Zeit der Dunkelheit - Mark Stichler - E-Book

Zeit der Dunkelheit E-Book

Mark Stichler

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Beschreibung

Eine Stadt zwischen Aufklärung, Antisemitismus und kriminellen Machenschaften Um 1900: Das Leben pulsiert in der Metropole Frankfurt, in der sich Simon Mandelbaum nach den verhängnisvollen Ereignissen in Waldbrügg niedergelassen hat. Gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Gottfried Bührer liefert er Rheinwein nach Paris, um von dort Champagner, Bordeaux und Burgunder zu importieren. Simon reist viel und gewöhnt sich an seinen teuren Lebensstil, bis er plötzlich ins Fadenkreuz polizeilicher Ermittlungen rund um Saccharin gerät … Von den Entwicklungen in Frankfurt bekommt Hans Escher nichts mit. Nach dem Freitod seines Bruders ist er, der Pflicht folgend, zum trauernden Vater zurückgekehrt. Er muss nun machtlos mit ansehen, wie Dr. Strausser, der Verleger der "Neuen Waldbrügger Zeitung", sein Blatt in eine zunehmend antisemitische Richtung steuert und damit großen Anklang findet. Gerade als Hans den Entschluss fasst, seinen Vater zu verlassen, um die bröckelnde Beziehung zu seiner Verlobten Ava zu retten, erleidet dieser einen Schlaganfall … Eine Zeitschrift wird gegründet, Liebe entfacht und das neue Jahrhundert wird begeistert begrüßt. Wohin wird die Reise für alle gehen?

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Mark Stichler

Zeit der Dunkelheit

Historischer Roman

 

Zum Buch

Eine Stadt zwischen Aufklärung, Antisemitismus und kriminellen Machenschaften

Um 1900: Das Leben pulsiert in der Metropole Frankfurt, in der sich Simon Mandelbaum nach den verhängnisvollen Ereignissen in Waldbrügg niedergelassen hat. Gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Gottfried Bührer liefert er Rheinwein nach Paris, um von dort Champagner, Bordeaux und Burgunder zu importieren. Simon reist viel und gewöhnt sich an seinen teuren Lebensstil, bis er plötzlich ins Fadenkreuz polizeilicher Ermittlungen rund um Saccharin gerät …

Von den Entwicklungen in Frankfurt bekommt Hans Escher nichts mit. Nach dem Freitod seines Bruders ist er, der Pflicht folgend, zum trauernden Vater zurückgekehrt. Er muss nun machtlos mit ansehen, wie Dr. Strausser, der Verleger der „Neuen Waldbrügger Zeitung“, sein Blatt in eine zunehmend antisemitische Richtung steuert und damit großen Anklang findet. Gerade als Hans den Entschluss fasst, seinen Vater zu verlassen, um die bröckelnde Beziehung zu seiner Verlobten Ava zu retten, erleidet dieser einen Schlaganfall …

Eine Zeitschrift wird gegründet, Liebe entfacht und das neue Jahrhundert wird begeistert begrüßt. Wohin wird die Reise für alle gehen?

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

 

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München).

 

Copyright © 2021 by Maximum Verlags GmbH

Hauptstraße 33

27299 Langwedel

www.maximum-verlag.de

 

1. Auflage 2021

 

Lektorat: Dr. Rainer Schöttle

Korrektorat: Herwig Frenzel

Satz/Layout: Alin Mattfeldt

Umschlaggestaltung: Alin Mattfeldt

Umschlagmotiv: © d1sk/ Shutterstock

E-Book: Mirjam Hecht

 

Druck: Booksfactory

Made in Germany

ISBN Buch 978-3-948346-33-1

ISBN EPUB 978-3-948346-34-8

 

 

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Über den Autor Mark Stichler

MAXIMUM: Der erste Teil

MAXIMUM: Die Trilogie um den Dreißigjährigen Krieg

MAXIMUM: Weitere historische Romane

Kapitel 1

Mayburg trat aus einer schmalen Seitengasse heraus auf den steinernen, befestigten Platz an den Docks. Die kurzen, glitzernden Wellen des Flusses reflektierten das Licht der tief stehenden Nachmittagssonne wie bewegliche Spiegel und blendeten ihn. Er hielt inne, blinzelte in den hellen Sonnenschein und nahm seinen Hut ab. Um seine Augen zu schützen, hielt er ihn schräg vor sich und schmunzelte. Er musste den Eindruck einer zwielichtigen Gestalt aus einer Operette erwecken, wie er so dastand, in seinem dunklen Mantel und dem vors Gesicht gehaltenen Hut. Doch niemand achtete auch nur im Mindesten auf ihn. Rings herum an den Kais und Verladestationen der verschiedenen Kontore und Lagerhallen herrschte reges Treiben. Nicht weit von ihm verluden Arbeiter und Matrosen große Fässer mit einem Kran. Andere trugen fest verschnürte Ballen über eine Planke auf den Kai. Ab und zu trat ein Bote aus der Tür eines Schuppens oder Kontors – Mayburg konnte den Unterschied manchmal nicht genau erkennen -, eilte den Kai entlang und verschwand in einer der Gassen ähnlich der, aus der er selbst getreten war. Weiter hinten, etwas flussabwärts, standen ein paar Männer in Gehröcken beieinander, die heftig gestikulierten und über etwas zu verhandeln schienen. Sie waren zu weit entfernt von ihm, als dass er hätte verstehen können, um was es ging.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses lag das Kohlendock schon beinahe im Schatten. Auch dort waren undeutlich Gestalten zu erkennen, die zwischen einem langen Konvoi aus Lastenkähnen und den an den Docks liegenden Lagerschuppen hin- und hergingen, schwer bepackt mit Säcken und Kisten.

Mayburg gefiel das geschäftige Treiben an den Kais. Er hatte es nicht eilig, und nachdem seine Augen sich an das helle Licht gewöhnt hatten, stützte er sich auf seinen Spazierstock und sah einigen Matrosen zu, die auf einem Frachtschiff letzte Vorbereitungen zum Ablegen trafen. An Bord wurden die letzten Fässer vertäut, an Land machten sich Helfer von den Kontoren bereit, die Taue loszuwerfen, die um dicke, eiserne Poller lagen. Aus dem Schornstein drang schwarzer Qualm und nach einem Signal aus dem Steuerhaus warfen die Helfer die Taue los. Routiniert holten die Matrosen sie ein, während der Steuermann das Schiff zügig durch die glitzernden Wellen an anderen, kleineren Kähnen vorbei auf die Fahrrinne in der Mitte des Flusses zusteuerte. Es dampfte flussabwärts davon, am Bug brachen sich Wellen und Licht.

Als es sich entfernt hatte und gegen die Nachmittagssonne nur noch als schwarzer Punkt erkennbar war, nahm Mayburg seinen Stock mit einem energischen Schwung in die Linke, wanderte die Reihe der Lager und Kontore entlang und las die neben den Türen angebrachten Schilder. Er suchte nach einem bestimmten Namen. Doch nach einer gewissen Zeit wurde er zunehmend ungeduldig. Auch nach längerer Suche war er nicht fündig geworden. Schließlich packte er einen der Botenjungen am Arm, der mit einem Umschlag in der Hand dicht an ihm vorbeiflitzen wollte.

„Moment mal“, sagte er. Der Junge war ein dünnes Bürschchen, sein Arm kam ihm vor wie ein dürrer Ast.

Der abrupte Stopp hob den Jungen fast von den Füßen. Er fing sich gerade noch, hielt seine Mütze auf dem Kopf fest und blickte Mayburg empört an.

„Hey“, rief er. „Was soll denn das? Lassen Sie mich los. Ich hab’s eilig.“

Mayburg schmunzelte. Der Ton dieser Jungen war überall gleich, ob in den Straßen Berlins oder am Hafen von Frankfurt. Ob sie Zeitungen austrugen, Bier holten oder die Post für die hiesigen Geschäftsleute besorgten …

„Ich suche das Kontor von Bührer und Mandelbaum“, sagte er, ohne auf die Proteste zu achten. „Weißt du, wo das ist?“

Der Junge sah sich kurz um. „Klar weiß ich das“, sagte er. „Ich arbeite hin und wieder für sie.“

„Zeigst du mir den Weg?“

Der Junge grinste kurz. „Hm“, machte er. „Ich hab hier einen eiligen Brief und bekomme ordentlich Ärger, wenn der nicht sofort zugestellt wird. Er ist …“

Mayburg ließ den Arm des Boten los und hob beschwichtigend die Hand.

„Bring mich hin“, sagte er. „So weit kann es nicht sein.“

„Möglich.“ Der Junge verzog keine Miene. „Aber ich muss weiter. Wie gesagt, ich bekomme jede Menge Ärger, wenn ich …“

Mayburg kramte in der Tasche seiner Weste und brachte ein Geldstück hervor.

„In Ordnung.“ Der Junge zog ihn am Ärmel seines Mantels. „Kommen Sie.“

Sie gingen kaum hundert Meter, als er vor einer unscheinbaren Tür stehen blieb. Es war einer von mehreren Eingängen in einem lang gestreckten, zweigeschossigen Lagerhaus mit wenigen hohen, schmalen Fenstern. Handelshaus Bührer und Mandelbaum war auf einer schlichten grauen Steintafel am Eingang zu lesen.

„Hm“, machte Mayburg unzufrieden. Warum hatte er das Schild vorhin nicht entdeckt? Er zuckte mit den Schultern und warf dem Jungen das Geldstück zu, der es geschickt auffing und sofort losrannte. Doch dann drehte er sich noch einmal um und rief: „Danke“, bevor er weiterlief. Mayburg grinste. Sie waren offenbar doch nicht alle gleich.

Am Eingang gab es weder eine Klingel noch einen Glockenzug, deshalb drückte Mayburg nach kurzem Zögern einfach die Klinke herunter und schob die Tür einen Spaltbreit auf, gerade groß genug, um hindurchzukommen. Er wollte eintreten, als von der anderen Seite energisch an der Tür gezogen wurde und ein anderer Botenjunge sich an ihm vorbeischob, ohne ihn weiter zu beachten.

„Warte mal“, rief Mayburg. „Wo finde ich deinen Chef?“

Der Junge musterte ihn kurz und nickte mit dem Kinn ins Innere des Kontors.

„Da hinten, am Tresen“, sagte er und machte sich aus dem Staub.

Mayburg nickte und betrat das Kontor. Drin herrschte ein dämmriges Halbdunkel. Staubflusen durchquerten die schmalen Streifen Sonnenlicht, die durch die hohen Fenster hereindrangen. An einer lang gestreckten Theke gegenüber der Fensterfront stand ein Mann und schrieb in ein dickes Buch, das vor ihm lag. Er trug keine Jacke, lediglich Hemd, Weste und Ärmelschoner. Die Weste hatte er aufgeknöpft. Neben ihm auf der Schreibplatte lagen noch einige Ordner und eine Brille. Er mochte ungefähr dreißig Jahre alt sein, etwa im selben Alter wie Mayburg. Doch seine hellen Haare wiesen schon schüttere Stellen auf, an den Schläfen wichen sie zurück und gaben deutliche Geheimratsecken frei. Hinter dem Mann zogen sich einige hohe Regale nach hinten in den Raum in ein unbestimmtes Dunkel hinein.

„Guten Tag“, sagte Mayburg und trat näher. „Herr Bührer?“

Der junge Mann sah auf und lächelte kurz und routinemäßig. Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem Buch zu. „Bührer ist heute nicht zu sprechen. Aber Sie können gern einen Termin vereinbaren“, meinte er. „Worum geht es denn?“

Mayburg zog die Augenbrauen hoch.

„Hm“, machte er, und ohne auf die Frage des Mannes einzugehen, fuhr er fort: „Für mich vielleicht doch? Ich komme extra deswegen aus Berlin.“ Er kramte in der Tasche seines Mantels und legte eine Karte auf den Tisch. „Es dauert wahrscheinlich nicht lange. Würden Sie ihm bitte ausrichten, dass ich ihn sprechen will?“

Der junge Mann hob wieder den Kopf. Er musterte Mayburg etwas eingehender, dann dessen Karte.

„Kommissar Mayburg“, murmelte er und schürzte die Lippen. „Ja, mal sehen …“ Wenn er überrascht über die Anwesenheit eines Kommissars aus der Hauptstadt war, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. „Der Chef … Herr Bührer“, fügte er hinzu, als sei ihm jetzt erst seine vorige Unhöflichkeit bewusst geworden, Bührer nur beim Nachnamen zu nennen. „Bitte warten Sie hier. Ich …“ Er nickte, hob Mayburgs Karte und wedelte damit durch die Luft. Dann verschwand er durch eine Seitentür.

Es dauerte nicht lange und der Kontorist kehrte zurück, um Mayburg in Bührers Büro zu führen. Genau genommen war es Bührers und Simon Mandelbaums Büro. So hatte es wenigstens den Anschein, denn in dem weitläufigen Raum im oberen Stockwerk des Kontors standen zwei große Schreibtische. An einem davon saß Bührer, auf dem anderen türmten sich Papiere, Bücher und Akten auf verschiedenen Stapeln, die zumindest auf den ersten Blick den Eindruck schierer Willkür vermittelten. Bührers Schreibtisch dagegen, aus einem schlichten, stabil wirkenden Holz mit dunkler Maserung, wirkte trotz der Akten, die auch darauf lagen, aufgeräumt. Mayburg hatte es eigentlich so erwartet, ohne Bührer vorher schon einmal begegnet zu sein. Es fiel ihm aber erst in dem Augenblick auf, in dem er das Bild vor Augen hatte.

Entlang der Wände zogen sich hohe Regale, zumeist mit Aktenordnern gefüllt. Weiter hinten im Raum, auf einem Absatz, zu dem zwei breite Stufen hinaufführten, befand sich eine Sitzecke, ausgestattet mit Sesseln und einem Couchtisch aus der Produktion der Mandelbaum’schen Möbelmanufaktur, die Simons Vater in ihrer Heimatstadt Waldbrügg gegründet hatte. Dank Jakob Mandelbaums Schwester Jella, die hier in Frankfurter Künstler- und Unternehmerkreisen verkehrte, waren die Mandelbaum‘schen Möbel seit langen Jahren über die Grenzen Waldbrüggs und sogar ganz Deutschlands hinaus bekannt und geschätzt. Ihr und ihrer Tochter Esther hatten die Mandelbaums es zu verdanken, dass sie hier in Frankfurt schnell Fuß gefasst hatten. Und ihr war auch die Bekanntschaft mit Gottfried Bührer zu verdanken, einem Geschäftsmann aus Mainz, der jetzt schon seit einigen Jahren Simons Kompagnon war und dessen Schwester Ava geheiratet hatte.

Bührer erhob sich und einen Augenblick standen die Männer einander gegenüber, zwischen sich den Schreibtisch, dessen ausladende Tischfläche ein ungezwungenes Händeschütteln verhinderte. Bührer beeilte sich, Mayburg um den Schreibtisch herum entgegenzukommen, gab ihm die Hand und bat ihn hinüber zu der Sitzecke.

„Nehmen Sie doch Platz“, sagte er und wies mit der Hand auf einen der Sessel.

Mayburg musterte ihn mit einem geschulten Blick. Bührer war nur wenig kleiner, aber etwas breiter und untersetzter als er selbst. Er schätzte ihn auf ungefähr 40 Jahre, aber er machte einen jugendlicheren Eindruck, obwohl seine braunen, kurzen Locken in der Stirn und an den Schläfen schon deutlich zurückwichen. Um den Mund und die Augen hatten sich einige Fältchen gebildet, die Mayburg aber weniger dem Alter als dem Lächeln zuschrieb, das auch jetzt auf seinem Gesicht lag. Es hatte nichts Aufgesetztes, Bührer schien einfach ein freundlicher Zeitgenosse zu sein. Der Umstand, dass ihn ein Kommissar aus Berlin aufsuchte, schien ihn auch nicht übermäßig zu beunruhigen. Der leicht nervöse, etwas hektische Eindruck, den er machte, war wohl eher Ausdruck einer allgemeinen Umtriebigkeit.

„Ja, Herr Mayburg“, sagte er, als sie beide saßen. „Was führt Sie zu mir?“ Bevor der Kommissar antworten konnte, hob Bührer die Hand und fügte hinzu: „Entschuldigen Sie … Möchten Sie vielleicht etwas trinken? Einen Kaffee? Tee? Ein Glas Cognac?“

Mayburg orderte eine Tasse Kaffee, ein Getränk, für das er im Lauf der letzten Jahre ein gewisses Faible entwickelt hatte. Das Zusammenspiel der gemahlenen Struktur, des leicht Bitteren, der Röstnoten und des dezent aufmunternden Effekts faszinierten ihn. Ebenso, wie leicht dieser Eindruck ins Enervierende umschlagen konnte, wenn man auch nur ein wenig zu viel davon zu sich genommen hatte. Die potenzierte Bitterkeit, die einen sofortigen Überdruss erzeugte, der nichtsdestotrotz schon wenig später wieder verflogen war. Typische Symptome einer Droge, dachte er, während Bührer sich erhob und Kaffee für sie beide bestellte.

„Ausgezeichnete Idee“, sagte er, als er ins Büro zurückkehrte. „Meine Frau sagt zwar immer, so spät noch Kaffee zu trinken sei nicht gut für einen gesunden Schlaf. Aber er regt an. Und ich kann mich nicht daran erinnern, je schlecht geschlafen zu haben.“

Mayburg nickte und freute sich an dem leichten Duft nach Bitterschokolade, der ihm in die Nase stieg, als ein Junge wenig später ein Tablett mit einer Kanne und zwei Tassen hereintrug.

„Nun, also“, meinte Bührer und hielt seine Nase über die Tasse, bevor er einen Schluck nahm. „In welcher Angelegenheit kann ich Ihnen helfen, Kommissar?“

Mayburg nahm ebenfalls einen Schluck.

„Gut“, stellte er zufrieden fest und fuhr fort: „Ja, das ist eine heikle Angelegenheit, in der ich unterwegs bin … Und die mich von Berlin nach Frankfurt geführt hat. Vielleicht ist es am besten, wenn ich mit offenen Karten spiele …“ Er unterbrach sich und winkte ab. „Was heißt ‚mit offenen Karten spielen‘? Wissen Sie, in meinem Beruf ist man gewohnt, bestimmte Informationen nur mit Bedacht weiterzugeben. Manchmal ist ein genaues Abwägen nötig, wem man welche Details mitteilt und wem nicht, sodass man irgendwann möglicherweise eine gewisse Paranoia entwickelt, wenn es darum geht, einfach offen mit jemandem zu sprechen, von dem man sich lediglich ein paar Informationen erhofft. Eine Art Berufskrankheit vielleicht. Krankhaftes Misstrauen …“ Mayburg lächelte.

Bührer betrachtete ihn beunruhigt und runzelte die Stirn.

„Keine Sorge“, beschwichtigte Mayburg ihn, bevor er etwas einwenden konnte. „Ich bin in erster Linie gekommen, um ein paar Informationen zu bekommen. Und ich bin tatsächlich mehr wegen Ihres Partners hier als Ihretwegen.“ Er machte eine Pause und nahm einen Schluck Kaffee. „Ich kenne Simon Mandelbaum seit einigen Jahren, deshalb kam mir die Idee, Sie beide wegen meiner Angelegenheiten aufzusuchen. Ist er nicht hier?“

Bührer schüttelte bedauernd den Kopf.

„Herr Mandelbaum befindet sich zurzeit auf Geschäftsreise in Frankreich“, sagte er. „Aber wir sind gleichberechtigte Partner, seit ich ihn sozusagen ins Boot geholt habe.“ Er überlegte einen Moment. „Das liegt jetzt schon Jahre zurück. Fünf, vielleicht sechs …“

„Sie handeln mit Wein?“, fragte Mayburg abrupt, ohne auf Bührers Überlegungen einzugehen.

„Unter anderem“, erwiderte Bührer. „Hauptsächlich, ja. Aber auch mit Kaffee und Tee.“

„Darf ich fragen, wie das abläuft? Ich bin auf diesem Gebiet ein absoluter Laie, müssen Sie wissen.“ Mayburg lächelte.

Bührer lächelte unverbindlich zurück.

„Das Kaffee- und Teegeschäft?“, fragte er.

„Wein“, gab Mayburg knapp zurück und zuckte mit den Schultern. „Alles …“

Bührer schürzte die Lippen und rutschte kurz etwas nervös auf seinem Sessel hin und her.

„Nun ja“, sagte er. „Ganz grob gesagt, verschiffen wir Wein aus dem Rheingau – hauptsächlich – nach Hamburg, Amsterdam, auch nach London … In die großen Städte im Norden. Von dort werden unsere Lieferungen von unseren jeweiligen Partnern an die Händler weiterverteilt.“

„Liefern Sie auch nach Berlin?“, fragte Mayburg.

„Auch nach Berlin“, bestätigte Bührer. „Ja.“ Er goss dem Kommissar noch einmal Kaffee nach. „Warum?“

„Und dann?“ Mayburg ging nicht auf Bührers Frage ein. Er nahm seine Tasse vom Tablett, das der Junge auf dem Couchtisch stehengelassen hatte.

„Und dann?“ Bührer zuckte ungehalten mit den Schultern. „Was meinen Sie?“ Er überlegte kurz. „Wir verschicken die Ware meist auf dem Schiffsweg, inzwischen immer öfter auch per Eisenbahn zu unseren Kunden. Je nachdem, welcher Transportweg sich besser eignet. Und auf dem Weg zurück bringen wir Ware nach Frankfurt, die hier wiederum umgeschlagen wird. Kaffee und Tee aus Amsterdam, Wein aus dem Burgund …“

„Das scheint mir hier ein idealer Umschlagplatz zu sein“, sagte Mayburg und nickte hinüber zu einem der hohen Fenster, die hinaus auf den Kai gingen. „Der Main direkt vor der Tür und seit ein paar Jahren der Bahnhof auch nicht weit weg …“

Bührer lächelte.

„Das stimmt“, sagte er. „Ich habe in Mainz mit dem Geschäft angefangen. Als Simon … Herr Mandelbaum eingestiegen ist, haben wir das Kontor aber relativ bald nach Frankfurt verlegt.“

Mayburg erhob sich und ging hinüber zum Fenster, um einen Blick hinunter auf den Kai zu werfen. Langsam brach die Dämmerung herein. Der Fluss lag bereits im Schatten, die kurzen Wellen zeichneten ein dunkles Relief. Am Kai auf dieser Uferseite war nicht mehr viel Betrieb. Die Arbeiter räumten noch ein paar Kisten und Fässer in eine Lagerhalle und schienen kurz davor zu sein, Feierabend zu machen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses lag immer noch der lange Konvoi von Lastkähnen. Über dem Kai hing ein rußiger, schwefelfarbener Nebel vom Qualm aus dem Kamin eines Dampfschiffs und vom Kohlenstaub der Fracht, der langsam und zäh auf den Fluss hinauswaberte. Mayburg konnte die Gestalten dort drüben nur schemenhaft erkennen. Aber die Arbeit schien dort ununterbrochen weiterzugehen.

„Gab es dafür einen besonderen Grund?“, fragte er und wandte sich wieder Bührer zu.

Bührer lächelte. Er erhob sich ebenfalls, um eine Lampe auf seinem Schreibtisch zu entzünden, die den Raum in ein warmes, gelbes Licht tauchte, ohne allzu viel Helligkeit zu spenden, sah man einmal von der Schreibtischfläche ab. Er setzte sich halb auf die Kante des Tischs.

„Mehrere Gründe“, meinte er. „Zum einen den von Ihnen genannten. Frankfurt ist in der Tat ein idealer Umschlagplatz, vor allem nach dem Bau des Bahnhofs und seit der Hafen ausgebaut wurde. Zum anderen wollte Ava Mandelbaum nur sehr ungern aus Frankfurt wegziehen. Ihr Vater, ihre Tante und ihre Cousine leben hier …“

Mayburg wandte sich Bührer zu und hob erstaunt die Augenbrauen.

„Und das ist relevant für Sie?“, fragte er.

„Das würde ich schon sagen.“ Bührer schmunzelte. „Das Wohlbefinden meiner Frau liegt mir sehr am Herzen.“

Mayburg trat vom Fenster weg und ging hinüber zum Schreibtisch.

„Oh“, machte er überrascht. „Ava Mandelbaum ist Ihre Frau?“

Bührer nickte.

„Seit knapp fünf Jahren.“

„Das wusste ich nicht.“ Es klang beinahe so, als wollte Mayburg sich dafür entschuldigen, seine Hausaufgaben in Bezug auf die Familie Mandelbaum oder das Handelshaus Bührer und Mandelbaum nicht ausreichend gemacht zu haben.

„Woher sollten Sie auch?“, fragte Bührer irritiert.

„Ich wusste nicht, dass Sie auch privat so eng mit der Familie Mandelbaum verbunden sind“, sagte Mayburg. Sie hatten sich wieder gesetzt, nachdem Bührer auch auf Simon Mandelbaums Tisch eine Lampe entzündet hatte, die etwas mehr Licht spendete als die auf seinem Schreibtisch. „Wissen Sie, ich bin hauptsächlich hierhergekommen, weil ich einige Fragen zum grenzüberschreitenden Import- und Exportgeschäft in Frankfurt habe. Da kam mir Simon Mandelbaum in den Sinn. Und ich glaube, ich bin Ihnen zumindest eine kurze Erklärung schuldig.“

Bührer hob die Augenbrauen und blickte Mayburg an, ohne etwas zu erwidern. Der Kommissar machte eine Pause und schien nachzudenken, wie er am besten anfangen sollte.

„Seit einigen Jahren existiert ein stetig wachsender, illegaler Markt für aus dem Ausland importiertes Saccharin“, sagte er schließlich. „Was einigermaßen harmlos als geringfügige Schmuggelei an der deutsch-französischen Grenze anfing, hat sich inzwischen leider zu einem organisierten Geschäft im großen Stil ausgewachsen. Wir – meine Behörde – versuchen inzwischen seit einigen Monaten die Wege nachzuverfolgen, über die bestimmte ‚Händler‘“, Mayburg setzte mit den Zeigefingern zwei imaginäre Anführungszeichen in die Luft, „ihre Ware ins Land bringen. Es gibt dafür verschiedene Methoden und uns ist aufgefallen, dass der Transport über die grenzüberschreitenden Wasserwege sehr beliebt zu sein scheint.“

Bührer war blass geworden. Aufmerksam blickte er Mayburg an.

„Ich bin Sonderermittler für solche grenzüberschreitenden Fälle“, fuhr Mayburg fort. „Wie ich dazu kam, kann ich Ihnen gar nicht so genau sagen. Jedenfalls habe ich vom Ministerium den Auftrag erhalten, diese Sache zu untersuchen, seit wir in Berlin einem Schmugglerring auf der Spur sind, der in großem Stil mit Saccharin zu handeln scheint und die Ware offenbar über verschiedene Kanäle bezieht. Das Ganze nimmt inzwischen Dimensionen an, die unsere Wirtschaft ernsthaft in Mitleidenschaft ziehen könnte, würden wir der Sache nicht bald und energisch einen Riegel vorschieben.“ Er blickte auf und Bührer sah ihn fragend an. „Sicher ist Ihnen klar, welche nicht nur wirtschaftliche, sondern auch gesellschaftliche Brisanz dieses Thema hat.“

Bührer zog unwillkürlich die Mundwinkel nach unten und hob die Schultern.

„Es tut mir leid“, sagte er überrumpelt. „Aber ich kann nicht sagen, dass ich …“

„Ach, woher sollten Sie das wissen?“ Mayburg winkte ab, als sei er gewohnt, seine eigene Aussage zu revidieren. „Sie handeln mit Wein. Mit Kaffee und Tee …“ Er seufzte. „Es gibt eine Gleichung, die sich auf soziale Spannungen vereinfacht fast immer anwenden lässt. Zucker als Süßungsmittel ist teuer und steht oftmals nur den privilegierten Klassen zur Verfügung. Saccharin ist vergleichsweise günstig und auch für die weniger wohlhabende Bevölkerung erschwinglich. Dementsprechend ist die Nachfrage hoch, die Produktion im Deutschen Reich allerdings sehr gering und streng kontrolliert. Voilà.“ Mayburg kehrte die Handflächen nach außen. „Der Anreiz für allerlei zwielichtige Geschäftemacher ist da, um den begehrten Stoff auf illegale Weise ins Land zu schaffen. Und das Ganze gewinnt auch noch rasant an politischer Relevanz.“

„Ich verstehe“, sagte Bührer leise und räusperte sich. „Aber mir ist immer noch nicht ganz klar, was ich … was wir da für Sie tun können.“

Mayburg lächelte verschmitzt.

„Sie betreiben grenzüberschreitenden Handel“, erwiderte er einfach. „Sie kennen sich aus mit den gängigen Routen. Ihre Vertriebswege sind sozusagen die gleichen oder zumindest denen der Schmuggler ähnlich. Sie kennen die bürokratischen Hürden, wissen Bescheid über Zollangelegenheiten, die Gepflogenheiten bei der Warenaus- und einfuhr, das ganze Prozedere … Und, wie gesagt, kenne ich Simon Mandelbaum von einer früheren Gelegenheit. Es gibt da eventuell eine kleine Verbindung …“ Er hob beschwichtigend die Hand, als er bemerkte, wie Bührer unruhig wurde und versuchte, ihm ins Wort zu fallen. „Keine Sorge, nicht, was Sie denken … Es handelt sich lediglich um einen Kontaktmann, von dem ich annehme, es ist ein gemeinsamer Bekannter von Herrn Mandelbaum und mir … Es ist möglich, dass er die Finger in diesem undurchsichtigen Geschäft hat. Deshalb hatte ich eigentlich auch gehofft, Simon Mandelbaum hier anzutreffen. Aber vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass ich zuerst einmal mit Ihnen gesprochen habe.“ Mayburg lächelte freundlich. „Ist Ihnen vielleicht der Name Arthur Brookdahl ein Begriff?“

Bührer atmete scharf ein.

„Nicht, dass ich wüsste“, sagte er und schüttelte entschieden den Kopf.

Kapitel 2

Die Rückkehr nach Berlin war reiner Zufall gewesen. So jedenfalls hatte Alexander Mayburg das lange Zeit gesehen. Doch irgendwann hatte sich der Gedanke bei ihm eingeschlichen und festgesetzt, dass vielleicht doch sein Vater bei der ganzen Sache die Finger mit im Spiel gehabt hatte. Karl Mayburg war nach wie vor sehr interessiert daran, seinen Sohn eine gute, sozusagen standesgemäße Karriere machen zu sehen. Auf keinen Fall konnte er sich damit abfinden, ihn im Süden des Landes in einem kleinen Justizministerium und einem noch kleineren Büro als Ermittlungsbeamter versauern zu lassen. Als einer der ersten Beamten im Reichsamt des Inneren arbeitete er direkt dem Staatssekretär und Vizekanzler zu und besaß dementsprechend einigen Einfluss, viele Bekannte und Geschäftspartner in den verschiedensten Bereichen von Außen- und Innenpolitik und Handel.

Eingeläutet hatte den Wechsel Alexander Mayburgs zum Justizministerium als Untersuchungsbeamter für Sonderermittlungen, wenn er es recht bedachte, ein Empfang im Haus seiner Eltern. Sowohl sein Vater als auch seine Mutter hatten ihn in getrennten Schreiben recht eindringlich gebeten, daran teilzunehmen. Sein damaliger Chef in Süddeutschland, Geheimrat von Bühl, ließ ihn gern für einen längeren Urlaub ziehen. Im Nachhinein fragte sich Mayburg, ob sein Vater vielleicht auch ihm geschrieben hatte. Schließlich waren „der Alte“, wie Mayburg seinen Vater im Stillen nannte, und von Bühl alte Studienkollegen. Und von Bühl war nicht gerade ein Befürworter von Mayburgs eher unorthodoxen Ermittlungsmethoden, die er nur aufgrund der relativ hohen Erfolgsquote seines mit Abstand jüngsten Ermittlungsbeamten duldete. Jedenfalls hatte der Alte einige Hebel in Bewegung gesetzt, damit sein Sohn zu Hause in Berlin sein konnte, um an diesem Empfang teilzunehmen.

Sicher hatte der Sinn des Empfangs hauptsächlich darin gelegen, einige politische Strippen zu ziehen. Das war bei den Mayburgs und anderen hohen Beamten nicht unüblich. Wenn man nicht die offiziellen Wege über die Kanzlei oder das Reichsamt nehmen wollte, dann richtete einer von ihnen einen Empfang aus, zu dem verschiedene hohe Würdenträger eingeladen waren, um in einer ungezwungeneren Atmosphäre über Dinge zu sprechen, die bei offiziellen Verhandlungen niemals in dieser Art und Weise möglich gewesen wären.

In diesem Fall wollte der Alte womöglich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, dachte sich Mayburg inzwischen. Gleichzeitig kam ihm die Bezeichnung „der Alte“ plötzlich ziemlich fehl am Platz vor. Sein Vater besaß eigentlich keines der Attribute, die sie rechtfertigen würde. Sicher war er nicht mehr der Jüngste, aber er hatte sich gut gehalten, manchmal wirkte er beinahe jugendlich. Da war etwas wie ein ab und zu aufblitzender Schalk in seinen Augen, der sich auch durch ein gelegentliches Zucken ums Kinn bemerkbar machte und doch nie ganz zum Vorschein kam. So, als würde er sich nur insgeheim amüsieren über einen Witz oder eine Situation, die nur er erkennen konnte – aber er behielt sein Wissen stets für sich.

Karl Maybach hatte volles Haar, kaum an den Schläfen angegraut, war nicht gerade hochgewachsen, aber schlank und elegant, stets gut gekleidet. Ein gut aussehender Mann, seinem Sohn nicht unähnlich, beziehungsweise Alexander Mayburg ähnelte in gewisser Weise seinem Vater. Vielleicht war das ja einer der Gründe, warum die beiden nicht sehr gut miteinander auskamen. Mayburg bewegte sich etwas linkischer und war auf dem gesellschaftlichen Parkett nicht so gewandt wie sein Vater. Aber er war ja noch jung …

Am Tag des Empfangs war seine Mutter ungewöhnlich aufgeregt. Es war durchaus möglich, dass es um viel ging, und Mayburgs Vater besprach sich auch wegen geschäftlicher Dinge gern mit ihr. Vielleicht war es deshalb … Doch Dorothea Mayburg war eine gelassene Frau, in sich ruhend, fast kaltblütig oder emotionslos zu nennen. Es sei denn, es handelte sich um ihren Sohn. Sein Wohl – das Wohl der Familie, musste man gerechterweise sagen – lag ihr mehr am Herzen als alles andere.

Unausgesprochener Anlass des Empfangs war jedenfalls ein inoffizielles Treffen zwischen einigen Geschäftsleuten und höheren Politikern, zu denen auch Mayburgs Vater gehörte, und einem Kolonialforscher, einem Mann namens Zintgraff, von dem Mayburg höchstens flüchtig einmal gehört hatte. Es ging, wie üblich, um viel Geld und Prestige, um die Wahrung von Einflusssphären, Außenpolitik und Handel. Dinge, die Mayburg zum Leidwesen seines Vaters nie sonderlich interessiert hatten.

Auf jeden Fall bat ihn seine Mutter schon beim Mittagessen um pünktliches Erscheinen. Vor dem Empfang kam sie in sein Zimmer geschneit, selbst noch in keiner Weise für den Empfang gekleidet, um nachzusehen, wie weit er war. Er beruhigte sie und versprach, auf jeden Fall zu kommen und sich von seiner besten Seite zu zeigen. Und als die ersten Gäste eintrafen, bemerkte er, wie sie sich mehrere Male besorgt nach ihm umsah. So, als könne man ihm nie ganz trauen … Als würde er gewohnheitsmäßig dazu neigen, vor allem zu Beginn solcher Veranstaltungen beispielsweise auf den Tisch zu springen oder ein kleines Tänzchen aufzuführen … Mayburg schmunzelte bei dem absurden Gedanken.

Auf diesem Empfang jedenfalls war es, dass sein Vater zu später Stunde – er war mit einigen Herren für mindestens zwei Stunden in seinem Arbeitszimmer verschwunden gewesen – auf ihn zutrat, an seiner Seite zwei Herren, und ihn vorstellte.

„Das also ist mein Sohn“, sagte er mit einer gespreizten Handbewegung, als wolle er ein neues Porträt von Hermann Clementz präsentieren. „Alexander Mayburg. Zurzeit arbeitet er im Justizministerium bei von Bühl. Sie erinnern sich?“

Er wandte sich an einen der beiden Herren, der Mayburg ohne erkennbares Interesse etwas von oben herab musterte. Das Signifikanteste, das Mayburg von ihm in Erinnerung blieb, war neben einem ziemlich stechenden Blick ein großer Schnauzer, der sein Gesicht hauptsächlich prägte und keinen Raum für andere Eindrücke ließ. Nach einem Moment schüttelte er Mayburg die Hand und nickte wohlwollend. Sein Vater stellte die beiden als den Polizeipräsidenten von Richthofen und seinen Mitarbeiter vor.

Von Richthofens Begleiter war ein vergleichsweise junger Mann, weniger steif und im Gegensatz zu seinem Chef nicht in Galauniform, sondern mit einem schlichten, dunklen Frack und weißer Krawatte gekleidet, die ihm mit den glatt rasierten Wangen ein bisschen das Aussehen eines reiferen Seminaristen verlieh. Ernst von Hagen sollte später Mayburgs erster Ansprechpartner werden, während er von Richthofen und später dessen Nachfolger von Windheim nur selten oder nur aus der Entfernung zu Gesicht bekam.

Die beiden waren einander auf Anhieb sympathisch, und als sein Vater sich mit Herrn von Richthofen anderen Gästen zuwandte, befanden sich Mayburg und von Hagen bei einem Glas Wein bald in einem angeregten Gespräch. Es ging um moderne und ungewöhnliche Methoden der Verbrechensbekämpfung und -aufklärung. Mayburg, ansonsten ein eher zurückhaltender Gesprächspartner, der lieber zuhörte, als selbst das Wort zu führen, berichtete von Hagen von einigen Neuerungen auf dem Gebiet der Personenidentifizierung, unter anderem der Daktyloskopie, über die er selbst schon seit Jahren forschte. Inzwischen hatte es diese Methode zu einiger Beachtung gebracht, spätestens seit vor Kurzem in Südamerika ein Doppelmord mit ihrer Hilfe aufgeklärt worden war. Zu der Zeit, als Mayburg angefangen hatte, sich dafür zu interessieren, war die Daktyloskopie ein noch weitgehend unbekanntes und als hochexperimentell und unzuverlässig verschrienes Verfahren gewesen. Und doch hatte er sie schon damals bei einigen wenigen Fällen angewandt, wie er von Hagen denn auch im Vertrauen und weitab von seinem eigentlichen Wirkungskreis in Süddeutschland lächelnd gestand.

Von Hagen schmunzelte und zeigte sich sehr interessiert.

„Ich würde mich wirklich freuen, wenn wir in Kontakt blieben“, sagte er am Ende des Abends. „Ich finde Ihre Ideen und Ansätze wirklich erfrischend. Bei uns im Präsidium gibt es seit Langem Pläne – nun ja, sagen wir lieber Überlegungen, denn Pläne würden ja doch etwas Konkreteres voraussetzen –, Überlegungen also, die Bekämpfung und Aufklärung verschiedener Verbrechen etwas flexibler und mit unorthodoxeren Mitteln zu handhaben.“

Mayburg begleitete ihn zur Eingangshalle, wo sie auch wieder mit seinem Vater und von Richthofen zusammentrafen.

„Ich würde mich sehr darüber freuen“, sagte er und meinte das ganz aufrichtig. „Ich glaube, dass es bei unserer Arbeit Möglichkeiten und Aspekte gibt, die wir noch nicht ansatzweise erkannt, geschweige denn angewandt haben. Auf jeden Fall sind Sie herzlich willkommen, sollte es Sie einmal in meine Gegend verschlagen.“

Über die Befindlichkeiten seiner Eltern an diesem Abend war Mayburg nichts mehr in Erinnerung.

Ihr zweites Treffen fand ebenfalls eher zufällig und anlässlich eines offiziellen Soupers des Justizministeriums in Stuttgart statt. Wobei Mayburg sich im Nachhinein wiederum fragte, wie viel davon tatsächlich aufs Konto des Zufalls und wie viel auf das seines Vaters ging. Während des Abendessens jedenfalls hatte von Hagen lediglich beiläufig und aus dem Zusammenhang des sonstigen Gesprächs heraus ein oder zwei Fragen gestellt.

„Haben Sie hier eigentlich auch schon Erfahrungen mit Schmuggel gemacht?“, fragte er beispielsweise, während der Hauptgang serviert wurde. „Mit grenzüberschreitenden Vergehen sozusagen?“

Mayburg blickte etwas verdutzt in von Hagens ausdruckslose Miene.

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Jedenfalls noch nicht persönlich. Aber es gibt dieses Problem natürlich auch hier.“

Von Hagen nickte vage. Mayburg war nicht ganz klar, ob es wegen seines Eingeständnisses der Unkenntnis war oder ob sein Gesprächspartner einen bestimmten Gedankengang verfolgte.

„Natürlich“, stimmte von Hagen zu und fuhr fort: „Sagen Sie, Ihr Vater ist in der Hauptstadt inzwischen sehr in die außenpolitischen Belange eingebunden. Ich glaube, man kann getrost sagen, er zählt zu den Vertrauten von Caprivis, meinen Sie nicht?“

Mayburg beobachtete, wie von Hagen aus einem Rest Brot neben seinem Teller kleine Kugeln formte und zuckte mit den Schultern.

„Das mag stimmen. Ich bekomme hier allerdings nicht viel davon mit“, erwiderte er wenig interessiert. „Die Korrespondenz zwischen meinem Vater und mir kann man wohl getrost als eher sporadisch bezeichnen.“

Von Hagen blickte ihn von der Seite an.

„Sie haben gar kein Interesse an den politischen Aktivitäten Ihres Vaters?“, fragte er. „Keine eigenen Ambitionen?“

„Politik ist die Sache meines Vaters.“ Mayburg lächelte. „Vielleicht habe ich mich deshalb nie wirklich dafür interessiert. Würde ich es tun, müsste ich meine Haltung dazu sehr gründlich hinterfragen, fürchte ich. Das wiederum wäre wahrscheinlich nicht gut für meine Arbeit.“ Er blickte die Tafel entlang auf die Gäste und hinüber zu von Bühl, seinem Chef, der einige Plätze von ihm entfernt saß und sich augenscheinlich etwas bemüht mit der Dame ihm gegenüber unterhielt. Alle waren mehr oder weniger in Gespräche vertieft, warteten auf den nächsten Gang oder auf das Ende der Veranstaltung, die doch für viele mehr eine Pflichtübung als ein wirkliches Vergnügen zu sein schien, auch wenn das Essen und die gereichten Weine gut waren, was bei solchen Veranstaltungen nicht immer garantiert war. „Ich habe hier einen relativ großen Spielraum, um meinen Forschungen auf wissenschaftlichem und psychologischem Gebiet nachzugehen. Dafür interessiere ich mich. Und ich bin überzeugt, dass sie die Polizeiarbeit in Deutschland früher oder später weiterbringen werden.“

„Hm.“ Von Hagen nickte. „Sie würden diese Forschungen ohne Weiteres auch im experimentellen Stadium anwenden, wenn Sie sich Erfolg davon versprächen, nicht wahr?“

Mayburg blickte ihn überrascht an.

„Was meinen Sie?“

„Ich meine, wie weit würden Sie gehen, um einen Fall aufzuklären?“, fragte von Hagen direkt und fixierte Mayburg. „Wie weit weg von den etablierten Pfaden …“

Mayburg verzog den Mund und überlegte einen Augenblick.

„Ich habe Ihnen, glaube ich, von der Anwendung der Daktyloskopie erzählt, die ich vor zwei, drei Jahren bei den antisemitischen Ausschreitungen in Waldbrügg, einer Stadt ungefähr eine Tagesreise von hier entfernt, angewandt habe, nicht wahr?“ Von Hagen nickte und Mayburg fuhr fort: „Nun ja, das Verfahren ist immer noch nicht etabliert, auch wenn es immer mehr Befürworter bekommt. Trotzdem schien es mir das probate Mittel zu sein, um zumindest schnell für Klarheit zu sorgen, wer den Mord, der zu den Ausschreitungen damals geführt hatte, nicht begangen hatte.“

Mayburg verschwieg geflissentlich, dass die ganze Sache in Waldbrügg sowieso mehr oder weniger ein Taschenspielertrick gewesen war, da es sich bei dem Messer, das im Haus der jüdischen Familie sichergestellt worden war, seiner Meinung nach gar nicht um die Tatwaffe gehandelt hatte. Fingerabdrücke zu nehmen, um die Unschuld der Verdächtigen zu beweisen, war deshalb nur ein Mittel, um die Bevölkerung möglichst schnell zu beruhigen. Aber warum sollte er von Hagen das auf die Nase binden?

„Im Vertrauen“, sagte er stattdessen. „Ich glaube, die wahre Kunst der Gesetzesauslegung beziehungsweise der Ausnutzung des jeweiligen Spielraums liegt für uns darin zu wissen, wie weit man gehen muss und wie weit man gehen kann.“

„Im Vertrauen“, erwiderte von Hagen und beugte sich etwas zu Mayburg hinüber, entweder um dem Kellner Platz zu machen, der das Dessert auftrug, oder um sicherzustellen, dass niemand außer Mayburg seine Worte hörte. „Achten Sie immer darauf, wem Sie solche vertraulichen Informationen geben. Bei mir jedenfalls sind sie nicht sicher.“

Mayburg blickte ihn leicht befremdet an. Musste er sich Sorgen machen? Von Hagen lachte und winkte ab. Mayburg lachte ebenfalls. Was hatte er schon gesagt? Nichts, was ihn auch nur im Mindesten angreifbar machte. Und wenn schon … Um solche Dinge hatte er sich noch nie Sorgen gemacht. Und er hatte nicht vor, jetzt damit anzufangen.

Der Posten, den von Hagen Mayburg ungefähr ein Jahr nach ihrem ersten Zusammentreffen anbot, hatte keinen konkreten Namen, keine genaue Stellenbeschreibung, und das Aufgabengebiet war nur vage definiert. Von Hagen nannte es „Sonderermittler mit bestimmten Befugnissen“. Mayburg mutmaßte, dass sein neuer Vorgesetzter sich selbst, aber auch ihm gern dieses bisschen Spielraum einräumen wollte, von dem er gesprochen hatte, und sicher hatte auch Polizeipräsident von Richthofen seinen Segen dazu gegeben. Und von Hagen hatte bei beiden ihrer Treffen deutlich signalisiert, dass er an neuen Ermittlungsmethoden sehr interessiert war. Mayburg war das nur recht, ermöglichte es ihm doch, an seinen Forschungen weiterzuarbeiten und sie auch gleich praktisch anzuwenden.

Sein alter Chef ließ ihn ohne erkennbaren Widerstand oder spürbares Bedauern ziehen. Mayburg erinnerte sich hin und wieder mit einem amüsierten Lächeln an das Treffen mit von Bühl. Tatsächlich erinnerte er sich hauptsächlich an die erstaunliche Färbung der bleigefassten Fensterscheiben in dessen Büro, die im letzten Abendrot des Spätsommertags in einem leuchtenden Orange erstrahlten, beinahe als tobe da draußen eine Feuersbrunst, als stünde die ganze Stadt in Flammen. Ein sehr eindrückliches Bild, das ihm noch lange in Erinnerung blieb und deshalb auch das Gespräch, das eher kurz und sachlich ablief. Von Bühl war offensichtlich der Meinung, Mayburg habe seine neue Stelle in Berlin hauptsächlich der Intervention seines Vaters zu verdanken, nicht so sehr seinen eigenen Qualitäten oder Verdiensten. Das wiederum war überhaupt der Auslöser für Mayburgs Überlegung, ob die ganze Sache vielleicht tatsächlich von seinen Eltern eingefädelt worden war. Einerseits, um seiner Karriere auf die Sprünge zu helfen, andererseits, um ihn wieder in ihrer Nähe zu wissen. Letzteres galt natürlich hauptsächlich für seine Mutter.

Wie auch immer: Von Hagen jedenfalls begrüßte Mayburgs neue Ansätze und Methoden ausgesprochen, auch als Mayburgs Interesse sich immer mehr in Richtung der Psychologie verlagerte. Beide, Mayburg und von Hagen, waren überzeugt davon, dass erstens die Art der Verbrechen, gegen die sie vorgehen mussten, immer komplexer werden würde und zweitens die zukünftige Aufklärung dieser Verbrechen verschiedenster Art immer mehr Fingerspitzengefühl und ein besseres Verständnis von menschlichen Denkstrukturen erfordern würde.

„Bestimmte Befugnisse“, meinte Mayburg, als er von Hagen schließlich in dessen Büro in Berlin gegenüberstand und sie über seine neuen Aufgaben sprachen. „Das ist doch ziemlich unklar, meinen Sie nicht?“

„Machen Sie sich darüber keine Gedanken“, sagte von Hagen. „Ich bin sicher, Sie werden sich über Ihre Befugnisse nie beklagen müssen. Wir können es gern auch ‚weitreichende Befugnisse‘ nennen. Aber das sagt ja auch nicht mehr aus. Ich denke, es ist am besten, wenn wir das von Fall zu Fall miteinander abstimmen.“ Er zögerte, stützte seine Ellbogen auf den großen Schreibtisch vor sich und legte die Fingerspitzen aneinander. „Und Befugnisse sind ja nicht immer nur eine Erleichterung“, fuhr er fort. „Im Gegenteil. Sie bringen auch ein hohes Maß an Verantwortung mit sich.“ Er winkte ab. „Ich bin sicher, Sie werden zufrieden sein. Wir haben Sie nicht hierhergeholt, um Ihnen Steine in den Weg zu legen. Wir möchten, dass Sie mit Ihren unorthodoxen Mitteln Aufgaben für uns lösen.“

Tatsächlich hatte Mayburg in den kommenden Jahren immer die ausreichenden Befugnisse, um die große Mehrzahl der ihm übertragenen Fälle zu lösen. Und er hatte auch keine Skrupel, sie einzusetzen, wobei er Wert darauf legte, Gewalt zu vermeiden und, eben entsprechend seinen Interessen, lieber mit den Methoden der Deduktion, der psychologischen Befragung und wissenschaftlichen Mitteln zu arbeiten. Natürlich gab es auch Fälle, bei denen ihn keines dieser Mittel weiterbrachte. Aber das waren nur wenige.

Größere Aufmerksamkeit erhielt er in bestimmten Kreisen, als er zur Arbeit an einem Fall hinzugezogen wurde, die eine Zusammenarbeit mit der belgischen Polizei notwendig machte. Es ging um eine Gruppe von Anarchisten, die schon länger unter Mayburgs Beobachtung stand und schließlich entscheidend in ein Attentat auf einen Regierungsbeamten im belgischen Lüttich verwickelt war. Dank Mayburgs Intervention konnten die Verschwörer um einen Mann namens Müller zügig verhaftet werden. In den anschließenden Verhören gab es – auch dank Mayburgs Verhörtechnik, wie die belgischen Kollegen lobten – schnell Geständnisse, die zu weiteren Verhaftungen beiderseits der Grenze führten. Spätestens seit diesem Zeitpunkt galt Mayburg in Berlin auch als außerordentlich geeignet für Grenzen überschreitende Fälle und für die Zusammenarbeit mit ausländischen Polizeibehörden im Allgemeinen.

Seine Arbeit war häufig nicht ganz ungefährlich. Namentlich der Fall der anarchistischen Verschwörer barg diverse, schwer zu kalkulierende Risiken. Diese Männer waren überzeugt von ihrer Mission und nicht zimperlich, wenn es um das Leben von Menschen ging, die nicht ihren Idealen anhingen. Doch auch in Berlin, sagte Mayburg sich, konnte man bei einem nächtlichen Spaziergang am falschen Ort ganz leicht und einfach im nächsten Kanal verschwinden, und das ganz ohne jeden ersichtlichen Grund. Warum also sich den Kopf über die Gefahr zerbrechen? Er wusste bei seinen Fällen wenigstens ansatzweise, worauf er sich einließ. Gute Vorbereitung war da unabdingbar. Vor und während seiner Reise an die niederländisch-belgische Grenze hatte er sich beispielsweise lange mit den Idealen der Anarchisten beschäftigt, ein paar Aufsätze von Bakunin gelesen, auch von Kropotkin und Comte, um der Gedankenwelt der Leute näherzukommen, die oft genug einfach als Verrückte abgetan und ins Irrenhaus gesperrt wurden.

Mayburg konnte nicht behaupten, dass ihm alle Ideen, Ansätze und Denkmuster dieser oftmals von der Sozialdemokratie Enttäuschten unsympathisch gewesen wären. Und auf keinen Fall hielt er die meisten von ihnen für verrückt. Im Gegenteil: Die Irrenhäuser waren seiner Meinung nach voll von Leuten, für die die Obrigkeit einfach keinen adäquateren Platz fand oder mit denen sie sich keine weitere Mühe machen wollte. Aber das war nicht sein Problem.

Es war schwer zu sagen, was Mayburg eigentlich antrieb. War es Idealismus, eine Menschlichkeit, mit der er versuchte, die Gesellschaft zu verbessern? War es einfach wissenschaftliche Neugier, vielleicht kombiniert mit der Möglichkeit, unter Beweis zu stellen, wie perfekt er die Methoden der Forschung zur Anwendung brachte? War es Staatstreue, unbedingte Loyalität zum System? Wohl eher nicht. Aber er hatte auch keinen Freund, keine Frau, mit denen er darüber jemals hätte sprechen können. Am nächsten stand ihm wohl tatsächlich sein Vorgesetzter von Hagen. Mit ihm verband ihn ein gewisses Grundverständnis, eine Sympathie, die nahezu mit Freundschaft zu vergleichen war. Allerdings nur nahezu. Die beiden teilten vielleicht instinktiv eine Art nüchterner, beinahe höflicher Distanz zu dem System, dem sie dienten, was sie nicht davon abhielt, ihre Fähigkeiten unbedingt und loyal für eben dieses System einzusetzen. Das war wahrscheinlich sogar die Eigenschaft, die ihre Vorgesetzten am meisten an ihnen schätzten. Die meisten, mit denen Mayburg zu tun hatte, empfanden ihn jedenfalls als eher herablassend freundlich, manchmal vielleicht auch als etwas steif. Das war vor allem dann der Fall, wenn ihm die Art seines Gegenübers nicht behagte.

Tatsache war, dass er sich hauptsächlich mit seiner Arbeit beschäftigte. Von Hagen jedenfalls war sehr zufrieden mit ihm und hatte keinen Grund, an seiner Loyalität zu zweifeln. Was Mayburg in all den Jahren aber nie ganz vergessen hatte, waren die Ausschreitungen in Waldbrügg, nachdem Michael Maarsen, ein eher unbedeutender antisemitischer Publizist und Agitator, nach einer Feier erstochen worden war. Es war einer seiner ersten größeren Fälle gewesen. Arthur Brok, einer von Maarsens Anhängern und der Rädelsführer bei den sich an den Mord anschließenden Ausschreitungen, war nie gefasst geworden. Dieser Umstand war es, der Mayburg nie Ruhe gelassen hatte, und immer, wenn er Zeit fand, stellte er Nachforschungen wegen dieses Mannes an.

Immer wieder einmal gab es Spuren, Gerüchte über Brok, der nach seinem überstürzten Aufbruch in Begleitung eines jungen Mädchens aus Waldbrügg erst einmal in der wilden, unzugänglichen Gegend im nördlichen Hessen untergekrochen sein sollte. Doch dann hörte Mayburg eines Tages, er sei in Berlin aufgetaucht. Seine Nachforschungen blieben aber erfolglos. Unter anderem musste Brok wohl einen neuen Namen benutzen. Und offenbar hatte er Hilfe. Mayburg hatte keine Ahnung, von wem.

Eine Zeit lang musste er die Sache wieder ruhen lassen, bis im Zusammenhang mit den Ermittlungen im Fall der anarchistischen Zelle um Müller unverhofft eine Beschreibung und ein Name auftauchten, die Mayburg stutzig werden ließen. Die kleine anarchistische Gruppe hatte schon seit Längerem Kontakt zu einer Berliner Partei, die als sehr konservativ galt, sich aber zuvorderst den Antisemitismus auf die Fahnen geschrieben hatte. Solche Parteien schossen auf dem Nährboden Berlins und anderer großer Städte, die zurzeit mit einer stark wachsenden Einwohnerzahl, zu wenig Wohnraum, steigenden Mieten und zunehmenden Diebstählen und kleineren Auseinandersetzungen zu schaffen hatten, aus dem Boden. Und in diesem einen Punkt waren sich die Ultrarechte und Teile der extremen Linken wohl einig: Überall im Deutschen Reich, aber auch international, in den USA und anderen europäischen Großmächten versuchten die Juden, sich Macht und Einfluss auf die Kapitalmärkte, auf Industrie und Wirtschaft zu verschaffen. Über diese scheinbare und einzige ideologische Verknüpfung kamen sich einige dieser Parteien und verschiedene anarchistische Gruppen näher. Und das, obwohl auch in den Reihen der Anarchisten einige Juden zu finden waren. Natürlich ging es wie meistens hauptsächlich um handfeste wirtschaftliche Interessen, aber das gestanden sich zumindest auf Seiten der Anarchisten nur wenige ein.

Was diese gegensätzlichen Geschäftspartner manchmal zusammenbrachte, waren kleinere und größere Schiebereien, Schmugglergeschäfte an der französischen und der Schweizer Grenze, bei denen sich schnell viel Geld verdienen ließ. Für Leute wie Müller und seine Gruppe eine gute Möglichkeit, ihre Propaganda, Flugblätter und letztlich auch ihre Anschläge zu finanzieren. Der Mann, der Mayburgs Aufmerksamkeit erregte, fungierte scheinbar als eine Art Vermittler zwischen den Anarchisten und dieser bestimmten konservativen Partei, deren Vorsitzende sich mit Sicherheit nicht selbst die Finger schmutzig machen wollten, aber keine Skrupel hatten, wenn es darum ging, mit den Linken Geschäfte zu machen, ihre Dienste zu nutzen und ihnen dafür eventuell Informationen zur Verfügung zu stellen oder eben Bares. Ein schöner Nebeneffekt der Angelegenheit war, dass durch diese Praxis oft unliebsame Konkurrenten der gleichen Branche geschädigt wurden. So konnte man unter Umständen zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Der Name des Vermittlers jedenfalls war Brookdahl und Mayburg hatte ihn bei einem Treffen in der Nähe von Essen ganz kurz zu Gesicht bekommen.

Eine Beschreibung von Brok hatte Mayburg damals in Waldbrügg unabhängig voneinander von verschiedenen Personen erhalten. Einmal von den Mandelbaums natürlich, der Familie, die in der Waldbrügger Sache die Leidtragende gewesen war. Dann auch von Hans Escher, einem Freund der Familie und Sohn des damaligen Bürgermeisters Franz Escher. Außerdem vom Bürgermeister selbst und schließlich, wenn auch sehr widerstrebend, vom Verleger der Waldbrügger Zeitung, Dr. Strausser, der sich als großer Freund der antisemitischen Thesen Maarsens erwiesen hatte.

Die Begegnung mit Brookdahl damals in Essen war mehr als flüchtig gewesen. „Geschäfte“, hatte Müller nur zu Mayburg gesagt, als der ihn bei einem ihrer ersten Treffen im Hinterzimmer einer einfachen Kneipe nach Brookdahl fragte, nachdem dieser gegangen war. „Ein notwendiges Übel, um bestimmte … Projekte zu fördern.“

Die Ereignisse überschlugen sich und Mayburg musste überstürzt zurück nach Berlin reisen, um dann die Zusammenarbeit mit den belgischen Kollegen vorzubereiten. Er verlor Brookdahl aus dem Blick, doch hatte er sich trotz der nur sehr kurzen Begegnung in einer Ecke seines Gehirns eingenistet. Er kam dann allerdings erst viel später wieder zum Vorschein.

Kapitel 3

Natürlich blieben die Anarchisten auch weiterhin im Fokus der Polizei. Das erforderte einige Ressourcen, da es sich bei ihnen meistens um kleine Splittergruppen handelte, wenn nicht gar um Einzeltäter, übers ganze Reich verstreut und vernetzt in ganz Europa. Überall in den großen Städten hatten sie mal mehr, mal weniger Sympathisanten, die meistens aus der Arbeiterschicht stammten. Es gab aber auch einige Redakteure, Publizisten, Künstler und Schriftsteller, Intellektuelle aus gehobenen Kreisen, die Sympathien für radikal-sozialistische Theorien entwickelten.

Seit dem Führungswechsel bei der Berliner Polizei – von Windheim hatte das Amt von Richthofens nach dessen plötzlichem Tod übernommen – war außerdem aber noch eine ganz andere Art von Verbrechen in den Vordergrund der Polizei gerückt und beschäftigte auch die Politik in zunehmendem Maße. Und wenn von Hagen und Mayburg ehrlich waren – und das waren sie zumindest untereinander meistens –, dann war diese Art von Verbrechen deutlich schädlicher für den Staat, als die Handvoll verblasener Idealisten, auf die sie sonst so häufig Jagd machten.

Von Hagen hatte Mayburg schon des Öfteren darauf vorbereitet, dass sie sich möglicherweise in ein neues Gebiet würden einarbeiten müssen, und als sie an einem blassen, trüben Spätsommernachmittag in seinem Büro saßen, kam er wieder darauf zu sprechen.

„Es gibt Neuigkeiten, Mayburg“, sagte er lapidar und bot ihm etwas zu trinken an, was Mayburg mit einem leichten Kopfschütteln ablehnte. „Die ganze Sache macht uns zwar schon seit Jahren zu schaffen, aber Herr von Windheim sieht das Problem wohl etwas dringlicher, als Herr von Richthofen es getan hat.“ Von Hagen hatte eine Art, sich vorsichtig auszudrücken – ohne einen Zweifel daran zu lassen, was er meinte –, die nach Mayburgs Meinung nur aus einer langen Erfahrung im Reibungsfeld zwischen Beamten und Politikern resultieren konnte.

Der ehemalige Polizeipräsident von Richthofen war Anfang des Sommers überraschend verstorben. Sein Nachfolger von Windheim war deutlich jünger und man sagte ihm auch politische Ambitionen nach, ohne dass bislang erkennbar war, ob an diesem Gerücht etwas dran war. Jedenfalls hatte er Zug in die Polizei gebracht, den Fokus und die Zielsetzung etwas geändert und die Abteilung, der Mayburg zugeordnet war – der sie insgeheim einfach die „Abteilung von Hagen“ nannte, denn eigentlich gab es sie noch immer nicht offiziell –, bekam ein vielfältigeres Aufgabenfeld.

Von Hagen warf einen Blick zu einem der hohen Fenster hinaus auf den großen Platz, der sich weit erstreckte, bis er vom nächsten Gebäude eingegrenzt wurde. Auf dieser weiten Fläche standen nur ein paar Bäume ein bisschen verloren da. Draußen hatte es zu nieseln begonnen und es sah schon nach Herbst aus. Plötzlich und unerwartet begann es zu schütten. Die wenigen Fußgänger unten auf der Straße machten einen Satz und rannten los, als hätten sie einen elektrischen Schlag versetzt bekommen. Doch weiter hinten, von Hagen trat näher an die Scheibe und blickte prüfend zum Himmel, schien es bereits wieder aufzuklaren. Ein diffuses, silbergraues Leuchten war zwischen dem Horizont und der schwarzen Wolke zu erkennen, die den Platzregen verursacht hatte. Es spiegelte sich auf dem Kopfsteinpflaster und den spülwasserfarbenen Pfützen, in denen die Regentropfen barsten. Im Handumdrehen lag der Platz leer und verlassen da. Und richtig, so schnell der Regen begonnen hatte, so schnell ließ er auch wieder nach. Ein paar Augenblicke noch und schon wagten sich einige der mutigeren Passanten wieder aus ihren Unterständen, den Torbogen, Hauseingängen und Arkaden hervor, um ihren Weg eilig fortzusetzen.

„Wie Sie sich denken können, handelt es sich um eine etwas heikle Angelegenheit“, setzte von Hagen seine unterbrochene Erläuterung fort und ging zu seinem breiten, ausladenden Schreibtisch zurück, der auf beiden Seiten der Schreibfläche flankiert war von hohen Papier- und Aktenstapeln. Trotz dieser Papiere und Stapel machte der Schreibtisch einen ordentlichen Eindruck. Von Hagen lächelte in sich hinein, als wäre ihm genau bewusst, dass er diesen Satz oft verwendete, vor allem gegenüber Mayburg. So oft vielleicht, dass er langsam zur Floskel zu verkommen drohte, aber dennoch nicht verzichtbar war, da er den Sachverhalt eben am besten traf. Gut möglich, dass es ein bisschen auch das eigene und Mayburgs Selbstwertgefühl hob, da man offensichtlich doch sehr oft mit vertraulichen Informationen umzugehen hatte. Wobei Mayburg gegen solche Gefühle eigentlich unempfindlich war.

Vor seinem Schreibtischstuhl machte von Hagen halt, stützte sich auf die Armlehne und zog über sie gebeugt eine Schublade auf, um eine Flasche Cognac herauszuholen. Er goss sich großzügig ein und setzte sich auf die Tischkante.

„Es geht, profan gesagt, um Zucker“, fuhr von Hagen fort, nachdem er einen Schluck genommen hatte. „Oder besser: Es geht um Schmuggel. Er nimmt in letzter Zeit in einem erschreckenden Maße zu und verzerrt den Wettbewerb zusehends. Zudem handelt es sich um ein Produkt, das nicht nur einfach Profit für den Händler verspricht, sondern zusätzlich auch noch ein ziemlich heikles politisches Thema darstellt.“

„Der erwähnte Zucker?“, warf Mayburg ein und schlug die Beine übereinander.

„Genau“, bestätigte von Hagen, schüttelte aber gleich darauf den Kopf. „Beziehungsweise sein Ersatzprodukt. Saccharin.“ Er blickte Mayburg an, als müsse dieses Schlüsselwort bei ihm einen Schaltkreis in Gang setzen und eine Glühbirne zum Leuchten bringen. Mayburgs Miene blieb ausdruckslos.

„Die politischen Zusammenhänge sind nicht ganz unwichtig, um die zunehmende Aufmerksamkeit zu erklären, die das Saccharin damit bekommt und der Handel ebenfalls“, fuhr von Hagen fort. „Obwohl der Staat schon mehrfach regulierend eingegriffen hat, was Produktion und Handel betrifft, lohnt es sich immer noch, Saccharin über die Grenze zu schmuggeln. Das wiederum schädigt die hiesige Zuckerproduktion ganz enorm. Und jetzt sind unsere Vorgesetzten entschlossen, dem Ganzen einen Riegel vorzuschieben. Gegen die Schmuggelei über diverse Grenzen soll rigoros vorgegangen werden. Und es gibt Hinweise darauf, dass einige Unternehmerkreise hier in der Stadt in die Sache verwickelt sind. Dem sollen Sie nachgehen.“ Von Hagen blickte Mayburg bedeutungsvoll an. „Aber mit Fingerspitzengefühl. Einerseits hat die Zuckerindustrie bei den Parteien und der Regierung einen starken, einen sehr starken Rückhalt. Doch andererseits scheinen einige Herrschaften in den halb- bis illegalen Handel mit Saccharin verwickelt zu sein, die man nicht so einfach an den Pranger stellen kann. Zusätzlich heikel ist der Umstand, dass manche dieser Herren für ihre zwielichtigen Geschäfte sich naturgemäß der Dienste einiger sehr dubioser Gruppen bedienen, zum Beispiel den von Ihnen so effizient überführten Anarchisten.“

Es dauerte einen Augenblick, bis Mayburg realisierte, was das bedeuten könnte.

„Was soll das heißen?“, fragte er dann sicherheitshalber und setzte sich in seinem Sessel auf.

„Das heißt, dass wohl einige der anarchistischen Zellen sich nicht zu schade sind, für den schnöden Mammon Saccharin über die Grenze zu schmuggeln. Und andererseits gewisse Herrschaften mit einer rechtschaffenen Fassade keine Skrupel haben, die Dienste zwielichtiger Subjekte in Anspruch zu nehmen, die sie ansonsten nicht mit der Feuerzange anfassen würden.“ Von Hagen lächelte und zuckte bedauernd mit den Schultern. „In dieses Nest sollen wir stochern, aber wie gesagt, mit Fingerspitzengefühl, denn es könnten Leute beteiligt sein, die hier in Berlin sehr großes Ansehen und viel Einfluss besitzen.“

Mayburg nickte. Er hörte nur noch mit halbem Ohr zu. Schlagartig stieg eine Erinnerung in ihm auf, ein Name und eine Begebenheit, die Jahre zurücklag, und ihm fiel der kurze Kommentar ein, den Müller damals fallen gelassen hatte. „Geschäfte …“ Mayburg zog die Verbindung in Sekundenschnelle. Jetzt hatte er eine Ahnung, was Müller gemeint haben könnte. Und beinahe ebenso schnell kam ihm der Gedanke an Brok … und die Verbindung zu dem Mann, den er bei der Zusammenkunft in Essen kurz gesehen hatte.

Kaum war ihre Sitzung beendet, eilte Mayburg die langen Gänge des Polizeipräsidiums entlang zu seinem Büro. Er hatte ein ganzes Stück zu gehen, obwohl seine und von Hagens Räume im gleichen Flügel lagen. Wobei in Mayburgs Fall das Wort Räume etwas übertrieben erschien. Es handelte sich mehr um zwei Kammern am hinteren Ende des Gebäudes, seinem Büro im Justizministerium in Stuttgart nicht unähnlich. Zwei hohe Fenster gingen auf eine Seitenstraße und einen kleinen Garten hinaus, in dem ab und zu eine junge Frau arbeitete. Manchmal ließ Mayburg seine Augen auf den Beeten, Büschen und Obstbäumen dort ausruhen, wenn er den ganzen Tag mit Akten beschäftigt gewesen war. Und ohne sich das einzugestehen, hoffte er dann immer, die schmale, grün lackierte Tür mit dem kleinen Fenster da unten würde aufgehen und sie würde den Garten betreten. Und wenn das tatsächlich der Fall war, sah er ihr ein bisschen zu, doch es dauerte nie lange und er wandte sich wieder ab, aus einem für seinen Beruf, der ja viel mit der Beobachtung und dem Überwachen anderer Leute zu tun hatte, seltsamen und etwas übertrieben anmutenden Gefühl der Ungehörigkeit oder Übergriffigkeit. Aber die Observation genau dieser Frau gehörte ja eben nicht zu seinen Aufgaben und entsprach wohl nicht eigentlich seinem Naturell, mochte er seine Arbeit auch noch so gewissenhaft und gut erledigen.

Jetzt allerdings verschwendete Mayburg keinen Gedanken an den Garten, geschweige denn an die junge Frau. Er hastete durch die erste, mit zwei großen Schreibtischen ausgestattete Kammer, die ihm als Büro und Experimentierstube diente, in die zweite, quasi sein Privatarchiv. In diesen Zimmern verbrachte er geraume Zeit, wenn ihn seine Arbeit und Ermittlungen nicht auf die Straße hinaustrieben oder sogar aus der Stadt führten.

Das Reisen war Mayburg schon immer unangenehm gewesen. Im Lauf der Jahre hatte er allerdings festgestellt, dass es sich hauptsächlich um die Reise an sich handelte, die ihm nicht behagte. Einmal am Ort seiner Bestimmung angekommen, machte es ihm überhaupt nichts mehr aus, nicht in Berlin zu sein. Es war ihm schlichtweg egal. Allenfalls störte er sich vielleicht noch daran, keinen adäquaten Arbeitsplatz zur Verfügung zu haben. Aber sobald dieses Problem gelöst war, fühlte er sich quasi wie zu Hause. Es war also im wahrsten Sinne der Umstand, unterwegs zu sein, der ihn störte.

Mayburg durchsuchte ein Aktenregal, das mit Jahreszahlen und Kürzeln gekennzeichnet war, und kramte die Aufzeichnungen und Notizen heraus, die er sich vor Jahren im Zuge der Ermittlungen wegen der anarchistischen Anschläge Müllers gemacht und dann dort abgelegt hatte. Es dauerte nicht lange und er trug einige Hefte und Notizbücher zu seinem Schreibtisch nebenan. Die Bücher, die dort lagen, schob er achtlos beiseite.

Eine Zeit lang blätterte Mayburg scheinbar willkürlich in den Akten und Notizheften, während draußen langsam die Dämmerung hereinbrach. Als das Licht schließlich zu diffus wurde, um noch irgendetwas von seinen teilweise etwas kryptischen und unzusammenhängenden Aufschrieben erkennen zu können und er mit der Nasenspitze beinahe die Seiten streifte, stand er abrupt und leicht verärgert über das schwindende Licht auf – als wäre es ein Phänomen, das nicht jeden Tag aufs Neue zu ähnlicher Zeit eintreten würde – und entzündete die zwei Gaslampen, die an der Wand angebracht waren.

Dann setzte er sich wieder und fuhr mit dem Finger die Zeilen entlang. Er hatte die Stelle gefunden, die er gesucht hatte: „Geschäfte …“ Das hatte Müller gesagt … „Sie finanzieren notwendige Projekte … Harmlos.“ Jetzt war Mayburg sicher, was er damals gemeint hatte. Seine Leute hatten oder schmuggelten immer noch Waren über die schweizerische, die französische und belgische Grenze. Nach dem zu urteilen, was von Hagen über die Gewinnspanne und das Interesse bei der ärmeren Bevölkerung gesagt hatte, handelte es sich möglicherweise nicht ausschließlich, aber auch um Saccharin. Und dieser Brookdahl, den er bei der Zusammenkunft in Essen flüchtig gesehen hatte, war keiner von Müllers Mitstreitern gewesen. Er war „die Geschäfte“, wahrscheinlich ein Verbindungsmann …

Mayburg sprang auf und ging wieder hinüber in sein Archiv, um wenig später mit weiteren Akten zurückzukehren. Es waren die Beschreibungen von Richard Brok aus Waldbrügg, die er mangels Fingerabdrücken zu einer Bertillonage zusammengestellt hatte, so gut das aus den Aussagen von drei oder vier unterschiedlichen Quellen eben ging. Und wieder, so wie schon damals in Essen, kam er zu dem Schluss, dass es sich bei Brok und Brookdahl durchaus um ein und dieselbe Person handeln könnte. Es war jedenfalls ausreichend für Mayburg, um dieser Spur weiter nachzugehen.

Es war stockdunkel im Viertel und schwül. Die Luft in den Straßen und Gassen war wie schwarzer Nebel, Mayburg hatte beinahe das Gefühl, sie erschwere das Atmen, obwohl der Druck auf seiner Brust wahrscheinlich eher von dem Gedanken daran herrührte, was vor ihnen lag. Neben und hinter ihm marschierten sechs Polizeibeamte, deren Stiefel ein Klacken auf dem Kopfsteinpflaster verursachten. Sonst war nichts zu hören, außer einem gelegentlichen Räuspern oder leise gesprochenen Wort zwischen den Polizisten. Aber die meiste Zeit schwiegen sie.

Jetzt, wo sie unterwegs waren, fragte sich Mayburg, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, bei seinem Vorhaben überhaupt jemanden mitzunehmen. Er war es eigentlich gewohnt, allein zu arbeiten. Ein solches Aufgebot … Da musste er schon lange zurückdenken, um sich an einen Fall zu erinnern, bei dem er so viele Leute bei sich gehabt hatte. Sicher, wenn es dann darum ging, jemanden zu verhaften, vielleicht sogar eine ganze Gruppe, dann ja. Aber so weit war er noch lange nicht. Und doch hatte er die Warnung eines der Polizeiinspektoren im Bezirk Gesundbrunnen beachtet, der direkt neben dem Viertel lag, durch das sie jetzt gingen.

Brookdahl aufzuspüren war nicht so kompliziert gewesen, wie Mayburg gedacht hatte. Nachdem er in einem ersten Schritt seine Bertillonage an verschiedene Polizeistationen weitergegeben hatte, kam schon bald Rückmeldung – was Mayburg bemerkenswert fand, da er von der Methode im Allgemeinen nicht viel hielt – von der Schutzpolizei in der Nähe des Reichstags, aus eben dem Bezirk Gesundbrunnen und aus Stadtteil 24, durch den sie jetzt gingen. Brookdahl schien viel in diesen Vierteln unterwegs zu sein. Durch einen Informanten erfuhr Mayburg dann kurze Zeit später, dass in einem der Gasthäuser hier ein Treffen mit einigen Vertretern eines Arbeitervereins geplant war, bei dem auch Brookdahl anwesend sein sollte.

„Gehen Sie da lieber nicht allein hin“, hatte der Polizeiinspektor gesagt, von dem die Information gekommen war. „Es ist nicht immer sicher dort. Vor allem nachts treibt sich in den Gassen und Spelunken doch viel Gesindel herum.“