Verkauftes Land - Mark Stichler - E-Book

Verkauftes Land E-Book

Mark Stichler

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Beschreibung

Marie verlässt Hals über Kopf ihre alte Heimat Köln, um auf dem Land einen Neuanfang zu wagen. Hier gerät sie buchstäblich vom Regen in die Traufe und findet sich zwischen allen Fronten wieder. Sie trifft auf eine Mauer des Schweigens und durch das ganze Dorf führt eine unsichtbare Grenze. Düstere Geheimnisse und eine blutige Mordserie entzweien die Menschen in dem fiktiven Dörfchen Georgsberg, das überall liegen könnte. Was hat es mit den alten Geschichten auf sich und warum begegnet ihr immer wieder dieser alte Bauer und welche Rolle spielt der junge Kommissar, der seine Nase überall hinein stecken muss. Ein Stück Landleben, real, düster, geheimnisvoll.

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Seitenzahl: 371

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Mark Stichler

Verkauftes Land

Kriminalroman

Inhalt

Cover

Titel

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Teil 2

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Impressum

Teil 1

Kapitel 1

Nicht, dass sie jemals bewusst darüber nachgedacht hätte, aber jetzt, da Marie in ihrem alten Kombi langsam die steile, regennasse Straße nach oben fuhr, auf dem Rücksitz ihre zusammengeschnürte Matratze, im Kofferraum zwei Umzugskartons und zwei große Koffer, einer mit einem Schild mit der Aufschrift Marie Joliet versehen, der andere mit Tobias Sander, da spürte sie es: Es ging nur darum, am Leben zu bleiben, möglichst lange, alles andere war zweitrangig. Allerdings war dieses Streben nach einem möglichst langen Leben völlig sinnlos, vielleicht sogar widersinnig, zumindest fragwürdig, wenn man bedachte, wie manche Menschen ihr Leben verbrachten. Es war egal, wie die Menschen ihr Leben verbrachten.

Drei Bücher fielen ihr ein, die ihr auf einmal unheimlich wichtig erschienen und von denen sie hoffte, sie mitgenommen zu haben, obwohl sie seit Jahren nicht mehr an sie gedacht hatte. Das eine war irgendetwas von Susan Sontag über Fotografie, das andere eine Liebesgeschichte von Inoue, bei der sie sich immer gefragt hatte, ob es sich überhaupt um eine Liebesgeschichte handelte und … wie hieß das dritte noch gleich, es war von dem Autor, auf dessen Erinnerungen „Cabaret“ beruhte, dieses Musical aus den 60er-Jahren. Im Buch ging es um einen Mann, der allein war – war es ein Tag im Leben dieses Mannes, der versucht, über den Verlust seines Partners hinwegzukommen? – und dann jedenfalls am Ende stirbt, als sich alles für ihn eigentlich zum Besseren wendet, als er bereit ist für den Neubeginn.

Während sie darüber nachdachte, verpasste sie beinahe die letzte, steile Kurve. Um ein Haar wäre sie von der Straße abgekommen und einen wenig vertrauenerweckenden, schmalen Weg hinein in den Wald gefahren. Es sah so aus, als würde er noch ein Stück weiter nach oben führen und dann irgendwo im Dunkeln zwischen den Bäumen versanden.

Marie war vor einigen Wochen schon einmal hier gewesen und hatte sich ihre neue Wohnung angesehen. Sie war damals auch von der größeren Straße abgebogen, aber war das hier gewesen? Eher nicht. Sie nahm die letzte Kurve und konnte in der Ferne ein paar schummrige Straßenlichter erkennen. Endlich, dachte sie. Das muss es sein.

Doch als sie die ersten Häuser passierte, wurde ihr klar, dass es sich nicht um die Siedlung handelte. Das da war Georgsberg, von den Einheimischen nur „das Dorf“ genannt, im Gegensatz zu Schäfenbach, der sogenannten „Neubausiedlung“ …

„Denken Sie sich nichts dabei“, hatte Maries künftiger Vermieter gesagt, als sie die Wohnung besichtigt hatte. „Damit muss man leben. Meine Frau und ich sind jetzt seit fast vierzig Jahren hier, damals haben wir das Haus gebaut. Aber Schäfenbach ist immer noch nur ‚die Neubausiedlung‘. Und wir hier …“, der schmale, ältere Herr hatte mit einer großen Geste die Häuser der Siedlung umfasst und gekichert, „… wir sind ‚die aus der Stadt‘.“

Marie war sich nicht mehr sicher, wo die Abzweigung in die Siedlung gewesen war. Vielleicht war es ja doch das schmale Sträßchen, das in den Wald führte? Im Dorf gab es nur einen Laden, den Bäcker, und der hatte jetzt mit Sicherheit geschlossen. Also blieb ihr nur übrig, in der Dorfkneipe nach dem Weg zu fragen. Auf der Straße war um diese Zeit und bei diesem Wetter niemand mehr unterwegs.

Instinktiv nahm sie die Straße zur Kirche und schon nach kurzer Zeit entdeckte sie das Schild der einzigen Gaststätte: ein Horn, ein Baum und der Name „Zur Post“. Es brannte noch Licht. Marie parkte gegenüber, zog sich die Jacke notdürftig über den Kopf und rannte die paar Meter durch den Regen über die Straße bis zur Tür.

Drin sah es aus wie in jeder Dorfkneipe. Links war die Theke, eigentlich lang, aber verbaut durch einen Holzaufsatz, der in neunzig Prozent dieser Kneipen immer noch zu finden war und in den 70er-Jahren vom Innenarchitekten wahrscheinlich als wahnsinnig effektiv empfunden worden war, konnte man in dem dort entstandenen Stauraum doch wunderbar Gläser und andere in Kneipen lebenswichtige Utensilien aufbewahren. Dass man dadurch seine Gäste nur durch einen relativ schmalen Ausschnitt zwischen Tresen und Aufbau sehen konnte, was dazu führte, dass viele Wirte jahrelang nur mit auf die Theke gestützten Oberarmen gesichtet wurden, schien die Innenarchitekten nicht gestört zu haben. Und zwei bis drei Generationen von Wirten in genormten Brauereigaststätten passten sich dieser Einschränkung ihres Sichtfeldes klaglos an.

Rechts an den Fenstern und im sich nach hinten öffnenden Schankraum standen einfache Holztische und -stühle, ebenfalls die klassische Brauereiausstattung. Hier schien es nicht nötig, sich designtechnisch einen abzubrechen. Konkurrenz gab es keine. Die Leute waren gezwungen zu kommen, wenn sie in Gesellschaft trinken wollten.

Es war schon spät und nur ein paar wenige Gäste saßen noch an der Theke bei einem letzten Glas. Mühsam und durch den Alkohol etwas verzögert drehten sie überrascht die Köpfe, als Marie hereinkam. Sie schüttelte den Regen von ihrer Jacke und ging zum Tresen.

„Guten Abend“, sagte sie.

„Wir schließen gleich“, erwiderte der Wirt, der auf seine Ellbogen gestützt hinter der Theke lehnte. Trotzdem konnte man sehen, dass es sich um einen großen, breiten Mann handelte, dem es sicher einiges abverlangte, einen Großteil seines Lebens in dieser Haltung zu verbringen.

„Ich möchte nur eine Auskunft“. Marie winkte beruhigend ab. „Ich suche den Arnikaweg. Vielleicht können Sie mir helfen, ich glaube, ich bin falsch abgebogen.“

„Arnikaweg …“ Der Wirt sah seine verbliebenen Gäste an.

„Arnikaweg“, wiederholte auch einer der Männer, die vor ihm saßen. Seine dünnen Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

Der neben ihm sagte: „Schenk noch eins ein, Gerd.“

„Es gibt nichts mehr, Andi. Ich hab’s dir vorhin schon gesagt.“

„Ja, aber jetzt …“ Mit einer vagen Geste deutete Andi auf Marie, als wäre sie die Rechtfertigung dafür, dass man doch jetzt noch eins trinken dürfe, ja, geradezu müsse.

„Pfhh“, machte Gerd, der Wirt.

„Sie kennen doch bestimmt den Arnikaweg, oder?“, fragte Marie.

„Arnikaweg, hm, also …“ Die Männer zuckten mit den Schultern. „Was wollen Sie denn dort?“

Marie runzelte irritiert die Stirn.

„Das geht Sie ja eigentlich nichts an, oder? Aber …“ Sie überlegte. „Ich habe da eine Wohnung gemietet. In der Siedlung … Ich war schon mal dort, aber bei der Dunkelheit und dem Regen habe ich wohl den Weg verpasst. Weiter unten gab es eine kleine Abzweigung, aber ich war mir nicht sicher, ob ich da richtig bin.“

„Ach, in der Siedlung“, brummte einer der Männer.

Er war jung, trug ausgebeulte blaue Drillichhosen und hatte eine dunkle, wuschelige Mähne und einen deutlichen Bartschatten. Seine Augen waren klein und glänzten vom Alkohol. Er sah sie an. Marie spürte eine gewisse Unruhe in sich aufsteigen.

Der Mann leerte sein Glas und stellte es mit Nachdruck auf den Bierdeckel zurück. „Schreib’s an, Gerd“, sagte er und erhob sich.

Gerd sah ihn mit einem stumpfen Blick an. „Sicher nicht“, meinte er. „Seit wann kannst du hier anschreiben lassen?“

Marie hatte das leise Gefühl, als habe ihr Auftauchen ein äußerst filigranes, fein gesponnenes und sehr fragiles Miteinander aus dem Gleichgewicht gebracht. Ihre Anwesenheit schien zu genügen, um eine Art latent in den Männern existierende Anarchie zum Vorschein zu bringen, die sich zu dieser fortgeschrittenen Stunde allerdings nur im Schnorren von Bier oder geldwerten Vorteilen auswirkte. Etwas war aus dem Ruder gelaufen … Unsicher sah sie vom einen zum anderen.

Der Wirt seufzte.

„Fahren Sie zurück“, sagte er und deutete in die Richtung, aus der Marie gekommen war. „Das ist der einfachste Weg. Aus dem Dorf raus, an der schmalen Einfahrt vorbei runter bis zur ersten Kurve und dann rechts weg. Geben Sie acht, es ist eine schmale Straße.“

Marie atmete auf und nickte.

„Dann war ich also doch richtig“, meinte sie. „Danke und Gute Nacht.“ Sie wandte sich zum Gehen.

„Ist ziemlich dunkel“, sagte der mit der wuscheligen Mähne. „Soll ich Sie bringen? Ich kann vorausfahren.“

„Nein, danke, nicht nötig. Ich weiß jetzt, wo ich abbiegen muss.“ Marie verzog den Mund. „Trotzdem, vielen Dank.“

„Vorausfahren“, schnaubte der Wirt. „Du hast sie wohl nicht mehr alle? Bei dem, was du getrunken hast …“

„Unsinn.“

„Ich wünsche noch einen guten Abend.“ Marie winkte hastig und verließ die Kneipe.

Draußen eilte sie über die Straße, sprang in ihren Wagen und fuhr den Weg zurück, den sie gekommen war. Instinktiv überprüfte sie mehrere Male im Rückspiegel, ob ihr jemand folgte.

Dann schüttelte sie ärgerlich den Kopf. „So ein Blödsinn“, murmelte sie.

An der Abzweigung angekommen, bremste sie und warf noch einmal einen zweifelnden Blick auf die schmale Straße. Das Regenwasser querte sie in kleinen Bächen, die dann quasi Hals über Kopf vom Straßenrand in die dunkle Tiefe stürzten. Entschlossen gab Marie Gas und steuerte über die rutschige Straße den Hang hinauf. Schon nach ein paar Hundert Metern konnte sie Häuser sehen. Eine Straßenbeleuchtung schien es nicht zu geben, aber hinter einigen wenigen geschlossenen Vorhängen und Jalousien brannte noch Licht.

Mit einiger Mühe konnte Marie die Straßenschilder entziffern: Akazienweg, Lindenblütenweg und von dort ging der Arnikaweg links ab. Vorgärten säumten die schmale Straße zu beiden Seiten.

„Scheißwetter …“, fluchte Marie leise vor sich hin. „Verdammter Mist.“ Sie eilte drei flache Stufen bis zur Tür ihrer Einliegerwohnung hinauf und suchte verzweifelt nach dem Schlüssel, während sie gleichzeitig versuchte, in der kleinen Eingangsnische ein bisschen Schutz vor dem Regen zu finden. Schließlich fand sie ihn, öffnete die Tür mit klammen Fingern und tastete nach dem Lichtschalter. Sie klickte einmal, zweimal und ein drittes Mal. Kein Licht.

„Verdammt.“ Marie machte ein paar unsichere Schritte in den Gang hinein und suchte einen anderen Schalter. Aber dort war es das Gleiche. Sie stand einen Augenblick regungslos in der Dunkelheit und verdrehte die Augen. Die Vermieter hatten die Rollläden heruntergelassen, weshalb wirklich totale Finsternis herrschte.

Vorsichtig tapste sie zurück zum Eingang und hastete die Stufen weiter hinauf, die zwischen irgendwelchem Gestrüpp, das sie bei diesem Wetter und zu dieser Zeit nicht näher definieren konnte und wollte, zur Eingangstür ihrer Vermieter führten. Glücklicherweise brannte dort noch Licht.

R. und M. Greßmann stand in Schnörkelschrift auf einem Schild. Marie klingelte.

Nach einiger Zeit hörte sie leise, schlurfende Schritte, dann wurde ein Sicherheitsbügel an der Tür entfernt und eine Stimme fragte leise: „Ja?“

„Ich bin’s“, rief Marie laut. „Marie Joliet. Ihre neue Mieterin. Unten in der Wohnung gibt es kein Licht und …“

Die Tür ging auf und ihr Vermieter stand im Bademantel vor ihr.

„Du liebe Güte“, sagte er, als er Marie tropfnass vor sich stehen sah. „Wir haben den ganzen Abend auf Sie gewartet. Gerade wollten wir ins Bett gehen.“

„Ja“, sagte Marie. Sie spürte, wie sie die Geduld verlor. „Ich brauche Licht da unten, sonst kann ich meine Sachen nicht reintragen.“

„Natürlich, natürlich. Aber kommen Sie doch erst mal rein. Sie sind ja klatschnass. Ich ziehe mich nur schnell um.“

Marie trat in den kleinen Vorraum. An ihren Füßen bildete sich eine kleine Pfütze, auf die Greßmann einen kurzen, skeptischen Blick warf, bevor er sich umdrehte und ins Haus ging.

„Ich bin gleich zurück“, rief er und ins Wohnzimmer hinein: „Margot, sie ist da. Sie ist doch noch gekommen … So spät.“

Marie seufzte, schloss kurz die Augen und spürte, wie müde sie war. Sie sah kleine Blitze schießen und rote Flecken auf ockergelbem Grund, wenn sie ihr Gesicht der Lampe an der Decke des Vorraums zuwandte. Schnell öffnete sie die Augen wieder und betrachtete den wachsenden Wasserfleck zu ihren Füßen. Draußen strömte gleichmäßig der Regen, schien aber endlich etwas nachzulassen. Dann war Greßmann wieder da.

„Gehen wir“, sagte er und wirkte jetzt irgendwie lebendiger, frischer, als habe er sich im Schlafzimmer schnell noch eine Spritze verpasst oder ein paar Pillen eingeworfen.

Die könnte ich jetzt auch brauchen, dachte Marie und folgte ihm nach draußen die Stufen hinunter bis zu ihrer Wohnung.

„Wir haben den Strom abgedreht und auch das Gas“, erklärte ihr Vermieter auf dem Weg.

Marie schwieg und folgte ihm. Er zückte eine Taschenlampe, ging den langen Gang entlang nach hinten bis zu einem Sicherungskasten und schaltete alle Sicherungen ein.

„Probieren Sie jetzt mal“, rief er.

Marie betätigte den Lichtschalter und im Gang leuchtete eine helle Glühbirne auf.

„Na, also“, meinte Greßmann zufrieden. „Ich drehe hinten im Keller noch das Gas auf und das Wasser. Sollten Sie sonst noch etwas brauchen …“ Er ließ seinen Satz halb in der Luft hängen, mit der deutlichen Konnotation, dass Marie zu dieser späten Stunde wohl kaum noch etwas brauchen würde und alles Weitere bis morgen früh Zeit hätte.

In wenigen Stunden würde es hell werden. Marie saß auf ihrer Matratze, um sie herum standen und lagen die zwei Kartons, ihre Koffer und ihre große Umhängetasche. Sie zog eine Packung Zigaretten heraus, die sie sich unterwegs gekauft hatte, obwohl sie eigentlich seit Jahren nicht mehr rauchte.

„Eigentlich …“, murmelte sie und zündete die Zigarette an. Ihr fiel auf, dass sie keinen Aschenbecher besaß. Nach kurzem Überlegen schüttete sie die Zigaretten auf den Boden und benutzte die Schachtel für die Asche. Sie stand auf und schritt langsam den Raum ab, den sie zu ihrem Schlafzimmer erkoren hatte. Aus einer der Bücherkisten zog sie eine Flasche Wein, aus der anderen ein notdürftig in den „Kölner Stadtanzeiger“ eingewickeltes Glas und einen Korkenzieher. Ein paar der Bücher warf sie achtlos zur Seite, las flüchtig den Titel „Über Fotografie“, ohne dem Buch weiter Beachtung zu schenken.

Sie goss sich ein und stürzte das Glas in einem Zug hinunter. Sie setzte sich wieder, schenkte nach und trank langsamer. Die Kippe drückte sie in der Schachtel aus. Dann kamen ihr die Tränen. Sie vermisste die Stadt schon jetzt, ihre Freunde, und war sicher, sie nie wiederzusehen. Aber sie war auch sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Es war notwendig gewesen zu gehen. Lebenswichtig.

Als Marie spät am nächsten Vormittag erwachte, hörte sie das leise Glucksen des ablaufenden Wassers. Sie zog die Rollläden hoch.

Draußen herrschte strahlender Sonnenschein.

Kapitel 2

„Sie kann damit nichts mehr anfangen“, sagte Maries Vermieter und schob ein altes Fahrrad auf die Straße.

„Robert …“ Marie sah ihn erstaunt an und versuchte, einen Blick in die dunkle Garage zu werfen, aus der er das Fahrrad geholt hatte.

Schon nach wenigen Tagen hatten sie sich darauf geeinigt, sich beim Vornamen zu nennen, auch wenn sie sich weiterhin siezten. Margot, Roberts Frau, hatte Marie bis jetzt immer noch nicht zu Gesicht bekommen. Manchmal fragte sie sich, ob sie überhaupt existierte oder ob sie nur eine Einbildung war. Vielleicht war sie längst gestorben. Robert wollte es nicht wahrhaben, stellte Marie sich vor, und die Nachbarn spielten die Komödie dem armen Witwer zuliebe mit … Komödie wäre in diesem Zusammenhang wohl das falsche Wort, dachte sie.

Die Garage lag voller Gerümpel. Alte Reifen, verschiedene, von grober Plastikfolie überzogene Haufen, eine verrostete Heckenschere … Auf einer alten Werkbank lagen verschiedene Werkzeuge nebeneinander: Schraubenzieher, Sägen, Messer, Schlüssel, Hammer in unterschiedlichen Größen. Sie war der einzige Platz, der aufgeräumt schien. In der Ecke standen ein Rasenmäher und ein paar Kartons mit verstaubten Büchern und Zeitschriften. Alles war alt, angefressen oder verrostet, seit Jahren nicht mehr gebraucht. Kein Platz für ein Auto.

„Das ist sehr nett“, sagte sie, kniete sich auf den Boden und begutachtete die Reifen des Fahrrads. „Wie geht es denn Ihrer Frau?“

Robert schien überrascht von der Frage. Er kniff die Augen zusammen, als würde ihn die Sonne blenden und verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln.

Er hatte einen großen Mund, der in seinem schmalen, mageren Gesicht etwas überdimensioniert wirkte. Schmale Lippen, wie blasse Striche, an den Seiten wie ausgefranst, kleine, senkrechte Risse von zu trockener, alter Haut. Marie erinnerte er manchmal an den alten Mick Jagger. Einen Mick Jagger aus einem Paralleluniversum, in dem er das Leben eines durchschnittlichen, alltäglichen alten Mannes auf dem Land führte. Wohlhabend, vielleicht sogar reich, das schon. Auch erfolgreich, aber eben kein Popstar.

Abwesend wanderte Roberts Blick die Straße hinunter, die sich nur wenige Hundert Meter entfernt im Wald verlor.

Möglicherweise wusste auch keiner, was wirklich mit Margot geschehen war. Keiner außer ihm. Er hatte etwas Indifferentes an sich, etwas Gewesenes und etwas, das darum weiß, das ist.

Andererseits verdächtigte sich Marie im gleichen Atemzug selbst einer gewissen Überspanntheit, einer gesteigerten Aufmerksamkeit, die vielleicht nur die unterschiedlichen Grade der Frische und Fitness eines alten Herrn – beispielsweise vor und nach einem Mittagsschlaf – überinterpretierte.

„Sie nehmen es doch?“, fragte er.

Da war es wieder, dieses Gefühl. Sie konnte nicht einordnen, ob seine Worte als Drohung oder nur als Besorgnis über eine möglicherweise zurückgewiesene Gefälligkeit zu verstehen waren. Aber ganz sicher waren sie keine Antwort auf ihre Frage.

„Ja, natürlich“, sagte sie leise. Sie senkte den Kopf und prüfte mit den Fingern den Reifendruck. „Gern. Man muss es nur wieder aufpumpen.“

Sie spürte eine gewisse Unruhe in sich aufsteigen und dachte an Köln, an ihre alte Wohnung … Ein blitzschneller Gedanke, der all das umfasste, eine konkrete Szene in der Küche, im Sommer, bei herabgelassenen Jalousien. Sie öffnet den Kühlschrank, spürt die Kühle, die ihr entgegenschlägt, hält einen Moment inne und nimmt eine Flasche Bier heraus. Ein Bier nach der Arbeit. „Hey“, sagt jemand hinter ihr. Es ist Tobias.

„Es ist schon lange her, dass Margot damit gefahren ist. Sie verträgt zurzeit das Licht nicht so gut und auch keinen Lärm.“ Robert lächelte. „Aber sicher geht es ihr bald wieder besser, und ich stelle Sie vor. Ich erzähle ihr oft von Ihnen, und sie freut sich schon darauf, Sie kennenzulernen.“

Marie nickte. „Ich freue mich auch darauf“, sagte sie. „Haben Sie eine Luftpumpe? Dann pumpe ich die Reifen auf.“ Sie erhob sich und machte einen Schritt auf die Garage zu.

„Warten Sie.“ Robert hob die Hand, um Marie zurückzuhalten. „Ich habe bestimmt eine. Ich suche sie.“ Er verschwand im Halbdunkel der Garage und kramte hinter der alten Werkbank herum.

„Ich fürchte, ich habe hier seit Monaten, ach was, seit Jahren nicht mehr aufgeräumt“, rief er nach draußen. „Wo mag sie nur sein?“ Marie zuckte mit den Schultern und blinzelte in die Sonne.

Robert hatte die Luftpumpe doch noch gefunden und es sich nicht nehmen lassen, die Reifen für Marie aufzupumpen. Es war kurz vor Mittag, als sie sich auf den Weg ins Dorf machte. Es war heiß geworden, und sie spürte die Sonne auf ihren Schultern, als sie langsam die Straße an den wenigen Häusern der Siedlung entlang hinunterrollte. Die Bauherren und ihre Architekten hatten großzügig geplant, meist flach und höchstens zweistöckig, bis auf einen großen Komplex am anderen Ende der Siedlung. Dort sollten auf mehreren Stockwerken wohl Mietwohnungen entstehen, von denen die oberen einen weiten Blick übers Land gewährten. Das Gebäude stand beinahe leer, die Wohnungen und die Fassade wirkten heruntergekommen. Innen, das hatte Robert ihr nach einem ihrer ersten Ausflüge in der Nachbarschaft erzählt, breiteten sich Feuchtigkeit und Schimmel aus. Niemand hatte je Geld in nötige Sanierungsarbeiten gesteckt und von Anfang an waren die Wohnungen schwer zu vermieten gewesen. Heutzutage, wo alle in die Stadt strebten, war es ein Ding der Unmöglichkeit.

Auch die anderen Häuser wirkten, trotz der großzügigen Gärten, von denen sie umgeben waren, etwas schäbig und geschunden. Was in den Siebzigern zumindest in den Augen der Besitzer noch mondän und großzügig aussehen sollte, war heute bestenfalls bieder. Und im Gegensatz zu den Altbauten in der Stadt hielten die Häuser dem Zahn der Zeit schlechter stand. Hinzu kam, dass viele der inzwischen meist älteren Bewohner der Siedlung weniger Geld in die Fassade und Inneneinrichtung ihres Hauses zu investieren schienen als in das Bepflanzen ihres Gartens und den Winteraufenthalt auf Mallorca oder in Agadir.

Marie aber war froh, einen so abgeschiedenen, stillen Ort gefunden zu haben. Sie mochte das Morbide ihrer Umgebung. Die meisten Leute kamen ihr allerdings merkwürdig vor. Sie schienen etwas von ihr zu erwarten, sahen sich nach ihr um. Wenn sie grüßte, nickten sie ihr lediglich zu und verschwanden in den Tiefen ihrer Gärten oder Häuser. Keiner kam an den Zaun, um Hallo zu sagen. Aus Köln war sie das nicht gewohnt. Sie nahm sich vor, ihren Vermieter deswegen zu fragen, wenn sie zurück war.

Nach kurzer Zeit erreichte sie den Wald, durch den der Weg sich in leichten Windungen am Hang entlang nach unten schlängelte, bis er auf die Straße traf, die in steilen Kurven nach oben ins Dorf und nach unten ins Tal führte. Im Schatten der Bäume, durch deren helle Blätter nur punktuell die Sonne drang und den Weg vor ihr sprenkelte, hatte sie fast den Eindruck einer tropischen Hitze. Schlagartig nahm ihr die Feuchtigkeit den Atem, die Luft stand in warmem Zittern wie eine weiche Wand, nur kurz aufgewirbelt von ihrem hindurchfahrenden Körper. Sie hatte das Gefühl, als schlösse sich eine Art Fahrrinne hinter ihr wieder, als wäre sie nie hier durchgekommen. Nichts rührte sich, alles war still, und sie hörte nur das leise Surren ihrer Reifen auf dem weichen Asphalt. Es roch leicht modrig, die Sonne trocknete die letzten Reste des Regens der vergangenen Woche. Bald würde der Waldboden knistern vom Brechen der ausgetrockneten Nadeln und Zweige, wenn man darüber ging.

Die Einmündung auf die Straße lag direkt in der steilen Kurve. Weder von oben noch von unten kam ein Auto. Marie stieg in die Pedale und nahm Fahrt auf, um den Schwung für den Anstieg zu nutzen. Ungebremst überquerte sie die Straße und radelte den Berg hinauf. Es waren nur noch zwei Kurven bis nach oben, doch die zogen sich. Und es war der steilste Abschnitt des gesamten Aufstiegs. Rechts neben ihr fiel der Hang ab und links, auf der anderen Seite der Straße, ragten schroffe Felsen und Wurzeln aus dem Erdreich. Farn und Gestrüpp klammerten sich an den Berg, auf der Fahrbahn war noch eine breite Staubspur zu sehen, die der Dauerregen der letzten Woche aus dem Boden gespült hatte. Hell und fein, fast wie Sand, von jedem Auto weiter an die Seite gedrängt.

Lange hielt der Schwung nicht an und Marie musste ordentlich in die Pedale treten, bevor sie oben ankam. Sie geriet ins Schwitzen und ertappte sich dabei, darüber nachzudenken, ob sie nicht absteigen sollte. Warum auch nicht? Stolz ist was für Idioten, dachte sie. Sie warf einen Blick nach vorne. Immer noch hatte sie eine gute Strecke vor sich und keinen Gang mehr, den sie noch herunterschalten konnte. Trotzdem fuhr sie weiter, versuchte, ihre Atmung und ihre Bewegungen zu beruhigen und zu harmonisieren. Als sie um die Kurve bog, flachte die Steigung etwas ab. Hinter einer leichten Biegung konnte sie, nicht weit entfernt, am Waldrand die Einfahrt zu einem Gehöft erkennen. Und nach der nächsten Kurve begann das Dorf.

Um diese Zeit lag die staubige Dorfstraße da wie ausgestorben. Niemand war unterwegs, nur ab und zu kam ein Auto vorbei. Georgsberg war kein Durchgangsdorf, das man auf dem Weg irgendwohin passieren musste. Es lag auf keinerlei Route und einschlägige Reiseführer erwähnten es mit keinem Wort. Nur ein findiger englischsprachiger Autor hatte den Ort einmal aufgegriffen und berichtete in einer Spezialedition eines bekannten Verlags für Reiseliteratur über den Süden Deutschlands für Rock-’n’-Roll- und Punk-Fans mit dem Titel „Punk’n’Roll in Germany’s South“ darüber. Seinen Angaben zufolge hatte Malcom McLaren Ende der 70er-Jahre ein gesteigertes Interesse an Architektur entwickelt und einige Wochen in Georgsberg zugebracht, um die Mittelstandsarchitektur Schäfenbachs zu studieren, im Reiseführer als eine Art Trabantenstadt beschrieben, was dem Ganzen eine deutlich zu große Dimension gab. Dabei, so die Vermutung des Autors, sollte er auch den Song seiner späteren Post-Punk-New-Wave-Band Bow Wow „Go wild in the country“ geschrieben haben. Der Abschnitt berichtete darüber, McLaren habe den Ort fluchtartig verlassen, geplagt von Visionen, die der Autor dem Zusammenspiel der Mythen und Geister der alten Wälder und Wiesen rund um Georgsberg und den geheimen Substanzen zuschrieb, die der Künstler möglicherweise zu sich genommen hatte. Gewohnt hatte er laut dem Beitrag in einer Art Burg. In Georgsberg allerdings gab es nachweislich noch nie eine Burg, weshalb nahelag, dass der Autor die Ortschaft entweder verwechselt, den Namen falsch geschrieben oder sich die ganze Story schlicht und einfach aus den Fingern gesogen hatte.

Marie hatte den Reiseführer für Rock-’n’-Roll- und Punk-Fans über den Süden Deutschlands zufällig in einer Secondhand-Buchhandlung in Köln entdeckt und gekauft. Beim Durchblättern war ihr der Beitrag über Georgsberg ins Auge gefallen und mit dem langsamen Reifen ihres Plans wurde das Dorf immer mehr zu einem festen Bestandteil davon. Ein vergessenes Dorf mitten im Nirgendwo … Marie glaubte mehr an die Kreativität des Autors als an seine akkurate Recherche und informierte sich deshalb eingehender über Georgsberg. Dass sich nirgends nennenswerte Informationen darüber finden ließen, bestärkte sie in der Annahme, dass es genau der richtige Platz für sie sei.

Jetzt radelte sie die Hauptstraße entlang, die am Dorfplatz vorbei in Richtung Kirche führte. Laut einer Tafel neben dem Kirchenportal hatte der pietistische Prediger Philipp Matthäus Hahn, der Erbauer der Weltmaschine, auf seiner Durchreise hier gepredigt. Das war im 18. Jahrhundert gewesen, und seitdem war, bis auf möglicherweise Malcolm McLaren 200 Jahre später, wohl niemand Namhaftes mehr durch Georgsberg gekommen. Der Autor von Maries Reiseführer jedenfalls hatte nicht einmal Prediger Hahn für erwähnenswert gehalten, was sie angesichts der Zielgruppe allerdings für eine lässliche Sünde hielt.

Kurz nach dem Dorfplatz lag auf der linken Straßenseite das Wirtshaus „Zur Post“, ein paar Häuser weiter auf der gleichen Straße befand sich die Metzgerei, die allerdings nur unregelmäßig geöffnet hatte. Schräg gegenüber, hinter der Kirche, kam die Bäckerei. Das waren die einzigen Läden in Georgsberg, weshalb die Bäckerei auch noch eine kleine Auswahl an anderen Produkten wie Zeitungen, Konserven, Waschmittel, Softdrinks und ein paar Flaschen Wein führte. In einem Kühlregal gab es außerdem Butter, Milch und Bier, wie Marie von ihrem ersten Besuch in Georgsberg in Erinnerung hatte.

Eigentlich konnte man den Laden kaum mehr Bäckerei nennen. Es stand eben in runden, verstaubten, gelblichen Plastiklettern noch außen über der großen, in einen abgeschabten Rahmen aus hellem Metall gefassten Schaufensterscheibe. Aber eigentlich war die Bäckerei doch eher schon eine kleine Lebensmittelhandlung mit leicht überteuerten Preisen. Der Sockel unterhalb des Schaufensters war in grau- und taubenblaue Klinkersteine gefasst, teilweise ausgeschlagen und verdreckt vom Straßenverkehr der letzten Jahrzehnte. Drei Stufen führten hinauf zur Tür.

Marie bremste und überlegte nur für den Bruchteil einer Sekunde, ob sie ihr Rad abschließen sollte. Dann lehnte sie es gegen die Mauer der Bäckerei und trat ein.

Die drei Frauen im Laden mussten sich in einer angeregten Unterhaltung befunden haben, doch als Marie eintrat, verstummten sie wie auf ein geheimes, unmerkliches Zeichen, drehten die Köpfe und starrten sie an. Marie, die eigentlich zu den Regalen mit den Lebensmitteln gehen wollte, zögerte und blieb stehen. Sie wusste nicht, warum, aber irgendwie fühlte sie sich ertappt. Schuldig vielleicht. Schuldig des Durchbrechens jahrelanger Routine nur durch ihr Erscheinen. Natürlich hatte sie sich nichts vorzuwerfen, aber so ist das mit der Unschuld. Sobald man anfängt, darüber nachzudenken, ist sie weg. Unschuldig schuldig, dachte sie, ist auch schuldig.

Mit einem langen Blick musterte sie die drei Frauen, die keine Anstalten machten, etwas zu sagen. Zwei davon waren nicht gerade groß, aber ohne Zweifel in allen anderen Belangen umfangreich. Sie trugen T-Shirts, deren kurze Ärmelränder sich in ihre beachtlichen Oberarme schnitten. Ihre Jeans wurden nach unten immer enger und vermittelten den Eindruck einer auf dem Kopf stehenden Birne. Die Hose der einen war an den Oberschenkeln mit ein wenig Strass besetzt und glitzerte unstet im kalten Neonlicht der Thekenbeleuchtung. Die zweite hatte einen weißen, an den Rändern blassblau eingefassten Arbeitskittel übergezogen, der sie als die Bäckersfrau auswies – Marie überlegte kurz, ob sie die Frau des Bäckers war oder die Bäckerin selbst, kam aber zum Schluss, dass sie es hier im Dorf wahrscheinlich noch mit einer klassischen Rollenverteilung zu tun hatte.

Die dritte Frau war schlank und stark geschminkt. Neben den beiden anderen wirkte sie fast zierlich, obwohl sie einen ziemlich muskulösen Eindruck machte. Sie hatte Extensions in den Haaren. Marie erkannte es sofort, weil die Tönung der Haare seit dem letzten Friseurbesuch schon wieder etwas verblasst war, und das angesetzte Haarteil in einem kräftigen Rotton deutlich davon abstach. In Köln gab es Viertel, in dem dieser Look nichts Ungewöhnliches war, allerdings trugen die Frauen dort zumindest tagsüber meistens Jogginghosen. Diese hier hatte wie die anderen eine enge Jeans an und ein pinkfarbenes Muscle-Shirt, dessen Farbe sich etwas mit den Haaren biss. „Bodyland“ stand in kursiv gesetzter Schrift darauf.

Marie holte Luft.

„Ich …“, begann sie und machte sofort eine Pause. „Hallo.“

Die Bäckersfrau zog die Augenbrauen hoch und nickte kurz.

„Sind Sie mit dem Fahrrad den ganzen Weg hier hochgefahren?“, fragte die Frau mit den Strassjeans und hob ebenfalls die Augenbrauen. „Du meine Güte.“

Marie schloss daraus, dass die drei sie schon beobachtet hatten, als sie die Hauptstraße entlanggeradelt war. Und da sie voraussetzten, dass man mit so einem alten Fahrrad keinen Ausflug machte und den ganzen Weg vom Tal bis zu ihnen hinauffuhr, hatten sie sich wahrscheinlich schon gefragt, wer sie war und vor allem, woher sie kam, bevor sie den Laden betreten hatte. Sie war wahrscheinlich das Thema des Gesprächs gewesen.

„Nein, nein.“ Marie winkte ab und lachte. Sie machte ein, zwei Schritte auf die drei zu. „Ich bin nur das kurze Stück von der Siedlung hierher geradelt.“

Keine Reaktion.

Die drei sahen sie an, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Sie kommen aus der Neubausiedlung?“, fragte die Bäckersfrau schließlich.

„Ja. Ich habe dort eine Wohnung gemietet. Bei den Greßmanns. Bestimmt kennen Sie sie. Sie leben schon lange dort. Ich glaube, Herr Greßmann hat das Haus selbst gebaut … oder bauen lassen.“

„Ich kenne niemanden dort“, sagte die Rothaarige etwas zu eilig und warf der Bäckersfrau einen schnellen Blick zu.

Die beiden anderen zuckten mit der Schulter wie als Bestätigung, dass auch sie mit niemandem aus der Neubausiedlung bekannt waren und auch keinen Wert darauf legten.

Marie verzog ratlos den Mund und seufzte. Irgendwie hatte sie sich das einfacher vorgestellt. Was jetzt?, fragte sie sich im gleichen Atemzug. Die Kommunikation mit Einheimischen? Sie stellte fest, dass sie keinerlei Erfahrung darin hatte, abgesehen von Robert. Aber der war ja ihr Vermieter und zählte, wenn sie die Reaktion neulich abends in der Kneipe und die der Frauen jetzt richtig interpretierte, als Bewohner der Siedlung nicht wirklich zum Dorf.

Früher, im Dorf ihrer Großeltern, da waren alle im Ort miteinander bekannt. Und später, in Köln, musste man eher achtgeben, nicht innerhalb einer Woche die ganze Straße zu kennen. Dazu war eigentlich gar nichts nötig, es passierte automatisch. Aber hier? Marie fasste sich ein Herz und unternahm einen Versuch.

„Ich heiße Marie Joliet“, sagte sie. „Ich bin erst vor Kurzem hierhergezogen und fange nach den Ferien drüben im Kindergarten als Erzieherin an.“ Sie machte eine kurze Pause und zeigte mit der Hand vage in die Richtung, in der sich der Kindergarten befand. „Ich bin schon ein bisschen früher gekommen, um die Gegend kennenzulernen.“ Sie lächelte und betrachtete die drei aufmerksam, um die Wirkung ihrer förmlichen Vorstellung in der Bäckerei zu überprüfen.

Die Bäckersfrau hob die Augenbrauen, dieses Mal, als sei sie mit dem Thema vertraut. „Ach, Sie sind das“, rief sie. „Die neue Erzieherin! Meine Tochter hat mir erzählt, dass sie in der Kita Verstärkung bekommen.“ Nach einer Pause erklärte sie: „Meine Tochter arbeitet auch dort. Sie ist auch Erzieherin.“

Marie atmete auf und lächelte. Das klang doch vielversprechend. Es schien ganz so, als wäre das Eis fürs Erste gebrochen.

„Die meisten Kinder von Georgsberg gehen ja im Nachbarort in den Kindergarten“, warf die Frau mit den Strassjeans mit einem schnippischen Unterton ein.

„Die haben da so ein neuartiges Erziehungskonzept …“, ergänzte die Rothaarige, ohne näher auszuführen, um welches Konzept es sich dabei handelte.

Marie wusste, dass es sich bei ihrem Kindergarten um eine Gründung im Zuge des Baus der Siedlung handelte. Die Leiterin des Kindergartens, Maries zukünftige Chefin, hatte ihr bei ihrem letzten Gespräch einige Details zu den Gegebenheiten mitgeteilt. Schäfenbach und der Kindergarten waren beinahe zeitgleich entstanden. In erster Linie wollten die damals noch jungen Familien für ihren Nachwuchs wohl eine Einrichtung in der Nähe der Neubausiedlung schaffen. Der nächste Kindergarten war relativ klein und ohne Auto nicht zu erreichen. Das war lange her und der Schäfenbacher Kindergarten hatte inzwischen kräftig expandiert. Die Kinder kamen zum Großteil allerdings nicht mehr direkt aus der Siedlung, sondern von den umliegenden Orten. Die alteingesessenen Georgsberger jedoch schickten ihre Kinder meistens in andere Einrichtungen.

„Es gibt ein paar Unstimmigkeiten Georgsberg und Schäfenbach betreffend“, hatte Maries Chefin Klara beiläufig erwähnt. Marie hatte der Sache damals kaum Beachtung geschenkt, doch jetzt kam ihr diese Bemerkung wieder in Erinnerung. Offensichtlich war das Thema nicht so trivial, wie sie gedacht hatte. Zumindest die beiden Bekannten der Bäckersfrau schienen nicht viel vom Kindergarten in Schäfenbach zu halten.

„Nun ja“, sagte Marie leichthin. „Wir lernen heutzutage in der Ausbildung sehr viele unterschiedliche pädagogische Ansätze und Methoden. Und meine Kolleginnen machen einen sehr netten Eindruck.“

Vielleicht brachte sie damit ja wenigstens die Bäckersfrau auf ihre Seite, auch wenn sie sich fragte, warum sie überhaupt jemanden von den dreien auf ihre Seite bringen sollte. Sie war ja gerade erst angekommen und hatte weder Zeit noch Lust gehabt, sich irgendetwas zuschulden kommen zu lassen, das die Dorfgemeinschaft gegen sie aufbringen könnte. Aber offenbar war das gar nicht notwendig. Die beiden anderen musterten sie skeptisch.

Die Türklingel läutete und Marie atmete auf. Kundschaft. Vorläufiges Ende der Inquisition.

Sie drehte sich um und stand einem Mann in einem dunkelblauen Anzug gegenüber, der sie freundlich anlächelte. Automatisch verzog auch Marie den Mund zu einem unverbindlichen Lächeln. Ein bisschen zu schick für die Gegend und die Tageszeit, dachte sie.

Der Mann ging an den Zeitungen und Zeitschriften vorbei zum Kühlregal, nahm eine Flasche Milch heraus und stellte sie auf die Theke. Maries Blick blieb kurz an den Schlagzeilen einer Tageszeitung hängen.

„Sie sind vor mir dran“, sagte der Mann.

Marie sah auf und nickte. „Ich … bin noch nicht so weit“, erwiderte sie. Warum war sie nicht wie er einfach zum Regal gegangen, hatte ihre Einkäufe zusammengesucht und bezahlt?

„Na, dann … danke.“ Der Mann lächelte wieder. „Ich nehme noch zwei Brezeln dazu.“

Die Bäckersfrau verschwand hinter der Theke, packte zwei Brezeln in eine Tüte und kassierte.

„Tschüss.“ Der Mann zögerte, sah sich nach Marie um und verließ die Bäckerei.

„Tschüss“, sagten die drei Frauen synchron.

„War das nicht, na …“ Die Rothaarige senkte ihre Stimme. „Der Kommissar …?“

Marie erwiderte seinen Gruß nicht. Sie beeilte sich, ihre Einkäufe zu erledigen. Nur mit halbem Ohr hörte sie, wie die drei Frauen sich an der Theke leise miteinander über ihn unterhielten. Sie selbst war offenbar kein Thema mehr.

Irgendetwas hatte sie vergessen, aber Marie fiel beim besten Willen nicht ein, was es war. Langsam ließ sie das Rad den leichten Abhang in Richtung Wald hinunterrollen. Kurz nach dem Ortsschild erwartete sie das helle Grün des frühen Sommers, die feuchte, fast tropische Luft, die greifbare, spürbare Veränderung ihrer Konsistenz, der Thermik und des Lichts. Das Stück Wald zwischen Dorf und Siedlung war wie eine Art Schleuse, eine Durchfahrt zu unterschiedlichen Realitäten und Varianten, vielleicht auch Zeiten. Wie Fieber von außen.

Am Ortsausgang fiel Marie wieder die Einfahrt zu dem Gehöft ins Auge. Von dieser Seite konnte man den Weg besser einsehen. An einem wackeligen Zaun aus verrostetem Maschendraht war ein Holzschild angebracht, auf dem „Kartoffeln“ und „Eier“ geschrieben stand. Es war ausgebleicht und grau vom Alter, man konnte die Schrift kaum lesen. Marie bremste. Weiter hinten erkannte sie ein offen stehendes Gatter, dahinter linkerhand eine alte, schwarze Scheune mit hohem Giebel. Das Dach war reparaturbedürftig, einige Schindeln waren zerschlagen oder fehlten ganz. Auf dem Hof stapelte sich einiges Gerümpel und ein großer Berg Holz.

Auf der rechten Seite lag das Wohnhaus. Vom Sockel in vergilbtem, schmutzigem Weiß führte eine schlichte, kahle Betontreppe nach oben zur Haustür, nur gesichert von einem dünnen, rostigen Metallgeländer. Die Fassade war beschlagen mit alten, dunklen Holzbrettern. Die wenigen Fenster bestanden nur aus kleinen Luken, die meisten waren mit Klappläden verschlossen, die ziemlich schief in ihren Angeln hingen.

Marie wollte schon weiterfahren, als sie in der Nähe der Scheune einen Mann bemerkte, der Holz hackte. Um ihn herum sprang ein junger, schwarzer Hund. Ab und zu, wenn er ihm zwischen die Beine geriet, schob der Mann ihn von sich. Nicht unfreundlich, aber bestimmt.

Es war kaum anzunehmen, dass auf dem Hof tatsächlich noch etwas verkauft wurde. Trotzdem radelte Marie kurz entschlossen den schmalen, mit spitzen Kieseln bestreuten Weg entlang zum Haus.

In einiger Entfernung hielt sie an, winkte und rief: „Hallo?“

Der Mann hob nur kurz den Kopf und wandte sich dann sofort wieder seinem Holzbock zu.

„Hallo?“, rief Marie noch einmal. Der Mann hielt nicht einmal mehr inne.

Schlagartig fiel Marie ein, was sie in der Bäckerei vergessen hatte: eine Zeitung. In dem Moment, als der Mann im Anzug den Laden betrat, war ihr Blick auf einen Ständer mit Zeitschriften und Zeitungen gefallen. Kurz und unbewusst hatte sie ein Wort in der obersten Schlagzeile wahrgenommen. „Monster“ hatte da gestanden, fett und in Rot gedruckt. Das Monster … Marie schüttelte unwirsch den Kopf. Unwillkürlich beschlich sie ein unangenehmes Gefühl.

Der Mann ignorierte Marie, doch der Hund war auf sie aufmerksam geworden. Sie bemerkte, wie er die Ohren spitzte und Witterung aufnahm. Er freute sich offenbar über die Ablenkung und den unerwarteten Besuch. Mit gespitzten Ohren und heraushängender Zunge sprang er auf Marie zu. Sein seidiges, halblanges schwarzes Fell glänzte in der Sonne. Kurz, bevor er sie erreicht hatte, richtete der Mann sich auf und stieß einen scharfen Pfiff aus. Der Hund blieb unschlüssig stehen, sein Blick wanderte zwischen seinem Herrn und Marie hin und her. Ärgerlich pfiff der Mann noch einmal. Der Hund jaulte, in Maries Ohren klang es fast wie Bedauern. Dann wandte er sich um und sprang zum Haus zurück.

„Vorn auf dem Schild steht, Sie verkaufen Eier?“, rief Marie.

Der Mann sah sie an. Er hatte schwarze Augen, wie sein Hund. Weiße Bartstoppeln sprossen an seinen mageren Wangen. Er war knochig und breit. Marie kam es so vor, als zöge er das rechte Bein nach, als sei es etwas kürzer als das andere, als er einen Schritt auf sie zumachte. Langsam nahm er seinen Hut ab und fuhr sich mit der Hand durch seine kurzen, verschwitzten grauen, an manchen Stellen schon weißen Haare. Dann schüttelte er den Kopf, schlug die Axt mit einer wuchtigen und doch fast nachlässigen Bewegung in den Holzblock und ging ins Haus.

„Na, toll“, murmelte Marie. Sie sah noch einen Augenblick zum Hof hinüber, dann radelte sie die Einfahrt zurück zur Straße. Sie überlegte, ob sie das erste Zusammentreffen mit der Dorfbevölkerung als nicht gerade gelungen oder doch gleich als völliges Desaster einstufen sollte.

Kapitel 3

Marie erwachte vom monotonen Krächzen der Krähen. In letzter Zeit waren es mehr geworden. Sie fielen in die Felder ein, lungerten in pubertären Rowdy-Gruppen auf den Bäumen herum und schrien die Landschaft an oder zankten sich untereinander mit ihren heiseren, aggressiven Stimmen. Ein Gefühl der Leere, Unendlichkeit, die ewige Gattung, kein Individuum. Obwohl, so konnte man das gar nicht sagen. Manche waren frecher als andere, wagten sich weiter vor, in die Gärten der Siedlung, um zu sehen, ob dort etwas zu holen war, als Vorboten der Horden. Sie landeten auf den Dachfirsten der Gartenhäuschen, sträubten die Kopffedern, schüttelten sich und blickten mit blanken, starren Augen auf die Veranden und Fenster. Wenn etwas in ihnen zu lesen war, dann Neugier mit großgeschriebener Gier. Im Halbschlaf stellte Marie sich vor, wie sie ins Innere geborstener, verwester Körper von Mäusen, Igeln, Hasen, Füchsen, Artgenossen und anderen Tieren starrten, die am Straßenrand lagen, überfahren von Lkw oder den Wagen der Wochenendausflügler. Zu oft. Keine Emotionen, kein Erbarmen, keine Scheu.

Sie blinzelte und sah hinüber zum Fenster. Ein Spalt im Vorhang gab den Blick frei auf das Morgengrau, einen bleiernen Himmel, der sich am äußersten Ende blass blau färbte. Manchmal lähmten einen die Gedanken und spulten ihr Programm erbarmungslos ab. Marie war hierhergekommen, um zu vergessen. Aber so einfach war das nicht. Sie lag im Bett und dämmerte vor sich hin, anstatt aufzustehen und Kaffee zu kochen.

Das erste Mal war es in der Küche passiert. Sie vermeinte, sich noch daran zu erinnern, als wäre es gestern geschehen. Sie spürte den kühlen Steinboden unter den bloßen Füßen. Ihre Latschen – die mit den Bastsohlen und einem Band aus orange und rostrot gestreiftem Stoff, sie hatte sie in Köln vergessen – hatte sie im Gang liegen lassen. Es war dämmrig, durch die herabgelassene Jalousie drang etwas Sonnenlicht, das sich in feinen Streifen auf den Boden legte. Die kalte Luft aus dem Kühlschrank schlug ihr ins erhitzte Gesicht. Sie blieb reglos stehen, schloss die Augen und genoss den Moment, bevor sie eine Flasche Bier herausnahm.

„Hey“, sagte eine Stimme hinter ihr.

Marie zuckte erschrocken zusammen. Es war Tobias. Ehe sie sich umdrehen konnte, hatte er sie von hinten umfasst und legte seinen Kopf auf ihre Schulter. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Normalerweise war er um diese Zeit noch nicht zu Hause.

„Hey“, sagte sie und drehte sich leicht zur Seite, um ihm einen flüchtigen Kuss zu geben.

Sie hatte sich auf einen Augenblick der Ruhe gefreut, allein in der Küche, im Dämmerlicht, in der Kühle und im Bewusstsein der flimmernden Hitze, die draußen herrschte. Die Erleichterung, der erste Schluck … Und später noch in einen Biergarten, mit Tobias und Freunden vielleicht. Aber jetzt war er schon hier. Sie spürte seine Arme an ihrem T-Shirt, seinen Hals an ihrem, den leichten Schweißfilm seiner Haut und schloss die Augen. Die Wärme, die er ausstrahlte, war ihr unangenehm.

Sanft versuchte sie, sich ihm zu entwinden, doch er ließ nicht los und lachte leise.

„Ich hab schon was getrunken“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Mit ein paar Kollegen.“

„Mhm“, machte Marie und seufzte. „Das mach ich jetzt auch.“ Wieder versuchte sie, sich von ihm zu lösen, doch er hielt sie immer noch fest und presste sich an sie.

„Tobi.“ Marie atmete genervt aus. „Ich bin grade eben heimgekommen … Ich muss erst mal ankommen. Mich ein bisschen entspannen.“

„Mhm“, machte er, küsste ihren Hals und tastete mit der Hand nach ihren Beinen.

Sie spürte, wie erregt er plötzlich war. Sie hatte keine Angst, warum auch, sie war nur genervt und wollte ihre Ruhe. Doch als sie sich von ihm lösen wollte, hielt er sie weiter fest, auf einmal hart und brutal, presste ihren Oberkörper mit einem Arm an sich und versuchte mit dem anderen, ihren Rock hochzuschieben. Als sie sich wehrte, nahm er sie fest an beiden Armen und stieß sie gegen den Kühlschrank. Sie knallte mit dem Kopf dagegen, aber sie spürte es kaum. Die Flasche Bier fiel zu Boden.

„Spinnst du?“, keuchte sie.

Tobias war schon wieder dicht bei ihr.

„Komm schon“, sagte er und umklammerte sie noch fester.

Und plötzlich erwachte in ihr ein kleiner, mieser Zweifel, der sich leicht zum Vorgefühl einer leisen Panik steigern konnte, die dann nur mit viel Routine und vor allem Erfahrung manchmal zu beherrschen oder zu unterdrücken war. Und diese Routine und Erfahrung fehlten ihr – oder erkannte sie nur wieder, wie hoffnungslos alles war? Wie die Hilflosigkeit, die Ohnmacht, das absolute Ausgeliefertsein sie überschwappte …?