Zeit für Neuanfänge - Die TikTok Sensation endlich auf Deutsch - Lucy Score - E-Book

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Lucy Score

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Beschreibung

Von der Autorin des Weltbestsellers "Things we never got over" Beckett Pierce hat gern alles unter Kontrolle. Als Bürgermeister von Blue Moon trägt er viel Verantwortung, und er tut es gern. Gefühle zulassen, sich Hals über Kopf verlieben? Darauf kann er gut verzichten. Erst recht, wenn es sich um seine neue Mieterin handelt. Gianna Decker hat alle Hände voll zu tun mit zwei Kindern, einem nutzlosen Ex und einem brandneuen Yogastudio. Das Letzte, was sie gebrauchen kann, ist eine heiße Affäre. Von ihrem attraktiven Vermieter fantasieren? Ein klarer Fehler. Bei der Stadtversammlung vor allen Augen mit ihm flirten? Ganz schlechte Idee. Heimlich im Geräteschuppen mit ihm knutschen? FEHLANZEIGE. Sich auf Beckett einzulassen, wäre eine einzige Katastrophe. Weder er noch sie sind bereit, der Liebe eine zweite Chance zu geben. Aber das Leben wartet nicht, bis man bereit ist. *** Die ganz große Kleinstadt Liebe In der Kleinstadt Blue Moon bleibt niemand lange Single. Dafür sorgt das geheime Komitee für Lebensqualität. Ihr neuestes Verkupplungsprojekt: die drei attraktiven Pierce-Brüder. Nur wissen die noch nichts von ihrem Glück. So unterschiedlich Carter, Beckett und Jack auch sein mögen, eines haben sie gemeinsam: Sie sind überzeugte Junggesellen. Bis die richtige Frau vorbeikommt ... In acht Bänden hat Amazon Nr.1 Autorin Lucy Score mit ihrer Saga über Blue Moon und die Pierce-Brüder eine Welt erschaffen, die Millionen Lesern ein Zuhause wurde.

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Seitenzahl: 465

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Zeit für Neuanfänge

von Lucy Score

Wo immer du stehst, sei die Seele des Ortes

– Rumi

Widmung

Für Amber, meine Schwester im Herzen, wenn auch nicht im Blut.

Zuerst 2019 erschienen unter dem Titel Blue Moon – Fall Into Temptation.

Titel: Zeit für Neuanfänge

ISBN: 978-3-910990-06-7

Autorin: Lucy Score

Übersetzung: Jenny-Mai Nuyen

Cover: Damonza

Deutsche Erstveröffentlichung: Berlin 2022

© Lucy Score

© Deutsche Übersetzung Von Morgen Verlag

Alle Rechte vorbehalten.

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

Verlosung und Band 3

 

KAPITEL 1

Es war gut, zu Hause zu sein, beschloss Beckett Pierce. Auch wenn sein Nachbar von gegenüber den Garten bereits überschwänglich für Halloween dekoriert hatte.

Beckett schüttelte den Kopf über den riesigen aufblasbaren Kürbis vor seinem Haus und joggte in gemächlichem Tempo den Bürgersteig hinunter. Es war ein früher Oktoberabend, perfekt für einen Lauf durch die Kleinstadt. Vor allem, da er zehn Tage lang weg gewesen war. Nach etlichen Stunden im Flugzeug tat es gut, sich die Beine zu vertreten und seine Heimat wiederzusehen. Und da es dunkel war, würde er auch nicht ein Dutzendmal von Bekannten angesprochen werden.

Er liebte seine Pflichten als Bürgermeister von Blue Moon Bend und die Arbeit in seiner Anwaltskanzlei, aber eine Woche in der karibischen Sonne bei der Hochzeit seines Studienfreundes zu verbringen, war eine schöne Abwechslung gewesen. Auch wenn er sich sicher war, dass Edward einen Fehler beging, sich für den Rest seines Lebens an Tiffani, die Promi-Stylistin, zu binden.

Jetzt hieß es alles nachzuholen, was während seiner Abwesenheit in Blue Moon auf der Strecke geblieben war. Und das war eine ganze Menge. Die Stadt mochte klein sein, aber es war immer viel los.

Während Beckett bei der Hochzeit gewesen war, hatte seine Anwaltsgehilfin und rechte Hand Ellery eine Mieterin – eine alleinerziehende Mutter von zwei Kindern – für sein Gästehaus im Garten gefunden, außerdem hatte das Yogastudio von Blue Moon die Besitzerin gewechselt, weshalb eine Neueröffnungsfeier bevorstand. Schließlich hatte noch seine Mutter angekündigt, dass sie mit ihrem Freund Franklin Merrill zusammenziehen würde. Beckett hatte beschlossen, diese letzte Neuigkeit so lange wie möglich zu ignorieren.

Der Abend war so dunkel, dass er beschloss, einen Abstecher auf die Hauptstraße des Dorfes zu riskieren. Die meisten Läden waren inzwischen geschlossen, aber im Yogastudio sah er Licht brennen. Maris, die frühere Besitzerin, war nach Santa Fe gezogen, um ein Geschäft für Kristalle und andere esoterische Gegenstände zu eröffnen.

Beckett joggte mit seinen langen Beinen über den Platz zu den großen Fenstern des Studios, das sich im Erdgeschoss eines dreistöckigen, marineblau gestrichenen Backsteingebäudes befand. Es sah so aus, als sei Maris’ Nachfolgerin deutlich jünger. Und gelenkiger.

Umgeben von Farbdosen und Pinseln vollführte eine einsame Frau mit endlos langen, feuerroten Locken einen perfekten Kopfstand. Das Atelier war in einem frischen Pfauenblau gehalten und mit flackernden Kerzen erfüllt, aber Beckett hatte nur Augen für die Frau in der Mitte des Raums.

Ihre Beine, gerade durchgestreckt, öffneten sich zu einem umgekehrten Spagat. Sie wackelte und fiel dann anmutig auf die Matte. Er konnte ihr Lachen schwach durch das Glas hören. Fasziniert beobachtete er, wie sie ihr Haar über die Schulter warf und unerschrocken in den Kopfstand zurückkehrte. Diesmal war ihr Spagat felsenfest.

Sie brachte ihre Beine zusammen und hob sie dann wie ein Klappmesser in Richtung Decke, um sich in einen Handstand zu erheben.

Kraft und Anmut, dachte er und trat näher an die Scheibe heran. Sie rollte sich nach vorne und in den Schneidersitz. Und dann gab sie sich selbst ein High-Five.

Becketts Telefon klingelte in der Tasche seiner Funktionsjacke. Er zog es heraus und zuckte zusammen, als er den Namen auf dem Bildschirm sah. Er war noch nicht bereit für dieses Gespräch. Trotzdem hob er pflichtbewusst ab. „Hallo, Mom.“

„Ich habe gehört, dass mein Lieblingssohn wieder zu Hause ist“, zwitscherte Phoebe Pierce ihm ins Ohr.

„Und ich habe gehört, dass meine Mutter einen Mitbewohner bekommt.“

„Das werde ich, wenn wir ein anständiges Haus zum Kaufen finden“, seufzte sie. „Es ist nicht gerade einfach. Der Immobilienmarkt in Blue Moon ist eine Katastrophe.“

Beckett schwieg.

Seine Mutter seufzte wieder. „Ich hatte schon das Gefühl, dass die Nachricht nicht besonders gut ankommen würde.“

Beckett blickte finster auf den Boden. „Ich will mich nicht mit dir streiten, Mom.“

„Früher oder später müssen wir darüber reden, weißt du. Franklin ist ein wunderbarer Mann. Du musst ihm wirklich eine Chance geben.“

„Mom.“

„Beckett. Du bist mir wichtig. Du bist der einzige mittlere Sohn, den ich habe. Und Franklin ist mir auch wichtig. Ich möchte, dass er einen Platz in unserer Familie bekommt.“

Platz in unserer Familie für einen Mann, der nicht mein Vater ist? John Pierce, sein Vater, war nach Becketts Einschätzung der großartigste Mann, der je gelebt hatte. Er hatte Beckett beigebracht, was Liebe, Loyalität und Gemeinschaft bedeuteten. Die Vorstellung, dass irgendein Restaurantbesitzer in schrillen Hawaiihemden Johns Platz einnehmen könnte, war grotesk. Na schön, Franklin engagierte sich in der Handelskammer und gab der Gemeinde viel zurück. Aber nichts davon war vergleichbar mit John Pierces Beitrag in Blue Moon.

„Zusammenzuziehen ist eine ernste Sache, Mom. Ich versuche nur, auf dich aufzupassen“, sagte Beckett. Erst Edward und Tiffani, jetzt seine Mutter und Franklin. Was war los mit den Leuten, dass sie sich auf Partner einließen, die ihnen nicht gerecht wurden? Erfolgreiche Beziehungen beruhten auf Ebenbürtigkeit und gemeinsamen Zielen. Nicht zu verwechseln mit wahlloser körperlicher Anziehung oder einer Notlösung gegen Einsamkeit. Er wollte nicht, dass seine Mutter verletzt wurde, schon gar nicht von jemandem, der offensichtlich nicht gut genug für sie war.

„Wir haben viel darüber nachgedacht, und wir wollen beide zusammenziehen“, sagte sie sanft. „Ich freue mich darauf, und ich hoffe, ihr Kinder freut euch auch für mich.“

„Können wir über etwas anderes reden?“, bat Beckett.

Phoebe seufzte erneut, tat ihm aber den Gefallen. „Wie war deine Reise?“

Siegreich rollte sich Gia zurück auf die Matte. Vom Kopfstand in den Handstand zu wechseln, machte sie stolz. Aber sie war genauso dankbar für all die Patzer und Fehlversuche. Sich ihren Erfolg mit harter Arbeit und Schweiß zu verdienen, war befriedigender, als etwas auf Anhieb zu schaffen, beschloss sie. Und mit Übung und Konzentration würde sie lernen, ihre Ziele immer schneller und effizienter zu erreichen.

Gia starrte an die Decke ihres Studios. Ihr ganz eigenes Yogastudio.

In den letzten Wochen hatte sich alles zusammengefügt. Dass das Studio frei geworden war und sie es zu einem fairen Preis hatte übernehmen können. Dass sie ein charmantes kleines Mietshaus gefunden hatte, nur wenige Gehminuten vom Studio entfernt. Und dass sie endlich wieder in der Nähe ihres Vaters wohnte. Als Kind hatte sie ihm sehr nahe gestanden, da er sowohl die Rolle des Vaters als auch der Mutter übernommen hatte – ganz zu schweigen von der Rolle des Vermittlers, wenn sie und ihre Schwestern sich stritten. Sie hatte ihn in den letzten Jahren vermisst, als sie sich aufgrund äußerer Umstände nicht mehr oft gesehen hatten.

Aber jetzt würde alles anders werden. Sie würde anders sein. Ihr Leben würde sich nicht mehr um die Launen ihres Ex-Mannes drehen, der so achtlos mit ihrem Herzen umgegangen war.

Und ihr neues Yogastudio würde auch anderen Leuten helfen. Hier, in dem kleinen Städtchen Blue Moon, würde sie den Neuanfang finden, den sie brauchte.

Gia stand auf und streckte sich, dann zog sie ihr mit Farbe bespritztes Tank-Top zurecht und begutachtete den Raum, die Hände in die Hüften gestemmt.

Die neue Wandfarbe sah gut aus. Das Blau war leuchtend, aber beruhigend. Der Rest des Raums hatte eine geschmackvolle Aufhübschung erhalten, mit neuer dimmbarer Beleuchtung, bunten Kissen und weichen Überwürfen sowie Zen-inspirierter Kunst an den Wänden. Sie hatte das kleinere Studio im hinteren Bereich neu gestrichen und die Waschtische in beiden Badezimmern ausgetauscht.

Eine schnelle, oberflächliche Reinigung, und sie wäre bereit für die morgige Einweihungsfeier, bei der sie hoffentlich noch mehr ihrer neuen Mitbürger kennenlernen würde. Es war nicht nur eine Einweihungsfeier für das Yogastudio. Es war die Einweihung eines neuen Zuhauses, eines neuen Lebens. Das hoffentlich beständiger sein würde, mit weniger Fehlversuchen.

Beckett warf die handgeschriebenen Briefe in den Papierkorb und griff nach einem Glas. In zehn Tagen hatte er fünfzehn Nachrichten von Modelagenturen erhalten, die ihn und seine Brüder vertreten wollten. Das lag an dem Artikel, den Summer, die Freundin seines Bruders, über die Familienfarm Pierce Acres geschrieben hatte. Er nahm sich vor, Summer zu töten, wenn er sie das nächste Mal sah.

Ihr Artikel war in einer New Yorker Modezeitschrift erschienen und hatte mehr Aufmerksamkeit erregt, als Beckett sich je gewünscht hatte. Wobei der Begriff ‚Artikel‘ nicht ganz stimmte, die Redaktion hatte ihn eher auf eine anzügliche Fotostrecke mit Unterschriften heruntergekürzt. Als hätte die Zeitschrift nicht schon genug Leute erreicht, hatte Summer ihren ursprünglichen, längeren Artikel auch noch auf ihrem Blog veröffentlicht, und seitdem verbreitete er sich geradezu viral.

Beckett und seine Brüder bekamen nun ständig Angebote von Modelagenturen und wildfremden Frauen. Ellery machte sich einen Spaß daraus, einige der kreativeren Angebote vorzulesen, die über seine geschäftliche E-Mail-Adresse eintrafen.

Er füllte sich das Glas mit Leitungswasser, als ihm die Lichter im Gästehaus auffielen. Beckett warf einen Blick auf seine Uhr. Acht Uhr dreißig. Noch früh genug, um vorbeizuschauen und sich seiner neuen Mieterin vorzustellen.

Er verließ die Veranda durch die Hintertür und überquerte die Rasenfläche, die sein Haus vom Gästehaus trennte. Es war ein hübsches zweistöckiges Haus, das als Ergänzung zu seinem weitläufigen viktorianischen Haus gebaut worden war. Zwei Schlafzimmer im Obergeschoss, eine Küche in Puppengröße im Erdgeschoss und ein angrenzender Wohnbereich – es war klein, aber gemütlich und charmant. Und schneller vermietet, als er erwartet hatte.

Er trat auf die schmale Veranda und klopfte an die glänzend schwarz lackierte Tür. Durch das Fenster sah er, wie ein Junge von der Couch kletterte und auf ihn zu schlurfte. Er hatte sandfarbenes Haar und argwöhnische Augen.

„Ja?“, fragte der Junge.

„Hey. Ich bin dein Vermieter, beziehungsweise dein Nachbar“, sagte Beckett und wies mit dem Daumen auf sein Haus. „Ist deine Mutter da?“

„Sie ist nicht meine Mutter.“ Der Junge sagte es mürrisch, als wäre es ein ständiger Streitpunkt.

„Hat sie dich entführt?“, fragte Beckett mit einem Ausdruck gespielter Besorgnis. „Wenn du gegen deinen Willen festgehalten wirst, blinzle zweimal.“

Die Lippen des Jungen verzogen sich zu einem Grinsen.

„Ich kenne den Sheriff. Ich kann ihn in fünf Minuten herholen. Es ist ziemlich langweilig in Blue Moon, was Verbrechen angeht. Er würde sich über einen guten, altmodischen Fall von Kindesentführung freuen.“

„Sie ist meine Ex-Stiefmutter“, erklärte der Junge. „Und sie ist nicht hier.“

„Ich werde ein anderes Mal vorbeikommen und mich vergewissern, dass sie dich nicht Böden schrubben oder im Schrank unter der Treppe leben lässt.“

Diesmal erschien auf dem Gesicht des Jungen fast ein Lächeln.

„Bis später, Junge.“

„Später, Mr. Vermieter.“

KAPITEL 2

Gut gelaunt von seinem Morgenkaffee und einer erholsamen Nacht schritt Beckett in den Teil seines Hauses, in dem seine Anwaltskanzlei lag. Was ursprünglich ein Wohnzimmer gewesen war, hatte Beckett in einen Empfangsraum und ein Büro unterteilt. Ein Wintergarten schloss sich seitlich an und ließ Licht und Luft herein.

Beckett hatte die dunkel karierten Tapeten von den Wänden entfernt, aber die hüfthohe Vertäfelung belassen. Einbauschränke flankierten die Doppeltüren, die in sein Büro führten. An der Rückwand befand sich ein großer Steinkamin.

Ellerys Schreibtisch stand im Empfangsraum. Von dort aus tat sie ihr Bestes, um den nicht enden wollenden Strom von Besuchern in Terminen zu ordnen. Hier kreuzten sich seine politische und seine juristische Karriere. Die Klienten seiner Kanzlei teilten sich den sonnigen Wartebereich mit Mitgliedern des Stadtrats und Anwohnern mit Beschwerden oder völlig unangemessenen Vorschlägen, oftmals beides.

Beckett stellte Ellerys rosa Kätzchentasse auf ihrem Schreibtisch ab. Seine Anwaltsgehilfin drehte sich in ihrem Stuhl, das Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt.

„Aha. Sicher, Mrs. Parker. Ich sage ihm Bescheid, sobald er wieder im Büro ist“, sagte sie ins Telefon. „Sie auch. Tschüss … tschüss.“ Ihre schwarz geschminkten Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Winzige Totenkopf-Ohrringe tanzten an ihren Ohrläppchen, als sie sich Beckett zuwandte. „Mrs. Parker ist sehr daraninteressiert, die Neufassung ihres Testaments zu besprechen. Das ist der Code für: Sie will dich mit ihrer Tochter verkuppeln.“

„Moon Beam?“ Beckett zuckte zusammen. Er war mit Moon Beam Parker zur Schule gegangen und hatte einen sehr denkwürdigen Abend mit ihr auf dem Rücksitz des Geländewagens seiner Mutter verbracht, wobei er seine Jungfräulichkeit verloren hatte. Die Beziehung war – wie so viele High-School-Romanzen in Blue Moon – im Sande verlaufen, als Moon Beam nach der Scheidung ihrer Eltern zu einem einjährigen Aufenthalt in einer Kommune in Vermont aufgebrochen war.

„Es scheint, als hätte Mrs. Parker ebenfalls Wind von dem Artikel über dich und deine Brüder bekommen. Bei so viel Ruhm scheinst du ihr wieder als Partner für ihre Tochter würdig.“

„Ich wäre dann Ehemann Nummer drei, oder?“, fragte Beckett und ließ sich auf einen der Stühle vor Ellerys Schreibtisch fallen. Er nippte an seinem Kaffee. „Was steht noch auf der Tagesordnung, außer mich zu verheiraten?“

„Das Wichtigste zuerst“, sagte Ellery. „Willkommen zurück. Du siehst braungebrannt und überwiegend glücklich aus.“

„Ich bin braungebrannt und überwiegend glücklich.“ Er dachte an die Hiobsbotschaft von seiner Mutter und presste die Lippen aufeinander.

„Gut.“ Ellery nickte. „Dein Kalender für diese Woche ist aktualisiert. Ich habe versucht, die Termine ein wenig locker zu halten, damit du nach dem Urlaub nicht völlig überwältigt wirst.“ Sie ging die Höhepunkte der kommenden Woche durch und zeigte mit ihren schwarzen Fingernägeln auf ihren Bildschirm. „Und heute Mittag wirst du für die Banddurchtrennung im Yogastudio gebraucht.“

Beckett wurde hellhörig. Er würde heute also die schöne, gelenkige Yogalehrerin kennenlernen. Das war in der Tat ein Höhepunkt. Die Erinnerung an ihr Lachen im Kerzenschein ihres Studios wurde wieder in ihm wach. Diese roten Locken und die blasse Haut. Sie hatte etwas Magisches an sich.

„Beckett?“ Ellery sah ihn an.

„Was?“

„Ich habe gefragt, ob du sie schon getroffen hast?“

Er runzelte die Stirn. „Nein. Ich bin erst gestern Abend zurückgekommen“, erinnerte er sie.

„Sie ist großartig. Wirklich unglaublich“, schwärmte Ellery. „Sie hat letzte Woche angefangen, Kurse zu geben, und ich habe mich nach meinem ersten Kurs für einen ganzen Monat angemeldet. Ich glaube, sie wird eine Bereicherung für Blue Moon.“

Bevor er sie über die gelenkige Yogalehrerin ausfragen konnte, wurden sie von seinem Neun-Uhr-Termin unterbrochen, der fünfunddreißig Minuten zu früh erschien.

Nun fing der Tag wirklich an.

Beckett arbeitete sich durch Termine, Recherchen und Papierkram, bis es Zeit war, zur Einweihungsfeier zu gehen. Er schnappte sich die feierliche goldene Schere, die Ellery ihm entgegenhielt, und eilte zur Tür hinaus.

„Renn nicht damit herum“, rief sie ihm nach.

Vor dem Eingang des Studios hatte sich bereits eine Menschenmenge versammelt. Es waren alles bekannte Gesichter. Elvira Eustace mit ihren Locken, die mehr weiß als grau waren, unterhielt sich angeregt mit Anthony Berkowicz, dem schlaksigen, jungenhaften Redakteur vom Lokalblatt Monthly Moon, der eine Digitalkamera in der Hand hielt, die größer war als er selbst.

Anthonys Mutter Rainbow starrte ungeduldig auf ihre Uhr, während Mrs. McCafferty von McCafferty’s Farmbedarf ihr ein Ohr abkaute.

Die Tür zum Yogastudio öffnete sich, und Rob vom Saftladen Julia’s Juice kam mit leeren Tabletts heraus.

„Hey, Beckett“, begrüßte Rob ihn.

Beckett nickte den Tabletts zu. „Lässt Julia dich jetzt Lieferungen machen?“

Rob grinste. „Sie und das Baby managen das Geschäft für ein paar Tage von zu Hause aus. Das war alles, wozu ich sie überreden konnte, bevor sie wieder zur Arbeit kommt.“

„Bald habt ihr drei Kinder unter fünf Jahren.“ Beckett schüttelte den Kopf. „Ihr zwei seid Superhelden.“

„Oder Wahnsinnige.“ Rob zuckte fröhlich mit den Schultern. „Was gibt’s Neues bei dir? Wie war deine Reise?“

Becketts Antwort wurde von der Stadträtin Dr. Donna Delveccio unterbrochen, die zu ihnen trat. Donnas unternehmerisch denkende Eltern hatten drei ebenso unternehmerisch denkende Kinder großgezogen. Insgesamt besaß und betrieb die Familie Delveccio Blue Moons chemische Reinigung, ein Sanitätshaus und Delveccio Dental, Donnas Zahnklinik.

„Bereit mit deiner Schere, Beckett?“, fragte sie und rieb sich die Hände. „Da drinnen gibt es ein Buffett mit Truthahnsandwiches, die nach mir rufen, und ich habe gleich einen Patienten zu versorgen.“

„Ich bin bereit. Haben wir hier irgendwo auch eine Yogastudiobesitzerin?“, fragte Beckett und suchte die Menge mit dem Blick ab.

Dr. Delveccio zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist sie drinnen?“

„Ich schaue nach, ob ich sie finde. Nicht mehr lang, bis du dein Truthahnsandwich in den Händen hältst“, versprach er Donna. Er machte einen Schritt auf die Glastür des Studios zu und drehte sich wieder um. „Wie lautet ihr Name?“, fragte er Donna.

„Gianna Decker.“

Beckett bedankte sich und betrat das Studio. Das Malerzeug von gestern Abend war weggeräumt worden. Vor den Fenstern stand ein langer Buffettisch mit Sandwiches, Snacks und Mini-Smoothies.

Im hinteren Teil führte eine Tür zu einem zweiten, kleineren Raum. Es war leer. Aber im schmalen Gang dahinter bemerkte er, dass eine der Toilettentüren geschlossen war. Sie musste da drin sein. Er beschloss, ihr noch ein oder zwei Minuten zu geben. Da hörte er den Türknauf klappern.

„Ist da draußen jemand?“, rief eine gedämpfte Stimme.

Er eilte den Flur hinunter und kam gerade rechtzeitig vor der Toilettentür an, um ihr Stöhnen zu hören.

„Ernsthaft? Ausgerechnet heute!“, stieß sie kläglich aus. Der Griff wackelte wieder, diesmal fester. Ein Klopfen ersetzte das Rütteln. „Du verdammte Tür!“

Beckett klopfte zurück. Ein Aufschrei erscholl auf der anderen Seite.

„Stecken Sie fest?“, fragte er.

„Oh mein Gott! Ja, bitte helfen Sie mir. Das Schloss muss kaputt sein. Ich komme nicht raus und alle warten schon.“

Beckett probierte den Griff an seiner Seite aus. „Die Tür ist eingeklemmt“, stellte er fest.

„Ach, wirklich?“, fragte sie trocken.

„Man kann Sarkasmus auch durch Türen hören“, erinnerte er sie.

„Richtig. Entschuldigung. Ich bin nur aufgeregt. Können Sie mich hier rausholen?“

„Nein. Ich fürchte, Sie müssen für immer da drin bleiben.“

„Man kann Sarkasmus auch durch Türen hören.“

Beckett lachte. „Tut mir leid. Ich konnte nicht anders. Ich kann Sie rausholen.“ Er griff in seine Tasche und zückte das Multifunktionsgerät, das ihm sein Vater geschenkt hatte. „Ich werde die Schrauben aus dem Knauf drehen, okay?“

„Oh, gut. Ich hatte schon Angst, Sie würden die Tür eintreten.“

„Das heben wir uns als letzten Ausweg auf“, versprach er. Beckett löste die Schrauben schnell und riss den Knauf ab. Er hörte das dumpfe Aufschlagen des zweiten Knaufs auf der anderen Seite der Tür. Mit dem Zeigefinger drückte er auf die Entriegelung des Schließers und die Tür schwang auf.

Sie saß auf dem Waschtisch, ihre nackten Füße baumelten zwischen den Falten ihres langen Rocks. Das Grinsen, das sie ihm schenkte, erhellte das Badezimmer wie ein Feuerwerk am Nachthimmel. Sie rutschte vom Waschtisch und stürzte sich in seine Arme. Er fing sie instinktiv auf und seine Augen weiteten sich, als ihre vollen, weichen Lippen auf seinen landeten.

Es war ein unschuldiger, überschwänglicher Kuss der Dankbarkeit. Aber er brachte trotzdem Becketts Ohren zum Glühen.

„Küsst du immer Wildfremde?“, fragte er. Nach dieser Intimität, beschloss er, war ein Duzen angebracht.

Ihre großen grünen Augen strahlten ihn an. „Nur Wildfremde, die mich vor lebenslanger Haft im Toilettengefängnis bewahren. Ich habe gerade darüber nachgedacht, ob die Handseife hier essbar ist oder nicht.“

Sie sah aus wie eine Fee. Zart und klein, mit Sommersprossen auf ihrer elfenbeinfarbenen Haut. Ihr enganliegendes langärmeliges Hemd brachte ihre Kurven zur Geltung.

„Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest. Ich muss ein Band durchschneiden“, verkündete sie und tätschelte seinen Arm, als sie sich an ihm vorbeischob.

„Ich auch“, sagte er und folgte ihr zurück ins Studio.

Sie wirbelte herum, ihr Rock wehte um ihre Beine. „Du … bist Beckett Pierce?“

„Zu Diensten“, sagte er mit einer leichten Verbeugung.

Sie lächelte wieder und musterte ihn von Kopf bis Fuß. „Sehr interessant.“

Gianna kehrte ihm wieder den Rücken zu und eilte nach draußen.

Als Beckett ihr folgte, stellte er fest, dass alle sich versammelt hatten und das zeremonielle rote Band vor der Tür gespannt war.

Elvira reichte ihm die unhandlich große Schere.

Beckett winkte Gianna zu sich hinter das Band. „Bereit?“

„Dann mal los“, grinste sie.

„Im Namen von Blue Moon heiße ich Gianna Decker in unserer Gemeinde herzlich willkommen“, verkündete Beckett der Menge. „Ich bin sicher, dass sie als Geschäftsinhaberin und Nachbarin eine hervorragende Ergänzung für unsere Stadt sein wird.“

Die kleine Menge applaudierte begeistert und Gianna winkte.

Beckett hielt die Schere an das Band und ergriff ihre Hand mit seiner freien. „Zusammen?“

Sie sah zu ihm auf und ihre Blicke trafen sich. Er hätte schwören können, dass er sein ganzes künftiges Leben in diesen Augen sah, bevor sie blinzelte.

Und gemeinsam zerschnitten sie das rote Band.

KAPITEL 3

Gia beobachtete Beckett von der anderen Seite des Studios aus, wie er sich mit einer Frau in Anzug und zwei Männern unterhielt, die bis auf die Farbe ihrer Flanellhemden gleich aussahen.

Er war auf jeden Fall attraktiv. Das dunkle Haar wuchs so dicht, dass es etwas verwuschelt wirkte. Seine kräftige Kieferpartie und die hohen Wangenknochen verliehen ihm eine klassische, maskuline Schönheit. Und dann diese Augen, die so grau waren, dass sie fast silbern wirkten.

Er bewegte sich elegant und lässig in seinem marineblauen Anzug, den obersten Knopf seines zerknitterten Button-downs offen. Gia registrierte, dass er spektakuläre Schultern hatte.

Beckett wirkte selbstbewusst und aufmerksam. Schade, dass er für Gia unantastbar war. Hätte er einen anderen Namen als Beckett Pierce gehabt, wäre sie in Versuchung geraten. In starke Versuchung. Aber er war tabu.

Sie musste sich auf ihre Familie und ihr neues Unternehmen konzentrieren. Männer waren für die absehbare Zukunft vom Tisch. Mindestens, bis alles andere geregelt war.

Sie fragte sich, wie Beckett wohl reagieren würde, wenn er erfuhr, wer sie war. Sie nippte an ihrem grünen Smoothie.

Rainbow Berkowicz wanderte zu ihr herüber. „Wie läuft es mit dem neuen Geschäftskonto?“, fragte die Direktorin der hiesigen Bank.

Gab es eine andere Stadt auf der Welt, in der eine Bankdirektorin Rainbow hieß? Allein dafür liebte Gia Blue Moon.

„Es ist alles in Ordnung, danke. Was macht das Bankgeschäft?“

Rainbow begann mit einer trockenen Analyse der aktuellen Kreditzinsen und ihrer Bedeutung für die lokale Wirtschaft.

Willa, eine von Gias ersten Schülerinnen im Studio, schwebte zu ihnen herüber. Ihr gewelltes blondes Haar floss ihr bis zu den Hüften. „Die neue Wandfarbe ist einfach wunderschön. Sehr friedlich“, sagte sie zu Gia.

„Danke, Willa. Genau das wollte ich erreichen.“ Sie spürte, wie ihr ein warmer Strom den Rücken hinauflief, als Beckett sich zu ihrem kleinen Kreis gesellte. „Kommst du morgen zum Unterricht?“, fragte sie Willa.

„Auf jeden Fall. Nach dem letzten Kurs habe ich mich so locker wie Wasser gefühlt“, sagte Willa mit einem verträumten Lächeln. Sie wandte sich an Beckett. „Hast du schon einen von Gias Kursen besucht, Beckett?“

„Noch nicht, aber ich habe es vor“, sagte Beckett mit dem Lächeln eines Politikers.

Gia hob eine Augenbraue. Sie erkannte ein leeres Versprechen, wenn sie es hörte. Und es hörte sich für sie ungefähr so an wie Fingernägel auf einer Kreidetafel.

„Oh, das solltest du.“ Willa nickte energisch. „Gia ist eine wunderbare Lehrerin.“ Ein zirpendes Geräusch ertönte aus den Tiefen von Willas Tasche. Sie kramte ihr Handy heraus. „Und das ist mein Stichwort, zurück in den Laden zu gehen. Stiefel verkaufen sich nicht von selbst! Vielen Dank für das Buffett, Gia. Wir sehen uns dann morgen.“

„Ich gehe mit dir raus“, verkündete Rainbow. Sie machten sich auf den Weg und ließen Gia mit Beckett zurück.

„Du willst also einen Kurs belegen?“, fragte sie ihn. Er hatte sie zwar aus dem Badezimmer gerettet, aber kleine Notlügen waren ihr ein persönlicher Dorn im Auge. Vielleicht, weil sie in ihrem Leben schon so viele davon gehört hatte. Sie war ein wenig erleichtert, dass Becketts Attraktivität dadurch auf ein etwas normaleres Niveau sank.

„Sicher. Irgendwann.“ Er schenkte ihr ein bürgermeisterliches Lächeln.

„Ich bin nicht sicher, Beckett“, sagte Gia und setzte ein ebenso falsches Lächeln auf. „Yoga kann ganz schön fordernd sein. Ich weiß nicht, ob du in der körperlichen Verfassung dafür bist.“

Er sah beleidigt aus. „Ich jogge fünf Meilen am Tag. Ich denke, ein bisschen Stretching kann ich vertragen.“

Er war großspurig, aber sie würde ihm einen Dämpfer verpassen. „Nun, das werden wir sehen, wenn du irgendwann einen Kurs belegst. Ich verspreche dir, dich zu schonen“, sagte sie, ihr Lächeln war messerscharf.

„Wann ist dein nächster Kurs?“, fragte er.

„Heute Abend um sieben.“

„Dann sehen wir uns um sieben.“

KAPITEL 4

Beckett kam eine Viertelstunde zu früh zum Yogakurs. Er war grimmig. Kurz nach der Einweihungsfeier war ihm klar geworden, wie Gianna ihn manipuliert hatte, an ihrem Kurs teilzunehmen.

Es war heimtückisch von ihr gewesen, an seiner sportlichen Konstitution zu zweifeln. Dass es funktioniert hatte, ärgerte ihn genauso wie ihre vermeintliche Besorgnis, Yoga könnte für ihn zu schwierig sein. Mit Dehnungen und Ommm-Gesängen konnte er nicht viel anfangen, aber einer Frau, die damit ihren Lebensunterhalt verdiente, hatte er das natürlich nicht sagen können. Er hätte absagen sollen – er hatte es sogar in Erwägung gezogen, als er in sein Büro zurückkehrte. Aber das würde sie nur in ihrer Annahme bestätigen, er sei ängstlich und unaufgeschlossen. Eine rothaarige Elfe und ihre Dehnübungen würden ihn nicht aus der Ruhe bringen.

In der High School hatte er Leichtathletik betrieben. An fünf Tagen in der Woche trainierte er frühmorgens im Fitnessstudio und ging laufen. Er trank jeden Tag einen Eiweißshake zum Frühstück. Er war in Form – sehr gut in Form – und keine biegsame Yogalehrerin würde das Gegenteil beweisen können.

Das Publikum im Studio war heute Abend bunt gemischt. Er erkannte vier Spieler aus dem High-School-Footballteam, die in der ersten Reihe saßen. Maizie von Peace of Pizza strich sich ihren weißblonden Pony aus den Augen, während ihr Freund Benito sich streckte.

In der Ecke am Fenster entdeckte Beckett den oft bekifften Buchhändler und Pokerchampion Bill Fitzsimmons, der im Schneidersitz mit geschlossenen Augen saß. Seine Lippen bewegten sich, aber es kam kein Ton heraus. Er trug eine Jogginghose, die aussah, als hätte sie die siebziger Jahre überlebt.

Beckett bemerkte gerade, wie warm es im Studio war, als Fitz aufstand und seine Hose auszog, unter der er ein erschreckend knappes Elasthanhöschen enthüllte. Beckett musste sich beherrschen, um nicht loszulachen. Oder loszuheulen.

Gianna, die eine Leggins und ein trägerloses Tanktop trug, das einige spektakuläre Kurven zeigte, lächelte von der Stirnseite des Raumes her. Das würde ihn ablenken.

„Willkommen“, rief sie ihm zu, mit einem Hauch von freundlichem Übermut in den Augen. „Ich hole dir eine Matte.“

Beckett folgte ihr zu dem Regal, in dem sich aufgerollte Matten in Lila und Grün sowie ein Dutzend Schaumstoffblöcke und weiche Decken befanden.

Gianna reichte ihm eine grüne Matte. „Du kannst dich überall aufstellen. Am besten aber nach vorne ausgerichtet, damit du mich immer sehen kannst.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und zog einen der Blöcke aus dem Regal. „Hier.“

„Wofür ist das?“

„Der Block hilft, einige Posen für Anfänger einfacher zu machen.“

Beckett sah sie an. „Ich bezweifle, dass ich den brauchen werde.“

„Na gut“, sagte sie mit einem Augenzwinkern und schlenderte zurück zur Stirnseite des Zimmers.

Beckett rollte seine Matte in der letzten Reihe aus und zog sein Sweatshirt aus. Die Frau neben ihm lächelte ihn an, und er erkannte Taneisha, die amtierende Siegerin des städtischen Wettlaufs über fünf Meilen. In den letzten vier Jahren hatte sie ihn jedes Mal überholt.

„Hey, Taneisha. Wie läuft’s mit dem Training?“

Sie begrüßte ihn mit einem Lächeln, das jeder Zahnpasta-Werbung Ehre gemacht hätte. „Ich bereite mich aufs nächste Jahr vor, bisher läuft es gut. Was führt dich zum Yoga?“ Sie beugte sich über ihre ausgestreckten Beine nach vorne und griff nach ihren Füßen.

„Ich unterstütze die kleinen Unternehmen von Blue Moon“, antwortete Beckett ausweichend.

„Wow, welcher andere Bürgermeister würde aus dem Grund einen Hot-Power-Flow-Kurs mitmachen?“ Ihre Augen leuchteten. „Blue Moon kann sich mit dir als Bürgermeister glücklich schätzen.“ Taneisha streckte sich wieder nach oben und hob die Arme über den Kopf.

„Hot-Power-Was?“, fragte er.

Bevor Taneisha antworten konnte, begann Gianna vorne zu sprechen. „Okay, Leute. Wir fangen jetzt an. Wenn ihr neu seid, macht euch keine Sorgen.“ Ihre grünen Augen fixierten Beckett. „Folgt einfach eurem Nachbarn, und ich werde rumgehen, um zu helfen. Fangen wir also in Balasana an, der Stellung des Kindes.“

Nach vier Minuten lief Beckett der Schweiß in Strömen den Rücken hinunter und er befürchtete den Kurs nicht zu überleben.

Gianna wanderte durch den Raum und rief sanfte Anweisungen, als würde sie ihre Schüler nicht gerade in den Tod treiben.

Beckett knirschte mit den Zähnen und rollte sich vorwärts, wobei sein Trizeps zitterte, als er wieder in einen Armstütz tauchte. Haben wir nicht schon etwa fünfzig davon gemacht? Dieser ständige Flow – oder Vinyasa, was auch immer das heißen mochte – erweckte seinen Körper nicht, wie Gianna versprochen hatte. Stattdessen erweckte er Schmerzen in Gegenden, die Beckett noch nie gespürt hatte.

Ich bin doch gut in Form. Warum fühle ich mich dann wie ein Zinnsoldat?

Er schob sich wieder auf den Boden zurück, machte eine kurze Verschnaufpause, bevor er mit einem Bein nach vorne trat. Er richtete sich auf, eine Sekunde später als seine Nachbarn, und streckte die Hände zur Decke, wobei er betete, ein Meteor möge das Studio treffen.

Beckett wollte sich gerade auf den Boden legen und eine weitere Verschnaufpause einlegen, als er Hände auf sich spürte, die seine Arme noch höher zogen.

„Durch die Arme heben“, sagte Gianna leise. „So ist es richtig. Jetzt streckst du dich durch die Wirbelsäule, als würdest du mit dem Kopf durch die Decke wachsen.“ Sie strich mit ihren Händen über seine Wirbelsäule und verursachte ein Prickeln.

„Perfekt“, sagte sie, als er sich neu ausrichtete.

Er spürte sehr deutlich und unangenehm, wie ihre Hände seinen Körper verließen. Er musste zugeben, dass sich die Pose durch ihre Korrektur besser anfühlte. Aber es dauerte nur eine weitere Sekunde, bevor sie die Sequenz auf der anderen Seite durchführte. Immer wieder rutschte er zu Boden und betete, dass seine Arme ihn halten würden. Der Schweiß kitzelte an seinen Beinen. Ein Tropfen sammelte sich auf seiner Nasenspitze und fiel auf die Matte.

Schwitzen meine Augäpfel?, fragte er sich.

Er warf einen Blick zu seiner Linken. Taneishas makellose Haut war mit Schweißperlen übersät und sie lächelte sich durch einen weiteren Sonnengruß. Neben ihr hatte Fitz sein Hemd ausgezogen und trug jetzt nur noch sein lächerliches Höschen.

Das Bild würde er so schnell nicht mehr vergessen. Aber vielleicht musste Beckett sich doch an dem dürren Hippie ein Beispiel nehmen. Er zog sich das T-Shirt aus. Es landete mit einem nassen Klatschen auf dem Boden hinter ihm.

Gianna war auf ihre Matte zurückgekehrt und machte eine weitere Runde mit. Sie bewegte sich mit einer Leichtigkeit und Anmut, als wäre sie dazu geboren worden, durch die Yogapositionen zu tauchen. Er hasste ihre umwerfenden, eleganten Bewegungen.

Etwas stupste seinen Fuß an. Beckett öffnete ein Auge und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Wie eine Sirene erschien sie in seinem Blickfeld. Eine schimmernde Fata Morgana von böser Schönheit. Gianna grinste auf ihn herab.

„Was war das?“, stöhnte er und streckte die Arme zur Seite aus.

„Das war Hot-Power-Flow-Yoga“, antwortete sie und ging neben ihm in die Hocke. Ihre Bewegungen waren immer noch elegant wie von einer Tänzerin.

„Wie kannst du dich so bewegen?“, fragte Beckett und musterte sie.

Sie hatte ein Grübchen im Kinn und Schalk in den Augen. „Wie denn?“

„Als ob du tanzen würdest. Alles, was du tust, ist wie Tanzen.“

Sie sah langsam besorgt aus. „Wie wäre es, wenn wir dir etwas Wasser einflößen?“, schlug sie vor.

Beckett rollte sich auf die Seite und arbeitete sich langsam in eine sitzende Position vor. Das Studio war bis auf sie beide leer. Er erinnerte sich vage daran, wie sich alle verbeugt und „Nama-irgendwas“, gesagt hatten, aber er erinnerte sich nicht wirklich an den Massenexodus.

Gianna reichte ihm eine Flasche Wasser und ein Handtuch. „Wie fühlst du dich?“

„Als hätte man mich platt gewalzt, ausgewrungen und zum Trocknen aufgehängt.“

Sie lachte ein musikalisches, heiseres Lachen und klopfte ihm auf die Schulter. „Genau das ist der gewünschte Effekt.“

„Du hast gewonnen“, seufzte Beckett und trank das Wasser in großen Zügen leer.

„Du hast den ganzen Kurs durchgehalten. Ich würde sagen, das hier endet unentschieden“, sagt Gianna, erhob sich und streckte ihm die Hand entgegen.

Beckett wollte sich von ihr nicht aufhelfen lassen, war sich aber nicht sicher, ob seine Beine ihn ohne Hilfe tragen würden. Er nahm schließlich ihre Hand und erhob sich unter größter Kraftanstrengung. Auf der Matte zeichnete sich ein Schweißabdruck seines Körpers ab.

„Die musst du verbrennen“, sagte er.

Sie grinste zu ihm hoch. „Mach dir keine Sorgen. Ich glaube, ich habe ein paar Industriereinigungsmittel.“ Sie ging zu ein paar Regalen hinüber, und Beckett hob sein immer noch feuchtes T-Shirt auf.

Gianna kam mit einer Sprühflasche und einem weiteren Handtuch zurück. „Ich glaube nicht, dass du das wieder anziehen willst“, sagte sie und rümpfte die Nase über sein durchnässtes T-Shirt.

„Ja“, stimmte Beckett zu und zog stattdessen nur sein Sweatshirt an. Den Block, auf den er sich am Ende wie auf einen Rettungsring verlassen hatte, stellte er zurück ins Regal.

„Ist das heute dein letzter Kurs gewesen?“, fragte er.

„Ja. Jetzt könnte ich theoretisch duschen und ein Bier trinken.“

„Das machst du also nach all dem Yoga?“

„Duschen, ja. Ein Bier und ein riesiger Teller Makkaroni mit Käse oder etwas ähnlich Ungesundes gehören auch dazu.“

Becketts Magen knurrte. Eine Dusche, ein Bier und ein Abendessen waren genau das, was er jetzt auch gebrauchen könnte.

„Ich bringe dich zu deinem Auto“, bot Beckett an. Nun, da er halbwegs wieder zu Kräften gekommen war, wollte er sie nur ungern verlassen. Vor allem, weil sie ihn dann in ihrem Gedächtnis als den Mann abspeichern würde, der halb bewusstlos auf der Matte lag wie ein gestrandeter Wal. Er wollte sich beweisen und vielleicht ein bisschen von seinem Stolz zurückgewinnen.

„Danke, aber ich bin zu Fuß hier“, sagte Gianna und nahm ihre Tasche von einem der Stühle.

Er spürte einen Stich, als sie sich einen Kapuzenpulli über ihr Tanktop zog. Sie hatte einen schönen Körper. Einen, der Aufmerksamkeit einforderte, sogar von einem fast Toten. „Ich begleite dich.“

Sie sah ihn einen Moment lang an. „Okay. Das wäre schön, danke.“

Beckett wartete an der Eingangstür, während sie die Studiobeleuchtung ausschaltete, und gemeinsam gingen sie in den kühlen Oktoberabend hinaus.

„In welcher Richtung wohnst du?“, fragte er.

Sie schloss die Tür ab und zeigte nach links.

„Ich auch. Wir müssen Nachbarn sein“, sagte Beckett, als sie die Straße hinuntergingen.

„Stell dir das mal vor“, sagte Gianna mit einem amüsierten Blick.

Beckett warf sein verschwitztes T-Shirt über seine Schulter. „Wie gefällt dir Blue Moon bisher?“

„Es ist wunderbar hier“, sagte sie. „Alle sind so herzlich. Und meine Kinder können zu Fuß zur Schule gehen.“

„Du hast Kinder?“ Beckett sah sofort auf ihre linke Hand hinunter. Kein Ring.

Sie warf ihm einen amüsierten Blick zu. „Zwei Kinder und einen Ex-Mann. Und du?“

„Keine Kinder und keine Ex-Männer.“

Gianna lachte. „Irgendwelche Ehefrauen? Aktuelle oder frühere?“

Sie kamen an Karma Kugel vorbei, und Beckett winkte Pete, dem Besitzer der Eisdiele, der am Tresen bediente.

„Auch keine Ehefrauen. Wir Pierce-Brüder nehmen unser Junggesellendasein ernst. Nun, bis vor kurzem taten wir das.“ Er dachte an Carter mit seiner neuen Freundin Summer.

„Wie viele Pierce-Brüder gibt es?“, fragte Gia.

„Drei. Ich bin der Gutaussehende.“ Er zwinkerte.

Sie verdrehte die Augen und zerrte das Haarband aus ihren Locken, sodass sie ihr den Rücken hinunterfielen. „Du musst das mittlere Kind sein.“

„Wie hast du das erraten?“

„Man erkennt sich.“

„Du bist auch ein Mittelkind?“

Sie nickte und schüttelte ihr Haar aus. Er erschnupperte den Duft von Lavendel.

„Ich habe zwei Schwestern, eine ältere und eine jüngere.“

„Steht ihr euch nahe?“, fragte er. Er hätte gern gewusst, ob ihre Schwestern ihr ähnlich sahen. Gianna war eine Wucht. Er konnte sich nicht zwei weitere von ihrer Sorte vorstellen.

„Nicht geografisch, ich habe eine in South Carolina und eine in Los Angeles, aber wir reden und schreiben uns ständig. Wie sieht es mit dir und deinen Brüdern aus?“

Er dachte an Carter und Jack. Sie standen sich sehr nah, vor allem jetzt, da sie alle wieder zu Hause waren und gemeinsam eine Brauerei gegründet hatten. „Wir sind praktisch Tick, Trick und Track. Also zwei Kinder, ja?“

Gianna nickte und steckte ihre Hände in die Vordertasche ihres Kapuzenpullis. „Ja, sie sind großartig. Ich hoffe nur halb so gut für sie da sein zu können, wie mein Vater für meine Schwestern und mich da war. Wenn ich das schaffe, kann ich zufrieden mit mir sein“, seufzte sie.

„Was ist mit deiner Mutter?“, fragte Beckett.

Gianna zuckte mit den Schultern. „Sie hat uns vor vielen Jahren verlassen. Meine Schwestern und ich waren damals im frühen Teenageralter. Vielleicht kannst du dir vorstellen, was es heißt, drei heranwachsende Mädchen im Haus zu haben. Aber Dad hat durchgehalten und es wirklich geschafft, dass es uns nie an etwas fehlte. Er hat uns nie gezeigt, wie anstrengend es für ihn war, und er hat uns immer das Gefühl gegeben, wir seien wichtig und unsere Meinung würde zählen.“

„Er klingt nach einem tollen Mann.“

„Fast ein Heiliger! Und deine Eltern?“

Beckett warf im nächsten Schaufenster einen Blick auf sein Spiegelbild und fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten Haare. Das nächste Mal, wenn er Gianna sah, würde er geduscht sein und einen Anzug tragen, versprach er sich.

„Mein Vater war mein größtes Vorbild. Er war bei allem, was er tat, mit dem Herzen dabei. Und er war nie zu beschäftigt, um jemandem zu helfen.“ Beckett konnte sich noch gut daran erinnern, wie sein Vater alles stehen und liegen ließ, um für andere da zu sein oder einfach nur, um die unaufhörlichen Fragen zu beantworten, die Beckett ihm als Fünfjähriger stellte.

„Das klingt wundervoll“, sagte Gianna und bog in eine kleinere Straße ein.

„Er war wirklich wundervoll. Er ist vor fünf Jahren gestorben. Ich vermisse ihn immer noch.“ Es stimmte. Es verging kein Tag, an dem seine Gedanken nicht bei John Pierce waren.

„Das tut mir sehr leid.“ Gianna schwieg einen Moment. „Und deine Mutter?“

Die vertrauten widerstreitenden Gefühle von Liebe und Frustration stiegen in Beckett auf, die er seit einigen Monaten für seine Mutter hegte.

„Sie ist großartig“, sagte er und beließ es dabei.

Sie bogen in eine andere von Bäumen gesäumte Straße ein, die nur von wenigen Straßenlaternen beleuchtet war.

„Wohnst du hier?“, fragte er und runzelte die Stirn.

Gianna nickte lächelnd. „Das tue ich. Es ist so eine tolle Gegend.“

„Ich weiß. Es ist mein Viertel.“

„Nun, hier wären wir.“ Gianna blieb stehen, ihre Augen funkelten.

„Aber hier wohne ich“, sagte Beckett. „Woher weißt du, wo ich wohne?“ Die Erkenntnis traf ihn, während er noch die Frage stellte.

„Hallo, Nachbar“, sagte Gianna und neigte ihren Kopf zur Seite.

„Du bist meine neue Mieterin!“ Er war ein Volltrottel. Ein absoluter Volltrottel, und Gianna hatte das Vergnügen, immer wieder Zeuge seiner Idiotie zu werden.

Sie kicherte. „Ich hab mich schon gefragt, wann du darauf kommst.“

Er hatte sie buchstäblich bis vor seine eigene Haustür geführt, ohne es zu merken. Das verdammte Yoga musste sein Gehirn zu sehr entspannt haben.

„Ellery hat sich um den Papierkram und deine Mietzahlung gekümmert, während ich verreist war“, sagte er und setzte langsam alles zusammen.

„Das hat sie. Sie kommt mir übrigens wie eine tolle Sekretärin vor“, sagte Gianna.

„Das ist sie.“ Ellery hatte ihm wahrscheinlich sogar gesagt, dass Gianna seine neue Mieterin war. Aber er war in Gedanken noch immer bei der schönen Rothaarigen gewesen, die er davor im Yogastudio erblickt hatte.

„Wie lange weißt du schon, dass ich dein Vermieter bin?“, fragte er.

Gianna wirkte vergnügt. „Seit du dich bei der Einweihungsfeier vorgestellt hast. Was wäre ich für eine Mieterin, wenn ich den Namen meines Vermieters nicht kennen würde?“

„Du bist meine Mieterin.“ Er sagte es noch einmal, und die Bedeutung dieser Tatsache ging ihm auf. Es spielte keine Rolle, wie attraktiv er Gianna Decker fand. Sie hatten eine professionelle Beziehung, die aufrechterhalten werden musste.

„Das ist …“

„… kompliziert“, beendete sie den Satz für ihn. „Sie haben Glück, Mr. Pierce, dass unser Verhältnis vertraglich festgelegt ist. Denn sonst hätte ich Sie unwiderstehlich gefunden.“

„Inwiefern unwiderstehlich?“, fragte Beckett, bevor er es sich verkneifen konnte.

Gianna stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange. „Danke für das Geleit nach Hause, Beckett.“

Sie wandte sich von ihm ab und folgte dem Weg, der an der Seite seines Hauses entlang zum Garten und dem kleinen Gästehaus führte.

Beckett berührte seine Wange und sah ihr stirnrunzelnd nach. Nun hatte sie ihn schon zum zweiten Mal geküsst.

Es war nicht genug.

„Was ist das denn für ein bescheuertes Grinsen?“, fragte Evan, als Gia durch die Tür kam.

„Das ist kein bescheuertes Grinsen. Es ist ein selbstzufriedenes Grinsen. Das ist etwas ganz anderes“, korrigierte sie ihn.

„Wie auch immer“, seufzte er und widmete sich wieder seinen Hausaufgaben am Esstisch. „Wie läuft’s?“, fragte Gia und ließ sich neben ihm nieder.

Evan zuckte mit den Schultern und blickte auf das vor ihm liegende Buch.

„Was hältst du bisher von der Schule hier?“ Gia öffnete ihre Wasserflasche und trank.

Evan zuckte wieder mit den Schultern. „Sie ist okay, schätze ich.“

„Ist es sehr anders hier?“

„In meiner Klasse gibt es ein Mädchen namens Oceana“, sagte Evan und aktualisierte den Bildschirm seines Tablets. Er scrollte durch einige Bilder und öffnete eines. „Das ist sie.“

Gia schaute sich Oceanas Schulfoto auf dem Bildschirm an. In jeder anderen Stadt in Amerika wäre die kecke kleine Blondine Cheerleaderin gewesen. In Blue Moon trug sie eine handgehäkelte Weste und war die Tochter von Schafhirten, wie ihrem Profil zu entnehmen war.

„Diese Stadt ist seltsam“, verkündete Evan.

„Ich stimme zu. Auf gute Weise seltsam oder auf schlechte?“

„Eher auf gute Weise. Denke ich. Zum Beispiel wollen uns die Lehrer nicht zu lange sitzen lassen und so. Wir haben Dehnungspausen, so wie in deinen Kursen. Aber die Mensa ist echt schlecht. In meiner alten Schule hatten wir Pizza und Nachos und so. Hier haben sie Quinoa-Brei-Auflauf.“

Gia verschluckte ein Lachen. „Möchtest du dir lieber selbst Essen mitnehmen?“

Evan nickte. „Ich glaube, das wäre das Beste.“

„Hat dein Vater heute Abend angerufen?“, fragte Gia und nahm noch einen Schluck Wasser.

„Nein.“

Sie verdrängte automatisch ihre Verärgerung und den Wunsch, sich bei Evan für das Verhalten seines Vaters zu entschuldigen. Sie und Paul hatten einen Zeitplan für die Anrufe ausgehandelt, der den Kindern eine zuverlässige und kontinuierliche Kommunikation mit ihrem Vater bieten sollte und ihm ermöglichte, auf dem Laufenden zu bleiben. Und wie es für ihren Ex-Mann typisch war, ignorierte er die Vereinbarung, ohne sich des Schadens bewusst zu sein, den er in ihrer kleinen Familie anrichtete.

Gia wechselte das Thema. „Wie war Rora für dich heute Abend?“

„Es war nett. Sie hat mich nur zu zwei Folgen dieser blöden, weinerlichen Cartoon-Serie gezwungen.“

Gia verdrehte die Augen. „Irgendwann muss sie doch aus dieser Serie herauswachsen, oder? Jedes Mal, wenn das Zeug läuft, möchte ich eine Bratpfanne nach dem Fernseher werfen.“

„Ja.“ Evan belohnte sie mit einem kleinen Lächeln.

„Also, hör zu. Das war mein letzter Freitagabendkurs. Ich habe eine Yogalehrerin, die diesen Termin übernehmen wird. Das bedeutet, ich habe nur noch Dienstag- und Donnerstagabend Unterricht. Was hältst du davon, an diesen Abenden Auroras offizieller, bezahlter Betreuer zu sein?“

Evan lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Seine haselnussbraunen Augen verengten sich. „Über welche Art von Entschädigung reden wir?“

„Für das Aufpassen auf Ihre Schwester von 17:30 bis 19:30 Uhr bin ich bereit, Ihnen fünf Dollar zu bieten.“ Sie nannte ihm absichtlich einen niedrigen Preis.

„Fünfzehn“, konterte er.

„Zehn.“

„Abgemacht“, sagte er und streckte seine Hand aus.

Sie schüttelten feierlich Hände. „Und wenn du einen Abend frei brauchst, um Schulaufgaben zu machen oder mit Freunden abzuhängen oder gruselige Roboter zu bauen – was auch immer Kinder in deinem Alter tun –, sag mir Bescheid, und ich lasse Opa auf Rora aufpassen.“

„Roboter? Ernsthaft, Gia?“

Gia hielt ihre Hände hoch. „Hey, was auch immer dich kickt. Ich urteile nicht.“

„Du bist voll die Spinnerin“, sagte er.

Sie sprang von ihrem Stuhl auf, nahm ihn in den Schwitzkasten und überzog seinen Kopf mit lauten Küssen. „Ich werde dich auf jeden Fall zu Dachschaden-Decker umbenennen“, sagte sie.

Er wehrte sich, aber sein Lachen verhinderte, dass er sich befreien konnte. Sein sandfarbenes Haar brauchte einen neuen Schnitt, stellte Gia fest. Aber seit er zehn Jahre alt war, durfte er selbst über seinen Haarschnitt entscheiden.

„Hey, ich wollte mir einen Termin zum Haareschneiden geben lassen. Ich habe diesen verrückten Laden namens The Grateful Head gesehen. Gib Bescheid, wenn du auch einen Termin willst. Der Name ist übrigens eine Anspielung auf eine Band.“

Evan schaute sie mit dem hochmütigen Blick eines Zwölfjährigen an. „Ich weiß, wer The Grateful Dead sind.“

Natürlich kannte der Sohn von Paul Decker The Grateful Dead. Pauls schönstes Geschenk an seine Kinder war eine tiefe und beständige Wertschätzung für Musik.

„Gut, dann muss ich deinem Vater nicht sagen, dass du eigentlich nur Popmusik hörst und dir ein lebensgroßes Poster von One Direction zu Weihnachten wünschst.“

Evan schauderte. „Dad würde mich verstoßen.“

„Ich gehe duschen und mache mir ein paar Makkaroni mit Käse warm“, sagte Gia und stand auf. „Willst du auch was?“

„Ich denke, ich könnte etwas davon vertragen.“

„Fantastisch.“ Sie ging auf die Treppe zu. „Ein Date mit schweren Kohlenhydraten in zehn Minuten, und dann zeigst du mir, wie man die Kalender-App auf meinem Handy benutzt?“

„Schon wieder?“

„Es ist nicht ‚wieder‘, wenn es eine brandneue App ist. Ich mochte die andere nicht. Diese hat coole Farben und Meeresgeräusche als Alarm.“

„Ich ändere deinen Namen in Zu-viele-Apps-Decker“, rief Evan ihr nach.

Im Bad stellte Gia die Dusche an und griff nach ihrem Handy. Sie wählte, atmete tief durch und hielt sich das Telefon ans Ohr.

„Hey, Zimtschnecke.“ Die Stimme ihres Ex-Mannes zu hören, zauberte gleichzeitig ein Lächeln auf ihre Lippen und ärgerte sie zutiefst. Es war die ganze Geschichte ihrer Beziehung, dass sie immer wieder verzaubert und enttäuscht wurde, weil er sich weigerte, erwachsen zu werden.

„Hey, Paul. Hast du heute nicht etwas vergessen?“

„Oh, Mann! Ist schon wieder Freitag? Ich war so aufgeregt wegen dieses neuen Gigs, ich habe das total vergessen.“

„Ein neuer Auftritt?“, fragte sie und bereute es sofort.

„Ich springe für die nächsten Wochen bei dieser Band im Casino ein. Der Schlagzeuger hat ein paar rechtliche Probleme.“

„Rechtliche Probleme?“

„Hausarrest wegen Besitzes illegaler Substanzen“, erklärte Paul. „Schlecht für ihn, gut für mich. Holst du die Kinder ans Telefon? Ich rede jetzt mit ihnen.“

„Aurora ist schon seit einer halben Stunde im Bett“, erinnerte sie ihn.

„Richtig, richtig. Was ist mit Ev?“

„Hör zu Paul, ich will ihm nicht einfach das Telefon geben und sagen, du bist dran. Er muss wissen, dass du dich um ihn sorgst und an ihn denkst. Und dass du dein Wort hältst.“

„Hm-hm. Aha.“

Sie war dabei, ihn zu verlieren. Sie konnte es spüren. Er wurde in ein Videospiel oder ein YouTube-Video hineingesaugt, wo etwas Glänzenderes seine Aufmerksamkeit erregte.

„Wir legen jetzt auf und du rufst Evan auf seinem Handy an. Und sag ihm nicht, dass ich dich zuerst angerufen habe.“ Sie sagte es langsam, als würde sie einem Kleinkind Anweisungen geben.

„Verstanden.“

„Und mach diesmal einen Videochat daraus. Es ist schon eine Weile her, dass er dich gesehen hat.“

„Klar. Kein Problem.“

Sie konnte sich vorstellen, wie er geistesabwesend nickte. „Okay. Ich lege jetzt auf und du rufst Evan auf seinem Handy an.“

„Ich habe es verstanden, G. Oh, hör zu. Die Unterhaltszahlung wird diesen Monat etwas geringer ausfallen, okay? Ich hab gerade nicht so viele Gigs wie gedacht.“

Gia schloss die Augen und atmete noch einmal tief durch. Wenn seine Unterhaltszahlungen wieder ausblieben, würde sie sich einen zweiten Job suchen müssen. Schon wieder.

„Ich kann hören, wie du atmest, um nicht auszuflippen“, neckte er sie.

„Wir reden ein andermal über Unterhalt, okay? Ruf deinen Sohn an.“

„Ich kümmere mich darum. War schön, mit dir zu reden.“

„Tschüss, Paul.“ Gia wartete, bis sie unten Evans Telefon klingeln hörte, bevor sie sich auszog und unter das dampfende Wasser stieg.

 

KAPITEL 5

 

Nach einem langen Lauf am frühen Samstagmorgen gab Beckett nur widerwillig vor sich selbst zu, wie locker und energiegeladen sich sein Körper anfühlte. Er weigerte sich, dies dem Yoga vom Vorabend zuzuschreiben, oder der schönen Sadistin, die ihn dabei angeleitet hatte. Nein, es musste die Nachwirkung seines Urlaubs sein.

Nach einer starken Tasse Kaffee und seinem üblichen Proteinshake beschloss Beckett, den Rest des Vormittags damit zu verbringen, seine Arbeit nachzuholen. Aber so sehr er auch versuchte, sich auf die Vermögenswerte der Familie Petrovic zu konzentrieren oder Pete McDougalls Antrag auf Genehmigung eines Eiswagens, immer wieder musste er an Gianna denken.

Er fühlte sich zu ihr hingezogen. Daran bestand kein Zweifel. Er war nicht blind. Körperlich war sie umwerfend. Sie war klein und zierlich, aber was ihr an Größe fehlte, machte sie mit sündhaften Kurven wieder wett. Und dieses Gesicht. Ein paar Sommersprossen auf makellosem Elfenbein und grüngraue Augen, die immer über einen unausgesprochenen Scherz zu lachen schienen. Ihr breites Lächeln wärmte sein Inneres und betonte das süße Grübchen in ihrem Kinn.

Er fand sie faszinierend.