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Als einziger Überlebender eines Schiffsunglücks wird Tharwin als Säugling bei einem Sturm zusammen mit einem kleinen Drachen in einer Holzkiste an den Strand von Zaragon gespült. Beim Aufwachsen im Waisenhaus lernt er seine erwachenden magischen Fähigkeiten mit Vorsicht und Respekt einzusetzen. Als er sich dann mit seinem Freund, dem kleptomanischen Gnom Caleb, auf in die Welt macht, ahnt er noch nicht, dass dunkle Urkräfte sich anschicken, wieder die Herrschaft zu ergreifen, und sich dabei das Zerwürfnis des königlichen Geschwisterpaars zunutze machen. Je tiefer Tharwin in die Abenteuer hineingezogen wird, umso mehr erfährt er von seiner eigenen, ihm unbekannten Vergangenheit. Mit Witz und Tiefgang ausgebreitete Fantasy-Welt.
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Seitenzahl: 857
Veröffentlichungsjahr: 2023
Impressum
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© 2023 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99146-101-2
ISBN e-book: 978-3-99146-102-9
Lektorat: Falk-Michael Elbers
Umschlagfotos: Alexey Samoylenko, Magspace, Nejron, Patrick Guenette | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
Innenabbildung: Christian Perschke
www.novumverlag.com
Prolog
Wir schreiben den siebten Tag der einundzwanzigsten Woche im Jahr 3104 nach der Weltenwende oder nach Rechnung der Menschen das Jahr 329 nach dem großen Brand.
Ich fühle mich heute sehr alt. Die Last der Jahrhunderte nagt an meinen Knochen und ich nehme wahr, wie meine Kräfte schwinden.
An Tagen wie diesen frage ich mich, welche meiner alten Freunde überhaupt noch in dieser Welt weilen. Bisweilen glaube ich, dass ich der Letzte meiner Art bin, und mich erfüllt tiefe Unruhe.
Ich spüre, dass jene Dinge eingetroffen sind, die wir lange im Voraus mit Sorge erwartet hatten.
Der Spiegel ist erwacht und es scheint, dass er nach all den Jahrhunderten des Wartens tatsächlich gefunden wurde.
Ich fürchte, dass sich nun jene uralten Feinde erheben werden, die wir vor langer Zeit als besiegt glaubten.
Ich habe Leandor bereits entsandt und nun ist unser Schicksal möglicherweise an den Erfolg seiner Mission gebunden.
Ich selbst werde in der nächsten Zeit sehr beschäftigt damit sein, Antworten auf einige dringende Fragen zu finden.
Ich muss meine Feder nun niederlegen, denn mein Gehilfe Nyzin scheint dringende Neuigkeiten für mich zu haben.
– Falagan, Drachenpharao–
Einleitung
Der raue Meereswind zerrte an Ab’Javans Bart und zerzauste sein grauschwarzes Haar.
Immer wieder schlugen die schäumenden Wogen der Brandung gegen die massiven Mauern der alten Küstenfeste.
Die FesteSturmwachtwar eine mächtige Trutzburg aus alter Zeit, die in den rauen Felsen der Ostküste unerschütterlich den Gezeiten trotzte.
Ihr Mauerwerk war so perfekt in die schroffen Klippen der Küste eingelassen, dass es nahtlos mit diesen zu verschmelzen schien.
Manche sagten, es sei die Präsenz einer uralten Magie, die es der Küstenburg erlaubte, über die Jahrhunderte hinweg den Naturgewalten der tosenden Brandung zu widerstehen, die unentwegt gegen ihre Mauern schlugen.
Andernfalls wäre die Feste im Laufe der Jahrhunderte vielleicht den unermüdlichen Angriffen des Meeres erlegen gewesen, doch ihre mächtigen Grundmauern trotzten der aufzehrenden und gnadenlosen Witterung der Naturgewalten so beständig wie die rohen Felsklippen der Ostküste.
In Gedanken versunken lehnte Ab’Javan gegen die Brüstung der Mauern und blickte auf das schäumend tobende Meer. Mit tiefen Atemzügen nahm er die kalte Luft der feuchtpeitschenden Meeresbrise in seine Lungen auf.
Ein gewaltiges Unwetter war heraufgezogen und der donnernde Sturm machte nicht nur dem Namen der Burg alle Ehre, sondern war für die meisten Bewohner der Küstenregion auch Grund genug, sich eilig in ihre warmen und trockenen Häuser zurückzuziehen.
Ab’Javan hingegen zog es gerade im Angesicht dieser brachialen Naturgewalten unter freien Himmel.
Das tobende Unwetter, das alle übrigen Geräusche verschluckte, erfüllte seinen Geist und seine Gedanken mit besonderer Klarheit und Schärfe. Auch faszinierte ihn die Perfektion der Natur, die sich ganz von selbst im Gleichgewicht hielt.
So schwer und vernichtend die Stürme hier an der Ostküste auch wurden, so unbekümmert und friedlich war die Ruhe, die sich nach ihrem Ende doch stets wieder einstellte.
Mit gewohnter Geste strich sich Ab’Javan über den sorgfältig gestutzten Bart. Er konnte an diesem Ort einem ruhigen Lebensabend entgegenblicken und die Dunkelheit früherer Tage hinter sich lassen. Vielleicht könnte er auf seine alten Tage hin noch einmal der einen oder anderen persönlichen Angelegenheit nachgehen, denn zu seinem Bedauern hatte er niemals gelernt, wie man gut kochte.
Ab’Javans Miene erhellte sich bei dem Gedanken daran, dass er bald mehr als genug Zeit dafür haben würde.
Plötzlich teilte ein gewaltiger Blitz die schwarzblaue Nacht über der aufgewühlten Meeresküste. Nach einem kurzen Augenblick folgte ein mächtiger Donnerschlag, der die Welt erschütterte.
Das Licht des Blitzes offenbarte ein kleines Segelschiff, das einen verzweifelten Kampf gegen die Urgewalt der stürmischen See ausfocht, den es unmöglich gewinnen konnte. Die unglückselige Besatzung musste die Leuchtfeuer der FesteSturmwachtübersehen haben. Nun steuerte das Schiff offenkundig seinem sicheren Untergang entgegen.
Die scharfkantigen Felsriffe in diesem Abschnitt der Küste machten es unmöglich, das Ufer sicher zu erreichen.
Ab’Javans verzweifelte Rufe gingen ungehört im tobenden Brüllen des Sturmes unter.
In diesem Augenblick erhellte ein weiterer Blitz das Dunkel, dicht gefolgt von einem lauten Bersten.
Das Schiff war auf einen Felsen geprallt.
War es zuvor ein Spielball der Naturgewalten gewesen, so hatten diese ihr Spiel nun unbekümmert und mit einem endgültigen Schlag beendet und das Schicksal der glücklosen Besatzung besiegelt.
In den folgenden Stunden wartete Ab’Javan angespannt auf das Ende der Sturmfluten. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, da es fast bis in die frühen Morgenstunden dauerte, bis der Sturm schließlich abflaute und von den ersten zaghaften Strahlen der aufgehenden Sonne verdrängt wurde.
Inmitten der schroffen Felsküste gab es ein kleines Stück Strand, den Ab’Javan aufzusuchen gedachte, sobald die zurückweichende Flut eine Suche nach Überlebenden zulassen würde.
Als es schließlich so weit war, verließ er eilig seinen Turm, lief so schnell, wie er konnte, über die steinerne Küstenstraße und durchquerte den Torborgen, der in den alten Garten führte. Dann lenkte Ab’Javan seine Schritte zielsicher zu der schmalen Steintreppe, die in den steilen Klippen zu einem kleinen Strandabschnitt hinunterführte. Mit sicheren Schritten eilte er die steinernen Stufen hinab, die in die gut hundert Meter tiefe Felsklippe eingelassen waren. Als Ab’Javan den Fuß der Treppe erreicht hatte, empfing ihn das sanfte Rauschen des Meeres, das im Vergleich zu der vorherigen Nacht und im Angesicht der aufgehenden Sonne nun zahm und versöhnlich wirkte.
Hastig huschte ein einzelner Taschenkrebs in seinem einzigartigen Seitwärtsgang quer über den Strand, ganz so, als hätte er noch einiges zu tun. Ungeachtet dessen lief Ab’Javan weiter. Auch wenn die Chancen gering waren, so bestand doch die Möglichkeit, dass jemand das Unglück überlebt haben könnte.
Plötzlich, er war noch kein Dutzend Schritte über den Strand geeilt, erregte ein Objekt von nur geringer Größe seine Aufmerksamkeit.
Ab’Javan hätte es wohl für unbedeutendes Treibgut gehalten und in den anderen Holztrümmern glatt übersehen, wäre da nicht ein Geräusch gewesen, das sich deutlich vom diffusen Rauschen des Meeres abhob.
Es handelte sich um die Schreie eines Kleinkindes.
Ab’Javan verbrachte einen kurzen Augenblick sprachlosen Erstaunens, bis er schließlich eine kleine hölzerne Truhe als Quelle der Schreie identifizierte. Langsam und zögerlich näherte er sich, fast so, als hätte er Angst vor dem, was er in der Truhe vorfinden könnte.
So grausam es auch schien, so war es doch nicht allzu selten in dieser Gegend, dass ungewollte Kinder, die aus den umtriebigen Liebschaften heimatloser Seeleute entsprungen waren, von ihren verzweifelten Müttern dem Meer übergeben wurden.
Ab’Javans Finger zitterten, als er vorsichtig damit begann, den Schließmechanismus zu entriegeln.
Es gab kein Schloss, aber dafür allerlei Eisenrädchen, Klappen und komplexe Stellglieder. Schließlich schaffte er es, die Mechanik zu bezwingen und die hölzerne Kiste zu öffnen.
Im Inneren der Truhe strampelte ein Säugling, der in ein winziges Mäntelchen gehüllt war und lautstark brüllte.
Das Kind schien trotz der sonderbaren Umstände augenscheinlich gesund und wohlauf zu sein. Es handelte sich um einen kleinen Knaben. Sein Haaransatz war von einem Farbton, blau wie das Meer, wie ihn der alte Ab’Javan noch niemals zuvor gesehen hatte.
Dann weiteten sich seine Augen, als er noch etwas anderes in der Truhe entdeckte. Neben dem Kind, zum Schlafen auf einer Decke eingerollt, lag ein kleiner, schiefergrauer Drache.
1. Von Zwergen, Würmern und kleinen Drachen
Drei Tagesmärsche westlich von Nebelheim, Juli des Jahres 351 n. d. B.1, jetzt und heute
Es war ein schöner Sommermorgen und die Welt war erfüllt von Wärme und Sonnenschein, nichts ahnend von all den dunklen Dingen, die ihr in einer nicht allzu fernen Zukunft bevorstanden.
Auf einem kleinen Weg, gleich neben einem fröhlich vor sich hin plätschernden Bach, wanderten zwei Gestalten.
„Langsam, aber sicher falle ich um vor Hunger“, grummelte Caleb, „Und es ist fast nichts mehr zu essen übrig.“
Caleb Kesselstieg war eine dieser beiden Gestalten. Mit einer Körpergröße von ungefähr einem Meter und ein wenig mehr war er ein stolzer Vertreter des sogenannten kleinen Volkes, der Gnome. Abgesehen von ihrer geringen Körpergröße konnte man Gnome auch gut an ihren großen, rundlichen Nasen und an den ebenfalls großen und meist stark abstehenden Ohren erkennen.
Diese äußeren Merkmale trugen bisweilen dazu bei, dass man diesem Volk nicht immer mit dem angemessenen Respekt begegnete. Dennoch wäre es ein gravierender Fehler gewesen, einen Gnom zu unterschätzen.
Nicht wenige Gnome zeichneten sich durch ein erstaunliches technisches Geschick und einen scharfen Verstand aus, der ihre geringe Körpergröße mehr als wettmachte.
Immerhin waren viele der berühmtesten technischen Gerätschaften und Erfindungen der letzten Jahrhunderte von Gnomen entwickelt worden, etwa der Flußextraktor 2.0 oder die allerorts geschätzte Strubelturbine, benannt nach ihrem Erfinder Markinov Strubel, der zum Zeitpunkt seiner Erfindung noch nicht einmal seinen zwanzigsten Namenstag erlebt hatte. Und auch wenn es insgesamt nur vergleichsweise wenige Gnome in Zaragon gab, so trugen sie doch mit ihren teils verrückten wie innovativen Ideen und Erfindungen maßgeblich zum technischen Fortschritt der zivilisierten Welt bei.
Auch Caleb hatte einmal davon geträumt, eines Tages ein Erfinder zu werden. Objektiv betrachtet fehlten ihm hierfür allerdings jedwede Kenntnisse in den Fachgebieten, die für einen solchen Beruf notwendig waren, wie zum Beispiel Maschinenkunde oder Mathematik.
Caleb war wie sein Begleiter Tharwin im Waisenhaus der FesteSturmwachtaufgewachsen. Jedoch hatte er die Feste frühzeitig verlassen, da er lieber einer praktischen Tätigkeit nachgehen wollte, anstatt sich wie sein Freund Tharwin an der Sturmwacht-Akademie einzuschreiben.
In Ermangelung verfügbarer Alternativen und ernster Ambitionen hatte Caleb schließlich eine Tätigkeit auf dem naheliegenden Weingut des alten Trübwassers angenommen.
Während Caleb seine dortigen Aufgaben mit mehr oder weniger großer Begeisterung ausführte, übte dieser Posten jedoch zumindest aufgrund seiner Vorliebe für guten Wein einen gewissen Reiz auf ihn aus.
Der alte Winzer Trübwasser hatte allerdings seine Entscheidung im Nachhinein des Öfteren bereut, da Caleb in der Tat nicht immer ein vorbildlicher Mitarbeiter war. Nicht selten hatte sich Caleb während seiner Arbeitszeit mit ein paar Flaschen besonders teurer Weinjahrgänge aus dem Staub gemacht, um diese an einem ruhigen Ort abseits des arbeitsreichen Weinguts mit ein paar Freunden zu genießen.
Er war ein Tagträumer, der sich schnell für Dinge begeistern konnte und beinahe noch schneller wieder das Interesse daran verlor.
Zumindest auf einem Gebiet hatte der junge Gnom jedoch im Laufe der Zeit ein bemerkenswertes Talent entwickelt. Seit seiner Kindheit schlummerte in Caleb eine latente kriminelle Energie und er hatte sich seitdem nicht selten als erfolgreicher Langfinger bewiesen. Immerhin profitierte er in diesem Geschäft erheblich von seiner geringen Körpergröße, da sie es ihm einfacher machte, ungesehen zu bleiben und unerwartete Verstecke zu finden.
Nichtsdestotrotz brachten ihn seine kleinen Diebeszüge bisweilen in gewisse Schwierigkeiten und Caleb war nicht selten mit einem buchstäblichen blauen Auge davongekommen. Es war daher wenig verwunderlich, dass er mittlerweile in vielen der näheren Ortschaften nicht mehr unbedingt willkommen war. Natürlich war er stets sehr darauf erpicht, dass der alte Trübwasser nicht allzu viel von diesen Dingen erfuhr. Doch von seinen kleinen Macken abgesehen war Caleb im Grunde ein herzensgutes Wesen.
Und dann war da noch eine zweite Gestalt, die im hellen Licht der Mittagssonne dahinwanderte. Es war niemand anderes als Tharwin Thoadib. Angespült als Findelkind in einer einfachen Holzkiste, zusammen mit einem kleinen Drachen, war Tharwins Herkunft bis heute ein ungelöstes Geheimnis.
Doch um Tharwins Geschichte zu erzählen, scheint es angebracht, ein wenig weiter auszuholen und bei der altenSturmwachtfestezu beginnen.
Es hieß, dass die FesteSturmwachtin ihren früheren Tagen dem gefürchteten Piratenfürsten Hörndarl dem Schwarzen als Altersresidenz gedient hatte. Selbst heute glaubten einige der Küstenbewohner, dass Teile seiner Reichtümer und Schätze noch immer irgendwo in den alten Gemäuern versteckt liegen. Und zu ihren noch jüngeren Tagen, so sagte man, habe die Burg einst ein alter Orden von Zauberern bewohnt.
Den Überlieferungen nach hatte es sich um Diener des blauen Arkanums gehandelt, die sich die rohe Urgewalt der zaragonischen Ostküste für ihre magischen Studien zunutze gemacht hatten. Vielleicht deswegen, weil dieser Zweig der Zauberei eng mit den Elementen Wasser und Luft verbunden war, die beide an diesem Ort stark und allgegenwärtig präsent waren.
Und davor, so hieß es, war die Feste von einem grausamen Adelsgeschlecht bewohnt gewesen, das aufgrund zahlreicher Missetaten schließlich durch einen Volksaufstand zu Fall gebracht worden war.
Niemand vermochte mit Gewissheit zu sagen, welchem Zweck die Burg davor gedient hatte, da die noch älteren Aufzeichnungen und Geschichten mittlerweile in Vergessenheit geraten waren.
Nachdem dieSturmwachtfestefast ein ganzes Jahrhundert lang leer gestanden und vor allem den Ratten, Spinnen und Fledermäusen als Zuflucht gedient hatte, wurde die Burg schließlich einer neuen, sinnhaften Bestimmung zugeführt und der Ostflügel der Feste zu einem Waisenhaus ausgebaut.
Immerhin war es ein großes Problem der Küstenregion rund um die kleine Fischerstadt Nebelheim, dass aus den leichtfertigen Liebeleien der Seeleute zahlreiche ungewollte Kinder hervorgingen, die in der Folge oft zu Waisen wurden.
Die Fertigstellung des Waisenhauses hatte dem ansonsten eher phlegmatischen Bürgermeister der Stadt das Wohlwollen seiner Wählerschaft eingebracht und ihm die nächsten Jahre seiner Amtsperiode gesichert. Da der Bürgermeister auf einige weitsichtige und einflussreiche Berater und Kontakte zählen konnte, hatte man im Westflügel der Burg schließlich noch eine kleine, aber durchaus renommierte Akademie gegründet, die der jungen Generation die Ausbildung in den Lehren zahlreicher Wissenschaften ermöglichte.
Diese Maßnahme zog nicht nur viele Studenten aus dem nahen Umland an, sondern hatte auch erfolgreich dazu beigetragen, die Anzahl der Straftaten junger Küstenbewohner aus Mangel an Möglichkeiten und Perspektiven zu reduzieren.
Ab’Javan war einer der zahlreichen Dozenten der Sturmwachtakademie. Er war ein hochgewachsener Mann südlicher Herkunft und gehobenen Alters, trug einen sorgfältig gestutzten, schwarzgrauen Bart und hatte scharfe, wache Augen. Eine große Narbe zog sich quer über die linke Hälfte seines dunklen, wettergegerbten Gesichts. Soweit es seine Kollegen wussten, war Ab’Javan in seinen jungen Jahren ein Kaufmann gewesen, der insbesondere die Routen zwischen Aldaron, der großen Hauptstadt des Mittelreiches, und den südlichen Landen rund um die große Wüstenstadt En’Jar bereist hatte.
Eines Tages, bereits im mittleren Alter, hatte Ab’Javan auf seinen Reisen schließlich Nathalia, eine junge Frau aus Nebelheim, kennengelernt. Danach hatte es nicht lange gedauert, bis die beiden geheiratet hatten und kurzentschlossen war Ab’Javan aus Liebe zu seiner Frau nach Nebelheim gezogen. Dort eröffneten sie zusammen einen kleinen Laden, in dem sie allerlei Dinge wie Bücher, Stoffe, Keramiken oder Gewürze anboten. Mit ihrem Geschäft erlangten sie zwar keinen Reichtum, konnten jedoch gut davon leben. Obwohl Nathalia und Ab’Javan keine Kinder vergönnt waren, verlebten sie dennoch viele glückliche gemeinsame Jahre. Dann jedoch ereilte sie ein weiterer Schicksalsschlag, als Nathalia unerwartet an einem schweren Fieber erkrankte. Nach einem lange andauernden und bitteren Kampf erlag sie schließlich ihrer Krankheit und verstarb.
Schwer vom Schicksal gezeichnet war Ab’Javan daraufhin in Depressionen verfallen und hatte Zuflucht in der Flasche gesucht.
Erst Jahre später, als in der altenSturmwachtfesteschließlich die neue Akademie eröffnet wurde, erkannte Ab’Javan plötzlich für sich die Möglichkeit, seine Leidensphase zu überwinden und seinem Leben wieder einen Sinn zu verleihen, indem er jungen Menschen mit seinem Wissen und seiner Erfahrung auf ihrem weiteren Weg helfen konnte. Zu seiner Erleichterung wurde er schließlich als Dozent an der Akademie angenommen und unterrichtete fortan Mathematik, Geschichte und die alten Sprachen. Und damit kehrte seine Lebensfreude zurück, denn die Schüler forderten ihn heraus und spornten ihn dazu an, sein Bestes zu geben.
Tatsächlich war Ab’Javan unter seinen Schülern und Studenten überaus beliebt. Einerseits fand er in seiner ruhigen und charismatischen Art stets den richtigen Ton, um seine Zuhörer zu erreichen. Andererseits war er ein Meister darin, den Lehrstoff mit zahlreichen abenteuerlichen Geschichten aus seinem früheren Leben spannend und praxistauglich zu vermitteln, sodass seine Vorlesungen oftmals mit Vorfreude erwartet wurden.
Bei einigen seiner Kollegen hingegen war er weniger beliebt. Teils, weil sie ihn um seine Beliebtheit beneideten, teils, weil er sie gern mit ihren Schwächen konfrontierte und ihnen auf direkte Art und Weise die Grenzen ihres Wissens vor Augen führte.
***
In einer stürmischen Nacht schließlich hatte es sich zugetragen, dass Ab’Javan in einer hölzernen Kiste, angespült am Strand vorSturmwacht, einen blauhaarigen Knaben und einen kleinen, schiefergrauen Drachen vorgefunden hatte. In einer Inschrift in der Truhe war augenscheinlich der Name des Jungen eingraviert gewesen:Tharwin Thoadib. Ab’Javan hatte es zu diesem Zeitpunkt für das Beste gehalten, den Knaben, der nicht einmal ein Jahr alt gewesen war, der Obhut des Waisenhauses zu übergeben.
Was den Drachen betraf, so hatte Ab’Javan nie geahnt, einem solchen Geschöpf jemals selbst zu begegnen.
Die meisten Leute in der Region glaubten nicht an die Existenz von Drachen. Und wenn doch, so gehörten Drachen für sie zu den meist bösartigen Wesen aus alten Legenden und Geschichten, denen man vor allem mit Argwohn und Angst begegnete.
Schnell hatte Ab’Javan zu seinem Erstaunen festgestellt, dass der kleine Drache im Grunde keineswegs bösartig war, sondern lediglich etwas eigenwillig und widerspenstig. Er hatte ihm daraufhin den NamenUrfurorgegeben.
Tatsächlich hatte sich der kleine Urfuror weder einfangen noch zähmen lassen und war, ähnlich einer Katze, meist auf seinen eigenen, geheimnisvollen Wegen unterwegs. Immerhin kehrte er zum Schlafen tagsüber immer in dieSturmwachtfestezurück, da er sich den höchsten Turm der Burg zu seiner Schlafstätte auserkoren hatte.
Ab’Javan verfolgte und beobachtete Urfurors Aktivitäten mit großem wissenschaftlichem Interesse, gleichzeitig aber auch mit Sorge. So wusste er, dass viele Bewohner der Küste dem Drachen nicht wohlgesonnen begegnen würden, wenn sie von seiner Existenz erfahren würden. Da der kleine Urfuror jedoch eher nachtaktiv war, hatten sich Ab’Javans Sorgen schließlich etwas gelegt, da man ihn im Dunkeln gut und gern für eine etwas zu groß geratene Fledermaus halten konnte.
Mit Erstaunen bemerkte Ab’Javan im Laufe der Zeit, dass der kleine Drache trotz seiner zahlreichen Ausflüge immer wieder die Nähe zu dem kleinen Tharwin suchte. Diese besondere Verbindung faszinierte Ab’Javan und sein ausgeprägter Forschergeist hoffte darauf, dieses Geheimnis eines Tages ergründen zu können.
Nicht zuletzt hatte Ab’Javan die Sorge geplagt, dass der kleine Urfuror wachsen und größer werden würde und so möglicherweise eines Tages zu einer Gefahr für sein Umfeld werden könnte. Im Laufe der Zeit schwand jedoch auch diese Sorge, da er feststellen konnte, dass der kleine Drache in den folgenden Jahren nicht wuchs. Auch schien es, dass Urfuror seinem Namen alsbald immer weniger Ehre machte, da er seine Zeit zunehmend mit Schlafen verbrachte und sich mehr und mehr zu einem bequemen, fast schon faulen Geschöpf entwickelte. So hatten sich die Befürchtungen Ab’Javans zusehendes verflüchtigt, dass aus dem kleinen Urfuror eines Tages ein gefährliches Ungeheuer hätte werden können.
Mit der Zeit hatte sich der Drache an die Gesellschaft in derSturmwachtfestegewöhnt. Und zu Ab’Javans Erleichterung gewöhnten sich auch die übrigen Bewohner der Burg an den kleinen Drachen. Sie schienen ihn bald sogar als eine Art Maskottchen der Akademie zu betrachten. So kam er immer öfter von seinem zugigen Versteck herabgeflogen, um die zahlreichen Räume der Burg zu erkunden.
Insbesondere bei den Mahlzeiten hatte Urfuror schnell eine erstaunliche Zuverlässigkeit entwickelt, da er sich zu diesen Zeiten regelmäßig und pünktlich zeigte. Er war augenscheinlich ein Allesfresser, der jedoch eine besondere Vorliebe für frische Räucherwürste hegte, die er selbstgefangenen Ratten und Mäusen mehr und mehr vorzog.
Nicht selten hatte er sich unerlaubten Zugang zur Vorratskammer der Burg verschafft, sodass man ihn anschließend mit dickem und vollgefressenem Bauch vorfand, während er inmitten eines großen Laibs Käse schlief.
Doch nicht nur der kleine Urfuror versetzte dieSturmwachtfestein Erstaunen. Auch der junge Tharwin hatte schon bald Aufmerksamkeit auf sich gezogen, nachdem man bemerkt hatte, dass er über eine gewisse Begabung verfügte. So hatte man bei dem Jungen bereits im Alter von drei Jahren beobachtet, dass er eine Handvoll Bauklötzchen wie durch Zauberhand durch die Luft schweben ließ. Ein anderes Mal hatte ein grimmiger Blick von ihm ausgereicht, um den Milchbecher eines anderen Kindes mit winzigen Wellen zum Überlaufen zu bringen.
Tatsächlich hatte Ab’Javan das Wirken der arkanen Kräfte in seinen jüngeren Tagen bereits einige Male beobachten dürfen. Nichtsdestotrotz schaffte es der junge Tharwin immer wieder, ihn zu verblüffen.
Von seinen Reisen her wusste Ab’Javan, dass sich die Zauberer Zaragons normalerweise auf die Aussprache von erforschten und klar definierten Zauberformeln verließen. Der kleine Tharwin hingegen verfügte offenkundig über die Gabe, die Magie allein durch die Kraft seiner Gedanken und seines Willens zu formen. So etwas hingegen hatte Ab’Javan noch nie zuvor beobachten können.
Daher hatte er schließlich darum gebeten, dem jungen Tharwin ab seinem neunten Lebensjahr als persönlicher Mentor zur Seite zu stehen.
Zwar war Ab’Javan selbst kein Zauberer, doch hatte er auf seinen Reisen zumindest einiges an Grundlagenwissen über die Magie erlangt und war damit in dieser abgeschiedenen Gegend vermutlich derjenige, der sich auf diesem geheimnisvollen Gebiet noch am besten auskannte.
Doch vielmehr als das fühlte er sich für Tharwin verantwortlich. Immerhin hatte er ihn als Säugling an der Küste aufgefunden und ihm somit vermutlich das Leben gerettet. Auch wenn Ab’Javan es sich nicht offen eingestand, so war Tharwin für ihn doch ein Ersatz für den Sohn, der ihm in früheren Tagen niemals vergönnt gewesen war.
Zwar ahnte Ab’Javan, dass in dem jungen Tharwin eine bemerkenswerte Begabung schlummerte, doch er vermied es bewusst, diesen Verdacht gegenüber Tharwin selbst zu äußern.
Ab’Javan hatte lange darüber nachgedacht und sich schließlich dagegen entschieden, da er zu dem Schluss gekommen war, dass diese Erkenntnis seinem jungen Schüler vielleicht zu Kopfe steigen könnte. Das wollte er schlichtweg vermeiden. Vielmehr wollte er dazu beitragen, Tharwin zu einem bescheidenen, aufmerksamen und weltoffenen jungen Menschen zu erziehen.
Und so unterrichtete Ab’Javan den jungen Tharwin in zahlreichen Wissenschaften wie etwa Schriftkunde, Mathematik, Gesellschaftskunde, Biologie, Philosophie und Geschichte. Darüber hinaus lehrte Ab’Javan seinen Schüler aber auch, den Wert jener Dinge zu erkennen, die von wahrer Bedeutung waren und die man nicht mit Gold aufwiegen konnte, es waren Werte wie Aufrichtigkeit, Hilfsbereitschaft und Freundschaft.
Und auch betonte Ab’Javan mit großem Nachdruck, dass der Verstand allein wenig bedeutete, wenn er nicht mit dem richtigen Herzen geeint war. Nicht zuletzt erinnerte er seinen Schüler daran, dass alles Wissen und jede Klugheit stets ihre Grenzen hatten und selbst die Klügsten gelegentlich Fehler machten.
Mit zunehmendem Alter Tharwins wagte sich der kleine Urfuror immer häufiger in seine Nähe. Schon bald bestätigte sich Ab’Javans Verdacht, dass es eine bestimmte Art der Verbindung zwischen Tharwin und dem kleinen Drachen gab. Manchmal, wenn Tharwin und Urfuror zusammen draußen spielten, erinnerte der Drache beinahe an einen Hund, der einem Stock hinterhereilte. Nur, dass der Hund ein Drache war und er den Stock noch während des Wurfes in der Luft auffing. Und auch wenn der kleine Drache kaum zähmbar wirkte, so schien er doch zumindest Tharwin in irgendeiner Weise zu gehorchen.
All diese Dinge warfen viele Fragen auf, die Ab’Javan nicht zu beantworten wusste. Es waren Fragen nach dem unglückseligen Schiff, das in jener Nacht an der Küste zerschellt war, auch waren es die Fragen nach Tharwins und Urfurors Herkunft sowie ihrer erstaunlichen Verbindung und nicht zuletzt nach Tharwins sonderbarer magischer Begabung.
Was die Magie betraf, so verstand sich Tharwin insbesondere darauf, Dinge ohne jegliche Berührung, allein durch Konzentration und Kraft seines Willens zu bewegen. Eine Fähigkeit, die man als Telekinese bezeichnete und die man in den Fachkreisen der Zauberer dem blauen Arkanum zusprach.
Auch wenn es Tharwin bisher noch nicht gelungen war, Objekte zu bewegen, die größer und schwerer als eine Katze waren, so vermutete Ab’Javan, dass noch größeres Potential in seinem Schüler ruhte. Es war eine Vorstellung, die ihn sowohl faszinierte, jedoch auch mit einer gewissen Beunruhigung erfüllte. Und so erinnerte Ab’Javan seinen jungen Schüler fortwährend daran, sich der Verantwortung bewusst zu sein, die seine außergewöhnlichen Kräfte mit sich brachten. Denn Ab’Javan hatte auf seinen Reisen gelernt, dass die Magie eine gleichermaßen wertvolle wie gefährliche Gabe war, die man nicht leichtfertig einsetzen durfte.
Nicht immer war Tharwin ein vorbildlicher Schüler gewesen und nicht selten hatte er Ab’Javans Geduld auf eine harte Probe gestellt. Denn mit zunehmendem Alter gab es mehr und mehr Dinge, die sein Interesse weckten. In seinem fünfzehnten Lebensjahr hatte Tharwin die hübsche Mirjen kennengelernt. Mit ihrem fröhlichen Wesen, ihren dunklen Haaren und ihren nussbraunen Augen hatte sie sein Herz im Sturm erobert. Und so hatte er oft mehr Zeit mit ihr verbracht, als seinem alten Lehrmeister recht sein konnte. Mirjen war eine leidenschaftliche Sängerin, die von einer großen Karriere als Bühnenkünstlerin träumte. Als sich ihr schließlich mit achtzehn Jahren tatsächlich die Aussicht auf eine größere Rolle in einem bedeutsamen Theaterstück geboten hatte, hatte sie schließlich die Entscheidung getroffen, ihrer Heimat Lebewohl zu sagen, um in Aldaron, der prachtvollen Hauptstadt des Mittelreiches, einer schillernden Bühnenkarriere entgegenzueifern.
Diese Entscheidung hatte das Ende ihrer Beziehung bedeutet und der Verlust seiner ersten Liebe hatte Tharwin damit einige dunkle und schwere Monate beschwert. Seine Enttäuschung war groß gewesen, doch ein klein wenig hatte er sich auch für sie gefreut, da Mirjen nun die Möglichkeit hatte, ihren großen Lebenstraum zu verwirklichen. Tharwin hoffte für sie, dass sie ihr Glück finden würde, und er hatte ihr für ihren weiteren Weg das Beste gewünscht.
Zum Glück gab es auch noch Caleb. Tharwin und Caleb waren beste Freunde, die sich seit Kindesalter kannten und die zusammen im Waisenhaus vonSturmwachtaufgewachsen waren. Sie hatten ihre Freundschaft stets aufrechterhalten, auch nachdem sich ihre Wege getrennt hatten, da Tharwin nach der Basisschule die Akademie besuchte und Caleb auf dem Weingut arbeitete. In den zurückliegenden Jahren hatten die beiden Freunde Höhen und Tiefen zusammen durchlebt, gefeiert, gelitten und so manchen Becher zusammen erhoben.
Während Caleb im Grunde relativ unbedarft in den Tag hinein lebte, waren in Tharwin mit fortschreitendem Erwachsenwerden zwei vordergründige Gedanken gereift. Vor allem wollte er seine Kräfte ergründen und die mysteriösen Pfade der arkanen Mächte besser verstehen lernen. Zwar hatte der alte Ab’Javan den jungen Tharwin bereits einige grundlegende Dinge über die Magie lehren können, doch Ab’Javans Kenntnisse und Fähigkeiten auf diesem Gebiet hatten letztlich ihre Grenzen, insbesondere da Ab’Javan selbst kein Zauberer war.
Neben der Frage nach seiner magischen Begabung gab es noch eine zweite zentrale Frage, die Tharwin sehr beschäftigte und die für ihn noch wichtiger war als die erste. Es war die Frage nach seiner Herkunft.
Denn in seinen Träumen sah Tharwin immer wieder das Meer, das eine sonderbar vertraute Anziehungskraft auf ihn ausübte. Selbst der alte Ab’Javan hatte Tharwin mit all seinem Wissen und seiner Erfahrung nicht dabei helfen können, dieses Geheimnis zu lüften. Und auch Tharwins seltene blaue Haarfarbe mochte vielleicht ein Teil dieses Rätsels sein. Und nicht zuletzt war da der kleine Urfuror, der neben ihm in der Kiste gelegen hatte und nicht von seiner Seite wich.
Es war schließlich der Tag gekommen, an dem Tharwin seine Studien an derSturmwachtfestebeendet hatte und auch der inzwischen vollständig ergraute Ab’Javan ihn nichts mehr hatte lehren können. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich in Tharwin längst der Entschluss gefestigt, in die Ferne zu reisen, um nach Antworten auf seine Fragen zu suchen.
Dieser Gedanke von Abenteuer war bereits seit seinem Kindesalter stark in ihm verankert und nunmehr gab es für ihn kaum noch Gründe, länger inSturmwachtzu verweilen.
Für den gealterten Ab’Javan war der bevorstehende Abschied natürlich eine schmerzvolle Angelegenheit, da er Tharwin wie einen Sohn liebte. Doch er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er selbst in seiner Jugend gewesen war. Nur zu gut verstand er Tharwins Tatendrang und dessen Streben nach Abenteuer und Wissen. So hatte Ab’Javan seinen jungen Schüler in seinem Entschluss sogar noch bekräftigt.
Caleb hingegen hatte angesichts dieser Pläne nicht unbedingt mit Begeisterung reagiert. Stattdessen hatte er es sich nicht nehmen lassen, die Gesamtheit der Risiken und Gefahren zu ersinnen, die mit einer größeren Reise einhergingen. Doch das Schicksal hatte einen anderen Plan mit dem jungen Gnom gehabt, sodass er seine Meinung bald revidierte.
Im Grunde waren die folgenden Dinge unausweichlich und lediglich eine Frage der Zeit gewesen. Ein Nachbar hatte dem alten Trübwasser bei einem beiläufigen Plausch am Gartenzaun erzählt, dass ein rothaariger Gnom in zwei Dörfern in der Nähe von Nebelheim wegen des Diebstahls zweier versilberter Ringe gesucht wurde. Auch hatte er ihm erzählt, dass dem Dieb mindestens drei Monate Gefängnis drohten, wenn man ihn ergreifen würde. Diese Neuigkeiten waren selbst für den sanftmütigen Trübwasser zu viel gewesen. Bei aller Nachsicht konnte er sich in dieser Saison unmöglich mehrere Monate ohne einen zuverlässigen Gehilfen leisten. So sah er schließlich gezwungen, Caleb aus seinen Diensten auf dem Weingut zu entlassen.
Der Verlust seiner Anstellung hatte Caleb nicht sonderlich geschreckt, da er Erholung von der anstrengenden Arbeit versprach. Der Gedanke an einen längeren Gefängnisaufenthalt allerdings war für ihn wenig erbaulich gewesen. Vor diesem Hintergrund war Caleb, wie er selbst sagte, „unvoreingenommen“ zu der Erkenntnis gelangt, dass es eigentlich nicht die schlechteste Idee wäre, die Welt zu bereisen, solange man noch jung und kräftig sei. Und so hatte Caleb schließlich mit einer Flasche Wein in der Hand und einer Prise Philosophie im Geiste erklärt, dass man auch bereit sein müsse, ein paar Dinge zurückzulassen, um die eigene Seele für den weiteren Weg zu erleichtern.
***
„Das kommt daher, dass du so viel isst wie zwei Zwerge“, antwortete Tharwin, „Du hast oft Hunger und isst dann viel!“
„Pah, zwei Zwerge!“, protestierte Caleb. „Die alte Orla hat immer gesagt, ich muss groß und stark werden. Von nichts kommt nichts!“
Tharwin runzelte die Stirn. „Ich glaube nicht, dass du noch viel größer wirst …“, er maß Caleb mit einem prüfenden Blick, „Allenfalls breiter … Hör mal Caleb, müssen wir nicht eigentlich an dieser Kreuzung abbiegen?“
Caleb rümpfte die Nase und hantierte umständlich mit einer zerknitterten Karte.
Dann sagte der Gnom: „Denke schon. Und wenn wir an der nächsten Wegkreuzung rechts abbiegen, führt uns der Weg genau in Richtung der südvorderen Zwergenberge. Und weißt du was? Wenn wir diesen verdammten Brief abgegeben haben, suchen wir uns dort erstmal eine ordentliche Herberge! Wenn ich an gebratenes Wild und frisch gezapftes Zwergenbräu denke, läuft mir schon jetzt das Wasser im Mund zusammen.“
„Einverstanden“, antwortete Tharwin.
Seit ihrem wagemutigen Aufbruch waren Tharwin und Caleb nunmehr schon eine halbe Ewigkeit unterwegs. Zumindest erschien es ihnen so. Tatsächlich waren es allerdings erst drei Tage.
Obwohl Caleb auf eine reichhaltige Marschverpflegung bestanden hatte, hatten sie bereits jetzt schon beinahe ihren gesamten Proviant aufgebraucht. Dieser hatte anfangs aus einem großen Laib Brot, einem Stück Käse, ein paar Rationen Pökelfleisch, diversen Früchten und sogar einer Flasche Wein bestanden. Ja, seine Leidenschaft für guten Wein hatte Caleb während seiner Tätigkeit auf dem Weingut stets gepflegt. Gleich nach seiner Vorliebe für Reichtümer zählten gute Lebensmittel zu den zahlreichen Leidenschaften des Gnoms.
Nunmehr waren von ihrem einst üppigen Proviant lediglich etwas Brot und Käse übriggeblieben. Neben den kümmerlichen Resten ihrer Marschverpflegung enthielten ihre Rucksäcke noch allerlei andere nützliche Dinge für abenteuerlustige Reisende. Dazu zählten zum Beispiel dicke Wolldecken, Wasserschläuche, ein Feuerstein, ein paar Meter Seil, Kochgeschirr und ein ledergebundenes Notizbuch, das Tharwin für Aufzeichnungen und Tagebucheinträge zu nutzen gedachte.
Auch Urfuror war Teil der kleinen Reisegruppe, denn als sie zu ihrer Reise aufgebrochen waren, hatte Tharwin den Eindruck gehabt, als hätte der kleine Drache sofort verstanden, worum es ging. Ohne zu zögern, hatte er seinen angestammten Lieblingsplatz in der Kapuze von Tharwins Mantel eingenommen. Auch jetzt lag er dort, tief und fest schlafend, gut versteckt, sicher und gemütlich eingepackt. So hatte Urfuror ihren Aufbruch ohne Klagen akzeptiert, als wäre es die größte Selbstverständlichkeit der Welt.
Tatsächlich versetzte er Tharwin immer wieder in Erstaunen.
Tharwin wusste genau, dass der kleine Drache weitaus intelligenter war, als es nach außen erscheinen mochte. Auch wenn er seinen eigenen Kopf hatte und manchmal überaus eigensinnig war, so schien Urfuror in wirklich bedeutsamen Augenblicken durchaus zu wissen, was er zu tun hatte.
Ihr aktueller Weg führte die beiden Freunde und ihren kleinen graugeflügelten Gefährten nun in Richtung Nordwesten. In der Ferne zeichnete sich am Horizont düster die Bergkette eines mächtigen Gebirges ab. Die Kette der Zwergenberge war wie ein natürliches Bollwerk, das das mittlere Königreich Zaragons von den unwirklichen Sumpflanden abtrennte, die nördlich der Berge lagen. Tief verborgen in den Zwergenbergen befanden sich die unterirdischen Königreiche der Zwerge. Es waren düstere Hallen, Höhlen und Labyrinthe, gespickt mit unzähligen Fallen, die für einen unbedachten Eindringling schnell zum Verhängnis werden konnten. Gut versteckt vor der Außenwelt horteten die Zwerge hier ihre unermesslichen Reichtümer. Vielleicht zogen es die Zwerge deswegen vor, unter sich zu bleiben und die Außenwelt weitgehend zu meiden. Sie galten als überaus misstrauisch, sogar ihren eigenen Artgenossen gegenüber, vor allem wenn diese einem anderen Klan angehörten. Gänzlich Fremden traten sie grundsätzlich nur mit größtem Argwohn gegenüber, da sie stets um das Wohl ihrer Schätze fürchteten, die sie im Laufe der Jahrhunderte über Generationen hinweg angesammelt hatten und penibel horteten.
Die Zwerge waren allerdings auch überaus geschäftstüchtig und schürften in ihren Minen nach seltenen und wertvollen Erzen und Edelmetallen. Sie waren wahre Meister der Schmiedekunst und ihre Rüstungen und Waffen waren von höchster Qualität. Aufgrund ihrer begehrten Güter pflegten die Zwerge rege Handelsbeziehungen in die übrigen Lande.
Auch wenn die meisten Zwerge die unterirdischen Hallen in den Bergen Zeit ihres Lebens niemals verließen, so gab es dennoch einige wenige unter ihnen, die es trotz ihres bodenständigen Wesens in die Außenwelt gezogen hatte, und diese Zwerge nannte manFreizwerge.
Im Gegensatz zu ihren eigenbrötlerischen Bergvettern galten die Freizwerge als deutlich weltoffener und gastfreundlicher. Dafür wurden sie allerdings von einigen ihrer Brüder verachtet, da sie angeblich ihrer angestammten Heimat unter den Bergen den Rücken gekehrt hatten.
In den Reihen der konservativen Zwerge war ein Leben in Dörfern unter freiem Himmel verpönt und sie warfen den Freizwergen vor, ihrer eigenen, traditionsreichen Kultur entsagt zu haben, um stattdessen der Kultur des Mittelreiches nachzueifern.
Trotz allem wurden die Freizwerge von ihren konservativeren Brüdern naserümpfend toleriert und letztlich auch gebraucht, da sie ein wichtiges Bindeglied für die wirtschaftlichen Kreisläufe zwischen den abgeschotteten Bergkönigreichen und der Außenwelt waren.
Der Großschmied von Nebelheim hatte Tharwin und Caleb für ihre Reise den Auftrag mit auf den Weg gegeben, einen Brief bei den Freizwergen des Minendorfes Brauneschenbach abzuliefern. Es handelte sich um ein Mahnungsschreiben, da die lokalen Freizwerge mit einer vereinbarten Erzlieferung im Rückstand waren. Tharwin und Caleb hatten diesen Auftrag gern angenommen, da ihr Weg sie sowieso gen Westen geführt hätte und da die Übergabe des Briefes eine gute Gelegenheit bot, sich einmal persönlich einen Eindruck von der Gastfreundschaft der Freizwerge zu verschaffen.
Es war mittlerweile Abend geworden und die untergehende Sonne tauchte die Landschaft in ein versöhnliches Licht. Die Straße schlängelte sich nun am Fuße eines schartigen Berges entlang, der nur ein kleiner Vorläufer des großen Gebirges im Norden war, das sich erhaben am Horizont erhob. Nachdem Tharwin und Caleb einen kleinen, grob in den Fels geschlagenen Tunnel durchquert hatten, fiel das Gelände zu ihrer Rechten steil ab und der abschüssige Weg wurde allein durch ein wackeliges Holzgeländer gesichert. Am Grunde des Abhangs lag eine große Grube, bei der es sich offensichtlich um eine Ausgrabungsstätte der Zwerge handelte. Eine schmale Treppe führte in engen Windungen in die Tiefe hinab.
„Eine Zwergenmine!“, stellte Caleb begeistert fest.
„Vermutlich ein Seiteneingang zu den Stollen von Brauneschenbach“, vermutete Tharwin. „Ich denke, wir sollten dem Weg weiter folgen, dann führt er …“
Caleb eilte derweil mit hastigen Schritten auf die Treppe zu.
„Caleb, warte!“, rief Tharwin.
Als er merkte, dass der Gnom nicht reagierte, seufzte er und versuchte aufzuschließen. Caleb hatte inzwischen den Boden der Grube erreicht und sah sich mit leuchtenden Augen um.
Auf dem Gelände der Ausgrabungsstätte schlängelte sich ein ausgeklügeltes Schienensystem, das in einen dunklen Minenstollen führte. An einem kleinen Holzregal neben dem Stollen hingen sauber aufgereiht ein paar Spitzhacken, diverse andere Arbeitsgegenstände und Topfhelme, auf denen kleine Kerzen befestigt waren.
„Sieht verlassen aus“, murmelte Tharwin, während er vorsichtig die Treppe hinunter schritt.
„Ja, diese Faulpelze! Haben jetzt schon Feierabend gemacht …“, rief Caleb und setzte sich einen der Bergarbeiterhelme auf. Dann schlenderte er in Richtung des Mineneingangs.
„Ich denke nicht, dass wir hier etwas verloren haben.“ Tharwin runzelte die Stirn und nahm eine brennende Fackel von der Wand, um damit vorsichtig in den Stollen hineinzuleuchten.
„Bei allen Göttern! Eine echte zwergische Berglore!“, rief Caleb begeistert und rannte auf den neu entdeckten Minenwagen zu. Kaum hatte er diesen erreicht, begann er umständlich in die Lore hineinzuklettern. Kurz darauf hüpfte der Gnom vergnügt in dem Wagen auf und ab.
„Ich frage mich, was passiert, wenn man diesen Heb … hoppla!“
Die Lore setzte sich plötzlich in Bewegung und begann rasch Fahrt aufzunehmen.
„Tharwin?!“, rief Caleb erschrocken.
Tharwin hingegen war derweil damit beschäftigt, die Holzkonstruktion zu untersuchen, die den Stollen stabilisierte. „Nicht ungeschickt!“, stellte er fest.
„Diese Zwerge scheinen einiges von Statik zu verstehen. Simpel, aber überaus effektiv. Caleb, sieh dir das einmal an, wie … Caleb?!“
Als Tharwin sich nach dem Gnom umdrehte, hatte dieser bereits einige Meter mit dem Minenwagen zurückgelegt.
„Hier gibt es keine Bremse!“, rief Caleb unter einem Anflug von Panik.
Tharwin seufzte tief und ermahnte sich selbst dafür, diese Situation nicht kommen gesehen zu haben.
„Es gibt immer eine Bremse!“, rief er, doch er ahnte, dass Caleb diese entweder nicht finden würde oder er möglicherweise doch Recht damit hatte, dass es gar keine Bremse gab. Daraufhin lief Tharwin los und versuchte mit weit ausfallenden Schritten die Lore einzuholen.
„Spring raus!“, rief er seinem Freund zu.
Caleb kletterte an den Rand der Lore, der für den Gnom fast auf Kopfhöhe lag und streckte vorsichtig seinen Kopf heraus. Scheppernd und rappelnd rollte der Wagen mit zunehmender Geschwindigkeit auf den schmalen Tunnel zu.
„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist“, jammerte Caleb. „Ich breche mir alle Knochen!“
„Spring raus, verdammt!“, rief Tharwin im Laufen.
„Nein, spring du rein!“, brüllte Caleb zurück.
Tharwin seufzte. Dann sprang er mit einem beherzten Sprung auf die Lore zu und zog sich mit einer mehr oder weniger geschickten Bewegung hinein. Nun erwachte auch der kleine Urfuror und wälzte sich aufgeregt in Tharwins Kapuze hin und her. Der Wagen hatte indessen ein beachtliches Tempo aufgenommen, sodass an einen sicheren Absprung nicht mehr zu denken war.
„Hier muss es doch eine Bremse geben!“
„Warte, hier vorn ist noch ein …“
Dann fiel der Stollen auf einmal schwindelerregend steil ab und die Fliehkraft drückte sie hart an die hintere Wand des Minenwagens.
Mit großer Geschwindigkeit raste die Lore in die Tiefe.
Als wäre dies noch nicht genug, begannen die Schienenbahnen nach kurzer Zeit in immer enger werdenden Kurven zu verlaufen. Dann führten die Schienen über einen tiefen Abgrund, der sich in tiefer Finsternis verlor.
„Das ist das Ende“, stöhnte Caleb.
„Halt dich bloß fest!“, ächzte Tharwin, dessen Magen allmählich zu rebellieren begann. Mit Mühe kämpfte er um sein Gleichgewicht und stemmte sich mit aller Kraft gegen einen Hebel, den er als Bremse vermutete.
Funken begannen an den Rädern des Wagens zu sprühen und das Knirschen von Metall war zu hören, ohne dass der Wagen merklich langsamer wurde. Die steinigen Wände des Stollens rauschten in erschreckender Geschwindigkeit an ihnen vorbei und mehr und mehr drohte der Wagen aus der Kurve zu fliegen.
Schließlich jedoch schien das Schicksal doch noch Mitleid mit ihnen zu haben und langsam begann die Neigung des Felsentunnels abzuflachen.
„Ich glaube, wir haben das Schlimmste überstanden“, sagte Caleb mit zitternder Stimme.
„Sag das bloß nicht zu laut“, murmelte Tharwin, der mit seiner Übelkeit kämpfte.
Schließlich mündete das Schienensystem in eine größere Grotte und der Wagen verlor an Geschwindigkeit. Immer langsamer werdend, rollte er friedlich aus und stieß mit einem leichten Aufprall gegen eine hölzerne Absperrung.
„War ja gar nicht so schlimm!“, stellte Caleb fest und kletterte aus der Lore.
Tharwin sah ihn für einen Augenblick verständnislos an, dann schüttelte er den Kopf und manövrierte sich auf wackligen Beinen aus dem Wagen.
Urfuror wagte einen kurzen Blick aus der Kapuze heraus, bis er sich schließlich wieder zum Schlafen zusammenrollte, als wäre nichts gewesen.
Es war kaum abzuschätzen, wie tief sie das Schienensystem in die Mine geführt hatte. Vermutlich waren sie ein gutes Stück unter der Erde.
Der Raum, in dem sie sich wiederfanden, wurde von breiten Stützpfeilern und verschachtelten Querbalken stabilisiert. An Decken und Wänden mischten sich massive Felsformationen mit dem gehärteten Erdreich, während der Boden an einigen Stellen mit breiten Holzplanken gepflastert war. Hier und da waren kleine Tische und Stühle aus Holz aufgestellt, die der grobschlächtigen Höhle ein beinahe gemütliches Aussehen verliehen. Zudem gab es zahlreiche Regale, Kisten und Fässer mit allerlei Werkzeug, Lebensmitteln und anderen Dingen. An Wänden und Decken waren laternenartige Lampen aufgehängt, die ein trübes Licht spendeten. Ein spärlich beleuchteter Tunnel mit einem Schienensystem führte in die Dunkelheit.
„Hey, sieh mal dort!“, rief Caleb. „Da liegt einer.“
Er zeigte auf einen der Tische.
Und tatsächlich, hinter einem der Stühle lag ein Zwerg auf dem Boden.
„Ob er tot ist?“
Vorsichtig näherten sie sich der liegenden Gestalt.
„Glaube nicht“, murmelte Tharwin schließlich, „Scheint zu schlafen.“
Und tatsächlich, als sie näher kamen, hörten sie ein kräftiges Schnarchen.
Hinter dem schlafenden Zwerg lag ein leeres Fass auf dem Boden.
„Ein Trunkenbold!“, stellte Caleb triumphierend fest, „Schläft seinen Rausch aus!“
„Sieht jedenfalls nicht aus wie ein Bergarbeiter.“
In der Tat trug der Zwerg nicht die typische Kluft eines Minenarbeiters, sondern vielmehr eine gepanzerte zwergische Schlachtrüstung.
„Wir sollten ihn aufwecken“, entschied Tharwin.
Caleb zuckte mit den Schultern und ergriff kurzerhand einen in der Nähe befindlichen Eimer mit Wasser und entleerte den Inhalt über dem Kopf des Zwerges.
Der Zwerg sprang brüllend und prustend auf und schlug dabei wild um sich. Tharwin und Caleb brachten sich hastig ein paar Meter in Sicherheit.
„Raah! Kommt nur her! Heute habt ihr euch mit dem falschen Zwerg angelegt!“
Nachdem der Zwerg den ersten Augenblick schläfriger Desorientierung überwunden hatte, entdeckte er Tharwin und Caleb.
„He … Ihr da! Wer seid ihr? Was macht ihr hier?“
Mit funkelnden Augen blitzte der Zwerg kampfbereit in die Runde. Seine kräftigen Hände spannten sich um eine furchteinflößende Doppelaxt, die so aussah, als könnte sie selbst den Schädel eines Trolls mit Leichtigkeit spalten.
Tharwin machte eine höfliche Geste des Grußes.
„Mein Name ist Tharwin Thoadib. Und das hier ist Caleb Kesselstieg.“
Caleb verbeugte sich.
Der Zwerg brummte und kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Was sucht ihr hier in der Theta-Mine? Ihr seid Diebe, nicht wahr?“ Sein Griff spannte sich fester um seine Axt.
„Nein, nein“, beteuerte Tharwin, „Überlegt doch einmal – wir hätten euch wohl kaum geweckt, wenn wir Diebe wären. Wir sind reisende Abenteurer und wurden geschickt, um den Freizwergen diesen Brief auszuhändigen. Seht selbst.“
Tharwin reichte ihm den Brief.
Mit misstrauischem Blick griff der Zwerg nach dem Papier. Er murmelte leise vor sich hin, als er die Zeilen las.
„Na schön“, brummte er schließlich, kratzte sich an seinem Bart und schritt ein paar Meter auf und ab.
„Ich bin Grimm Grimmfels, Schildgarde von Bavador. Scheint hier irgendwelche Probleme zu geben … deswegen bin ich hier. Soll mir das mal ansehen.“ Dann fiel sein Blick auf das leere Fass und für einen Moment huschte ein schamhafter Ausdruck über sein Gesicht, als hätte man ihn auf frischer Tat ertappt.
„Muss wohl eingenickt sein. Wollte mich nur kurz mit einem Schluck Dunkelbräu stärken. Naja, schmeckt einfach zu gut, als dass man es bei einem Schluck belässt.“
„Von welchen Problemen sprecht ihr?“, fragte Tharwin vorsichtig.
Grimm zuckte mit den Schultern und begann, nach seinem Becher zu suchen.
„Probleme, mit denen sie hier anscheinend nicht selbst fertig werden. Irgendwelche Erdkreaturen, die plötzlich aufgetaucht sind. Haben keine Krieger hier und sind Feiglinge.“
„Vielleicht können wir helfen?“, fragte Tharwin.
„Seht nicht wie eine große Hilfe aus …“, brummte der Zwerg und kramte unter dem Tisch herum. Dann hatte er seinen Becher gefunden, zog ihn unter dem Tisch hervor und beäugte ihn mit triumphierender Miene.
„Wonach wird in diesen Minen eigentlich geschürft?“, fragte Caleb neugierig.
„Edelsteine …, hm … Rubine, soweit ich weiß“, antwortete Grimm und setzte seinen Helm auf.
„Rubine …“, wiederholte Caleb und seine Augen wurden groß.
Tharwin maß den Gnom mit einem tadelnden Blick und wandte sich dann an den Zwerg: „Was habt Ihr nun vor, Grimm Grimmfels?“
Der Zwerg, der nunmehr aufgerichtet in voller Kriegsmontur dastand, wandte sich langsam zu Tharwin um: „Na was schon? Probleme lösen! Wenn es hier irgendwelche Monster gibt, werde ich sie mit meiner Axt bekannt machen.“
Bei diesen Worten rückte der Zwerg ein zweites, kleineres Fass hervor und machte sich an dem Zapfhahn zu schaffen.
„Eine vortreffliche Idee“, lobte Caleb, „Herr Zwerg, denkt darüber nach, vielleicht könnten wir Euch sogar helfen!“
Tharwin zog eine Augenbraue hoch. Er hatte eine Ahnung, welcher Antrieb den sonst eher weniger mutigen Caleb zu diesem kühnen Vorschlag animierte.
Während Grimm seinen Krug mit frischem Bier füllte, dachte Tharwin für einen Augenblick über den Vorschlag des Gnomes nach.
„Ich weiß nicht … Ihr seht nun wirklich nicht nach zuverlässigen Kriegern aus …“, brummte der Zwergenkrieger stirnrunzelnd. Er strich sich über den Bart und zuckte mit den Schultern. „Andererseits … ich kämpfe ungern im Dunkeln. Ihr könntet mir den Weg ausleuchten!“
Dann nahm er eine Fackel von der Wand und reichte sie Caleb. Für einen Augenblick musterte er den Gnom, der nun eine Fackel in der Hand hielt, als schien er mit dem Ergebnis noch nicht zufrieden zu sein. Dann griff der Zwerg in einen der nahe gelegenen Waffenschränke und nahm ein Kurzschwert heraus und drückte es Caleb in die Hand.
„Zwergenstahl, nur für alle Fälle.“
Der Gnom sah ihn für einen Moment fassungslos an, nickte dann aber vorsichtig und übte einige mehr oder weniger geschickte Schwünge durch die Luft. Natürlich hatten Tharwin und er sich zur Zeit ihrer Jugend wie die meisten Kinder bei ungezählten Gelegenheiten im Schwertkampf mit selbstgebastelten Holzschwertern gemessen. Doch solches Spiel war kaum mit dem Ernstfall zu vergleichen und seine Unsicherheit stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
Dann drückte Grimm auch Tharwin Schwert und Fackel in die Hand, blickte zufrieden in die Runde und nahm einen großen Schluck aus seinem Krug.
„Hm…“, brummte der Zwerg, „Wenn ihr getötet werdet, ist daseureSache. Wenn ihr mitkommt, seid ihr für eure Sicherheit selbst verantwortlich.“
Calebs Gesicht war bei diesem Satz ein wenig blasser geworden, trotzdem nickte er vorsichtig.
„Gut“, murmelte Grimm und leerte seinen Bierkrug mit einem weiteren Zug. Dann stellte er ihn sorgsam auf den Tisch und trat auf den Minenstollen zu, der nun, in der Gewissheit einer potenziellen Gefahr, bedrohlich wirkte.
Plötzlich hielt Grimm inne und drehte sich noch einmal um.
„Eines noch. Seht zu, dass ihr mir nicht im Weg steht.“
Caleb salutierte und entzündete die Kerze auf seinem Bergarbeiterhelm, den er am Eingang der Mine mitgenommen hatte. Grimm nickte zufrieden und schritt in den Tunnel.
Caleb warf Tharwin einen vielsagenden Blick zu und flüsterte grinsend: „Rubine gibt es hier.“
„Ja“, flüsterte Tharwin zurück. „Und wer weiß, was noch …“
Caleb zuckte mit den Schultern und deutete auf den vorauseilenden Zwerg.
„Er weiß schon, was er tut.“
„Wie du meinst“, sagte Tharwin und machte zur Übung einige Schwünge mit seiner Klinge durch die Luft.
Dann, bewaffnet mit Fackel und Schwert, folgten Caleb und Tharwin dem Zwerg in die Dunkelheit des verlassenen Minenstollens. Die grob gehauene Decke war an einigen Stellen so tief, dass Tharwin den Kopf einziehen musste, um sich nicht zu stoßen. Ihre Sichtweite betrug nur wenige Meter, bis sich der Tunnel vor ihnen in schwarzer Dunkelheit verlor.
Nachdem die drei Gefährten etwa hundert Meter gegangen waren, kamen sie an eine Kreuzung, an der sich der Stollen in zwei Gänge aufspaltete. Nach einem kurzen Blick auf ein vergilbtes Stück Papier entschied sich Grimm für den linken Stollen, der etwas weniger verfallen und modrig wirkte.
Als der Zwerg einige Meter voraus war, flüsterte Caleb zu Tharwin: „Wegen dieser Rubine … also, wenn wir an so eine Ader kommen … vielleicht kannst du den Zwerg ablenken, während ich …“
Anstelle einer Antwort maß Tharwin seinen gnomischen Freund mit einem strengen, tadelnden Blick.
„Ich meine ja nur …“, entgegnete Caleb entrüstet. „Wann kommen wir denn sonst schon mal in die Nähe einer Rubinader? Denk doch mal nach! Saftige, fangfrische Rubine! Direkt aus dem Berggestein! Damit haben wir absolut ausgesorgt!“
Tharwin runzelte die Stirn. „Sagen wir, du würdest hier tatsächlich mit einer Tasche voller Edelsteine herausspazieren, würdest du dich wirklich jetzt schon, in deinen jungen Jahren, in Reichtum und Dekadenz zur Ruhe setzen wollen?“
„Selbstverständlich!“, antwortete Caleb überzeugt.
Tharwin schüttelte den Kopf. „Caleb, viele Menschen sind sehr reich und trotzdem unglücklich, manche vielleicht sogar gerade deswegen,weilsie so reich sind …“
Caleb winkte ab: „Ichbestimmt nicht. Jedenfalls wäre ichmitden Rubinen viel glücklicher als oh…“
Plötzlich wurden sie von Grimm unterbrochen, der vor ihnen aufgeregt gestikulierte.
„Hier ist Ende!“, rief der Zwerg, „Eine ziemlich große Ader, recht beachtlich für diese Gegend.“
„Dann haben wir sie tatsächlich gefunden!“, rief Caleb aufgeregt und rannte voraus.
Der Stollen endete in einer Sackgasse, in deren felsiger Wand sich eine rötlich funkelnde Rubinader abzeichnete. Am Ende der Schienen stand eine Lore, die bereits bis zur Hälfte mit Rohedelsteinen gefüllt war. Daneben lagen Spitzhacken und allerlei anderes Werkzeug. Es machte ganz den Anschein, dass sowohl die Ausrüstung als auch die kostbare Ausbeute achtlos zurückgelassen worden waren.
„Merkwürdig“, murmelte Grimm. „Sieht ihnen nicht ähnlich. Lassen normalerweise nichts zurück.“
„Verständlich“, murmelte Caleb mit leuchtenden Augen und bückte sich, um einen sonderbar geformten kalkfarbigen Gegenstand aufzuheben.
„Was ist das?“, fragte der Gnom.
„Knochen“, antwortete Tharwin.
Angeekelt ließ Caleb das Knochenstück fallen.
„Bei allen guten Geistern …“, murmelte Grimm und rieb sich den Bart.
Bereits nach kurzer Zeit jedoch hatte Caleb seinen Schrecken überwunden und betrachtete mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Faszination die glitzernde Rubinader.
„Wunderschön“, murmelte der Gnom und malte sich in Gedanken aus, was er mit seinem zukünftigen Vermögen alles anstellen könnte.
„Was sind das für Löcher?“, fragte Tharwin stirnrunzelnd.
Überall in den Wänden und an Boden und Decke klafften armdicke Löcher, die sich in kleinen Erdtunneln verloren.
„Diese Rubine“, schwärmte Caleb, „Wenn wir unsere Taschen …“
„Das gefällt mir überhaupt nicht“, murmelte Grimm, „Ich glaube, ich …“
Dann stockte er plötzlich und presste den Finger auf die Lippen.
„Ruhig!“, flüsterte der Zwerg. Er presste sein Ohr an eines der Wandlöcher. Nachdem er ein paar Sekunden gelauscht hatte, zog er seinen Kopf hastig zurück.
„Ich glaube, hier wird es gleich etwas ungemütlich …“
„Ja, wunderschön …“, murmelte Caleb geistesabwesend und tastete mit verträumtem Blick liebevoll die Rubinader ab, als wäre sie seine Geliebte.
Dann wurden die Geräusche lauter. Es klang wie ein Krabbeln und Trippeln, das nunmehr von allen Seiten gleichzeitig zu kommen schien.
„Caleb“, warnte Tharwin mit eindringlicher Stimme, „Du solltest dort besser wegkommen.“
„Ja, ja, gleich“, antwortete der Gnom und strich zärtlich über einen besonders filigran gezackten Ausläufer der Kristallader.
Die Geräusche wurden lauter.
Sie waren derweil bedrohlich nahe gekommen.
Nun endlich schien auch Caleb die Gefahr zu spüren, da er sich zögerlich von der Rubinader löste, um ein paar Schritte von den Wandlöchern zurückzuweichen.
Grimm hatte bereits eine kampfbereite Stellung eingenommen. Die unheimlichen Geräusche waren zu einem bedrohlichen Lärm angeschwollen. Und dann war plötzlich Bewegung in den Wänden. Aus den Löchern schälten sich kleine Kreaturen, nicht viel größer als eine Handfläche, dafür aber umso zahlreicher. Sie hatten eine weißlich-blasse, fast durchsichtige Haut, kurze spitze Ohren und sie waren völlig nackt. Man hätte sie vielleicht für drollig befinden können, wären nicht die blitzenden Reihen vieler spitzer Zähne gewesen, die ähnlich dem Gebiss eines Haifisches in mehreren Reihen hintereinander angeordnet waren. Fast noch erschreckender waren die grotesken augenlosen Gesichter, die ihnen aus vielen kleinen Schädeln entgegenstarrten.
„Kleinbeißer, entstanden aus magisch belebter Erde, ähnlich den Golems auf der Oberwelt!“, brüllte Grimm. „Fressen alles, was sich bewegt.“
Der Zwerg fluchte: „Und das, was sich einmal bewegt hat, fressen sie auch!“
„Und ausgerechnet wir müssen auf sie treffen …“, stöhnte Caleb, während alle Farbe aus seinem Gesicht wich, und für einen Moment musste er gegen steigenden Schwindel ankämpfen.
„Bestien! Ihr habt hier nichts verloren!“, rief Grimm voller Zorn. „Das ist eine Zwergenmine!“
Dann stürmte er axtschwingend auf die kleinen Wesen zu. Die Kreaturen wichen furchtsam vor ihm zurück, stoben auseinander und näherten sich dann aus verschiedenen Richtungen, um den Zwerg einzukreisen. Schließlich setzte einer der Kleinbeißer zu einem Sprung auf den Zwerg an und wurde noch in der Luft von dessen Axt säuberlich in der Mitte zerteilt. Die übrigen Erdkreaturen kreischten und wurden zunehmend aggressiver. Bereits im nächsten Augenblick griffen drei der kleinen Monster gleichzeitig an. Grimm schaffte es, zwei von ihnen abzuschütteln und mit dem Fuß zu zertreten. Derweil hatte sich bereits ein neuer Kleinbeißer an seinem Bein verbissen. Grimm vollführte erneut einen Hieb mit seiner Axt, diesmal einhändig, sodass er mit der anderen Hand die Kreatur an seinem Bein packen konnte. Mit voller Wucht schleuderte er das kleine Monster in die Gruppe der übrigen Kleinbeißer, die in wilder Furcht auseinanderbarsten. Im nächsten Augenblick rammte er sich mit großer Wucht gegen die Wand, um ein halbes Dutzend weiterer Kleinbeißer zu zerquetschen, die gerade daran hinaufkletterten.
Tharwin und Caleb waren im ersten Moment wie gelähmt und hatten dem Spektakel für eine Weile untätig zugesehen. Langsam erwachten sie aus ihrer Starre und begannen, mit Füßen, Fäusten und Schwertern in den Kampf einzusteigen.
„Sie fürchten Licht und sind empfindlich gegen Feuer!“, brüllte Grimm. „Nutzt eure Fackeln! Los, sonst fressen sie euch bei lebendigem Leib!“
Tharwin hatte plötzlich eine Idee.
„Grimm, habt Ihr hochprozentigen Alkohol dabei? Ich meine, wirklich hochprozentigen?“
„Natürlich!“, brüllte der Zwerg, „Aber was soll …?“
Plötzlich verstand er: „Genial, Junge!“
Hastig griff Grimm an seinen Gürtel und beförderte eine kleine Schnapsflasche zutage. Dann nahm er einen tiefen Schluck und prustete den Schnaps in weitem Bogen großflächig über die Kleinbeißer. Wie ein feiner Sprühnebel verbreitete sich der Alkohol über die kleinen Monster.
Im nächsten Augenblick warf Tharwin seine Fackel in die Meute. Die kleinen Kreaturen gaben ein gequältes Jaulen und Quieken von sich, als sie die Feuerwolke erfasste. Wie kleine, lebendige Fackeln liefen die Kleinbeißer ziellos umher und gaben krächzende Laute von sich. Ihre dünne blasse Haut verfärbte sich durch die Verbrennungen ins Schwarze und der kräftige Geruch verbrannten Fleisches erfüllte die Luft.
Wild und unkontrolliert begannen die kleinen Wesen in verschiedene Richtungen zu fliehen, um schließlich verkohlt zusammenzubrechen. Auch diejenigen, die das Feuer nicht getroffen hatte, zeigten sich beeindruckt. So schnell wie sie gekommen waren, zogen sich die kleinen Erdbewohner in ihre Tunnel zurück und flüchteten in die Schatten. Nach kurzer Zeit waren die so plötzlich aufgetauchten Kreaturen in der Dunkelheit verschwunden. Allein die verkohlten Kadaver, die zahlreich über den Boden verstreut lagen, zeugten noch von der unheimlichen Begegnung.
„Brennen besser, als ich dachte!“, stellte Grimm zufrieden fest.
Dann klopfte er Tharwin anerkennend auf die Schulter.
„Gut gemacht, Junge! Das sind hässliche und garstige Biester, durchaus tödlich, aber ich glaube, die kommen so schnell nicht wieder.“
Tharwin nickte und sie setzten sich nieder, um für einen Augenblick zu Atem zu kommen. Eine leichte Regung in seiner Kapuze zeugte davon, dass sich Urfuror von einer Seite auf die andere drehte. Offensichtlich hatte er den Kampf ebenfalls gut überstanden und wahrscheinlich sogar verschlafen.
Mittlerweile hatte auch Caleb seinen Schrecken überwunden. Während Grimm und Tharwin noch über die Kleinbeißer fachsimpelten, schlich der Gnom auf leisen Sohlen zu dem Minenwagen. Mit geschickten Bewegungen begann er lautlos damit, so viele Rubinkristalle in seinen Rucksack zu schaufeln, wie er nur irgendwie hineinzwängen konnte.
Indessen war Grimm damit beschäftigt, mit Tharwin einige Theorien und Rückschlüsse über das Auftauchen der Kleinbeißer zu erörtern.
„Diese Kleinbeißer leben in Höhlen … Die Tunnel, die sie graben, sind für gewöhnlich nicht sehr lang. Möglicherweise ist eine ihrer Höhlen ganz in der Nähe und die Minenarbeiter haben sie aufgeschreckt.“
Dann erhob sich der Zwerg und sah sich um. Hastig versteckte Caleb sein nunmehr prallgefülltes Ränzlein hinter dem Rücken und setzte routiniert eine unschuldige Miene auf.
Grimm begann damit, auf fachkundige Art und Weise die nahen Stollenwände abzuklopfen. Dann hatte er eine Stelle entdeckt, die sein Interesse weckte, und der Zwerg ergriff entschlossen eine der herumliegenden Spitzhacken.
„Tretet zur Seite!“
Dann schlug Grimm mit kräftigen Hieben auf die Wand ein. Schließlich gab diese unter seinen Schlägen nach und offenbarte ein Loch, das groß genug war, dass man sich ungehindert hindurchzwängen konnte. Dahinter kam ein verborgener Tunnel zum Vorschein.
„Ganz wie ich dachte“, brummte Grimm mit einem sorgenvollen Unterton.
„Wir müssen herausfinden, wohin er führt.“ Dann zwängte sich der Zwerg durch das Loch.
„Mich wundert allerdings die Größe dieses Tunnels. Selbst die größten Haupttunnel der Kleinbeißer sind viel, viel kleiner.“
„Aber … wir haben unsere Rub… ich meine wir haben diese Monster besiegt“, murmelte Caleb.
„Wir sollten nun umkehren und uns in Sicherheit …“
Grimm hatte den neu entdeckten Gang bereits voller Tragendrang betreten und der Zwergenkrieger hörte den Gnom schon nicht mehr. Tharwin zuckte kurz mit den Schultern und folgte ihm.
Caleb warf Tharwin einen ungläubigen und zutiefst verstörten Gesichtsausdruck zu: „Du willst doch nicht ernsthaft da hinein?“
Tharwin warf einen Blick zurück über die Schulter:
„Doch, eigentlich schon. Und du? Willst du etwa allein hier zurückbleiben? Vielleicht überlegen es sich diese Kreaturen bald anders und kehren zurück.“
„Ich komme ja schon …“, antwortete Caleb verdrossen.
Mit einem wehmütigen Blick verabschiedete er sich von den übrigen Edelsteinen und wünschte sich größere Taschen. Zögerlich folgte er Tharwin und Grimm in den Gang.
„Sieht aber nicht aus wie der Tunnel von eben“, stellte er fest.
„Natürlich nicht“, antwortete Grimm. „Das ist auch kein Zwergenstollen.“
Der Tunnel hatte einen Durchmesser von etwa zwei bis drei Metern und war völlig rund. Die Wände waren von flachen Rillen durchzogen und an einigen Stellen hafteten die Überreste einer gelbgrünlichen Flüssigkeit.
„Ich frage mich, was das ist“, sagte Tharwin.
„Also, ich werde diesen Schleim jedenfalls nicht anfassen“, protestierte Caleb angeekelt.
„Fühlt sich klebrig an“, stellte Tharwin fest.
Am Ende des Tunnels war ein schwaches, weißbläuliches Licht zu erkennen, das ihre Neugier weckte.
Grimm runzelte die Stirn.
„Ich weiß nicht, woran mich dieser Stollen hier erinnert, aber wir müssen den Ursprung dieser Lichtquelle untersuchen. Kommt!“
Der Zwerg ging mit zügigen Schritten voraus.
„Mir gefällt das nicht“, murmelte Caleb. „Dieser Tunnel gefällt mir nicht.“
„Komm schon“, antwortete Tharwin, „Willst du nicht wissen, wo dieses Licht herrührt?“
„Nein“, antwortete Caleb überzeugt, „Ich für meinen Teil möchte dasnichtwissen.“
Auf einmal hielten sie inne.
„Still! Hört ihr das?“, flüsterte Grimm.
„Ja … so eine Art Rumpeln?“, bestätigte Tharwin.
„Und es wird lauter“, stellte Caleb fest, „Ich habe euch doch gesagt, dass wir hier nicht reingehen sollten. Ich habe da ein ganz mieses Gefühl.“
Auf einmal begann Erdreich von der Decke zu rieseln und der Boden erzitterte. Nunmehr schien auch der kleine Urfuror die Gefahr zu spüren. Er war erwacht und hatte Tharwins Kapuze eilig verlassen, um daraufhin hastig vor ihnen auf und ab zu fliegen, als wolle er sie zu größerer Eile ermahnen. Und damit erwachte auch Grimms Gedächtnis und der Zwerg erinnerte sich an die eigentümliche Form der Tunnels und den zyklopischen Schrecken, den sie versprach.
„Wurm!“, schrie Grimm. „Wurm!! Bei Barathons Barte, lauft, verdammt!“
Mittlerweile hatte der gesamte Tunnel angefangen, heftig zu beben und zu vibrieren. Etwas näherte sich aus der Dunkelheit hinter ihnen. Ungeduldig flatterte Urfuror vor ihnen hin und her, als schien es ihm nicht schnell genug voranzugehen. Während sie rannten, durchdachte Tharwin die physikalischen Möglichkeiten, wie schnell sich ein Wurm dieser Größe überhaupt bewegen konnte. Grimm schnaufte indessen heftig, hatte er doch an seiner Rüstung zu schleppen.
Immer wieder schickte der Zwerg kurze Stoßgebete zu seinen Vorvätern. Der deutlich kleinere Caleb hingegen hatte trotz seines prall gefüllten Rucksackes ein erstaunliches Tempo entwickelt.
Er hatte nämlich mit großer Bestimmtheit beschlossen, nicht zu sterben, da er dafür nun eindeutig zu reich war.
Plötzlich war Tharwin, der jetzt ganz vorn lief, dazu gezwungen, seinem Sprint ein ruckartiges Ende zu setzen. Nur mit knapper Not schaffte er es, kurz vor einem tief klaffenden Abgrund zum Stehen zu kommen.
Vor ihm spannte sich plötzlich eine gewaltige unterirdische Höhle von gigantischen Ausmaßen.
Die Grotte war so groß, dass Wände und Decke in der Dunkelheit mehr zu erahnen als wirklich zu erkennen waren. An der Kuppel der Höhle hingen mächtige Stalaktiten, die wie die Zähne eines riesigen Ungeheuers aus der Dunkelheit hinausragten. An den unteren Enden der Stalaktiten glommen lumineszierende Kristalle, die einen Teil der Grotte mit einem unheimlichen, bläulichen Licht erfüllten.
„Nicht weiter!“, rief Tharwin mit sich überschlagender Stimme. „Nicht weiter! Ihr dürft auf keinen Fall …“
Caleb schaltete in letzter Sekunde und prallte nur leicht gegen Tharwin, der dem geringen Gewicht des Gnoms gut standhalten konnte.
„Grimm, halt an! Nicht weiterlaufen! Nicht wei…“
Noch bevor Tharwin seinen Satz zu Ende bringen konnte, prallte der Zwerg mit dem vollen Schwung seines massiven Körpergewichts gegen Caleb und Tharwin. Diesem Aufprall hatten die beiden wenig entgegenzusetzen und so stürzten sie alle gemeinsam in die dunkle Tiefe.