Yuma Ein unbekanntes Leben aus längst vergesseer Zeit - Rita Keller - E-Book

Yuma Ein unbekanntes Leben aus längst vergesseer Zeit E-Book

Rita Keller

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Beschreibung

In der Kälte des Südamerikanischen Kontinents lebten vor mehr als 500 Jahren die Wassernomaden der Yamana und die Halbnomaden genannten Selknam. Volksstämme von deren Existenz die zuvilisierte Welt damals kaum etwas ahnte. Hier wurde Yuma durch unbekannte Umstände als Kleinkind von den Yamana gefunden und aufgezogen. Die Yamana waren ein eher kleines Volk, während die Selknam eine stattlichere Größe aufwiesen. Mit dem Heranwachsen merkte man, dass Yuma wegen ihrer Krpergröße keine Yamana sein konnte. Auf dem Weg zu einem Winterquartier suchten sie die Begegnung mit einem Stamm der Selknam: Die Selknam sind einst vom Osten Argentiniens zur westlichen Seite hinüber gewandert, weil die tierferliegenden Winde westseits der Anden ein etwas gemäßigteres Klima und mehr Vegetation mit sich brachten. die Yamana vermuteten hier Yumas Herkunft. Beide Volksstämme unterschieden sich deutlich an ihrer Körpergröße. Yuma wurde bei den Selknam aufgenommen und verbrachte ihr Leben bei und mit diesem Volk als Schamanin bis zu ihrem Lebensende. Ein großer Kondor, der bei diesem Stamm als Seelenträger gilt, begleitete ihr Leben vom Fund des Kleinkindes bis zu ihrem Tod. Eine fesselnde Geschichte vom friedlichen Leben ohne Zahlungsmittel im Miteinander und Füreinander eines später durch Genozid ausgelöschten Volkes.

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Seitenzahl: 223

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Rita Keller

Yuma

Ein unbekanntes Leben aus längst vergessener Zeit

Rita Keller

Yuma

Ein unbekanntes Leben aus längst vergessener Zeit

2. Auflage

Copyright 2025 Rita Keller

Alle Rechte bei der Autorin

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Leben auf dem Wasser

Der Angriff

Das Kind

Das Leben mit den Yamana

Semurs Gefühle

Die Veränderung

Die Aussprache

Der Aufbruch

Die Niederlassung

Das Unbekannte

Der untergegangene Abschied

Die neue Zukunft

Yumas Eigenständigkeit

Geschäftiges Treiben

Die Initiierung

Zurück im Alltag

Reise in die Ewigkeit

Auf zu neuen Zielen

Neue Heimat

Winter im neuen Lager

Die Wärme des Herzens

Die Hochzeit

Das Hain-Fest

Die Zeit steht niemals still

Neues Leben

Ein rauer Winter

Der Fremde

Neubeginn

Der letzte Weg

Wenn Schicksal blendet

Ein Stille-Retreat

Im Wandel des Lebens

Nachwort

Vita

Vorwort

Wie kommt es, dass man einen Roman schreibt, der weit vor unserer Zeit liegt? Ich bin davon überzeugt, dass wir alle nicht nur ein einziges „körperliches“ Leben führen. Dennoch erhebe ich keinen Anspruch auf Beweisbarkeit. Für diejenigen, die nicht an mehrere Inkarnationen glauben, mag dieser Roman reine Fantasie sein und bleiben.

Ich selbst bin der Meinung, dass wir schon viele Male verkörpert waren. Wir sind alle geistige Wesen. Der Geist stirbt nicht, kann sich aber verändern, sich ausdehnen. Unserem Körper wird eine Seele gegeben, die körperliche, menschliche Erfahrungen sammelt und speichert. Unsere Seele ist die Festplatte für die Speicherung aller persönlicher Daten. Nichts geht verloren, alles ist vorhanden.

Charaktere, Neigungen, Begabungen haben sich im Laufe der Evolution entwickelt.

Wir sind nicht mehr der Mensch, der wir einst waren, und sind noch nicht so weit, wie wir einst sein werden.

Aber was und wie wir einmal waren, ist unlöschbar gespeichert. Manchmal gewährt uns die Seele einen Einblick in unsere gespeicherten Daten. Das kann durch Rückführungen, Trance oder Träume geschehen, die wir nicht immer zuweisen können. Unser Bewusstsein ist nicht an unser körperliches Sein gebunden, das geistige Bewusstsein greift viel tiefer. Darum können Erinnerungen auch schon mal sehr hartnäckig sein und sich ständig wiederholen. So war es auch bei mir.

Bilder und einzelne kurze Szenen, die ich sah, konnte ich bewusst nicht zuordnen. Bis ich immer hartnäckiger gesagt bekam: Argentinien, Pazifik, Argentinien, Pazifik.

Aber Argentinien liegt am Atlantik.

Doch dann kam ich darauf, dass der unterste Teil von Argentinien, also Südpatagonien und Feuerland mit seinen vielen Inseln, auch zum Pazifik gehört.

Bei weiteren Trance-Mitteilungen wurde mir der Zeitraum vor ca. 500 bis 600 Jahren bewusst. Meinen Recherchen zufolge ist das Selknam-Volk damals von der östlichen Seite Argentiniens zur westlichen pazifischen Seite übergewandert. Das klang plausibel.

Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass ich in einem Vorleben dort beheimatet war. Der Roman ist jedoch frei erfunden. Kleine bildhafte Eingebungen sind darin verwoben.

Leben auf dem Wasser

An der Westküste Feuerlands, dem wohl abgelegensten Ort unserer Erde, leben die Yaghan- oder Yamana Wassernomaden. Ursprünglich waren sie unter dem Namen Yaghan bekannt, aber mit der Zeit legten sie ihren Eigennamen in Yamana um. Zwischen schlüpfrigen Robben, majestätischen Orcas und verspielten Pinguinen paddelten die Urbewohner mit ihren Kanus zwischen den einzelnen Inseln hin und her, oft von den hungrigen Albatrossen verfolgt, die vom Fischfang der Nomaden auch immer profitierten. Ihr Zuhause ist der südlichste Teil Amerikas und gehört rund um den Beagle-Kanal zu Argentinien. Obwohl Argentinien an der Ostseite und somit am Atlantik liegt, liegt die Spitze des Landes zwischen beiden Ozeanen. Hier, am Kap Horn und durch die Wasserstraße, die man später Magellanstraße nannte, treffen sich Atlantik und Pazifik, der südlichste bewohnbare Bereich vor der Antarktis.

Mit der Zeit besiedelten sie die Inseln auf westlicher Seite stärker und auf östlicher Seite schwächer.

Die klimatischen Wetterverhältnisse sind etwas milder im Westen als im Osten, obwohl die Westwinde oft viel tiefer liegen. Aber von den Anden abgeschwächt, wirkt das Klima gemäßigt.

Die Jahreszeiten bestimmten ihre Reise und ihren jeweiligen Wohnort. Im Sommer, der sich von Januar bis April erstreckte, fand man sie weiter südlich.

Im kalten Winter sind sie eher nördlich und nahe der großen Wasserstraße (die man heute Magellanstraße nennt), wo Atlantik und Pazifik sich treffen, zu finden. Doch egal, zu welcher Zeit, es herrscht das ganze Jahr eine eisige Kälte in dieser Gegend. Die Temperaturen erreichen selbst im Sommer selten mehr als zehn Grad.

Die Yamana waren ein Volk von Jägern und Sammlern und lebten hauptsächlich von den Ressourcen des Meeres. Sie waren bekannt für ihre beeindruckenden Fähigkeiten im Fischfang und ihre Jagdtechniken, mit denen sie Robben, Seevögel und andere Meeresbewohner erbeuteten. Der Ozean war ihre Hauptnahrungsquelle und versorgte sie mit allem, was sie zum Überleben brauchten.

Sie waren geschickte Kanubauer und Seefahrer. Ihre traditionellen Kanus, bekannt als „Balsas„, wurden sorgfältig aus Tierfellen und Holz gefertigt. Jede einzelne Naht war perfekt ausgeführt, jedes Stückchen Material mit größter Sorgfalt ausgewählt.

Meisterhaft waren sie im Umgang mit dem Feuer. Feuer war lebenswichtig für sie, am Feuer wärmten sie sich, auf dem Feuer bereiteten sie ihre Nahrung zu. Selbst auf den Kanus brannte immer ein Feuer, denn oft blieben sie Tag und Nacht auf ihren Kanus. Sogar das Familienleben fand oft auf den Booten statt und so manches Mal wurde auch ein Kind auf einem Boot geboren.

Sie hatten die Feuerstelle sorgfältig in der Mitte des Kanus eingerichtet, mit Steinen, Grasnarben und Moos unterlegt, und eine ständige Feuchtigkeit, die vom Kanuboden hochzog, sorgte dafür, dass diese Unterschicht immer feucht blieb und es keine Gefahr einer Verbrennung gab, sodass nichts in Brand geraten konnte. Ihre Kleidung bestand überwiegend aus Leder von Fischhäuten, Robben und Seehunden. Ihre Körper fetteten sie mit Robbenfett ein, das hielt sie schön warm. Sie trugen oft mehrfache Kleidung übereinander und als letzten Überwurf noch einen Poncho, dessen Haut dann von einem Landtier, meist einem Guanako, stammte.

Als Kopfbedeckung trugen die Männer Dreiecke aus Fell, die vorn spitz nach oben zeigten. Die Füße waren mit Mokassin ähnlichen Stiefeln bekleidet, die fast bis unters Knie gingen.

Die Frauen trugen ebenso Kleidung aus Fischleder, aber um ihre Hüften noch eine Art Rock, um ihre Scham zu bedecken, ein Poncho war bei Männern und Frauen gleich.

Auch die Stiefel ähnelten sich. Bei den Frauen waren sie an den oberen Außenkanten zum Teil mit leichtem Schmuck verziert. Ihre Kopfbedeckung glich Mützen oder

Stirnbändern, diese waren ebenfalls leicht verziert.

Der Angriff

Die Sonne brach durch die dichten Wolken über dem Meer auf Feuerland. Auf einer der Balsas stand Semur, der Stammesälteste und Hohepriester des Stammes, mit wehendem, silbernem Haar, seine Augen hatten die Farbe des eisigen Meeres. Er beobachtete das Spiel der Wellen unter ihrem Boot und spürte den salzigen Wind auf seiner Haut. Sein Gesicht hatte einen ernsten Ausdruck. Irgendwie lag Spannung in der Luft, so, als würde heute noch etwas Ungewöhnliches passieren. Mit Vorahnungen war Semur bestens vertraut und selten hatte er sich getäuscht.

Plötzlich tauchten fremde Kanus vor ihnen auf. Die Situation spitzte sich zu, als die Kanus näher zueinander glitten. Eine Gruppe finster dreinblickender Männer in langen Umhängen versperrte ihnen den Weg und rief:

„Haltet an! Haltet an!“

Mariano, Semurs Begleiter, stand am Ruderende des Kanus und führte es geschickt durch das tobende Wasser. Er war ein erfahrener Seemann, dessen Gesicht gezeichnet war von den Spuren zahlreicher Abenteuer auf hoher See. Mit sicherer Hand lenkte er das Kanu zwischen allen Hindernissen und gefährlichen Felsen hindurch.

Einer der fremden Männer trat einen Schritt nach vorn und rief: „Wir haben sehr lange das Meer befahren, um hier her zu finden. Es wurde gesagt, dass diese Gegend nicht bewohnbar ist. Wir haben uns nicht umsonst diesen Strapazen ausgesetzt und werden eine Weile hier leben und forschen.“

Semur sah zu Mariano hinüber, er verspürte etwas Unmut und Anspannung. Die beiden sprachen leise miteinander in ihrer Sprache, während sie versuchten, herauszufinden, wer diese Fremden waren, woher sie kamen und was sie hier wollten.

Semur spürte Zorn in sich aufsteigen. Diese Männer sahen nicht gerade nach friedlichen Forschern aus.

Diese Inseln waren seit Generationen die Heimat seines Yamana-Volkes und sie würden niemals zulassen, dass jemand ihnen ihr Land nehmen würde. „Wir gehorchen nur unserem eigenen Gesetz“, entgegnete er. Seine Worte waren von einer rauen Stimme begleitet, die keinen Zweifel an seiner Ernsthaftigkeit zuließ. Ein kurzer Moment des Schweigens folgte, bevor ein starker Windstoß über das Meer wehte und Semur zur Seite taumeln ließ. Mit einem Ausdruck der Entschlossenheit trat er vor. „Wir werden uns nicht beugen! Wir sind hier die Herrscher dieser Gewässer!“ Die Spannung stieg, als die Kanus näher zueinander glitten. Die Anführer schrien Befehle und ihre Krieger stellten sich in Kampfposition. Die Kanus prallten hart aufeinander, während die Krieger wild nach ihren Gegnern schlugen. Die Männer kämpften erbittert, ihr Geschrei vermischte sich mit dem tosenden Sturm und dem Aufprall der Wellen gegen ihre Kanus.

Einige Krieger wurden von Bord geschleudert und kämpften sich im eiskalten Wasser ans Ufer, während andere beharrlich auf ihren Kanus blieben. Geschickt bewegten sie ihre Kanus, um den Angriffen des Gegners zu entkommen.

Die Fremden ignorierten Schmerzen und Niederlagen, während sie verzweifelt versuchten, die Oberhand zu gewinnen. Jede Aktion war von Entschlossenheit und Wut geprägt, denn es ging um mehr als nur um den Sieg, es ging auch ums Überleben. Doch es war aussichtslos, die Yamana waren in den Fluten des Eismeers zu Hause, sie kannten Wellen und stärkste Sturmbewegungen, von Anbeginn ihres Seins hier in den Inselgruppen. Schließlich wendete sich das Blatt, die Überlebenden der Angreifer entschlossen sich zur Flucht.

Semur und sein Gefolge hatten gesiegt.

Das Vorhaben der Fremden war von Beginn an zum

Scheitern verurteilt. Es blieb ihnen nur der Rückzug.

Das Kind

Die Gewässer der Feuerlandinseln beruhigten sich wieder, während einige Yamana erschöpft auf ihren Kanus ausruhten. Sie hatten ihren Rivalen gezeigt, wer die wahren Herrscher dieser Gewässer waren. Sie hatten wieder die Kontrolle, und so setzten sie ihre normalen Tätigkeiten fort, bereit, sich immer jeder Herausforderung zu stellen und ihren Platz in der Geschichte der Feuerland-Inseln zu festigen.

Die Yamana hatten nie vergessen, dass ihre Vorfahren einen Pakt mit den Geistern des Meeres geschlossen hatten. Sie verteidigten ihr Territorium und auch ihre Identität mit aller Macht als unabhängiges Volk. Dafür war ihnen der Schutz der Götter sicher.

Plötzlich wurde Semurs Aufmerksamkeit von einem majestätischen Kondor gefesselt, der über ihm in den Lüften kreiste. Es war selten, dass ein solcher Vogel über diesem Gebiet länger verweilte.

Mehrmals schien es, als ob der Kondor sich herablassen wollte, um auf etwas hinzuweisen. Auf dem Uferfelsen lag ein Bündel aus Fell.

Normalerweise wäre ein kleines Fellbündel, das am Ufer lag, sonst wohl kaum beachtet worden. Doch diesmal wurde Semurs Aufmerksamkeit durch den großen Vogel auf dieses Bündel gelenkt.

Er verspürte eine innere Neugierde, was es wohl mit diesem Paket auf sich hatte. Als er sich dem Ufer näherte, erkannte er, dass es kein gewöhnliches Bündel war. Es war in Tierfelle gewickelt und enthielt etwas Menschliches, das schwach in seine Richtung winselte. Nicht weit neben dem Bündel lag ein abgebrochenes Stück einer leiterähnlichen Trage, vermutlich hatte die Mutter dieses Kindes es mit dieser Trage auf ihrem Rücken getragen.

Der weise Mann nahm das Kind behutsam in seine Arme, blickte in den Himmel und sah den Kondor nur noch als einen winzigen Punkt am Horizont verschwinden.

Für ihn war dies ein Zeichen, eine Botschaft von Temaukl, dem Gott, den die Yamana als Beschützer allen Lebens verehrten. Temaukl galt zwar nicht als Schöpfer, aber als höchstes Wesen, das über das Wohl der Menschen, der Tiere und der Pflanzen wachte.

Semur drückte das Bündel Kind an sich und begann zu beten, seine Worte waren voller Ehrfurcht und Dankbarkeit für das, was ihm widerfahren war, und dass er ein Lebensretter sein durfte. Für ihn war es ein Beweis, dass er ein göttlicher Diener war und in der Gunst Gottes stand. Gebete waren ein fester Bestandteil des Yamana-Lebens, denn sie suchten stets Schutz und Führung von ihren Göttern. In seinen Gedanken tauchten Szenen auf, die einem Kampf nahekamen.

Hatten diese Fremden vorhin etwas mit diesem Fund zu tun? Waren die Eltern des Kindes bei einem Kampf umgekommen? Aber es gab keine Zeichen und keine Hinweise auf ein verschwundenes Kind in seinem Stamm. Woher kam das Kind und wie kam es hier her?

Semur wies Mariano an, zur Insel und zu Ajili seiner Frau zu rudern. Der Sturm hatte sich abgeschwächt und Mariano erreichte schnell die Insel, auf der Semur mit Ajili ihre Unterkunft hatte. Zurück in seiner Hütte, übergab Semur das Kleine seiner Frau Ajili und bat sie, es wie ihr eigenes Kind aufzuziehen. Was auch immer mit den Eltern des Kindes geschehen war, sie sollten es nie erfahren.

Bei genauer Betrachtung konnte man erkennen, dass das Kind anfangs auf dem Rücken einer Frau getragen worden war, es waren noch Gurtreste zu sehen. Die Vermutung, dass es etwas mit den Angreifern zu tun hatte, lag nahe. War es zu einem Kampf gekommen, dem die Eltern des Kindes erlegen waren? Woher kamen die Eltern, und was taten sie hier an Land zwischen den Inseln?

Und warum ließ man ein kleines Kind so einfach auf einem Felsen zurück? Oder hatten die Eltern es abgelegt, damit es nicht von den Feinden getötet wurde? Zu welchem Stamm mochte dieses Kind gehören? Anhand der Felle konnte man es schwer ausmachen, aber es war wohl kein Nachkomme eines Wassernomaden.

Semur war entschlossen, das Kind aufzuziehen und in allem zu unterweisen, was er wusste und konnte, all das Wissen und die Fähigkeiten, die ihm von den Göttern gegeben waren.

Ajili säuberte das Kind, zarte Hände fuhren liebevoll über die gereizte Haut, und sie sah, dass es ein Mädchen war. Sie rieb es mit wärmendem Robbenfett ein, um den zarten Körper vor der Kälte zu schützen, und kleidete es in warme, weiche Felle. Das Kind schien etwa ein bis zwei Jahre alt zu sein und war offensichtlich sehr erschöpft. Es winselte leise vor sich hin, doch ihm fehlte die Kraft zum Schreien.

Ajili hatte eine Fischsuppe gekocht, die bereits für Kleinkinder geeignet war. Einfach und nahrhaft, genau das Richtige für das kleine Mädchen.

Es dämmerte langsam und je dunkler es wurde, desto mehr Feuer sah man in den Hütten und auf den Booten auf dem Meer. Mit zunehmender Dunkelheit wurden die Leuchtfeuer immer strahlender. Feuerland war ein magisches Bild in der Dunkelheit. Die Yamana waren echte Feuerkünstler.

Semur gab dem Kind den Namen Yuma. Es war der Name einer mächtigen Göttin aus der Yamana-Kultur, die als Beschützerin und Führerin angesehen wurde. Yuma sollte in den kommenden Jahren von Semur und Ajili behütet und liebevoll aufgezogen werden, als wäre sie ihr eigenes Fleisch und Blut. Sie wurde zum Licht ihres Lebens, ein Geschenk der Götter, für das sie jeden Tag dankbar waren. Kinder waren etwas ganz Besonderes bei den

Naturvölkern und nun waren Semur und Ajili ganz plötzlich Eltern geworden.

Sie waren zwar nicht leibliche, so aber doch von Gott gegebene Eltern für Yuma. Da sie schon ein etwas älteres Paar und bisher kinderlos geblieben waren, war das eine besondere göttliche Aufgabe und gleichzeitig auch eine Ehre.

Nach alter Tradition wurde ein großes Fest gefeiert, um

Yuma in die Gemeinschaft einzuführen. Alle

Stammesangehörigen der Yamana sollten wissen, dass ihr Ältester und Stammespriester Semur und seine Frau Ajili Eltern geworden waren. Es wurde viel gesungen und sehr viel gebetet. Da viele Yamana-Männer und -Frauen weit auf verschiedenen kleinen Inseln verstreut waren oder auch noch auf dem Meer unterwegs, dauerte das Fest auch ein paar Tage, bis das normale Leben wieder seinen Lauf nahm.

Während dieses Festes beobachteten Semur und seine Frau wiederholt, dass ein großer Kondor immer wieder seine Kreise über ihnen zog, um dann wieder ins Bergland der Anden zu verschwinden, so, als wollte er nach dem Rechten sehen, ob bei den Menschen alles in Ordnung war. Yuma schien das zu spüren, denn wenn der Kondor über ihnen kreiste, wirkte sie immer ganz besonders ruhig und glücklich und ihr lächelndes Gesicht erfreute wiederum jeden, der sie anschaute.

Semur wusste, der Kondor hatte das Kind zu ihm gebracht, der Vogel hatte seine Aufmerksamkeit erregt, damit er das Kind findet. Dieses Kind war ihm aus den himmlischen Sphären zugewiesen worden. Es war der stille Ruf des Kondors, den Semur vernommen hatte. Vögel galten für die Urvölker auf Feuerland als Träger ihrer Seelen im Leben und im Tod.

Hier, über den Feuerland-Inseln, sah man zwar öfter den Albatros, doch ein Albatros war ein Wandervogel, er blieb zu Brut und Aufzucht der Jungen an einem Ort, aber danach verschwand er wieder in den Weiten des Himmels und des Meeres. Der Kondor aber blieb seinem Gebiet treu, er galt in den Anden als Götterbote.

Auch wenn das Leben bei den Wassernomaden auf das Notwendigste beschränkt blieb, konnte man sie auf keinen Fall ein armes Volk nennen. Sie später nach ihrer Entdeckung als primitives Volk zu bezeichnen, zeugt nur von völligem Unwissen über ihre Art und ihr Leben. Ihr

Geist war um vieles wacher als der von zivilisierten Menschen, ihre Arbeitskraft intensiver und ihr menschlicher und familiärer Zusammenhalt eher beispiellos.

Es gab viele Geschenke zu Yumas Willkommensfest. Sie bekam schöne kleine Fellkleidung und warme

Fellstiefelchen und Fellmützchen.

Ajili hatte keine Not, Yuma immer sauber und warm anzuziehen. Aber nicht nur Kleidung gab es. Es waren auch Spielsachen wie Püppchen aus Fell und viele Fellfische dabei.

Yuma sollte fortan behütet und liebevoll von Semur und Ajili aufgezogen werden, sie würden sich um das Mädchen kümmern, als wäre es ihr eigenes Fleisch und Blut. Sie sahen in Yuma ein Geschenk der Götter, das ihnen jeden Tag Freude bereitete. Ihre Dankbarkeit kannte keine Grenzen. Yuma lernte spielerisch das Leben als Wassernomadin kennen. Von Ajili, ihrer liebevollen Mutter, erfuhr sie alles über die Geheimnisse des Lebens und der Natur. Ajili nahm sich die Zeit, ihr die wenigen Pflanzenarten beizubringen, die auf den Feuerland-Inseln gedeihen, und wie man sie verwertet. Sie zeigte ihr, welche Tiere auf den Inseln und in der Luft lebten, und besonders die Fülle an Fischen und Muscheln, die in den Gewässern zu finden sind.

Das Leben mit den Yamana

Die Arbeit der Yamana-Frauen war hart und vielfältig, Ajili nahm Yuma mit auf in ihre täglichen Aufgaben. Gemeinsam stellten sie Kleidung aus Fellen, Fasern und Sehnen her. Sie verarbeiteten Knochen, Steine und Muscheln, um die notwendigen Gebrauchsgegenstände herzustellen. Während dieser Tätigkeiten erzählte Ajili Yuma Geschichten und Legenden ihrer Vorfahren. Mit jeder Erzählung wurde deutlich, wie wichtig es war, eine tiefe Verbundenheit zur Natur zu haben. Ajili wollte sicherstellen, dass Yuma stets mit Wertschätzung und Respekt für die Natur aufwachsen würde.

Da es noch keine Schrift gab, spielte die mündliche Überlieferung eine entscheidende Rolle in ihrer Kultur und war essenziell für den Erhalt ihrer Traditionen und ihres Wissens. Dafür waren diese Urvölker auch mit einem herausragend guten Gedächtnis gesegnet. Die Yamana waren Meister des Geschichtenerzählens.

Sie verflochten ihre Erfahrungen mit den Lehren ihrer Ahnen, um eine reiche Erzähltradition zu schaffen.

In ihren Geschichten lebten die Legenden ihrer Vorfahren weiter, deren Weisheit und Erkenntnisse über Generationen hinweg bewahrt wurden. Die alten Geschichten waren nicht nur eine Unterhaltung, sondern lehrten auch wichtige Werte, moralische Lektionen und praktisches Wissen über Überlebenstechniken, Naturheilkunde und das

Zusammenspiel mit der Umwelt.

Um diese Tradition der mündlichen Überlieferung lebendig zu halten, mussten die Yamana ein beeindruckendes Gedächtnis entwickeln. Wissen war überlebensnotwendig für ihr Volk. Ihre Fähigkeit, sich an Details zu erinnern und komplexe Informationen zu speichern, war erstaunlich. Sie trainierten ihre Kinder von klein auf, indem sie Geschichten wiederholten, Rätsel stellten und Informationen in Form von Liedern und Reimen weitergaben.

So wurde das Gedächtnis ihrer Nachkommen gestärkt und ihre Fähigkeit, Wissen zu bewahren und weiterzugeben, entwickelte sich weiter.

Die Ältesten spielten eine zentrale Rolle, da sie die Hüter des Wissens und der Geschichten waren und ihre Weisheit und Erfahrung an die kommenden Generationen weitergaben. Obwohl die mündliche Überlieferung ihre Grenzen hatte, war sie von unschätzbarem Wert für die Yamana. Sie ermöglichte ihnen, ihre Kultur und Identität zu bewahren und ihre Gemeinschaft stark und verbunden zu halten.

Die Yamana meisterten die Herausforderung, ihre Geschichte ohne Schrift weiterzugeben, und lebten in Harmonie mit der Natur, getragen von ihrer reichen Tradition des Erzählens und des scharfen Gedächtnisses.

Ajili erklärte, dass der Respekt vor den Eltern und Ahnen nicht nur eine Tradition war, sondern auch eine

Verpflichtung, die tief in ihrem kulturellen Erbe verwurzelt war.

Die Alten wurden bei ihnen niemals vernachlässigt, man kümmerte sich liebevoll und ständig um ihr Wohlergehen.

Wenn Yuma, während Ajilis Erzählungen, die Flammen des Feuers betrachtete, sah sie die Schatten der Vergangenheit tanzen. Sie verspürte eine Mischung aus Ehrfurcht und Dankbarkeit für die Weisheit, die ihre Mutter ihr weitergab, und für ihre persönliche Gabe, die sie selbst schon zur Geburt mitgebracht hatte. Das Wissen um die Bedeutung des Respekts und der Achtung vor den Eltern und Ahnen wurde in diesem Moment zu einer inneren Gewissheit.

Die Zeit, die Yuma mit Ajili verbrachte, schuf eine starke Verbindung zwischen Mutter und Tochter, die weit über die praktischen Fähigkeiten hinausging. Es war eine Verbindung, die auf Liebe, Wissen und dem Wunsch beruhte, das Erbe ihrer Vorfahren weiterzugeben und die

Harmonie zwischen Menschen und Natur aufrechtzuerhalten.

Ajili war für Yuma nicht nur Mutter, sie war auch eine Freundin geworden. Eine Freundin, mit der man auch mal herzhaft lachen konnte. Aber nicht nur lachen, auch gemeinsam singen.

Bei ihren Tätigkeiten sangen sie gern fröhliche oder nach getaner Arbeit auch geistig spirituelle Lieder, ähnlich dem östlichen Mantra, bei dem sie sich in Trance sangen und sich ihrer gegenseitigen Liebe noch näherkamen.

Semur hingegen unterrichtete sie überwiegend in spirituellen, schamanischen und heilkundlichen Fähigkeiten. Von ihm lernte sie, selbst auf kargen Böden Pflanzen zu finden, die für medizinische Zwecke genutzt werden konnten. Er schulte ihren Blick, sie zu finden und ihren Wert zu deuten. Er spürte, dass Yuma schon als Kleinkind die verschiedensten Natur- und Wasserwesen wahrnahm. Es schien in der Natur des Kindes zu liegen, sich in kleine Trancezustände zu begeben. So, als rufe sie ein weiterer Lehrer, um sie in verschiedenste Fähigkeiten zu schulen. Semur ahnte, dass Yuma stark mit dem Kondor verbunden war, der, seitdem das Kind bei ihnen war, immer wieder seine Kreise über ihnen zog. Yuma schien über diese geistige Verbindung noch tiefer in ihr Seelengeheimnis eindringen zu können.

Semur weihte sie in die Kenntnisse der Gebete ein. Er lehrte sie, die Gottheiten zu respektieren und zu ehren, und zeigte ihr, wie sie in tiefer Trance mit den umgebenden Natur- und Wasserwesen kommunizieren konnte, um Nutzen für sich und das Volk zu gewinnen. Er gab sein schamanisches Wissen gern an Yuma weiter. Obwohl es bei den Yamana nicht üblich war, dass Frauen schamanisch tätig waren. Aber bei Yuma war das anders, sie schien solche Kräfte schon von Geburt an in sich zu haben.

Sie war knapp fünf Jahre alt, als beim Spiel der kleine Tonio hinfiel und sich das Knie am Stein aufschürfte.

Wie von Geisterhand geführt, pflückte Yuma ein paar Blätter vom Wegerich, quetschte sie ein wenig in ihren Händen, damit der Saft austreten konnte, und legte sie auf das Knie des Freundes, um die Blutung zu stillen und die Heilung zu fördern. Stolz nahmen Ajili und Semur diese kleine Heldentat „ihrer“ Tochter zur Kenntnis.

Yuma hatte schon sehr viel über die wenigen Pflanzen erfahren, die es auf den vielen, doch recht kargen Inseln, gab. Sie wusste, dass man neben Fisch und Muscheln manchmal auch ein wenig Pflanzennahrung braucht, denn was die Ernährung betrifft, hatte sie schon viel von Ajili gelernt.

Alles, was für die Gesundheit notwendig war, lernte sie von Semur, sowohl über die physischen als auch psychischen Kräfte der Natur. Ebenso die heilende Wirkung der verschiedensten Moose, Farne, Wurzeln und Sträucher. Aber auch von den wichtigen Unterschieden der Meeresalgen in Bezug auf Ernährung und Medizin.

Sie fuhr oft mit hinaus aufs Meer und war nicht zimperlich, wenn es hieß mit anzupacken oder gegen heftige Stürme anzurudern. Sie war sehr stark.

Gerne ruderte sie rund um die Inseln und in die Fjorde, vorbei an eisigen Gletschern. Hier lag das Meer so ruhig, als wäre es wie in Trance tiefenentspannt. In diesem Wasser schaute Yuma gerne sich selbst an. Wo sonst, wenn nicht hier, konnte Yuma sich selbst ansehen? Die Landschaft war von ungeheurer Schönheit, wild und rau, aber wunderschön. Es war ebenfalls immer sehr spannend für sie, wenn der Yamana-Stamm seinen Wohn- oder Lagerplatz im Winter mehr in die nördliche Richtung verlegte und in den Sommermonaten dann wieder in Richtung Süden. Sie wanderten beziehungsweise wechselten ihren Lebensraum mit den Jahreszeiten. Alles war eine große Herausforderung. Auch wenn sie nach gewisser Zeit wieder einmal an einen früheren Lagerplatz zurückkam, war es für Yuma immer wieder wie ein neuer Platz. Die Natur hatte ihn verändert, ihre Hütten waren selten erneut bewohnbar, es mussten immer wieder neue gebaut werden. Aber das waren die Yamana gewohnt und es ging immer ziemlich schnell. Baum- und Strauchbewuchs war spärlich auf den südlichen Feuerland-Inseln. Jedoch die wilden Winde und Stürme hatten immer biegsame Äste bereitgelegt, die das Volk dann nur zu einem nach oben hin spitzen Kreis zusammenstellen musste. Die Felle, die die Äste umwandeten, waren ja vorhanden und so war eine Spitzhütte schnell wieder erstellt. Rund um die Hütte wurde der übliche Graben ausgehoben, den man immer mit den nach einem Essen übrig bleibenden Muschelschalen füllte.

Diese runde Furt gab einerseits Festigkeit und war nützlich bei starkem Regen, der dann nicht ins Innere der Hütte drang. In der Mitte der Hütte wurde die übliche Feuerstelle errichtet und schon war es kuschelig warm. An den Rand Kleingeäst und darauf weiches Moos, davon gab es ja genug.

Ein paar Seehundfelle darüber und schon war die Schlaf- und Ruhestelle fertig.

Je weiter sie von der Antarktis entfernt waren, desto größer und höher war der Baumbewuchs auf dem Festland. Das waren dann die Plätze, wo wieder neue Kanus erstellt wurden.

Felle und Häute bot das Meer überall, aber die richtigen Äste für ihre Kanus fanden sie eher weiter nördlich von der Antarktis.

Semurs Gefühle

Es war an einem kühlen frischen Herbstmorgen an ihrem Winterstandplatz. Dichter Schnee fiel vom Himmel und bedeckte alles, was noch annähernd grün gewesen war. Schnee war für die Yamana nicht nur ein Zeichen des Winters, es konnte auch im Sommer zu Schneefällen kommen.

Die kalte Luft kniff beißend ins Gesicht, welches stets mit Robbenfett eingecremt wurde, was gegen die Kälte schützte.

Yuma hörte Semurs monotonen Gesang aus der

Behandlungshütte nebenan. Taira, eine geschätzte, ältere Yamana Frau, war ernsthaft erkrankt und Semur fand keinen Weg der Heilung. Taira fieberte und fühlte sich allgemein sehr schlecht. Er wusste nicht, woran Taira erkrankt war oder was helfen könnte. Er bemühte sich, sang seine Lieder, um die Geister zu rufen und um ihre Hilfe zu bitten.