Zeit der Diebe - Eike Bornemann - E-Book

Zeit der Diebe E-Book

Eike Bornemann

0,0

Beschreibung

Bianca, die alle nur Boi nennen, durchstreift mit ein paar Jungs das Potsdam der Nachwendezeit. Was die Clique um sie und ihren Bruder Sinon in Fabrikruinen und leeren Häusern findet, wird zu Geld gemacht. Bald helfen die Jugendlichen dem Zufall nach. Aus Entwurzelten werden professionelle Diebe. Als die Bande eines Nachts in einen Laden einsteigt, führt sie das in den Dunstkreis von Mord.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 318

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Eike Bornemann

Zeit der Diebe

Kriminalroman

ISBN 978-3-89741-988-9

Originalausgabe in CRiMiNA.

CRiMiNA ist ein Imprint des Ulrike Helmer Verlags, Sulzbach/Taunus

© 2016 eBook nach der Originalausgabe

© 2016 Copyright Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Atelier KatarinaS / NL

unter Verwendung des Fotos »Connor«

© manun / photocase.de

Gesetzt aus der Sabon

www.ulrike-helmer-verlag.de

Für Dich, der Du Dich wiedererkennst.

Inhalt

Vorausgeschickt

Emancipatio

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

Epilog

Quellen

Anmerkungen

CRiMiNA

Vorausgeschickt

In den neunziger Jahren nahmen im Land Brandenburg die Taschendiebstähle immer mehr zu und erreichten in der Mitte der Dekade ihren Höhepunkt. Etwa ein Viertel der ermittelten Pickpockets waren zu dieser Zeit Frauen. Die Aufklärungsquote lag in der Landeshauptstadt Potsdam damals unter fünf Prozent – in einem bestimmten Jahr stieg sie jedoch auf fast neunundzwanzig Prozent! In keiner anderen Großstadt waren die Diebesfänger damals erfolgreicher. Niemand weiß, warum …

Emancipatio1

Ein Dieb ist ein außerordentlicher Mensch; die Natur hat ihn als verwöhntes Kind zur Welt gebracht; sie hat ihn mit allen erdenklichen Vollkommenheiten ausgestattet, mit unerschütterlicher Gelassenheit, einer Kühnheit, die allem gewachsen ist, mit der Kunst, jede Gelegenheit zu ergreifen, mit Gewandtheit, Mut und guter Konstitution, mit scharfen Augen, flinken Händen und einer glücklichen, schnell wechselnden Physiognomie. Alle diese Vorzüge bedeuten dem Dieb nichts, bilden aber die Summe der Talente eines Catilina, eines Marius, eines Caesar.

– CODE DES GENS HONNÊTES2

Das Erste, das sie dir beibringen, ist zu gehen. Doch du darfst nicht gehen, wohin du willst. Sie bringen dir bei zu sprechen. Aber du darfst nicht den Mund aufmachen, wann du willst. Schon gar nicht, wenn sie reden. Also lernst du zuzuhören. Das Meiste, was du hörst, verstehst du nicht. Du bekommst keine Antworten auf deine Fragen. Du störst sie mit deiner Neugier, also fragst du irgendwann gar nicht mehr.

Sie stellen Regeln auf, und du rebellierst dagegen. Doch du lernst schnell, dass du dabei immer den Kürzeren ziehst. Dein Trotz hilft dir nicht. Du wirst belohnt und bestraft und du lernst das Gefühl der Schuld kennen, der Scham, wenn du ihre Regeln verletzt.

Du hörst ihre Märchen, mit denen sie dich einführen in die Normen ihrer Welt. Du glaubst an den Weihnachtsmann, an das Glück, an den Sieg des Guten, an die Liebe auf den ersten Blick, die Ehe, die Wissenschaft, das Wirtschaftswachstum, die Werbung, die Worte der Politiker, die Landeswährung, an das, was in der Zeitung steht, an die Moral, die Sicherheit und die Gesetze.

Du wirst älter. Du vergisst, dass sie keine Antworten auf die Rätsel hatten, mit denen du dich plagtest. Du vergisst, dass du jemals Fragen hattest und Zweifel. Und dann, irgendwann, siehst du die Welt mit ihren Augen.

Ich nicht.

1(Lat.) wörtlich: »aus der Hand nehmen«.

2Ein 1825 in Paris anonym erschienenes Werk, das von Dieben und ihren Praktiken handelt.

1. Kapitel

Die Diebe bilden eine besondere Klasse der Gesellschaft: Sie tragen zur Entwicklung der sozialen Ordnung bei, sie sind das Öl ihres Getriebes. Wie die Luft dringen die Diebe überall unbemerkt ein: Sie bilden inmitten der Nation ein Volk für sich.

– CODE DES GENS HONNÊTES

Wenn dich damals dein Weg in die Innenstadt und in die nördliche Vorstadt geführt hätte, wärst du auf Straßenzüge gestoßen, die aussahen, als hätten die Bewohner sie nach einer Katastrophe verlassen. Die Türen und Fenster in den unteren Stockwerken waren mit Sperrholzplatten vernagelt. In den oberen Etagen bewegte der Wind schmutzige Gardinen hinter zerbrochenem Glas. Aus einer Dachtraufe wuchs eine junge Birke. Zwischen kaputten Gehwegplatten wucherte Gras. An einer Hauswand hatte jemand die Botschaft »Hier beginnt der soziale Aufstieg« hinterlassen, und es war dieselbe Handschrift, die an der Wand des Maschinenhauses der ausgebrannten Fabrik verkündete: »Lang lebe der Fortschritt!«

Es gab keinen Fortschritt, aber es hatte ein Fortschreiten gegeben. Von Jahr zu Jahr waren die abendlichen Lichter in den Fenstern, war das Flackern von Fernsehern hinter den Vorhängen weniger geworden. 1989 wohnten in Potsdam noch fast 143.000 Menschen. Ein Jahr später war bereits die 140.000-Marke deutlich unterschritten, und 1995 waren es weniger als 136.000. Das in der nördlichen Vorstadt gelegene Militärstädtchen hatte da schon Ähnlichkeit mit Aufnahmen des evakuierten Pribjat nach der Katastrophe von Tschernobyl.

Im Sommer hielten wir hier unsere Rennen ab. Auf Feuerstühlen rasten wir unter dem dunkelblauen Schild des Abendhimmels die Straße entlang, bremsten, nahmen – gefährlich geneigt, dass die Fußstützen über den Asphalt schlitterten – die Kurve, drehten wieder auf, bis wir den verwilderten Sportplatz erreichten, wo sich zwischen den Kieferstämmen gegen den Abendhimmel die Silhouetten der verlassenen Kasernen abzeichneten, kehrten am Schulgebäude um und rasten die Straße zurück, wo sich Laubschatten unter dem Licht der Straßenlaternen bewegten und den Beginn der Zivilisation markierten.

Niemand störte uns. Es war eine Gegend, über der virtuell ganz groß und fett das Wort Abgeschrieben stand. Jeder Location Scout, der nach Drehorten für einen Endzeitfilm sucht, hätte bei dem Anblick glänzende Augen bekommen.

Es war nicht ungefährlich, in den verlassenen Häusern herumzustöbern. Zwar gab es keine Fallgruben wie bei Indianer Jones, dafür aber jede Menge rostiger Stahlträger, Glasscherben und herausstehender Nägel, dazu Asbestplatten, lose Fassadenteile, kaputte Geländer, durchgefaulte Balken und unverschlossene Aufzugschächte, in die man stürzen konnte. Es gab Schimmel und Tierscheiße und Kadaver samt den dazugehörenden Krankheitserregern.

Anfangs waren wir noch zu siebt gewesen. Sieben halbwüchsige Herumtreiber, die gemeinsam auf den Dorffesten stänkerten, auf Motorrädern ins Naturschutzgebiet zum Grillen fuhren (was verboten war, aber wir taten es trotzdem), zum Schwimmen (was an den meisten Stellen, die wir aufsuchten, ebenso verboten war) oder sich einfach zusammen langweilten (was erlaubt war). Mit jedem Jahr war unsere Gruppe weiter zusammengeschrumpft. Zuerst war Ronnys Familie weggezogen, dann Micha, dann meine beste Freundin Caro, die in Bremen eine Ausbildung auf einem Kreuzfahrtschiff begonnen hatte.

Im ersten Jahr trafen bei mir Briefe ein, abgestempelt an Orten, die ich erst im Atlas nachschlagen musste. Manchmal waren Neid und Eifersucht in mir so stark, dass es mir fast körperliche Schmerzen bereitete. Ich hatte zu viele Folgen von Das Traumschiff gesehen. Vielleicht konnte ich in meinen Antworten meine Gefühle nicht immer verbergen, denn Caros Briefe wurden bald seltener und irgendwann waren es nur noch Postkarten mit kurzen, nichtssagenden Sätzen. Bis auch die Abstände zwischen den eintreffenden Postkarten immer größer wurden. Wir hatten uns nichts mehr zu erzählen. Zu sehr waren unsere beiden Schiffe auseinandergedriftet. Meines war gestrandet. In jenem Jahr bestand unsere Clique noch aus vier Schiffbrüchigen.

In den Romanen von Stephen King hatten solche Sommer, in denen der Erzähler ein Jugendabenteuer Revue passieren lässt, immer heiß und staubig zu sein, der Himmel blau und die Luft erfüllt vom Geruch von heißem Teer und feuchtem Staub nach einem plötzlichen Gewitterregen.

Der Sommer, von dem ich spreche, roch dagegen durchgehend nach Regen. Es fing im Frühjahr an und regnete dann fast ununterbrochen bis in den August hinein, von ein paar Tagen Anfang Juni abgesehen, in denen es kurz aufklarte und vorsichtige Hoffnung auf einen Sommer, wie er sein sollte, aufkeimte. Doch Ende Juni war das zarte Pflänzchen des Optimismus bereits in Regen und Schlamm ertränkt. Im August hatten wir noch immer unsere vornehme Frühlingsblässe. Die Gastwirte starrten trübsinnig auf ihre zusammengeschobenen Stühle und Tische unter Markisen, von denen Perlenschnüre von Wasser auf die Gehwege herabrannen. Der Wetterbericht, in dem ein Atlantiktief das nächste jagte, konnte selbst den hartnäckigsten Optimisten in einen tiefen Brunnen der Depression stürzen lassen. Wenn der Regen mal Pause machte, war der Himmel ein grauer Schild; blauschwarze Wolkenfetzen jagten unterhalb der Wolkendecke dahin. Die Zeppelinstraße war über weite Strecken überflutet, und jeder Autofahrer, der nicht aufpasste und meterhohe Fontänen in die vorbeihastenden Fußgänger peitschte, geriet in Gefahr, gelyncht zu werden.

Wir hatten uns triefnass in eine verlassene Montagehalle im Nordwesten der Stadt zurückgezogen, die ihrer markanten Kuppel wegen von den Anwohnern »der Zirkus« genannt wurde. Gonzo hatte eine große Blechkiste, in der Kugellager, Schrauben und Muttern vor sich hin rosteten, zur Hälfte ausgeräumt und mit Brettern aufgefüllt. Wir brauchten fast eine halbe Tankfüllung, ehe das Holz endlich brannte und uns Gelegenheit bot, Schuhe und Socken zu trocknen. Es war genauso unromantisch, wie es sich anhört. Die Bretter waren bemalt oder lackiert gewesen, die verbrennenden Chemikalien und das Fett aus den Kugellagern entwickelten einen beißenden Qualm, der sich in unseren Sachen festsetzte, sodass du am Abend rochest, als hättest du auf einer Müllkippe kampiert. Aber wie heißt es so schön: Erfroren sind schon viele, erstunken ist noch keiner.

»Wo bleibt er nur? Mir wachsen schon Schwimmhäute zwischen den Fingern.« Gonzo fuhr mit der Hand in einen seiner Schuhe, um zu prüfen, ob die Sohle schon halbwegs trocken war.

»Der sitzt irgendwo im Trockenen, wenn er schlau ist.« Chris sah nicht einmal von seinem Skizzenbuch auf, das er ständig mit sich führte und selten aus der Hand gab. Fragmente seines jüngsten Werkes leuchteten gespenstisch aus den Tiefen der Halle zu uns herüber: die mit farbiger Kreide gemalte Silhouette einer ruinenhaften Stadt unter einem dunkelblauen Abendhimmel an der Wand schräg gegenüber, ein riesiges grünlich phosphoreszierendes Mädchengesicht daneben, das so plastisch wirkte, dass es aus der Wand herauszuragen schien (und von dem Gonzo behauptete, dass es mir ähnelte).

Chris war selten zufrieden mit dem, was er malte, und so waren einige Wandbilder von ihm immer wieder übertüncht worden. Die Reihenfolge seiner besseren Versuche spiegelte zugleich seine künstlerische Entwicklung wider. Das meinte jedenfalls Sinon, der in Chris’ jüngsten Werken einen Einfluss des späten Dali erkannt haben wollte.

Mich ließ die angewandte Kunstgeschichte kalt. Ich interessierte mich nicht für Chris’ »surrealistische Phase« oder sonst was. Ich fand die meisten seiner Malereien einfach nur schön. Und verstörend. Sie zeigten Beobachtungsgabe, eine sichere Hand, aber mehr noch etwas anderes, etwas, was tief in Chris drin war und was er mit niemandem teilte.

Als ihn mal ein Lehrer vor der gesamten Klasse herunterputzte, weil Chris nicht mal die einfachsten Sätze fehlerfrei vorlesen konnte, redete Chris den ganzen Tag nicht mehr, egal wie oft er aufgerufen wurde. Am nächsten Morgen schmückte eine Karikatur des Lehrers die Tafel, wie er unserem Direktor den Allerwertesten leckte – lebensecht plastisch wiedergegeben und anatomisch korrekt bis ins Detail. Als der Lehrer das Gemälde in einem Wutanfall abwischen wollte, musste er feststellen, dass die Kreidezeichnung auf der Tafel mit Haarlack fixiert war. Chris kam nur deshalb um eine Bestrafung herum, weil seine rechte Hand bis hoch zu den Fingerspitzen eingegipst war. Er hatte sich das Handgelenk nachweislich im Sportunterricht gebrochen. Dass er mit seiner Linken so sicher zeichnen konnte wie mit der Rechten, wussten nur wenige.

»Er hat gesagt, dass er herkommt, also wird er kommen«, stellte ich kurz und bündig fest.

Es war Mitte der Neunziger, und das bedeutet: kein Smartphone, kein WhatsApp, kein Was-auch-immer. Wenn du eine Verabredung klargemacht hattest, dann tatest du gut daran, halbwegs pünktlich zu sein, wenn du vor deinen Freunden nicht als unzuverlässiger Arsch dastehen wolltest.

»Und wenn sie ihn geschnappt haben?«

»Ach wo, den doch nicht! Der redet sich doch überall raus.«

Ich übertrieb nicht. Sinon war der geborene Geschichtenerzähler. Er konnte lügen, dass sich die Balken bogen, und das mit einem Ausdruck lammfrommer Unschuld im Gesicht. In seinen Erzählungen vermischte er Gehörtes und Gelesenes mit Erlebtem, und so gut wie nie widersprach er sich in dem, was er einem auftischte, war es nun ausgedacht oder wahr. Als ich noch auf die Oberschule gegangen war, hatte ich mal auf dem Flur ein Gespräch zwischen zwei Lehrern belauscht, in dem einer zum anderen meinte: »Wenn dir der Bengel einen guten Morgen wünscht, tust du gut daran, zur Sicherheit aus dem Fenster zu schauen, ob es draußen wirklich hell ist.« Es war ziemlich klar, wen sie meinten.

Mein Bruder hieß nicht wirklich Sinon. Ich meine, wer heißt heutzutage schon Sinon? Nicht mal damals, als ich jung war, lief man bei uns im Osten mit so einem Namen herum. Die Jungen aus meinem Jahrgang hießen Rico, Ronny, André, Mark, Leon, die Mädchen Jaqueline, Janine, Angelique oder auf was für exotische Ideen unsere Eltern sonst noch kamen. Hauptsache, es klang ausländisch, nach großer weiter Welt. Aber ein Name wie aus einem alten griechischen Heldenepos – das ging ihnen wohl doch etwas zu weit. Was Französisches, Italienisches oder meinetwegen auch Russisches reichte.

Mein Spitzname während der Schulzeit war Boi – und bevor du jetzt lange rätselst: Er steht für die Anfangsbuchstaben meines Namens. Wenn man seit der Geburt mit den Vornamen Bianca und Olinda herumlaufen muss, ist man froh über jeden Spitznamen, der einigermaßen was hermacht. Es hätte mich wesentlich schlechter treffen können.

Dagegen hatte sich Sinon seinen Spitznamen durch eine solide Leistung auf der Schule verdient. Als er mal zu spät zum Unterricht gekommen war, hatte er dem Geschichtslehrer eine derart absurde und haarsträubende Geschichte als Ausrede aufgetischt, dass der ihn beeindruckt sich setzen ließ, ohne die Fehlzeit ins Klassenbuch einzutragen. Von da an hatte mein Bruder seinen Spitznamen weg: Sinon – nach dem sprachgewandten Hirten, der die Trojaner dazu überredete, das hölzerne Pferd der Griechen in die Stadt zu ziehen. Bald nannte ihn jeder so, und irgendwann war es uns geläufiger als sein echter Name.

Ich widmete mich wieder dem ausgebauten Vergaser meiner Simson. Das Moped war seit dem Kauf mein ständiges Sorgenkind. Die unzähligen Reparaturen hatten aus mir zwangsläufig eine routinierte Mechanikerin gemacht. Die Schule, auf die ich gegangen war, trug nicht umsonst die Bezeichnung Polytechnische. Trotzdem hatte ich bei allem Fachwissen, das ich mir über meinen Basteleien angeeignet hatte, noch nicht herausfinden können, warum das verflixte Ding immer wieder den Geist aufgab.

Ich sah nur kurz hoch, als sich Gonzo bückte, um ein verbogenes Blechschild aufzuheben und säubernd mit dem Ärmel darüber zu wischen. »Erfolg fängt mit Wollen an«, las er halblaut vor.

»Klingt wie von ’nem chinesischen Glückskeks«, spottete ich.

»Hier hinten liegt ein ganzer Haufen davon. Hört euch das an!« Gonzo verstellte seine Stimme zu der höhnischen Parodie eines gelangweilten Schuljungen, der ein Gedicht aufzusagen hat: »Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied! … Arbeite mit, plane mit, regiere mit! … Meine Hand für mein Produkt. – Oder der hier; der gefällt mir ganz besonders gut: Pack mit an, und die Arbeit ist getan.«

»Das Zeug hing drüben im Werk über den Arbeitsplätzen«, erklärte Chris. »Sollte die Arbeitsmoral stärken und die Produktivität erhöhen oder so. Mein alter Herr hat es mir erzählt. Wenn er mal in Laune ist, redet er stundenlang davon, wie jeden Mittwochmorgen die Muppet Show abging.«

»Muppet Show?«

»So haben das die Arbeiter genannt. Das war nach der Abwicklung, schon unterm neuen Chef. Er und der Prokurist gehen also jeden Mittwochmorgen von Platz zu Platz und lassen dabei launische Kommentare vom Stapel wie diese beiden alten Knilche, Waldorf und – wie hieß er doch gleich …«

»Statler.«

»Genau. – Na, was haben Sie denn heute geschafft? Glauben Sie, dass Sie noch eins draufsetzen könnten? Sie wissen ja, dass 140.000 Leute auf Ihren Arbeitsplatz warten.«

»Was für ein Arsch!« Gonzo studierte die in den Putz eingeritzten oder mit Kreide aufgemalten Sprüche und Obszönitäten, die frühere Besucher der Halle hinterlassen hatten. »Kann mir nicht im Traum vorstellen, dass jemand scharf auf die Tretmühle hier war.«

»Tja, das waren sie aber«, sagte Chris mit Nachdruck.

»Hat dein Alter nicht immer mal was mitgehen lassen, um’s zu verhökern?«, erkundigte sich Gonzo lauernd.

Chris kratzte sich mit seinem Buntstift hinter dem Ohr. »Da war er nicht der Einzige. War ja schließlich Volkseigentum, also war’s in gewisser Weise auch seines.«

»So kann man’s natürlich auch sehen«, spottete Gonzo. »Kein Wunder, dass das Werk dichtmachen musste bei dem ganzen Schwund. Muss ja der reinste Selbstbedienungsladen gewesen sein.« Er stupste das Blechschild mit dem nackten Zeh an. »Meine Hand für mein Produkt. – So mancher hat’s wohl zu wörtlich genommen.«

»Nach der Wende, unter dem neuen Chef, hat’s das nicht mehr gegeben«, sagte Chris. »Wozu auch? Gab ja dann alles zu kaufen.« Er klappte das Skizzenbuch zu und steckte es in seine Jackentasche zurück. »Mein Alter hat gern hier gearbeitet, verstehste? Selbst nachdem Schicht im Schacht war, ist er immer noch um sechs aufgestanden, hat sich rasiert und angezogen, mit uns gefrühstückt und seine Stullen geschmiert wie jeden Werktag.«

»Wahrscheinlich ist er in die Kneipe, als du zur Schule bist, und hat sich bis zur Oberkante volllaufen lassen.«

Chris schüttelte den Kopf. »Damals war’s noch nicht so schlimm wie heute. Er ist runter in die Werft und hat bis zum Abend an seinem Boot ’rumgeschraubt, wenn du’s genau wissen willst.«

»Ich will’s nicht wissen«, winkte Gonzo mürrisch ab.

Arbeitsplatz und Karriere waren seit unserem Abschlussjahr ständige Reizthemen bei uns – nun, bei unseren Eltern sowieso. In den ersten Jahren nach der Wende waren wir alle noch voller Zuversicht gewesen. Keine Mangelwirtschaft mehr, kein Fünfjahresplan, keine Gängelung, kein Auto, auf das man nach der Bestellung zehn Jahre warten musste. Stattdessen volle Schaufenster. Und Reisefreiheit! Das vor allem! Endlich die Orte mit eigenen Augen sehen, die wir bisher nur aus den Büchern kannten! Die Welt stand uns offen, die große weite Welt! Wir waren jung, dynamisch, belastbar, flexibel und gut ausgebildet – ein echter Aktivposten eben, eine Investition und Bereicherung für jedes Unternehmen. Ein bisschen in die Hände gespuckt, und mit etwas Fleiß und gutem Willen würde es schon klappen.

Die Warnungen, mit denen der Geografielehrer uns beim Abschluss entließ (»Glaubt bloß nicht, dass nun alles besser wird in der neuen Gesellschaft. Ab jetzt heißt es: Haste was, dann biste was!«), schrieben wir in den Wind. Was wollten uns diese Besserwisser schon erzählen! Jahrelang hatten sie uns eingetrichtert, dass – so unabwendbar wie der Wechsel der Jahreszeiten – auf den »faulenden Kapitalismus« der Sozialismus als Übergang und danach die »lichten Höhen« der klassenlosen Gesellschaft folgen müssten.

Sie hatten sich geirrt. Und wie sie sich geirrt hatten. Da fragt man sich doch, in was sie sonst noch alles falsch lagen.

Die Tinte auf dem Einigungsvertrag war noch nicht trocken, da fanden sich die ersten 2000 Arbeiter des Maschinenbau-Werkes auf der Straße wieder. Das DEFA-Studio steuerte noch mal 1.600 zur Statistik bei, die 120 Arbeitslosen des Datenverarbeitungszentrums fielen da schon gar nicht mehr ins Gewicht. Die Mühlenwerke wurden geschlossen, der Schlachthof verödete, die Obstplantagen nördlich der Stadt verwilderten. Bei unseren Eltern kehrte Ernüchterung ein, die sich bald in ernste Sauertöpferei verwandelte. 1989 waren sie auf die Straßen gegangen, um für mehr Freiheit zu demonstrieren, und hatten dann später die Parteien gewählt, die »Keine sozialistischen Experimente mehr!« versprachen, sondern das Schlaraffenland der D-Mark. Und nun hockten sie zu Hause oder bei ihren Umschulungen und schauten aus der Wäsche wie Goethes Zauberlehrling auf die Geister, die er gerufen hatte.

Wir flohen vor dem miesen Karma unserer Elternhäuser auf die Straße. Der Verfall, die Verwilderung zogen uns an, ohne dass wir einen genauen Grund dafür hätten nennen können.

Wir waren nicht die Einzigen, die ein Faible für das Morbide hatten. In der Gegend liefen Gestalten rum, die sich mit Vorliebe dunkel kleideten, die Haare schwarz färbten, die Gesichter kalkweiß schminkten, düstere Musik hörten, die Nächte auf Friedhöfen verbrachten und vermutlich tagsüber zu Hause zum Schlafen kopfüber in ihren Kleiderschränken hingen. Wenn sie überhaupt mal schliefen, was für uns nicht so ganz geklärt war. Wir nannten sie Grufties, zeigten mit dem Finger auf sie und lachten sie aus, aber unser Lachen hatte dabei etwas Gekünsteltes. Es war, als würdest du Witze über den offenen Hosenstall deines Lehrers machen und dabei den Soßenfleck auf der eigenen Bluse nicht mitbekommen. Allzu fremd waren wir uns nicht.

Allerdings brauchte ich keine Friedhöfe und Grüfte. Mich zogen verlassene Häuser und stillgelegte Fabriken an. Für unsere Eltern hatte es nichts Wichtigeres gegeben als ihren Arbeitsplatz, ihre Aufgabe. Das Recht auf einen Arbeitsplatz hatte in der Verfassung des Landes gestanden, das es nicht mehr gab. Nun streiften wir durch die Ruinen von Atlantis, die uns daran erinnerten, dass nichts Bestand hatte von dem, was wir taten und was wir schufen. Nichts würde von uns bleiben, nichts von unseren Werken, nichts von den guten, nichts von den schlechten Taten. Der Anblick des Verfalls um uns herum befreite mich von der Last jeglicher Anforderungen.

Die ehemaligen Bewohner hatten nicht immer alles mitnehmen können oder wollen, und so gab es in den verlassenen Häusern eigentlich immer etwas zu entdecken: ein zerschlissenes Plüschsofa vor einem zerbrochenen Fenster, durch das breite Bahnen von Sonnenlicht fielen, kaputtes Spielzeug, Schallplatten, Bücher, ein Röhrenradio und ganze Stapel alter Hefte (MOSAIK, FRÖSI und natürlich DAS MAGAZIN mit den Nacktbildern). Unser gruseligster Fund waren verrostete Zangen im OP-Saal der alten Lungenklinik, und einmal warf Gonzo aus Übermut einen Wandschrank um, hinter dem sich ein Hohlraum auftat, in dem wir einen Stapel alter Fotoplatten fanden – richtige Fotoplatten! Sie mussten seit Urzeiten da gelegen haben. Wahrscheinlich hatten nicht mal die vorherigen Bewohner von dem Versteck gewusst.

All das gehörte uns. Wir hatten ein Anrecht darauf, so wie die Einheimischen, die die Gräber der Pharaonen plünderten.

Also konnten wir das Zeug auch verkaufen.

Gonzo kam zum Thema. »Übrigens, von den Piepen, die wir vom Alberich für die Bronzesachen gekriegt haben, ist auch nichts mehr übrig.«

»Hättest deinen Anteil eben nicht für die Ticke ausgeben sollen«, zog ich ihn auf.

»Mensch, das war ’ne gute Uhr!«, verteidigte er sich. »Eine richtig gute, antike Taschenuhr war das! So eine wollt’ ich schon immer haben.«

»Ja genau«, stichelte ich. »So antik, dass sie nach nicht mal zwei Wochen den Geist aufgegeben hat.«

»Wozu brauchst du auch so eine?«, wollte Chris wissen.

»Weil sie mich in der Werkstatt keine Armbanduhr tragen lassen«, knurrte Gonzo. »Arbeitsschutz und so. Fast alle dort stecken ihre Uhr in die Hosentasche oder schnallen sie unter der Kombi an den Gürtel. Aber eine Taschenuhr – so ’n Ding mit Kette und Karabinerhaken, das hat mal richtig Klasse!«

»Der Händler hat dich böse verarscht, glaub mir«, sagte ich. »Wenn das Ding antik war, fress’ ich ’n Besen. Nichts ist so peinlich wie ein Dieb, der sich bescheißen lässt.«

»Der Alberich is’n Geizhals!«, meckerte Gonzo weiter, vermutlich um von seiner zweifelhaften Erwerbung abzulenken. »Uns lächerliche zehn Prozent für die Kupferplatten und die Figur zu geben!«

»Was willste machen? So ist nun mal der Preis.«

»Mensch, das waren richtige Kunstwerke!«

»Die Dinger waren heißer als die Brennstäbe von Tschernobyl. So wär’ er die nie losgeworden. Er kriegt sie halt bloß zum Rohstoffpreis abgesetzt, und der …«

»Lass stecken, ich weiß selbst, wie hoch der ist! Aber wir haben uns fast ’n Bruch gehoben, um das Zeug vom Grab zu kriegen! Und dann noch der Köter vom Friedhofswächter! Wir hätten wenigstens einen Gefahrenzuschlag verlangen sollen.«

»Dafür hält der Alberich sein Maul, wenn es drauf ankommt. Kennst du einen anderen? Also ich nicht.«

»Jedenfalls ist unser letztes Ding schon ’ne Weile her«, murrte Gonzo. »Ich bin völlig abgebrannt.«

»Ich auch«, gab Chris zu.

»Sinon wird sich schon was einfallen lassen«, sagte ich.

»Sinon – Sinon«, wiederholte Gonzo gehässig. »Wenn er mal nur …«

Was er sonst noch sagen wollte, haben wir nie erfahren. Eine verrostete Konservendose sauste an mir vorbei, prallte an die gegenüberliegende Wand und schepperte misstönend über den Boden. Ich fuhr zusammen und verschüttete Benzin aus dem Vergaser, den ich immer noch in der Hand hielt.

»Ich wurde gerufen?«

Sinon! Wer sollte es auch sonst sein? Dieser theatralische Auftritt sah ihm ähnlich. Wer weiß, wie lange er schon dagestanden und uns belauscht hatte.

»Abgebrannt seid ihr? Also wenn das so ist … Ich schlage vor, wir nehmen den Drei-Kugel-Shop aus.«

Es war still, bis auf die Geräusche des Wassers, das durch die Fallrohre strömte und irgendwo in den Tiefen der Halle in langen Schnüren aus dem kaputten Dach perlte.

2. Kapitel

Wenn man eine Gemeinschaft mit einem Gemälde vergleicht, muss es dann nicht Dunkel und Halbdunkel geben? Was würde an dem Tag geschehen, an dem es auf Erden nur noch anständige Menschen gäbe? Man würde sich zu Tode langweilen; es würde nichts Reizvolles mehr geben: Man müsste an dem Tage, da Sicherheitsschlösser nicht mehr nötig wären, Trauer anlegen.

– CODE DES GENS HONNÊTES

DER DREI-KUGEL-SHOP war das Dachbodenwunderland aller halbwüchsigen Herumtreiber der Stadt. Da gab es Gemälde, altertümliche Schrankkoffer, ein Grammophon mit einem Trichter, groß wie eine Trompetenblume, einen Taucherhelm aus poliertem Kupfer, Vitrinen mit filigranen Glasfiguren, dunkel angelaufenen Schmuck, Uhren, die Melodien spielten, wenn man den Deckel aufklappte, Silberbesteck, Puppen mit Porzellanköpfen, Medaillons mit bleichen Frauengesichtern, alte Münzen und aufgeklappte Briefmarkenalben. Und Karten gab es da, jede Menge Atlanten, Land- und Seekarten, an denen sich unsere Fantasie entzündete.

Der Gralshüter all dieser Schätze war ein Exemplar jener Gattung, für die man die Bezeichnung Graue Maus erfunden hat. Nachlässig gekleidet bis hin zur Schlampigkeit, schlurfender Gang, linkische Bewegungen – es war nicht zu erkennen, dass der Antiquitätenhändler Daniel Kalmus zu den Wohlhabenden der Stadt zählte. Aber genau so war’s. Ihm gehörte nicht nur der Antik-Laden, sondern auch ein Wohnhaus in bester Lage, ein Motorboot und dazu ein am See gelegenes Grundstück mit Bungalow im Speckgürtel der Stadt.

Letzteres war seit einem Jahr der Zankapfel zwischen ihm und der Gemeinde. Die Parzelle hatte früher zum Sperrgebiet gehört, auf dem Wasser hatten Schnellboote patrouilliert und Grenzer waren am Ufer auf- und abgegangen. Nach der Wende waren meine Freundin Caro und ich oft hierher gefahren, um herumzuschlendern, zu quatschen, zu lesen und zu schwimmen.

Es war mir noch nie leicht gefallen, Freunde zu finden. Vielleicht, weil ich die Messlatte für Freundschaften hoch anlege, aber auch, weil unsere Familie, als ich klein war, oft umzog und ich früh lernte, dass tiefe Freundschaften nicht von Dauer sind. Meine Eltern waren Arbeitsnomaden: Von der Schule zum Internat, dann zum Studentenwohnheim und von da an zu den verschiedenen Arbeitsplätzen. Freunde kamen und gingen in meinem Leben. Sie waren irgendwann da, ich gewöhnte mich an ihre Anwesenheit, ihre Marotten, begann sie zu mögen – und plötzlich brachen unsere Eltern ihre Zelte ab, wechselten das Revier und die Freunde blieben hinter mir zurück wie das Haus, die Schule und die Straßen, in denen ich gespielt hatte. Später lief es anders herum: Ich blieb, aber meine Freunde gingen einer nach dem anderen. Am härtesten hatte es mich getroffen, als Caro weggezogen war.

Caro hatte kupferfarbene Haare, eine Haut, die aus Porzellan gemacht schien und die hohen Wangenknochen und leicht schräg stehenden Augen einer Siamkatze. Und Sommersprossen hatte sie, eine Menge davon. Irische Dorfschönheiten aus den Schmökern von Alfred Tennyson und Sir Walter Scott mussten so ausgesehen haben.

Als wir an einem Abend nach der Schule an den See zum Schwimmen kamen, passierte es. Wir wussten uns unbeobachtet, waren voller Neugier und konnten unsere Hände nicht voneinander lassen. Das Teilen der Lust hatte etwas Befreiendes. Trotzdem wiederholten wir die Sache nicht, und obwohl wir sonst über alles redeten, Sex eingeschlossen (oder vielmehr unsere Vorstellungen davon), verloren wir nie ein Wort über das, was wir getan hatten. Ich tat es als Spielerei ab, hielt es für einen Ausrutscher, etwas Unwiederholbares.

Damals kannte ich mich noch nicht so gut.

Bald war es aus mit den einsamen Stunden am Wasser. Die Zahl der Spaziergänger, Radfahrer und Jogger nahm immer mehr zu, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass Dank der Grenznähe dort eine fast unberührte Natur erhalten geblieben war. Wildenten nisteten im Schilf. Eine Rohrdommel gab ein Konzert. Fischreiher standen auf vermoderten, halb versunkenen Stegen. Raubvögel, deren Namen ich nicht mal kannte, zogen hoch oben ihre Kreise, verharrten flatternd, wenn sie etwas erspäht hatten, stürzten herab und stiegen mit ihrer Beute wieder auf.

Und all das, dieses kleine Stückchen Paradies, wollte der neue Besitzer des Grundstückes ganz für sich allein. Als die Gemeinde den gesamten Uferweg befestigen und damit offiziell für die Allgemeinheit begehbar machen wollte, legte Kalmus sein Veto ein. Es stellte sich nämlich heraus, dass zu seinem Besitz auch der schmale Uferstreifen mit dem ehemaligen Postenweg gehörte. Schilder verkündeten, dass der Pfad Privatbesitz wäre. Zutritt streng verboten!

Darauf gepfiffen, sagten wir uns. Natürlich hätten wir auch woanders hingehen können. Aber uns ging es ums Prinzip. Vier Jahrzehnte Staatsgrenze – und jetzt Privatgrenze? Nein, vielen Dank. Freie Fahrt für freie Bürger! Was sollte uns auch schon großartig passieren? Mit Sicherheit würde da kein Grenzer mehr patrouillieren und uns beim Schwimmen mit seiner Kalaschnikow ins Visier nehmen.

Es blieb nicht bei Verbotsschildern. Eines Tages standen wir mit unseren Badesachen vor einer Rolle Stacheldraht, die den Uferweg vom Schilfgürtel bis zum Hang in seiner gesamten Breite absperrte.

Sinon zitierte Thor Heyerdahl, der den Spruch vermutlich von Richard Burton geklaut hatte: »Grenzen? Ich hab nie welche gesehen. Aber ich habe gehört, dass sie in den Köpfen einiger Menschen existieren sollen.«

Wir hatten bald eine größere Lücke zwischen Stacheldraht und Boden ausgemacht. Sinon machte den Anfang. Er kam ohne einen Kratzer auf der anderen Seite an, richtete sich auf, klopfte den Staub von seiner Kleidung, nahm sein Bündel auf und schlenderte, ein Lied pfeifend, den Uferweg entlang, bis er hinter der nächsten Biegung verschwand.

Da ich etwas größer und obenrum auch mehr gepolstert war als er, dauerte der Limbo bei mir entsprechend länger. Ich war nicht mal annähernd bis zur Hälfte durch, als ich aus irgendeinem Grund den Kopf hob. Vielleicht hatte ich etwas gehört, vielleicht war es Zufall, ich weiß es heute nicht mehr.

Vor mir schoss Sinon mit annähernd Schallgeschwindigkeit um die Kurve, als ob ihm der Hintern brennen würde. Er wartete gar nicht erst ab, bis ich ihm Platz machte, sondern sprang dort, wo er war, ins Wasser und watete durch den Schilfgürtel, eine Bugwelle wie ein Dampfer vor sich hertreibend. Hinter ihm schoss ein schwarzes Ungeheuer um die Kurve – so rasant, dass es durch die Fliehkräfte aus der Bahn geworfen wurde, über den Kiesweg schlitterte und im Schilf gelandet wäre, wenn nicht die an einem Kabel hängende Laufleine es daran gehindert hätte.

Ich krabbelte wie ein Käfer unter dem Stacheldrahtverhau hervor. Neben mir stieg Sinon aus dem Wasser, nass bis auf die Knochen und schimpfend wie ein Rohrspatz. Der Hund schien zufrieden damit zu sein, dass die Bedrohung vom Grundstück abgewendet war, denn er zeigte weiter kein aggressives Verhalten. Er blaffte nur ein paar Mal verächtlich in unsere Richtung, machte ein paar tapsige Schritte vor und zurück und faltete sich dann schließlich am Pfahl auf dem Boden zusammen.

Stacheldraht, Warnschilder und ein Wachhund? Man hätte meinen können, die alte Grenze wäre über Nacht auferstanden. Dementsprechend lauteten auch die erbosten Leserbriefe, die das Käseblättchen unserer Stadt in den Tagen danach veröffentlichte. »Gutsherrenmentalität« war noch der harmloseste Vorwurf. Kalmus zog den Hund wieder ab, aber auch das brachte ihm keine Sympathiepunkte mehr ein. Eine Woche darauf versperrte anstelle des Stacheldrahtes ein normaler Maschendrahtzaun den Uferweg, hinter dem eine Rosenhecke als Blickschutz diente.

Das war im letzten Sommer gewesen. Seitdem brannte Sinon auf Rache. Ich konnte ihn verstehen. Jeder von uns kannte ähnliche Geschichten. Überall im Osten erhoben Westdeutsche damals Anspruch auf Häuser und Grundstücke, die ihnen, ihren Eltern oder Großeltern mal gehört hatten. Allein in Brandenburg lagen rund 300.000 Anträge auf Rückübertragung zur Bearbeitung bei den Gerichten. In Teltow betraf es mehr als jedes dritte Haus, in Zeuthen fast jedes zweite, und in Kleinmachnow wurden knapp siebzig Prozent der Wohnungen von Westlern eingefordert. Wir fühlten uns wie in einem Indianerfilm der DEFA. Da hatten unsere Stammesbrüder nun gespart und gewerkelt und jede freie Minute in ihr Eigenheim gesteckt, und dann kamen all diese Fremden aus dem Sonnenuntergang geritten, wedelten mit Papieren und verkündeten: »Meins!« An den Stammtischen kochte die geschundene Indianerseele.

Dass Kalmus gar nicht aus dem Westen kam und das Grundstück Niemandsland gewesen war, übersahen wir dabei geflissentlich. Der gesperrte Uferweg war ein öffentlicher Weg, er gehörte allen, daran hielten wir störrisch fest. Kalmus verdiente einen Denkzettel. Wann immer wir zusammenhockten, holte sich Sinon im metaphorischen Sinne einen runter bei den verschiedenen Fantasien, was er Kalmus alles antun würde. Bisher war keine davon übers Planungsstadium hinausgekommen …

»Ich schlage vor, wir nehmen den Drei-Kugel-Shop aus.«

»Definiere ausnehmen«, hakte Gonzo vorsichtig nach.

Das war auch so ein Modespruch damals, der aus dem Mathematik-Unterricht der oberen Klassen Eingang in den Schulhofjargon gefunden hatte. Statt zu fragen: Wie meinst du das? Was meinst du damit genau?, forderte man den Betreffenden auf: Definiere das-und-das. Selbst jeder pickelige Sechstklässler, der sich beim Einmaleins hoffnungslos verhaspelte, drückte sich geschwollen wie ein Professor aus.

Sinon definierte, langsam, in drei klar voneinander getrennten Worten: »Wir. Steigen. Ein.«

Wir sahen uns an. Gonzo fuhr sich mit der Hand durch die Haare und verzog das Gesicht, als würden ihn Kopfschmerzen plagen. »Ach, du ahnst es nicht …«

»Hab dich nicht so!«, knurrte Sinon. »Sonst konnte es dir nie verrückt genug sein.« Er hob die Stimme in einer hämischen Parodie von Gonzos Tonfall: »Oh Sinon, mir ist langweilig. Sinon, hilf mir, ich bin pleite … Immer soll ich mir was ausdenken«, fuhr er mit seiner natürlichen Stimme fort. »Du plärrst wie ein Kleinkind, anstatt mal was Eigenes auf die Beine zu stellen.«

»Das ist Einbruch!«

»Du meinst Diebstahl. Das war es auf dem Friedhof auch.«

»Da waren sie aber auch alle tot. Die stehen nicht plötzlich mit der erhobenen Keule hinter der Tür und atmen schwer.«

»Du vergisst den Wächter mit seinem Köter.«

»Der kam auch erst in der zweiten Nacht, als wir den größten Teil schon verstaut hatten und bloß noch die Plaketten holen wollten.«

»Hör auf zu stänkern!«, fuhr ihn Sinon an. »Wenn es dir nicht passt, was wir auf die Beine stellen, dann geh nach Hause und penn dort weiter. Schrott aus den Fabriken holen und Bronze vom Friedhof – dabei macht ihr mit! Aber wenn’s um was Größeres geht, kneift ihr! Bloß nichts riskieren! Mensch, was seid ihr bloß für Pfeifen!«

Von Gonzo kam nur eine undeutliche Erwiderung.

Chris schnaufte belustigt durch die Nase. »Warum nicht. Ich bin völlig abgebrannt. Nicht mal für ’ne Farbdose reicht es noch. Na, und Kalmus ist schon längst fällig, darüber waren wir uns doch einig.«

»Da ging es aber noch darum, ihm die Reifen platt zu stechen oder Stinkbomben in den Laden zu schmeißen«, murrte Gonzo.

»Ja, sehr originell, wirklich!«, höhnte Sinon. »Schulhofstreiche!« Er schüttelte den Kopf. »Einen wie den trifft man nur an seiner Brieftasche. Dort tut es denen weh. – Bist du dabei oder nicht, Gonzo? Wenn nicht, verpiss dich und lass die Erwachsenen die Einzelheiten bequatschen.«

Gonzo winkte mürrisch ab. »Reg dich nicht auf, Chef. Ich bin dabei.«

»Boi, was ist mit dir? Kann ich auf dich zählen?«

Ich zögerte einen Moment, einen winzigen nur. »Haben wir einen Plan?«, fragte ich – eigentlich nur pro forma und um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, denn mir war natürlich klar, dass Sinon genau den hatte.

Ich war lange nicht so nachtragend wie mein Bruder, trotzdem hatte ich bei Sinons Rachefantasien bisher immer munter mitgespielt und die Diskussion befeuert. Wie das halt so ist, wenn die Gruppendynamik das Ruder übernimmt oder wenn man selbst keine wirklichen Gegenargumente hat. Jetzt stellte ich fest, dass es schwer war, nach den vielen kleinen Ja das große, entscheidende Nein herauszubringen. Dabei war ich in unserer Clique eigentlich immer diejenige gewesen, deren Meinung nach der von Sinon am meisten Gewicht zukam, und meine Ansicht war keineswegs immer im Einklang mit der meines Bruders gewesen. Das hatte in der Vergangenheit häufiger zu Auseinandersetzungen in der Clique geführt. Doch im letzten Sommer waren wir noch zu siebt gewesen. Jetzt waren wir vier. Vielleicht hielt ich mich deshalb in letzter Zeit etwas mehr zurück und überließ Sinon das Feld. Ich brauchte die Stabilität unserer Gruppe, ihren Halt.

Allerdings war ich bei aller Freundschaft auch nicht bereit, mich Hals über Kopf in jedes riskante Unternehmen zu werfen, das Sinons Hirn ausbrütete. Mit bloßem Trotz kam ich nicht weiter. Hier war Köpfchen gefragt.

»Wie willst du in den Laden reinkommen?«, erkundigte ich mich. »Die Vordertür kannst du gleich abhaken; die ist verrammelt und verriegelt. Und das Mephisto ist auch ein paar Meter weiter. Da ist Tag und Nacht Betrieb wie auf ’m Rummelplatz. Das fällt auf, wenn da ein paar dumme Gesichter minutenlang an der Tür stehen und dran rumschrauben.«

»Hab ich gesagt, dass wir durch die Vordertür kommen? Wir kommen über den Nachbarhof und steigen durch den Keller ein.«

»Und wie kommen wir auf den Nachbarhof? Auf ’nem fliegenden Teppich?«

Sinon winkte ab. »Das Hoftor ist ’n Witz! Wir müssen nur halbwegs leise sein, wenn wir uns im Laden bewegen. Die Mauern sind zwar dick – Gott schütze den märkischen Backstein! –, aber der Alte pennt in der Wohnung direkt über dem Laden.«

»Hast du denn überhaupt einen Abnehmer für das Zeug – den Schmuck, das Porzellan und den ganzen Kram?«

»Wir nehmen nur Bares«, sagte Sinon. »Darauf wollte ich noch kommen, wenn ihr mich mal ausreden lassen würdet. Hinter dem Tresen ist nämlich ein hübscher kleiner Tresor.«

»Und den knacken wir natürlich einfach so!«, sagte ich spöttisch. »Nehmen wir ein Schweißgerät oder Dynamit? Oder doch lieber das Stethoskop?«

»Wir brauchen bloß Wasser. – Tja, da staunt ihr wie die Kuh, wenn’s donnert, was?« Sinon weidete sich an unseren verblüfften Gesichtern. »Hättet ihr mal im Physikunterricht besser aufgepasst! Fürs Leben lernen wir, haben sie in der Schule immer gesagt.«

»Also du musst uns schon …«

»Kalmus steht nicht immer selbst hinterm Tresen, das wissen wir. Er hat ab und zu ’ne Aushilfe da, die den Laden schmeißt, wenn er Urlaub macht oder auf irgendwelchen Auktionen unterwegs ist. Im letzten Jahr war das Jacky. Sie sagt, bei Ladenschluss musste sie die Tageseinnahmen und Quittungen immer in den Tresor schieben. Und zwar durch eine Art Briefschlitz.«

»Ich dachte, Jacky und du seid nicht mehr zusammen«, hakte ich neugierig nach. Jacqueline war bis zum vergangenen Jahr fast täglich in unserer Wohnung ein- und ausgegangen. Es hatte eine Zeit lang ganz ernsthaft ausgesehen, bis Sinon – für mich völlig überraschend – wieder ohne sie unterwegs war.

»Sind wir auch nicht«, winkte Sinon ab. »Aber deshalb können wir uns doch wohl noch unterhalten.«

»Du meinst, du horchst sie aus«, stellte ich richtig.

»Wer bist du? Meine Mutter?«

Ich öffnete den Mund für eine Erwiderung. Ich hatte Jacky gemocht. Zwar war ich nicht die Freundin, mit der sie sich über solche Dinge unterhalten hätte, aber für mich stand auch so fest, dass die Trennung nicht ohne Wut und Enttäuschung abgegangen sein konnte.