Zehn Jahre nach Oscar Cullmanns Tod: Rückblick und Ausblick -  - E-Book

Zehn Jahre nach Oscar Cullmanns Tod: Rückblick und Ausblick E-Book

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Beschreibung

Zehn Jahre nach dem Tod des Theologen und Ökumenikers Oscar Cullmann 1999 wurde dessen Nachlass an die Universitätsbibliothek in Basel überführt und damit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten geordnet und in einem Findebuch verzeichnet, liegt der Nachlass nun zur Erforschung bereit. Die 14 vorliegenden Beiträge fragen nach möglichen Forschungsaufgaben und geben zugleich Beispiele anhand ausgewählter Themen, die die Biografie, das ökumenische Modell, die Konzeption der Heilsgeschichte und unterschiedliche Kategorien des Nachlasses betreffen. Mit Beiträgen von Matthieu Arnold, André Birmelé, Rudolf Brändle, Dietrich Braun, Karlfried Froehlich, Krzysztof Gózdz, Margarethe Hopf, Zdenek Kucera, Wolfgang Lienemann, Armin Mettler, David P. Moessner, Willy Rordorf, Martin Sallmann.

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Martin Sallmann, Karlfried Froehlich (Hg.)

Zehn Jahre nach Oscar Cullmanns Tod: Rückblick und Ausblick

Basler und Berner Studien zur historischen Theologie herausgegeben von Martin Sallmann und Martin Wallraff Band 75 – 2012

TVZ Theologischer Verlag Zürich

Gedruckt mit Unterstützung der Freien Akademischen Gesellschaft, Basel, und der Fondation Cullmann au sein de la Fondation de France, Paris

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-290-17634-1 (Buch) ISBN 978-3-290-17741-6 (E-Book)

|XX| Seitenzahlen des E-Books verweisen auf die gedruckte Ausgabe.

© 2012 Theologischer Verlag Zürichwww.tvz-verlag.ch

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Vorwort

Zum Nachlass

Karlfried Froehlich Die Arbeit am Cullmann-Archiv 1999–2009

Martin Sallmann Forschungsdesiderata aufgrund der Quellenlage im Nachlass Oscar Cullmanns

Zur Zeitgeschichte

Karlfried Froehlich Ein früher Briefwechsel zwischen Rudolf Bultmann und Oscar Cullmann

Matthieu Arnold Oscar Cullmann et Strasbourg

Willy Rordorf Die Ekklesiologie Oscar Cullmanns illustriert an einer Predigt und drei Andachten

Rudolf Brändle Oscar Cullmann zu Christentum und Kultur

Zdeněk Kučera Cullmanns Rezeption in der hussitischen Theologie

Zur Heilsgeschichte

Dietrich Braun Heil als Geschichte

Krzysztof Góźdź Cullmanns heilsgeschichtliche Sicht Die Geschichte Jesu Christi und ihre Nachgeschichte

David P. Moessner Luke/Acts and Salvation as History

Zur Ökumene

Armin Mettler Die Materialien zum Zweiten Vatikanischen Konzil im Cullmann-Archiv

Margarethe Hopf Oscar Cullmann als Gast auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965)

André Birmelé La vision œcuménique d’Oscar Cullmann

Wolfgang Lienemann: Oscar Cullmann – Forschungsdesiderata im Hinblick auf die Ökumene

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Personenregister

Ortsregister

Autorin und Autoren

Fußnoten

Übersicht über die bisher erschienenen Bände der Reihe

Seitenverzeichnis

|7|

Vorwort

Die Beweggründe für das Symposium über Oscar Cullmann, das am 5. und 6. Juni 2009 in Basel gehalten wurde, waren vielfältig. Wie der Titel des Symposiums: «Zehn Jahre nach Oscar Cullmanns Tod: Rückblick und Aus­blick», bereits mitteilte, jährte sich der Todestag des Gelehrten zum zehn­ten Mal. Allerdings war diese Dekade nicht allein der Anlass für Rückblick und Ausblick. Vielmehr wurde im gleichen Jahr der gesamte Nachlass Cull­manns, der nach dessen Ableben nach Chamonix gebracht worden war, wie­der zurück nach Basel an die Universitätsbibliothek überf­ührt. Dieser lange und mühsame Weg von Basel nach Chamonix und von dort wieder zurück nach Basel sollte im Rückblick dargelegt und erörtert werden. Denn der Nachlass erreichte die Universitätsbibliothek nicht im gleichen Zustand, wie er einst Ba­sel verlassen hatte. Wohlgeordnet nach wissenschaftlichen Ge­sichtspunkten, aufgenommen nach Kategorien, verzeichnet in einem um­fangreichen Findbuch und zum grossen Teil beschrieben, wurde er der Uni­versitätsbibliothek übergeben, bereit, um in deren Bestände eingefügt und damit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu werden. Diese intensiven Arbeiten, die sorgfältige Sichtung der Quellenbestände und die wohlüber­legte Ordnung des Materials, die in erster Linie der Beharrlichkeit, dem En­gagement und den Fachkenntnissen Karlfried Froehlichs zu verdanken sind, sollten im Rückblick angemessen dokumentiert und gewürdigt werden. Na­heliegend war es, mit diesem Rückblick auch einen Ausblick zu verbinden: Nachdem der Nachlass geordnet ist und seine Konturen einigermassen sichtbar werden, stellt sich die Frage nach seiner zukünftigen wissenschaftli­chen Bearbeitung.

Der vorliegende Band vereint nahezu alle Beiträge, die am Symposium in diesem Rahmen vorgetragen wurden. Die Einladungen zum Symposium gingen an interessierte Forscher in aller Welt, die in unter­schiedlichen For­men ihre Darlegungen vortrugen, Redebeiträge und Kurzreferate, die für den Druck belassen oder ausgebaut wurden, und län­gere Vorträge, die mit den \|\1\|(entsprechenden Verweisen versehen sind. Durch­gängig wurden die Belege für den Nachlass Cullmanns an die Signaturen des Findbuches angepasst, das an der Universitätsbibliothek Basel öffentlich einsehbar ist. Als Beispiel für die Ergiebigkeit des Archivs wurde zusätzlich ein bisher un­veröf­fent­lichter Beitrag mit Textedition über den Briefwechsel zwischen Oscar Cull­mann und Rudolf Bultmann aufgenommen. Seit dem Kolloquium ist die Erschliessung der Bestände an der Universitätsbibliothek Basel fortge­schrit­ten: Die Erfassung der Korrespondenz ist abgeschlossen und via Internet zugänglich. Die Aufnahme der Manuskripte beginnt in diesem Jahr.

Unser Dank gilt der Freien Akademischen Gesellschaft in Basel und der Fondation Cullmann au sein de la Fondation de France in Paris, die das Sym­posium und die Publikation des vorliegenden Bandes durch grosszügige Un­terstützung ermöglichten. Das Rektorat der Universität Basel, die Theologi­sche Fakultät und die Leitung der Universitätsbibliothek haben den Anlass nach Kräften unterstützt, wofür wir an dieser Stelle unseren Dank aus­spre­chen. Den Mitgliedern des Vorstandes der Fondation Oecumenique Oscar Cullmann in Basel und ihrem gegenwär­tigen Präsidenten, Kollegen Martin Wallraff, der die Verbindungen zur The­ologischen Fakultät in Basel und zur Waldenserfakultät in Rom hergestellt hatte, danken wir für das Engagement bei der Durchführung des Anlasses. Die Professoren aus Rom besuchten das Symposium und erinnerten damit an die Verbindung Oscar Cullmanns mit der Theologischen Fakultät der Waldenser. Um die Drucklegung haben sich verdient gemacht Rebekka Schifferle, Basel, Kerstin Groß, Bern, und Nina Andrea Sonderegger, Bern. Frau Marianne Stauffacher, Verlagsleiterin des Theologischen Verlags Zürich, danken wir für die vorzügliche Betreuung des Bandes. Last but not least danken wir der Autorin und allen Autoren für die gute Zusammenarbeit. Es bleibt uns zu hoffen, dass der Band zur Erfor­schung des vielfältigen Nachlasses einlädt und anregt.

Bern und Princeton, 16. Januar 2012

Martin Sallmann Karlfried Froehlich

|9|

Zum Nachlass

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Karlfried Froehlich

Die Arbeit am Cullmann-Archiv 1999–2009

Unser Basler Symposium im Juni 2009, zehn Jahre nach Oscar Cull­manns Tod, soll Rechenschaft ablegen über die bisherige Arbeit am Nachlass und Anregungen geben für die weitere Arbeit am wissenschaft­lichen und geisti­gen Erbe des Lehrers und Freundes, die mit diesem Sommer in ein neues Stadium eintrat. Anlass ist die Überführung und Öffnung des Cull­mann-Archivs in Basel, der wichtigsten akademischen Wirkungsstätte von Oscar Cullmann. Mit der Übernahme des Archivs durch die Universitäts­bibliothek Basel ist Wirklichkeit geworden, was nachdenkliche und inter­essierte Zeitge­nossen schon lange erhofft hatten: Die Cullmann-Papiere, einer der bedeu­tendsten theologischen Nachlässe des 20. Jahrhunderts, haben eine Heimat gefunden, in der sie der Bearbeitung und der Forschung in ange­messener und verantwortlicher Weise zugänglich gemacht werden können. Schon wäh­rend der letzten Lebensjahrzehnte ist dem grossen Ge­lehrten dieser Schritt immer wieder nahegelegt worden, und er hat dar­über nach­denken müssen. In einem Brief vom 10. Januar 1989, den sein geschätzter Verleger Georg Siebeck nach einem meiner Besuche bei ihm in Tübingen an ihn schrieb, heisst es:1

«Beiläufig erzählte mir Herr Froehlich […] von Ihren Plänen einer Stif­tung Villa Alsatia. Ohne daß ich die näheren Umstände kenne und nur, weil ich in letzter Zeit Zeuge der Schwierigkeiten beim Ordnen eines literarischen Nachlasses geworden bin (Max Weber,2 Rudolf Bultmann3), gebe ich meinen |12| spontanen Gedanken dazu Ausdruck. Daß das Haus in der sicher traumhaf­ten Umgebung von Chamonix, das ich ja leider immer noch nicht kenne, auch später einmal für Theologen offenstehen soll, finde ich großartig. Zur Erholung wird dies sicher auch langfristig ein herrliches Domizil sein. Zum wissenschaftlichen Arbeiten wird die Eignung stark davon abhängen, wie weit dort allgemeine und theologische Fachliteratur zur Verfügung steht, und zwar eben auch neuere. Daß Ihr literarischer Nachlaß (Manuskripte, Korrespondenz) auch in Chamonix gesammelt werden soll, hat mich dage­gen etwas beunruhigt. Wird es dort wirklich auf Dauer sichergestellt sein, daß er auch entsprechend verwaltet und zugänglich gehalten wird? Ist er dort nicht einfach zu weit von den sonstigen Zentren theologischer For­schung entfernt? – Spontan würde ich meinen, der literarische Nachlaß eines Gelehrten gehört auch in eine Universitätsstadt und da fällt mir bei Ihnen an erster Stelle Straßburg, an zweiter Stelle Basel und an dritter Stelle Paris ein.»

Um diese Zeit hatte Oscar Cullmann bereits anders entschieden. In seinem Tes­tament vom 5. April 1988 hatte er die Fondation de France als Uni­versalerbin einge­setzt und bestimmt, dass der gesamte wissenschaftliche Nachlass samt allen Büchern in sein geliebtes Landhaus – in der Tat «in der traumhaften Umgebung» am Mont­blanc gelegen – verbracht werden und den Grundstock eines dort einzurichten­den ökumenischen Arbeits- und Begegnungszentrums bilden sollte.4 Der Plan war kühn, grosszügig und genau durchdacht. Im Archiv existiert ein undatiertes zweitei­liges Dokument aus den letzten Lebensjahren, wahrscheinlich Ende 1995, welches das Traum­projekt in allen Einzelheiten beschreibt.5 Bei Cullmanns Vorstellungen standen offensichtlich seine Erfahrungen mit anderen theologischen Lebens­gemein­schaften Pate: mit dem Thomasstift in Strassburg, dem Alumneum in Basel, dem Ökume­nischen Institut in Tantur.6 In der herrlichen Bergwelt mit ihrer guten Luft, ihren Naturschönheiten und dem grossen Wald sollte nicht nur Erholung gesucht, sondern ökumenisch diskutiert, geforscht und ge­schrieben werden in einem Rahmen, in dem für alles gesorgt war. Tägliche Andachten und gemeinsame Mahlzeiten waren ge­nauso vorgesehen wie Spaziergänge im Wald, Ausflüge und Klausurmöglichkeiten im Haus. Zum vorgesehenen Personal gehörten Köchin und Gärtner, Archivar und Pro­grammdirektor, |13| und alles das war möglich, denn – so die optimistische Einschät­zung – Geld genug war vorhanden.

Im Jahr 1999 befand sich dieses Dokument in den Händen einer Reihe jüngerer Theologen und Freunde Cullmanns, die er selber als Mitglieder einer zweiten Stif­tung, der Fondation œcuménique Oscar Cullmann, benannt hatte.7 Cullmann wusste sehr wohl, dass die Fondation de France seine Pläne zwar wohlwollend zur Kennt­nis nehmen würde, selber aber nicht kompetent war, sie auszuführen. So hatte er 1994 neben der Fondation Cullmann im Schoss der Fondation de France diese zweite Stiftung errichtet, die für die Ver­wirklichung seiner Pläne verantwortlich sein sollte. Seine Grundüberlegung war sehr einfach: Das Einkommen des von der Fondation de France verwalte­ten und, wie er meinte, stattlichen Vermögens sollte die finanziellen Mittel bereitstellen, mit deren Hilfe die zweite Stiftung sich um Pro­gramm und Pflege seines geistigen Erbes in Chamonix und darüber hinaus kümmern würde.

Der Siebeck-Brief von 1989 spricht bereits sehr deutlich die sachlichen Probleme dieses Konzepts an. Genügt eine Hausbibliothek als Arbeits­instru­ment für wissen­schaftliche Projekte? Kann der literarische Nachlass in Chamonix sicher aufbewahrt, sachgemäss erschlossen und der Forschung zugänglich gemacht werden? Die Erfah­rung der vergangenen zehn Jahre hat die Berechtigung dieser Fragen bestätigt. Viel schwerer wiegend war freilich die Fehleinschätzung der wirtschaft­lichen Grundlage des utopischen Unter­nehmens. Im erwähnten Dokument erklärt Cullmann: «Die Unterhalts­kosten des Anwesens (Haus und Wald) seit 1951 sind im Durchschnitt unendlich viel geringer als die Zinsen des Kapitals […], das die Fondation de France erben wird.»8 Die Wirklichkeit sah anders aus. Von Anfang an verschlangen die zur Instandhaltung der Villa erforderlichen Kosten fast vollständig die jährlichen Erträge des der Fondation Cullmann im Schoss der Fondation de France zur Verfügung stehenden Vermögens, und schon in der Frühphase |14| der gegenwärtigen Finanzkrise im Herbst 2008 war der Gesamt­wert des Restvermögens auf weniger als 800 000 Euro geschrumpft. Die Fondation de France hat immer wieder versucht, im Bewusstsein ihrer eigenen Verantwor­tung, die Bemühungen der Fondation œcuménique Oscar Cullmann zur Pflege des geistigen Erbes Oscar Cullmanns zu unterstützen und hat auch zur Ausrichtung dieses Symposiums finanziell beigetragen. Aber es ist nicht zu leugnen, dass sie unter den gegenwärtigen Umständen nicht auch noch das Haus halten kann, wenn sie in erster Linie sachliche Cullmann-Projekte fördern soll.

Bis vor wenigen Jahren hat die Fondation œcuménique unter ihrem ersten Präsi­denten Matthieu Arnold und seit Januar 2005 unter meiner Leitung versucht, den Gedanken vom Cullmann-Zentrum in Chamonix wenigstens als Zukunftsplan auf­rechtzuerhalten, hat sich aber in Ermangelung finanzier­barer Alternativen auf die Erschliessung des Nachlasses konzentriert. Die Anfänge gehen auf den Sommer 1999 zurück, als mich während eines kurzen Europa-Aufenthalts ein Anruf aus Basel erreichte mit der Bitte, der Fondation de France bei der Schätzung der Cullmann-Papiere zu helfen. Beim ersten Termin in der Wohnung an der Birmannsgasse9 wurde deutlich, dass die Vertreterin der Pariser Stiftung nur eine sehr ungenaue Vorstellung von der Art dieses der Fondation de France zugefallenen Erbes hatte. Ich musste ihr erklären, was ein «Theologe» ist und tut. Als der Anblick eines überfüllten Bücher­regals sie zur Frage veranlasste: «Ist schon so viel über ihn publiziert worden?», war die Überraschung gross, als ich ihr sagte: «nicht über ihn, sondern von ihm!», und auch die hand­schriftlichen Widmungen von drei Päpsten in einigen prächtigen Ge­schenkbänden verfehlten ihre Wirkung nicht.10 Was die Dame eigentlich wissen wollte, war der Geldwert des Gan­zen und der Umfang dessen, was zu behalten und was als Altpapier aus­zuscheiden sei. Nach drei Tagen, in denen ich mir einen Über­blick über das Vorhandene verschaffte, war die Antwort klar: Einen Geldwert habe der Papierberg nicht, erklärte ich, aber die gelehrte Welt würde es der Fondation de France nie verzeihen, wenn auch nur ein Blatt weggeworfen würde. Es handle sich um einen bedeu­tenden Gelehrtennachlass, wie man ihn nur selten zu Gesicht be­kommt, und der müsse erhalten bleiben. Das Argument hatte die gewünschte Wir­kung. Meine Stichproben hatten mich überzeugt, dass praktisch alles Schriftliche aus Cullmanns langem Leben aufbewahrt |15| worden war und es damit eine das gesamte 20. Jahrhundert umspannende einzigartige Quelle der Theologie- und Kulturgeschichte zu retten galt.

Im Herbst 1999 verpackten Armin Mettler und ich, unterstützt von Mathieu Ar­nold und der langjährigen Cullmann-Freundin Ingalisa Reicke,11 den gesamten vorhan­denen Bestand an Papieren, Büchern und Dokumenten grob sortiert in 133 Kartons, die mitten im Winter von einer Basler Trans­portfirma nach Chamonix transportiert und im Keller der Villa Alsatia auf­gestapelt wurden. Im Haus bestand die erste Aufgabe darin, dem Archiv den nötigen Platz zu schaffen. Im Oberstock richteten wir die ehemalige Zweit­küche mit geschenkten und billig beim Althändler erstandenen Re­gistra­turkästen als Archivraum ein. Das vorher kaum benutzte Fami­lien­zimmer daneben, ausgestattet mit den Möbeln aus der Basler Studierstube und dem Strassburger Familientisch als Zentrum, diente als Arbeitsraum. Das Aus­packen begann mit den Bücherkartons. Die Sammlung der Veröffentli­chungen Oscar Cull­manns füllte den grossen Bücherschrank im Arbeitsraum. Ausgehend von den ge­druckten Bibliographien von Willy Rordorf (1962), Heiko Heck (1972), und Matt­hieu Arnold (1992 und 1999) stellte ich in einer elektronischen Datei eine neue Gesamtbibliographie zusammen, die heute 833 Nummern umfasst.12 Jedes Buch und jeder einzelne Aufsatz, gleich in welcher Sprache, erhielt eine annähernd chronolo­gisch bestimmte Ord­nungszahl, die wir auf die vorhandenen Archivexemplare auf­klebten. Der Hausherr hatte im Hinblick auf den Plan eines Cullmann-Zentrums in der Villa Alsatia schon zu seinen Lebzeiten in den meisten Zimmern Bücher­regale einbauen lassen. Auf diesen stellte ich die Arbeits­bibliothek, von der leider kein Katalog existiert, nach Sachgebieten geordnet auf, soweit Platz vorhanden war. Einige Kategorien wie die patristische Literatur und vor allem die Sammlung der (grob geschätzt) 10 000 Sonder­drucke blieben bis zum Schluss ungeordnet in ihren ursprünglichen Kartons. Mit der Auf­stellung der Veröffentlichungen und der Biblio­thek im Haus war das wich­tigste Arbeitsinstrument geschaffen, an der sich die Auf­arbeitung des Ar­chivmaterials orientieren musste.

Die eigentliche Arbeit an den Papieren begann im Frühjahr 2000. Es muss hier daran erinnert werden, dass diese Arbeit unter alles andere als idealen Bedingungen geleistet wurde. Die Hauptlast fiel mir als «Ruhe­ständ­ler» zu, aber angesichts viel­fältiger anderer Verpflichtungen und Projekte in Europa und den USA, wo ich mei­nen eigentlichen Wirkungskreis hatte und |16| noch habe, konnte ich immer nur ab und zu Zeit für das enorme Projekt frei machen. Über die Jahre waren es in der Regel zwei oder drei Blöcke von zwei bis vier Wochen pro Jahr, die ich im Archiv verbringen konnte. Natürlich hatte ich wertvolle Hilfe. Im Sommer 2001 kam Willy Rordorf für vier bis fünf Tage und verzeichnete eine Reihe von Manuskripten. Im gleichen Jahr war Matthieu Arnold für zehn Tage im Haus und arbeitete an den Briefen des Kar­tons 73. Seit 2006 kümmerte sich Armin Mettler in eigener Verant­wortung um die Erschliessung des Materials zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Armin Mettler war es auch, der sich von Anfang an getreulich und kom­petent der praktischen Seiten unseres Arbeitslebens in der Villa annahm. Wenn er da war, sorgte er für eine anständige Küche, reparierte das Nötige und hielt Haus und Garten in Ordnung. Er hielt die Verbindung zu den örtlichen Bekannten, verhandelte mit den Handwerkern und schaufelte bei Schneefall den Pfad zur Strasse frei. Ohne ihn wäre nichts gelaufen, auch nicht die Verpackung und der Transport des Archivs nach Basel im Frühjahr 2009. Es kamen andere Erschwernisse hinzu. Für die Arbeit benutzten wir unsere eigenen Computer, Drucker und Büromaterialien. Ein Scanner oder eine Kopierma­schine waren nicht vorhanden, und zur Erledigung von E-Mail und Recherchen im Internet mussten wir in den Ort gehen, wo das Touristenbüro freien Internetzugang anbot.

Die Systematik der Bearbeitung des Nachlasses war anfangs denkbar einfach. Wir öffneten einen Karton nach dem andern und versuchten, seinen jeweiligen Inhalt zu sortieren und dann elektronisch in Computerdateien zu verzeichnen. Ich hatte schon früh eine vorläufige Liste von 45 Sachkategorien zusammengestellt, die alle in den Glasschränken des Arbeitsraums ihren Platz erhielten und sich langsam füllten. Das Problem war, dass in der Basler Wohnung nur einiges wenige geordnet vorlag. Das meiste Material fand sich überall verstreut und sorgte beim Auspacken immer wieder für Überra­schun­gen. Es ist mir eine gewisse Genugtuung, dass die vorläufige Eintei­lung sich im Ganzen bewährt hat. Das von der Universitätsbibliothek jetzt eingerichtete «Findbuch», das nach den Regeln moderner Nachlass­bear­beitung mit der ihr eigenen Systematik angelegt ist und die Benutzung der Materialien ermög­licht, liess sich aufgrund dieser intuitiven Vorarbeit ohne grosse Schwierigkeiten herstellen.13

Als eine genügende Anzahl von Kartons geöffnet und ihr Inhalt auf die entspre­chenden Stösse von Papieren verteilt war, ging es an die Analyse des Materials. Es war uns klar, dass die wichtigsten und umfangreichsten Kate­gorien die Manuskripte und die Korrespondenz sein würden. Wir fassten |17| den Begriff «Manuskripte» sehr weit und ordneten hier alles von Oscar Cullmann selbst Geschriebene ein, vom Ein­zelblatt bis zum voll­ständigen Buch- oder Vorlesungsmanuskript. Auch alle seine erhaltenen Briefentwürfe und -kopien gehörten ursprünglich hier hin. Anfangs be­gnüg­ten wir uns mit sehr kurzen Inhaltsangaben in einer sich ständig erwei­ternden Computer­datei. Die Durchsicht der ersten Vorlesungsmanuskripte zwang aber schon bald zu einer sehr viel eingehenderen Beschreibung, und am Schluss bestand die Datei aus etwa 700 chronologisch geordneten Einträgen, die auf zwei Zeilen Datum, Sprache, Schriftform (Handschrift oder Maschinenschrift), Umfang, Genre und Titel angeben und dann mehr oder wenig ausführliche Anmerkungen zum Inhalt bieten. Die Origi­nale liegen in Mappen, deren Eti­ketten die ersten zwei Datenzeilen kopieren und in die ein Beschreibungs­blatt mit diesen Angaben und den Anmerkun­gen eingelegt ist. Als in den letzten Jahren deutlich wurde, dass doch mehr Briefko­pien und -entwürfe von Cullmanns Hand vorhanden sind, als wir annahmen, wur­den die Brief­manuskripte Oscar Cullmanns als Sonder­gruppe unter die Korrespondenz eingereiht.14 Diese Sondergruppe könnte noch beträchtlich wachsen, wenn, wie es dankenswerterweise schon anläss­lich des Symposiums zum 100. Ge­burtstag im Jahr 2002 der Fall war, möglichst viele Freunde und Bekannte ihre an sie gerichteten Cullmann-Briefe im Original oder in Fotokopien dem Archiv zur Verfügung stellen würden.

Die Gesamtkategorie «Korrespondenz» selbst ist ausserordentlich um­fang­reich. Zwar schrieb Cullmann alle Korrespondenz von Hand15 und in der Regel eben ohne Kopie oder Durchschlag, so dass das Archiv weitgehend ohne die eine Seite des Briefwechsels auskommen muss. Trotzdem sind die Briefe seiner Korrespondenten fast vollständig vorhanden. Cullmann warf praktisch keine erhaltene Post fort. Wir fanden viele Briefe geöffnet in ihren ursprünglichen Umschlägen, freilich meist ohne die Briefmarken, welche die Cullmanns für ihre Sammlungen auszuschneiden pfleg­ten. Ihre Briefmarken­sammlungen, einschliesslich der vom Schwager Fritz Klein16 geerbten, hat die Fondation de France schon 1999 verkauft. Es existieren vier Grup­pen von Mappen mit Korrespondenz. Abgesehen von der bereits erwähnten Sonder­gruppe der Briefe Cullmanns besteht die Hauptgruppe aus etwa 1700 |18| alphabetisch geordneten Mappen von Korrespondenten, in denen jeweils gesammelt ist, was als von diesen Personen an Cullmann geschrieben iden­tifiziert werden konnte.17 Bis in die letzten Monate der Archivarbeit tauchten immer wieder neue Briefpakete und Einzelbriefe auf, wenn andere Kate­gorien bearbeitet wurden. Aus diesem Grund ist der Inhalt dieser Map­pen noch nicht im Einzelnen beschrieben, etwa nach der Anzahl der vor­handenen Schriftstücke, die von zwei Stücken bis zu Dutzenden von Briefen betragen kann, oder nach dem Datum. Meiner Schätzung nach handelt es sich im Ganzen um etwa 30 000 Briefe. Eine dritte Gruppe sind alphabetische Sam­melmap­pen, in denen sich Einzelbriefe von etwa 1500 Personen finden.18 Eine vierte Gruppe umfasst die Korrespondenz mit Päpsten, d. h. mit Paul VI. und Johannes Paul II., sowie mit bedeutenden Per­sönlichkeiten wie Valéry Gis­card d’Estaing, Jacques Chirac und Teddy Kollek, dem Bürgermeister von Jerusalem.19 Die Korrespondenz mit Benedikt XVI., von dem sich auch eine Reihe von Veröffentlichungen mit hand­schrift­licher Widmung im Archiv befindet, liegt zur Zeit noch in der Korrespon­denzmappe «Ratzinger, Joseph», dem Namen, unter dem Cullmann den Theologen und Kardinal seit den sechziger Jahren kannte.20

Unsere Anfangsentscheidung, die alphabetischen Korrespondenzmap­pen zur Aufnahme möglichst alles mit dieser bestimmten Person zusam­menhängenden Mate­rials zu verwenden, bedeutet freilich nicht, dass keine Korrespondenz anderswo zu finden wäre, also in anderen Sach­kategorien. Das ist etwa der Fall in einigen Dossi­ers der Kategorie «Biographie».21 Das Dossier 07, «Berufung nach Basel 1938»,22 enthält bei­spielsweise 37 Briefe von Karl Ludwig Schmidt, der den Strassburger Kollegen in den entscheidenden Monaten oft drei- oder viermal wöchentlich an­schrieb, um ihn auf dem Laufenden zu halten. Nicht in einer Korrespon­denzmappe, sondern in den Mohr-Siebeck-Mappen der Kategorie «Verlage und Verleger»23 fin­den sich die zahlreichen Briefe, die Hans Georg Siebeck und sein Sohn Georg an Cullmann gerichtet haben,24 und die Verlagsmappe «Delachaux & Niestlé» enthält nicht nur alle Briefe der Verlegerin Agnès Delachaux, sondern auch |19| den grössten Teil der Briefe von Jean Jacques von Allmen, der dort von 1954 bis 1968 die Theologische Abteilung leitete.25 Für Roger Mehl, den Strass­burger Kollegen und Freund, existiert nicht nur eine umfangreiche Korres­pon­denzmappe.26 Briefe von ihm finden sich auch in den Dossiers «Affäre Viot»,27 «Fondation Pasteur Boegner»,28 «Vorschlag Ökumenische Kollekte»29 und «Gesammeltes Reaktionsmaterial zu einzelnen Veröffentlichungen».30 Ich habe mich bemüht, in solchen Fällen Verweis­blätter in die Korres­pondenzmappen einzulegen.

Die Inhaltsbeschreibung und Analyse der einzelnen Archivkategorien ist zurzeit von der Oberfläche ausgehend in ganz verschiedene Tiefen vorge­drungen. Dazu einige Beispiele: Die von Oscar Cullmann selbst zusam­mengestellte Gruppe der Papiere zum Zweiten Vatikanischen Konzil hat Armin Mettler bereits recht genau analysiert. Wenn Interessenten zur Arbeit an den Originalen nach Basel kommen, werden sie in Zukunft Mettlers eingehende Beschreibungen und zum Teil sogar Umschriften vorhandener Dokumente einsehen und benutzen können. Das gleiche gilt etwa für das umfangreiche Reaktionsmaterial zum Vorschlag einer ökumeni­schen Kol­lekte, den Cullmann zuerst an der ETH Zürich im Januar 1957 formulierte und der in den folgenden Jahren für vielfältige Aktivitäten, Initiativen, Dis­kussionen, und Meinungsäusserungen sorgte.31 Meine detaillierten Auf­zeich­nungen der hierhin gehörenden Materialien nach Datum, Verfasser und Inhalt können bei Benutzung des Archivs in Basel eingesehen werden.

Dagegen entbehrt die Analyse einer ganzen Anzahl von Kategorien noch der nö­tigen Tiefe. Die anscheinend recht vollständig vorhandenen Fi­nanzpapiere ebenso wie die einmalige Sammlung von Sonderdrucken liegen noch ungeordnet in den Kartons von 1999.32 Die Kategorie der Fami­lien­papiere,33 der Inhalt von zwei Kar­tons mit der Bezeichnung «Louise Cull­mann»34|20| und eine Reihe von Dossiers in der Kategorie «Universität Basel»35 sind zwar verzeichnet, aber noch nicht im Einzelnen analysiert. Die wichtigen Papiere zum Thema «Tantur»,36 welche die gesamte Ge­schichte dieser ökumenischen Institution von Anfang an dokumentieren und welche Cullmann als einer der Hauptinitianten in zwei grossen Mappen gesammelt hatte, sind zwar chronologisch geordnet, müssten aber noch nach Korrespon­denten und Inhalt beschrieben werden.

Wie in fast allen neueren Gelehrten­nachlässen stellen die vorhandenen Fotografien ein besonders dorniges Pro­blem dar. Das Cullmann-Archiv besitzt Hunderte von losen Fotos. Nur ganz wenige von ihnen sind auf der Rückseite identifiziert. Immerhin befinden sich im Archiv auch etwa 40 thematisch geordnete und grösstenteils datier­bare Fotoalben, zum Teil aus dem Besitz der Schwestern Louise und Frédé­rique, sowie mehrere Dutzend thematischer Couverts mit Fotos, deren Inhalt durch die Aufschriften wenigstens teilweise klar ist. Dazu kommt ein un­erwarteter Glücksfall. Unter meinen persönlichen Papieren in Princeton fand ich 2002 zufällig einen Block mit Notizen, den ich völlig vergessen hatte. Er enthielt unter anderem auf 13 Seiten Erklärungen von nummerierten Bildern im Album «Jeunesse, Gym­nase, Strasbourg, Paris»37 und vom Inhalt vieler der Cou­verts.38 Ich erinnerte mich, dass ich bei zwei Aufenthalten in Cha­monix, wahrschein­lich im Som­mer 1982 und 1983, vorgeschlagen hatte, gemeinsam mit den Cullmann-Geschwistern abends nach dem Essen Foto­alben anzuschauen und Personen zu identifizieren. Meine Erklärungen sind rasch und flüchtig geschrieben, wohl weil beim Anschauen Cullmann zwar sagte, was und wer auf den Bildern zu sehen war, aber nicht viel Geduld hatte. Trotzdem stellen diese Identifikationen eine äusserst wertvolle Quelle für die bildliche Illustration der schriftlichen Materialien im Archiv dar. Sie könnten auch als Vergleichs­hilfen beim Betrachten vieler nicht identifizierter Fotos Dienste leisten. Vielleicht gibt es ja Menschen, deren visuelles Gedächt­nis für solche Verglei­che besser geeignet ist als meines. Allerdings träume ich noch von einer andere Möglichkeit, die in unserem rasant fortschreitenden technolo­gischen Zeitalter einen neuen Horizont eröffnen könnte: Bei jeder Einreise in die USA wird neuerdings eine Por­trätaufnahme von mir elektro­nisch mit einer zentralen Datenbank von Ver­brec­hern und mutmasslichen Terroristen wahr­scheinlich in Washington verglichen. Wäre es nicht denkbar, dass ein Scan­ner |21| das identifizierte Bild einer Person im Album mit einem losen Foto vergleichen und die gleiche Person dort identifizieren könnte? Vielleicht gibt es bereits eine solche Software?

Meine Ausführungen werden deutlich gemacht haben, dass in Bezug auf die Ar­beit am Cullmann-Archiv seit 1999 manches geschehen und vieles erreicht worden ist, dass aber noch genug zu tun bleibt, zu planen und sogar zu träumen. Die Fondation œcuménique Oscar Cullmann ist von der Fon­dation de France als Sach­walterin des Cullmann-Nachlasses in Zusam­menarbeit mit der Universitätsbibliothek Basel eingesetzt worden und wird sich auch weiterhin an seiner Erschliessung und Benutzung beteiligen. Das Symposium von 2009 sollte zum einen im Rückblick Rechenschaft geben über die Bemühungen der letzten zehn Jahre, hat aber im Aus­blick hof­fentlich auch Anregungen zur Weiter- und Mitarbeit gegeben, damit dieser einzigartige Schatz gehoben wird, der nun in Basel zugänglich sein wird.

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Martin Sallmann

Forschungsdesiderata aufgrund der Quellenlage im Nachlass Oscar Cullmanns

Leben und Werk sowie die Rezeption Oscar Cullmanns sind nach wie vor wenig erforscht. Nachdem der Nachlass 2009 an die Universitätsbib­lio­thek in Basel überführt worden ist, liegt jetzt ein reichhaltiges, gut geord­netes Archiv für die Erforschung bereit.39 Die Vielfalt des Nachlasses eröffnet un­ter­schiedliche Zugänge zum Cullmann-Archiv. Je nach Fragestellung wird der Zugriff variieren. Denkbar sind Gesichtspunkte, die sich an der Biografie, an behandelten Themen, publizierten Werken oder an bestimmten Quel­len­gattungen orientieren. Im Folgenden versuche ich in fünf Punkten ver­schie­dene Zugänge zum Nachlass aufzuzeigen. Damit sind drei Ziele anvisiert: Zum einen soll ein Eindruck von der Fülle, aber auch von den Konturen des Archivs entstehen. Zum anderen sollen durch Beispiele entle­gene Facetten und Eigenarten des Nachlasses sichtbar werden. Und schliess­lich sollen mög­liche Forschungsprojekte oder Fragestellungen zur Sprache kommen.

I. Biografischer Zugang: Familie, Kindheit, Jugend

Oscar Cullmann stammte aus einer kleinbürgerlichen Familie.40 Sein Vater war Lehrer an der Volksschule. 1902 geboren, wuchs Oscar als Jüngster |24| von neun Geschwistern im zunächst deutschen, nach dem Ersten Weltkrieg wie­der französischen Strassburg auf, wo er das Protestantische Gymnasium besuchte.

In welchem Milieu wuchs Oscar auf? Wer waren seine Eltern? Wie lebte die Familie? In welcher gesellschaftlichen Umgebung bewegten sich die Cullmanns? In welchen Bildungstraditionen wurde Oscar geschult? In wel­che Frömmigkeit wurde er im Elternhaus eingeführt? Und welche Kirchlich­keit begegnete ihm mit der Lutherischen Kirche? Gerne wüsste man mehr über die Kindheit und Jugend Oscar Cullmanns. Die vorliegenden autobio­grafischen Rückblicke aus den Jahren 1960 und 1993 sind für diese Zeit wenig ergiebig.41 Obwohl die Quellen für die frühe Lebenszeit im Vergleich zu den späteren Lebensphasen spärlicher fliessen, enthält das Archiv diverse Unterlagen, die hilfreiche Einblicke erlauben. So gibt es beispielsweise genea­lo­gische Materialien, die Cullmann zu den Familien väterlicherseits und müt­terlicherseits zusammengetragen hatte.42 Auch über die Geschwister existie­ren eigene, zum Teil ausführliche Dossiers.43 Aus der Kindheit stam­men ein Ferientagebuch oder Weihnachtsgedichte für die Eltern.44 Ein Heft mit Auf­zeich­nungen |25| über einzelne Familienmitglieder hatte Oscar zusam­men mit einem Schulfreund 1916 erstellt.45 Für die Schulzeit sind alle Zeug­nisse und einige Arbeiten aus der Zeit am Gymnasium vorhanden.46 Viele Fotografien, die teilweise im Einzelnen beschrieben sind, finden sich an unterschiedlichen Orten im Archiv.47

Cullmann hielt zeitlebens an seinen Strassburger Wurzeln im Elsass fest. In gleicher Weise galt das auch für seine lutherische Heimatkirche, der er verbunden blieb. 1989 korrigierte er John Neuhaus in einem Brief umgehend, da dieser ihn in einem Aufsatz als «a Swiss Protestant» bezeichnet hatte. Er sei aus Strassburg und Mitglied der elsässischen lutherischen Kirche.48 Auf­schlussreich wäre ausserdem, welche Bilder Cullmann von der eigenen Familie und der eigenen Herkunft übernommen und weitergetragen hat. Ha­ben alle Geschwister das Bild der eigenen Familie geteilt oder gab es unter­schiedliche Auffassungen? Wichtig wäre hier eine weitergehende Ein­ord­nung der Familie Cullmann in den historischen Kontext. Das Archiv kann dazu einzelne farbige Mosaiksteine liefern. Selbstverständlich wären weitere biogra­fische Zugriffe denkbar, zum Beispiel die Berufung nach Basel,49 die bewegte Zeit als Rektor50 oder die zahlreichen Ehrungen.51

II. Institutioneller Zugang: Thomasstift und Alumneum

Überblickt man die Biografie Cullmanns, deckt das Leben im Thomas­stift in Strassburg und im Theologischen Alumneum in Basel mit 43 Jahren einen beachtlichen Teil der Lebenszeit ab und umfasst nahezu die gesamte Zeit aktiver Lehrtätigkeit. Selber zuvor als Student im Thomasstift, wurde er 1926 mit der Leitung betraut, die er bis zu seinem Weggang nach Basel 1938 innehatte. Es gibt einige wenige Unterlagen mit einem direkten Bezug zum Tho­masstift. Vorhanden sind unter anderem die Ernennungsurkunde aus |26| dem Jahr 1926, ein Brief mit den Gehaltsvereinbarungen von Anfang 1927 oder ein Antrag der Stiftsbewohner an «les Messieurs les Membres de l’Epho­rat», der einen freien Arbeitstag für die Zimmermädchen am Sonntag vorsah. Über den Ausgang dieser Petition ist nichts bekannt.52 Nicht zuletzt wegen dieser Erfahrungen im Thomasstift wurde Cullmann in Basel 1941 zum Vorsteher des Theologischen Alumneums gewählt, das er bis zu seinem Ausscheiden als Professor an der Universität Basel 1972 leitete.53 Im Archiv gibt es ein Dossier mit Quellen zum Theologischen Alumneum, die zusam­men mit den Archivalien des Theologischen Alumneums im Staatsarchiv Basel ausgewertet werden müssten.54

Das Leben im Alumneum war nicht allein für die Studenten prägend, sondern auch für den Vorsteher. Dem Hausvater, wie der Vorsteher auch genannt wurde, oblagen bestimmte Aufgaben. Cullmann, der selbst nicht ordiniert war und nur selten in öffentlichen Gottesdiensten predigte, hielt im Theologischen Alumneum regelmässig Hausandachten. Schon aus dem Tho­masstift sind zwei Weihnachtsansprachen überliefert.55 Für das Theologische Alumneum sind ungefähr 230 Andachten aus den Jahren 1943 bis 1961 vor­handen, die in einer lectio continua Auslegungen zur Apostelgeschichte, zum Matthäusevangelium, zu einigen Stellen aus dem Markusevangelium sowie zu 1. Korintherbrief, 1. Johannesbrief und den zwei Thessalonicherbriefen enthalten.56 Die Andachten folgten einer festen Ordnung: Lied, Lesung, Ausle­gung, Gebet, Lied. Die Manuskripte, meist auf A5-Blättern hand­schrift­lich notiert, umfassen am Anfang die Nummern der Liedstrophen, die An­gabe der Textlesung, die vollständig ausgeschriebene Auslegung und am Schluss ein Gebet.57 Die Manuskripte zeigen den Exegeten in erster Linie als Homileten. Der Vergleich zwischen Vorlesung und Andacht wäre reizvoll. Gibt es Unterschiede? Wenn ja – welche? Die Andachten zeigen zudem |27| Cullmann als betenden Lehrer. Formulierte er die Gebete selbständig oder lehnte er sich an gängige Liturgien an?

Zum Leben im Alumneum gehörten Ausflüge und Feste der Studen­ten.58 Cull­mann hat auch dafür Andachten und Ansprachen gehalten. Zum 100-Jahre-Jubi­läum des neu eröffneten Alumneums 1944 beispielsweise hielt er sowohl eine An­dacht als auch Ansprachen beim akademischen Festakt.59 Der 80. Geburtstag des Basler Kirchenhistorikers und Vorgängers, Eberhard Vischer, wurde im Alumneum 1945 gefeiert.60 Vischer war als Mit­glied der Kommission dem Hause verbunden. Die Geburtstagsfeier einer grosszügigen Gönnerin fand ebenfalls im Alumneum statt.61 Allerdings stellte sich Cull­mann auch schweren Situationen und hielt die Traueran­spra­che bei der Beerdigung eines Alumnen oder bei der erwähnten Mäzenin.62

Das Alumneum sollte auch ein Hort der Wissenschaft sein. Nach dem Krieg fand 1946 die erste der früher traditionellen Begegnungen der Theo­logischen Fakultäten Strassburgs und Basels im Alumneum statt. Cullmann hielt eine Grussadresse an die Kollegen und überreichte eine Veröffentli­chung, die zum Jubiläum des Alumneums 1944 erschienen war.63 Kollegen der Universität Basel lud Cullmann zu Vorträgen an die Hebelstrasse ein, bei­spielsweise 1948, als er über «Eindrücke vom Christentum Roms» sprach.64 Im Amt des Rektors wurde auch die 50-Jahr-Feier der Basler Studenten­schaft 1968 im Alumneum gefeiert.65

Gerne unterstrich Cullmann den familiären Charakter des Alumneums. 1948 sprach er vor Freunden des Theologischen Alumneums über das Leben und die Bedürfnisse des Studentenhauses.66 An einer Weihnachtsfeier des Alum­neums mit Mitgliedern der Kommission 1950 betonte er den infor­mellen, familiären Rahmen der Feier.67 Auch an einer folgenden Weihnachts­feier |28| wies er auf den persönlichen Charakter der Alumneumsgemeinschaft hin.68 Ähnliche Äusserungen gibt es bereits für die Zeit im Thomasstift.69

Auch die grossen persönlichen Feste fanden im Alumneum statt: 1951 wurde Cullmann zum Chevalier de la Légion d’honneur und 1962 zum Officier de la Légion d’honneur ernannt. Die Übergabe der Insignien und die Feiern wurden bei diesen Gelegenheiten jeweils im Garten des Alumneums in Ge­genwart von illustren Gesellschaften gehalten.70 Auch die Abschieds- und die Geburtstagsfeier 1972 waren mit dem Alumneum verbunden.71 Aus Anlass der Feier seines 50. Geburtstags äus­serte sich Cullmann zur engen Verbin­dung seines Lebens mit dem Alumneum: «Im­mer wieder tritt ja die Frage an mich heran, ob ich nicht nach Paris übersiedeln solle, aber immer ist es vor allem der Gedanke an das Alumneum, der mich zurückhält.»72 Noch 1982 anlässlich einer Dankesrede zum 80. Geburtstag im französischen Kon­sulat Basel nannte Cullmann das Alumneum in einem Zug mit der Uni­versität, wel­che die ausschlaggebende Rolle gespielt hatten, dass er sich trotz mehr­facher attrak­tiver Möglichkeiten, nach Frankreich überzusiedeln, für den Verbleib in Basel entschieden habe.73

Das Alumneum war für Cullmann eine Institution, in der Leben und Lehre, Fa­milie und Studenten eng miteinander verzahnt zu einer Lebens­gemeinschaft wurden. Dieser Zusammenhang erhellt meiner Ansicht nach wenigstens drei weitere Motive in Cullmanns Leben:

Zum einen sprach man in jener Zeit, in der Cullmann wirkte, von Theo­logen­schulen. Es gab eine Barth-, Bultmann- oder Brunner-Schule, nicht aber eine Cull­mann-Schule. Trotzdem hatte Cullmann eine weitverbreitete, viel­fältige und bunte Schar von Schülern in Kirchen und an Universitäten. Zu diesem bemerkenswerten Umstand führte neben Cullmanns Eigenart, seinen Schülern thematisch und inhalt­lich viel Raum für ihre Arbeiten zu lassen, vor allem das Alumneum als Lebensge­meinschaft. Weniger eine bestimmte inhaltlich-theologische Ausrichtung als viel­mehr eine bestimmte Form der Lebenshaltung, des dialogischen Umgangs, auch der Verbindlichkeit war für diese Schülerschaft prägend.

Zum anderen: Cullmann verfolgte als praktische Umsetzung der öku­menischen wissenschaftlichen Betätigung zwei Projekte, die wesentlich von |29| der Lebensgemein­schaft geprägt waren, nämlich das Institut in Tantur und die Villa Alsatia in Chamo­nix post mortem. Beide sind meiner Meinung nach ohne den Zusammenhang mit dem Leben im Alumneum nicht zu ver­ste­hen.74

Schliesslich gehörte für Cullmann zur Lebensgemeinschaft im Alum­neum we­sentlich auch die Frau an seiner Seite, die Schwester Louise, die ihm nach dem Tod der Eltern seit 1930 im Haushalt zur Hand ging. Diese Zusam­menhänge, die selbst­verständlich den institutionellen Zugang übergreifen und deutlich in den biografi­schen Bereich übergehen, müssten in vertiefter Weise untersucht werden.

III. Zugang über Quellengattungen: die Korrespondenz

Eine der reichhaltigen Quellen im Nachlass Cullmanns ist die Korres­pon­denz. Karlfried Froehlich schätzt den Umfang auf ungefähr 30 000 Brie­fe.75 Obwohl Cullmann von wichtigen Briefen jeweils Entwürfe, Abschriften oder Durchschläge hinterliess, sind diese der kleinste Anteil der Korrespon­denz. Die Antworten der Adressaten überwiegen bei weitem. Für die Zu­kunft wäre hilfreich, nach Möglichkeit die Korrespondenz Cullmanns durch Kopien zu sammeln. Erste Schritte dazu hat die Fondation Oecuménique Oscar Cullmann bereits unternommen.76 Weitere gezielte Anstrengungen wären vor allem bei Forschungsprojekten unerlässlich.

Und natürlich stellt sich die Frage, wo genau die Schätze in der Kor­respondenz zu heben sind. Es sind die klingenden Namen der Zeit frei­lich vorhanden, die deut­schen Fachkollegen Karl Ludwig Schmidt und Rudolf Bult­mann oder die frankopho­nen Exegeten Pierre Benoît77 und Stanislas Lyonnet,78 die Dogmatiker Karl Barth, Gerhard Ebeling oder Wolfhart Pan­nenberg, |30| die frankophonen Ökumeniker Yves Congar,79 Jean Daniélou80 oder Jean Guitton81. Und selbstverständlich gibt es auch die Korrespondenz mit den Päpsten.82 Der Zugriff auf den umfangreichen Quellenbe­stand wird von den verfolgten Forschungsinteressen abhängen: ein bestimmter Zeit­abschnitt wie der Zweite Weltkrieg, eine Personengruppe, beispielsweise das Kolle­gium der Basler Theologischen Fakultät, ein konkretes Projekt, etwa die ge­meinsame Kollekte oder die Auseinandersetzungen um eine bestimmte Pu­blikation.

Im Folgenden seien lediglich zwei Beispiele zur Veranschaulichung erwähnt: Während des Zweiten Weltkriegs zeigte sich Cullmann als auf­merk­­samer Beobachter der unterschiedlichen Kulturen im Dreiländereck. 1940 schrieb er in einem Briefent­wurf an einen Freund in Clermont-Ferrand, die Schweizer seien keine Deutschen. Die Schweizer seien Schweizer mit ihren eigenen Fehlern, geprägt durch eine eigene Geschichte. Sie pflegten ein kühles Verhältnis zu den Nachbarn, verachteten und bewunderten zugleich die Deutschen. Die deutschen Kollegen hätten kaum Kontakte mit Schweizer Familien.83 1944 charakterisierte er gegenüber einem Basler, der ihn aus­drücklich danach gefragt hatte, den schweizerischen Nationalcharakter kri­tisch |31| und bat im Gegenzug den Adressaten, ihm die Fehler «bei uns» (den Franzosen) anzugeben.84

Als zweites Beispiel sei auf den Briefwechsel zwischen Cullmann und Lukas Vischer verwiesen. Vischer hatte nach Kriegsende Theologie in Basel, Göttingen sowie Strassburg studiert. Bei Cullmann promovierte er über Basilius den Grossen und verfasste während des Pfarramtes eine Habilita­tionsschrift im Fach Neues Tes­tament.85 Nach dem Pfarramt in Herblin­gen/SH (1953–1961) wurde Vischer theologi­scher Studiensekretär, später Direktor der Abteilung für Glauben und Kir­chenverfassung des Ökume­nischen Rates der Kirchen (ÖRK). Vischer war vom ÖRK als Beobachter an das Zweite Vatikanische Konzil delegiert.86 Regelmässig berichtete er dem damaligen Generalsekretär des ÖRK, Willem Visser ‘t Hooft, aus Rom. Die Berichte und Briefe liegen im Archiv des ÖRK in Genf. Sowohl Vischer als auch Visser ’t Hooft standen mit Cullmann im Briefwechsel.87 Vischers Brief­wechsel ging natürlich über das Zweite Vatikanische Konzil weit hin­aus. Auf die Publikation Einheit durch Vielfalt im Jahr 1986 schrieb Vischer einen langen Brief, den Cull­mann in der zweiten Auflage als weiterfüh­renden Bei­trag ausführlich aufnahm.88

IV. Thematischer Zugang: Ökumene

Thematisch von hervorragendem Interesse ist sicher der gesamte Be­reich der Ökumene. Zum Zweiten Vatikanischen Konzil sprudeln die Quel­len |32| reichlich.89 Reizvoll und noch weitgehend ungeklärt ist die Rolle, die Cull­­mann als Beobachter des Konzils auf Einladung des Sekretariats für die Ein­heit der Christen ausfüllte.90 Welche Beziehungen hatte Cullmann zu den anderen Beobachtern, den Experten, den Konzilsvätern und zu den übrigen Teilnehmern des Konzils? Auf welche Weise und mit welchen Impulsen nahm er Einfluss? Wie gestaltete er seine Berichte und wie orchestrierte er seine öffentlichen Auftritte? Gibt es während der vier Sessionen Verschie­bungen der Akzente? Und in diesem Zusammenhang sind sicherlich auch die Kontakte zu den zwei Konzilspäpsten zu situieren.

Zugleich dürften die verschiedenen Aspekte von Cullmanns ökume­nischer Kon­zeption sowie deren Tragfähigkeiten weiterhin ein wichtiges Thema bleiben.91 Cull­mann hatte sich bekanntlich vor allem auf die soge­nannte grosse Ökumene kon­zentriert. In der erwähnten Reaktion auf die Publikation Einheit durch Vielfalt hatte Lukas Vischer darauf hingewiesen, dass die Spaltungen im Protestantismus weniger «Charismen» als vielmehr ein Missbrauch der «Vielfalt» seien. Der Protestantismus müsse daher diese Entstellungen bekämpfen. Cullmann stimmte mit Vischer überein, wollte die Anregungen ausdrücklich aufnehmen und berücksichtigte Vischers Ein­wurf in der zweiten Auflage von 1990. Überall dort, wo die Absonderungen nicht zur bereichernden Vielfalt beitrügen, sei der Zusammenschluss innerhalb des Protestan­tismus geboten.92 Aber was heisst das im Einzelnen? Wie beurteilte Cullmann die Leuenberger Konkordie von 1973? Hat er sich überhaupt zur Gemeinschaft evangeli­scher Kirchen Europas (GEKE) geäussert?

Im Folgenden verweise ich auf drei konkrete ökumenische Initiativen Cullmanns, die eine vertiefte Untersuchung verdienten. Mit Blick auf die Kollekte, die Paulus in den Gemeinden für Jerusalem sammelte (1Kor 16,1–4; Gal 2,10), schlug Cullmann in einem Vortrag, den er anlässlich der ökume­nischen Weltgebetswoche für die Einheit der Christen am 21. Januar 1957 in Zürich hielt, eine gegenseitige Kollekte der Protestanten und der Katholiken |33| vor.93 Diese praktische Solidarität sollte ein Zeichen der Einheit der getrennten christlichen Kirchen in Christus sein.94 In der Korrespondenz finden sich zahlreiche Reaktionen auf diese Initiative. 1958 veröf­fentlichte Cullmann eine Broschüre unter dem Titel Katholiken und Protestanten. Ein Vorschlag zur Verwirklichung christlicher Solidarität, in dem er seinen Vorschlag ausführte.95 Die Publikation erschien im gleichen Jahr auch in französischer Spra­che.96 Wie er es gewohnt war, liess er die Publikation vielen Persönlich­keiten zukom­men.97 Viele der Adressaten haben mit Briefen oder Buch­bespre­chungen geantwor­tet.98 Die Resonanz war enorm. Das von Karl­fried Froehlich detailliert verzeichnete Material aus den Jahren 1957 bis 1963 um­fasst mehrere hundert Korrespondenzstü­cke. An dieser Initiative lässt sich exemplarisch zeigen, wie Cullmann vorging, eine Idee vorbereitete, das Pro­jekt vernetzt kommunizierte und schliesslich auf unter­schiedlichen Wegen verfocht. Auch das dialogische Motiv wird sichtbar. Cullmann suchte das Ge­spräch und nahm Zustimmung und Ablehnung auf. Sorgfältig führte er darüber Buch, wo seine Initiative aufgenommen und umgesetzt wurde.99

Auf einem Empfang der Konzilsbeobachter während der zweiten Session regte Papst Paul VI. die Errichtung eines Forschungsinstituts an, das der gemeinsamen Erforschung der Heilsgeschichte durch alle Konfessionen gewidmet sein sollte.100 Sowohl im akademischen Rat mit ungefähr dreissig Persönlichkeiten aus der Ökumene als auch im kleineren Exekutivausschuss engagierte sich Cullmann beherzt für dieses Anliegen. In den Jahren 1967 bis 1972 wurde der Bau des Instituts für Höhere The­ologische Studien in Tantur bei Jerusalem erstellt. 1972 bis 1973 verbrachte Cull­mann nach seiner Eme­ritierung |34| das erste offizielle Studienjahr in Tantur. Der Haupt­zweck der Stiftung war eine ökumenische Arbeitsgemeinschaft von Theologen aller Bekenntnisse im Ursprungsland der Christenheit. Wissenschaftliches Lehren und Lernen, gemeinsames Leben und Feiern von Gottesdiensten gehörten zu den Grund­ideen des Projekts. Thematisch sollten die Studien der biblischen Heilsgeschichte gewidmet sein.101 In der Korrespondenz finden sich immer wieder Spuren des Engage­ments für das Projekt in Tantur. In einem Brief­fragment an Papst Paul VI. wird schon 1966 ein möglicher erster Rektor in Tantur erwogen.102 Oder Cullmann charakteri­sierte gegenüber einem Peritus das Projekt in Tantur als eine der schönsten ökumeni­schen Realitäten nach dem Konzil.103 In einem Briefentwurf dankte er Papst Paul VI. für Bücher, die aus der Vatikanischen Bibliothek an die Bibliothek in Tantur gin­gen.104 Bei Jean Kardinal Villot fragte er 1971 wegen einer Audienz beim Papst an, um unter anderem über das Institut in Tantur zu berichten.105 An die Oberin der Schwestern in Tantur schrieb er, um sich vorsichtig für eine Schwester einzusetzen, die offenbar versetzt werden sollte.106 Selbst als er sich bei Papst Johannes Paul II. vorstellte, erwähnte er in einem Briefentwurf neben seiner Freundschaft mit Papst Paul VI. das ökumenische Projekt in Tantur.107