich die Hände an der Hose ab. Dann folgte er Xenia, die schon auf dem Weg hinaus war. Gemeinsam beförderten sie den verpackten Spiegel auf die Sackkarre und schoben ihn behutsam ins Lager.
"Husch, husch! Ich ruf' dich später!" sagte sie, scheuchte ihn aus dem Raum und schloss die Schiebetüren.
Xenia begann die Filzdecken vom Spiegel zu schälen. Sie entfernte Lage um Lage und der kolossale Spiegel kam wieder zum Vorschein. Mit dem Finger strich sie über die Ornamente. Im hellen Licht des Lagers waren sie noch detaillierter anzusehen, als in dem dunklen Haus.
"Wahnsinn!" sagte Xenia zu sich selbst und ging um den Spiegel herum. Sie stutzte.
Verblüfft blickte sie hinein, denn sie konnte sich zwar selbst im Spiegel sehen. Doch ansonsten spiegelte sich darin kein Wunderland-Lager, sondern immer noch das Schlafzimmer der alten Frau. Xenia legte den Kopf schief, denn sie glaubte ein Flüstern zu hören, das aus dem Spiegel kam.
"Was ist das?" Sie trat einen Schritt näher heran und berührte die Oberfläche. Plötzlich leuchtete der Spiegel hell wie die Sonne und blendete sie.
Xenia erstarrte, denn sie bekam die Hand nicht mehr los. Mit Entsetzen beobachtete sie, wie ihre Hand durch die Spiegelfläche sank und sie mit sich zog.
"Onkel Glen!" rief sie in Panik, als die andere Seite des Spiegels an ihr zerrte. Sie stemmte ein Bein gegen den Holzrahmen und schaffte es mit aller Kraft, die Hand ein wenig heraus zu ziehen. Doch dann wurde sie mit einem einzigen Ruck ganz in den Spiegel hinein gezogen.
Xenia stürzte auf der anderen Seite auf einen groben, feuchten Steinboden. Sie federte den Fall mit beiden Händen ab und atmete schwer. Einen Moment lang konnte sie zurück durch den Spiegel blicken und sah ihr Zuhause. Sie erkannte das Lager, wo sie vorhin noch den Spiegel ausgepackt hatte. Xenia beobachtete, wie Onkel Glen den Raum betrat und nach ihr suchte.
"Hilfe", rief Xenia, "Onkel - was ist passiert? Wo bin ich?"
Er konnte sie nicht hören und rief seinerseits nach ihr. Das Portal schloss sich rasch und sie stand jetzt vor einem identischen Spiegel. Nur, dass dieser gar nicht leuchtete und seine Oberfläche stumpf war.
Xenia hämmerte mit den Händen gegen den matten Spiegel und ihre Schläge hallten dumpf durch das finstere Gewölbe. Es war zwecklos.
Sie gab auf und hörte plötzlich Bewegung in dem dämmerigen Halbdunkel um sie herum. Diffuse Lichter kamen näher und machten ihr das Ausmaß der riesigen Höhle, in der sie gelandet war, deutlich. Überall schien es Korridore und Durchgänge zu geben und sie hörte Geräusche, die wie das Getrippel vieler kleiner Füße klangen.
Plötzlich sah sie die Spinnen! Ihre runden Hinterkörper waren halb durchsichtig und leuchteten bläulich. Auf langen dunklen Beinen, an denen Widerhaken steckten, staksten sie in Xenias Richtung. Sie schrie vor Schreck auf, hielt sich die Hand vor den Mund und rannte weg.
Entsetzt sah sie, dass auch die ganze Decke des Gewölbes in Bewegung war. Hunderte der riesigen Leuchtspinnen wimmelten dort über- und durcheinander und seilten sich an Leuchtfäden zu ihr hinab.
Da hörte sie aus der Dunkelheit eine weibliche Stimme, die sanft ihren Namen rief:
"Xenia – folge meiner Stimme! Sonst bist du verloren!"
"Wer bist du?" rief Xenia. "Und wo bist du?"
"Später! Schnell jetzt – wir haben keine Zeit!"
Xenia tat, wie ihr geraten wurde und gelangte bald auf einen schmalen Steg, eine Art Steinbrücke.
Gelblich leuchtende Pilze wuchsen hier an der Felswand und spendeten zumindest ein wenig Helligkeit. Die Spinnen kamen näher, doch Xenia floh vor ihnen über die Brücke und erkannte dann, dass sie sich auf einem antiken Aquädukt befand, das einen Halbkreis durch die ganze Höhle beschrieb. Überall um sie herum rauschte und tropfte das Wasser. In der dunklen Tiefe unter ihr schienen sich mehrere Wasserfälle in einem See zu vereinen. Sie hatte keine Zeit. Entschlossen folgte sie einem schmalen Weg, der vom Viadukt abzweigte und steil bergab führte.
Immer steiler ging es hinab und Xenia fiel hin und rutschte auf dem glitschigen Boden weiter. Rings um sie herum tasteten Spinnen über die Ränder des Aquädukts und kletterten unsicher daran herunter. Einige purzelten übereinander und fielen wie verglühende Funken in die Tiefe. Immer tiefer ging es und es wurde dunkler und dunkler. Xenia bremste mit den Füßen, als würde sie Schlitten fahren.
Doch schließlich war die Rutschpartie zu Ende und sie rappelte sich wieder auf und lief weiter. Das Zischen und Getrappel der Spinnen über ihr wurde immer bösartiger und hektischer. Endlich meldete sich die körperlose Stimme wieder:
"Stop!" befahl sie und Xenia hielt an.
Die Stimme schien jetzt von tief unter ihr zu kommen. Xenia erkannte, dass sie am Rand eines Abgrunds stand.
"Wenn ich es sage, dann musst du springen! Du musst mir vertrauen, nur dann kann ich dich in Sicherheit bringen!"
"Aber ich sehe doch gar nichts!" protestierte Xenia.
Ihr ging langsam die Puste aus und die Stimme forderte von ihr einen Glaubenssprung über einen dunklen Abgrund. Sie tastete sich kniend an den Rand der Steine heran und fand die Abbruchkante.
Über ihr schwoll das Geräusch des Wassers zu einem Rauschen an und der Boden bebte unter ihren Füßen, während sich eine dunkle Flutwelle durch das Aquädukt ergoss und die meisten Spinnen mit sich riss.
"Spring!" verlangte die Stimme mit Nachdruck und Xenia zögerte keine Sekunde länger. Sie nahm ein paar Schritte Anlauf und tat einen Sprung ins Unbekannte. Vor sich sah sie nur Leere und Dunkelheit. Xenia schrie sich frei von ihrer Furcht vor dem Abgrund und sie überwand ihn.
Sie landete wieder hart auf einer Plattform aus Stein, aber sie war in Sicherheit. Xenia drehte sich um und wich vor der Welle zurück. Denn hinter ihr kam die Flut und brachte Hunderte Leuchtspinnen mit sich. Fast alle stürzten hilflos in den Abgrund, den Xenia übersprungen hatte. Das Wasser riss sie mit und sie zogen einander gegenseitig in die Tiefe. Xenia beobachtete, wie die Lichter unter ihr immer kleiner wurden und verschwanden. Sie stand erneut in der Dunkelheit.
"Danke!" sagte sie. "Und was jetzt?"
"Vor dir ist eine Tür," sagte die Stimme, "geh' hindurch!"
Xenia tastete sich auf allen Vieren vorwärts und fühlte schließlich das kühle Metall eines großen Tors. Sie musste ihre ganze Kraft aufbringen und stemmte sich mit beiden Händen gegen das Metall, bis beide Flügel gleichzeitig nachgaben und die Doppeltür aufschwang, während irgendwo in der Wand Ketten rasselten. Ein verborgener Mechanismus sorgte dafür, dass sich die Türen ganz öffneten, ohne dass Xenia noch etwas tun musste. Von der anderen Seite wurde sie durch helles Licht geblendet und hielt schützend einen Arm vor ihre Augen.
Langsam ging sie vorwärts und hinter ihr schloss sich der Eingang wieder und fiel krachend zu.
Durch eine Öffnung hoch oben in der Decke strahlte ungefiltert helles Sonnenlicht herein.
Kleine Insekten tanzten am Rand des Lichtstrahls.
Xenias Augen gewöhnten sich schnell an das Licht.
Sie atmete auf. Vor sich sah sie einen einzigen uralten Baum, der nur noch wenige trockene Blätter hatte. Er stand auf einer Plattform von der Größe einer Scheune, die ringsum in die Tiefe abzufallen schien. Seine Wurzeln gruben sich in ein quadratisches Beet voller tiefbrauner Erde.
Xenia ging näher und rief:
"Hallo? Bist du hier?"
Sie ging zum Baum, stellte sich neben ihn und badete erleichtert im Licht.
"Ich habe im Limbo keinen Körper", antwortete die Stimme.
Xenia schloss die Augen.
"Und wer bist du?" fragte sie.
"Mein Name ist Danai. Ich sehe die Welt durch die Spiegel aber ich sehe immer nur ein winziges Stück davon. Ich habe dich beobachtet, Xenia.
Durch jeden Spiegel in den du jemals geblickt hast.
Ich habe gewartet, bis du in den richtigen Spiegel siehst – den Einzigen, der dich hierher bringen konnte..."
"Dann ist es deine Schuld, dass ich hier gelandet bin?" fragte Xenia, in einem Anflug von Wut.
"Das ist vielleicht wahr!" gab Danai zu. "Aber ich wusste keinen anderen Weg. Es passiert so selten, dass ein Mensch die Fähigkeit besitzt, durch den Spiegel zu gehen. Ich habe Hunderte Jahre darauf gewartet."
Xenia hatte sich im Kreis gedreht und war um den riesigen Baum herumgelaufen, doch die Stimme war wirklich körperlos. Sie schien von überall her zu kommen.
"Und was ist das Limbo? Wo sind wir?" fragte sie.
Danai sagte:
"Es ist weder ein Ort für die Lebenden, noch für die Toten. Hier gelten keine der Regeln aus deiner Welt. Wir sind beide Gefangene hier!"
"Was meinst du damit? Wie komme ich hier wieder raus?"
"Ich will es dir gerne erklären - geh zwanzig Schritte hinter den Baum, dort findest du einen Tunnel im Boden."
Xenia suchte danach und fand die Öffnung sofort. Sie war fast kreisrund und in etwa so groß wie ein alter Brunnen.
"Was jetzt?" fragte sie.
"Geh' hindurch!" verlangte Danai.
"Wie soll ich das machen, ich habe kein Seil!"
"Du wirst nicht runterfallen! Stell' einfach einen Fuß auf die Wand und geh' vorwärts."
Xenia blickte zweifelnd die fast senkrechte Steilwand hinab in die Dunkelheit.
"Das kann ich nicht!"
Danai ermutigte sie:
"Doch, du kannst! Hab keine Angst."
Sie holte tief Luft und tankte Mut.
"Ich möchte dir vertrauen...aber das ist völlig verrückt!"
Sie machte trotzdem den ersten Schritt und dann noch einen und stand plötzlich auf der Wand. Was ihr eben noch als Abgrund erschienen war, war jetzt ein gewölbter Boden und aus dem Loch war ein Tunnel geworden.
"Sehr gut!" lobte Danai. "Das Erste, was man hier unten braucht, ist einen festen Glauben an das Unmögliche!"
Xenia ging weiter. Sie tastete sich vorwärts und der Weg war frei. Schritt für Schritt ging sie voran, bis sie wieder Licht sah. Das Ende des Tunnels flackerte im Schein von Fackeln. Bald erreichte Xenia den Rand und blickte in einen kreisrunden Raum hinab. Sie kletterte aus dem Tunnel und ließ sich auf den Boden fallen.
Der Raum war groß und kühl und es roch nach Wasser, das hier glänzend an den Wänden herunterlief. In eisernen Leuchtern brannten bläuliche Gasflammen, die von versteckten Leitungen im Inneren der Wände gespeist wurden.
"Nimm dir ein Scheit." riet Danai. "Dort liegen getrocknete Äste."
Tatsächlich lag dort ein ganzer Stapel abgebrochener Äste, die trocken und brüchig waren und uralt zu sein schienen.
"Auf dem Altar stehen Kerzen. Zünde sie mit dem Scheit an!"
Xenia holte sich Feuer von einer der Flammen und zündete nacheinander die vier großen Kerzen an, wie es ihr gesagt wurde. Sie erschrak heftig, als vor ihr auf dem Pult ein Gesicht auftauchte.
Dort lag ein ledergebundenes Buch, das ein menschliches Antlitz hatte. Es sah aus wie ein mürrischer alter Mann. Die Augen waren geschlossen, aber der Mund stand offen - und es schnarchte!
"Das ist Nomi, das magische Buch, dessen Fluch mich hierhergebracht hat", erklärte Danai. "Er schläft, also sorge dich nicht! Setz dich, wärme dich am Feuer, während ich dir meine Geschichte erzähle."
Xenia setzte sich auf einen hölzernen Hocker, der vor dem Pult stand und hörte Danai zu:
"Vor langer Zeit lebte ich mit meinen Eltern in einem strahlenden Königreich. Mein Vater war König und meine Mutter Königin. Sie waren stets gerecht und gut, und jeder liebte sie. Doch die Schwester meiner Mutter war nie zufrieden. Sie bekleidete den Rang der Hofmagierin und suchte im ganzen Land nach einem Buch, das ihr endlose Macht geben sollte."
"Dieses Buch etwa?" fragte Xenia und deutete auf Nomi.
"Ich komme gleich dazu!" sagte Danai und erzählte weiter:
"Die Magierin war gefürchtet für ihre Launen. Und sie wurde immer wütender, als niemand ihr das Buch bringen konnte, oder auch nur zu sagen vermochte, wo es sich befand.
Bald darauf wurde ich geboren und meine Eltern waren damit beschäftigt, mich und meine Ankunft im Königreich zu feiern. Eine Parade unserer Ritter und Edelmänner wurde zu meinen Ehren abgehalten. Eine Woche lang wurde im ganzen Land gefeiert und gelacht. Die Einzige, die durch diese Feierlichkeiten noch griesgrämiger und bösartiger wurde, war die Hexe. Sie säte überall Missgunst und stiftete die Menschen zu Schlägereien und Streit an. Und eines Tages fanden meine Eltern sie über mich gebeugt, mit einem Dolch in der Hand. Die Hexe sagte, mein Blut werde sie unsterblich machen.
Bevor sie den Dolch in mein kleines Herz stoßen konnte, griff mein Vater ihren Arm und entwaffnete sie. Er stieß sie in ein Verlies, wo sie blieb, bis man wusste, was mit ihr geschehen sollte. Wochenlang, monatelang saß sie im Kerker und ihr Herz wurde vollständig schwarz. Und alles, was sie wollte, war Rache für ihre Erniedrigung.
Ihre Schwester, die Königin, hatte ein gutes Herz und flehte den König an, sie am Leben zu lassen.
So wurde sie nur verstoßen. Und am Tag, als sie aus dem Kerker kam, waren ihre einst weißen Kleider schmutzig und zerrissen, so dass die Menschen sie als Dunkelhexe verspotteten. Sie wurde ins Exil geschickt und sollte niemals wiederkommen."
"Das ist 'ne ziemlich lange Geschichte", unterbrach Xenia, "ich nehme an, die Hexe kam trotzdem zurück?"
"Oh ja! Fürchtet die Macht der Verstoßenen! Denn die Jahre gingen ins Land und aus mir wurde eine Prinzessin, die im ganzen Land vergöttert wurde.
Doch an meinem sechsten Geburtstag kehrte die Dunkelhexe zurück. Sie trug noch immer dasselbe Kleid, nur, dass es inzwischen pechschwarz und tausendfach geflickt war. In der Hand hielt sie das Zauberbuch, wonach sie unablässig gesucht, und das sie schließlich gefunden hatte. Sie zog eine Spur aus schwarzem Rauch hinter sich her und versteckte darin ihr Gefolge aus lichtscheuen Dämonen. Durch das Buch hatte sie die Macht alles und jeden, der sich ihr in den Weg stellte, in Stein zu verwandeln.
Sie kam in den Thronsaal, als ich gerade meine Geschenke auspackte und sie hatte diesen Spiegel im Gepäck. 'Ein Geschenk für euer Gnaden!' sagte sie und stellte den Spiegel vor meinen Eltern auf.
Meine Eltern erkannten die Gefahr zu spät. Die Hexe begann aus dem Buch zu lesen und sprach einen Zauberspruch. Mein Vater und die königliche Garde griffen zu ihren Schwertern, doch sie waren zu Stein geworden, bevor sie ihr auch nur einen Schritt nähergekommen waren.
'Und damit dieser Fluch niemals rückgängig gemacht werden kann, streue ich seine Seiten in die vier Winde und durch alle Zeiten.'
So endete ihre Beschwörung. Und die Hexe riss vier Seiten aus dem Buch und warf sie durch den leuchtenden Spiegel.
Ich schämte mich, weil ich solche Angst hatte. Aber als die Hexe die vierte Seite aus dem Buch riss und sie durch den Spiegel warf, sprang ich auf und stahl ihr das Buch aus den Händen. Doch das konnte meine Eltern nicht retten. Stattdessen geriet ich selber in den Sog des Spiegels und wurde mit dem Buch hineingezogen. Ich wurde Teil dieses Spiegels und seiner Welt und das Portal schloss sich hinter mir, während das wutverzerrte Gesicht meiner bösen Tante immer kleiner wurde.
Ich konnte ihren Schrei noch lange hören, während ich durch die Finsternis fiel. Es gab keinen Weg zurück aber auch hier, im Limbo, existiere ich nicht ganz. Ich selbst bin unfähig den Fluch zu brechen und die vier verlorenen Seiten zu finden. Aber wenn du mir hilfst, können wir beide diesen Ort verlassen – unsere Schicksale sind miteinander verwoben."
"Was muss ich tun? Wie kann ich dir – uns - denn helfen?" fragte Xenia.
"Heb' das Buch auf! Es wird Zeit, ihn zu wecken!"
Xenia stand auf und hob das Buch mit beiden Händen hoch. Es war leichter als es aussah. Und kaum, dass sie es hochgehoben hatte, schloss sich der Mund schmatzend und gähnte dann lange und ausgiebig, bevor sich die Augen öffneten und sie verwirrt und missmutig betrachteten.
"Was ist? Warum weckst du mich?" fragte Nomi mürrisch.
Xenia starrte ihn nur verblüfft an und wusste nicht, was sie antworten sollte.
"Es...spricht!" murmelte sie.
"Hallo? Spreche ich vielleicht undeutlich? Was willst du?"
"Ich möchte, dass du mir hilfst, Buch."
"Buch? Wen nennst du Buch? Ich heiße...ja, wie heiße ich nochmal?"
Danai schaltete sich ein.
"Er ist etwas verwirrt, seitdem die Seiten herausgerissen wurden. Man muss Geduld mit Nomi haben!"
"Nomi, genau! Das ist mein Name!" triumphierte das Buch. "Und ich bin ganz alleine darauf gekommen!"
Xenia sah ihn verdutzt an.
"Du meinst, er ist dement?" fragte sie Danai.
"Er ist das älteste Buch der Welt. Da kann man schon mal was vergessen."
Plötzlich rief Nomi panisch:
"Ich kann meine Beine nicht spüren!"
Xenia antwortete lachend:
"Du hast keine Beine, Dummchen – du bist ein Buch!"