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1944 bis 1884 und wieder zurück. 20. Juli 1944 Wolfsschanze, das Attentat auf Hitler schlägt fehl. Nach der Explosion findet sich der junge Erich im Jahr 1884 wieder. 60 Jahre früher ist er in der viktorianischen Zeit gefangen. Was kann er jetzt noch tun, um die Welt von einem Scheusal zu befreien? Er verliebt sich in Isabel, wird sie ihm Glauben schenken? Europa 1884 bis 1944, Zeiten größter Umbrüche, Schicksale und Abenteuer. Zwei Menschen versuchen, den Verlauf der Geschichte zu ändern. Ein gut recherchierter Roman, der spannende Einblicke in die Geschichte Europas gibt, ohne jemals langweilig zu werden. Ein Muss für alle, die historische Romane voller Abenteuer und Humor lieben.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Rea Kaspa
Zeitbombe
Historischer Abenteuerroman
PROLOG
Bendlerstraße 11, Berlin, Juli 1944
»Die Normandie spielt keine Rolle«, sagte von Breitenbuch eindringlich, »es muss geschehen!«
Sein Gegenüber, der Mann mit der Augenklappe, sah sich besorgt um, ob jemand der Anwesenden auf die aufgeregten Worte aufmerksam geworden war.
»Nicht so laut!« zischte von Stauffenberg, »das ist keine Frage. Neun Versuche sind fehlgeschlagen. Neun! Dieses Mal muss es klappen!«
Die Männer lehnten sich in ihre Polstersessel zurück und schwiegen, als ein Kellner den bestellten Kaffee brachte und umständlich zwei Tassen füllte.
»Danke, Heinrich«, sagte Breitenbuch in der Hoffnung, dass Heinrich, der alte Kellner, etwas schneller außer Hörweite verschwinden möge.
Dann beugte er sich wieder zu Stauffenberg vor.
»Wie weit sind die Vorbereitungen?«
»Es ist alles vorbereitet«, gab Stauffenberg Auskunft, »bis ins kleinste Detail. Oberst Wessel hat den Sprengstoff und die Zünder besorgt, Wagner hat ein Flugzeug bestellt. In knapp zwei Wochen, am 20. fliegen wir, von Haeften und ich. Am Flugplatz wird uns ein Auto erwarten, der junge Erich Becker fährt uns.«
Von Breitenbuch zog die Augenbrauen hoch, »Becker? Wer ist das nochmal?«
»Soldat beim Nachrichtendienst.«
»Ich glaube, ich weiß, wen Du meinst«, sagte Breitenbuch nach kurzer Überlegung, »groß, blond, offenes Gesicht?«
Stauffenberg nickte.
»Ist der nicht zu jung?« gab Breitenbuch zu bedenken, »der ist doch höchstens zwanzig!«
»Einundzwanzig. Autofahren kann er und mehr muss er ja nicht machen.«
»Und wenn ihm die Nerven durchgehen? Da wäre er nicht der erste!«
»Das Wichtigste«, sagte Stauffenberg eindringlich und beugte sich noch weiter vor, »ist, dass wir uns voll und ganz auf seine Loyalität verlassen können.«
»Wieso das?«
»Er hatte eine Schwester«, sagte Stauffenberg und fügte nach einer kurzen Pause hinzu, »mit Down Syndrom.«
»Verstehe!« stöhnte Breitenbuch, »unwertes Leben!«
»Und das ist noch nicht alles«, fuhr Stauffenberg fort, »nachdem die Schwester weggebracht worden ist, wollten die Eltern sie besuchen. In der Anstalt sagte man ihnen, das Mädchen sei gestorben. An Grippe!«
Breitenberg schnaubte verächtlich.
»Auf dem Nachhauseweg mit dem Auto waren die Eltern verständlicherweise aufgebracht. Man weiß nicht genau wie und warum, jedenfalls hatten sie einen Unfall. Tot, alle beide.«
»Verstehe«, sagte Breitenbuch wieder, »wir können wohl annehmen, dass Becker loyal ist. Und zu verlieren hat er auch nichts.«
»Keiner von uns«, pflichtete Stauffenberg ihm bei und beide nahmen einen Schluck Kaffee.
KAPITEL 1
Führerhauptquartier Wolfsschanze, Ostpreußen, 20. Juli 1944
Erich saß zum Reißen gespannt auf dem Fahrersitz des Adlers 3 Gd. Trotz des sonnigen Wetters war das Verdeck geschlossen, um unerwünschte, neugierige Blicke fernzuhalten. Im Fond prüften Graf von Stauffenberg und Oberleutnant von Haeften zum letzten Mal die Verschlüsse der Aktentasche, die anstelle von Akten zwei Kilo Sprengstoff und zwei chemische Zünder enthielt.
»Wir müssen es abblasen«, drängte Haeften, »wir haben nicht genug Zeit!«
»Auf keinen Fall«, zischte Stauffenberg zurück, »heute muss es sein, coûte que coûte!«
Seit ihnen mitgeteilt worden war, dass die Lagebesprechung unplanmäßig eine halbe Stunde früher stattfinden solle, weil Benito Mussolini zu Besuch käme, hatte sich die Nervosität der Männer beinahe ins Unerträgliche gesteigert. Ursprünglich war geplant gewesen, die Zünder noch im Auto scharf zu machen, jetzt war dafür keine Zeit mehr. Stauffenberg überlegte fieberhaft.
»Wir gehen rein«, bestimmte er, »drinnen sage ich, dass ich mir ein frisches Hemd anziehen muss, heiß genug ist es schließlich, und dass Sie mir dabei helfen müssen.«
»Ja«, murmelte Haeften, »das klingt glaubwürdig.«
Peinlich berührt blickte er von Stauffenbergs fehlender rechter Hand, auf seine verstümmelte linke und schließlich auf die Augenklappe, die Stauffenbergs linkes fehlendes Auge bedeckte.
»Erich«, hub Stauffenberg an.
»Herr Oberst?«
»Alles andere wie geplant: Sobald wir heraus kommen starten Sie den Motor. Wir steigen ein und Sie fahren ruhig Richtung Ausgang. Keine Eile! Wir haben fünf Minuten Zeit.«
»Jawohl, Herr Oberst!«
Stauffenberg zog einmal tief die Luft ein, dann stiegen die beiden Männer aus dem Wagen und gingen auf die Holzbaracke zu. Erich versuchte, sich ein wenig zu entspannen, was ihm aber nicht gelang. Er beobachtete den Platz vor der Baracke, in der sich gut zwanzig Männer befinden mussten. Zwanzig Männer und er, der Teufel, Hitler! Die meisten Fenster des Besprechungsraumes gingen nach Süden. Nur ein schmales Fenster zeigte nach Westen und Erich konnte keine Bewegungen hinter diesem Fenster ausmachen. Er fragte sich, wie lange er noch würde warten müssen. Die Minuten krochen dahin! Zwei Soldaten auf Motorrädern fuhren an Erichs Auto vorbei, ohne sich im Geringsten für ihn zu interessieren. Erich erlaubte sich, seine Uniformmütze abzunehmen und sich eine lange, blonde Haarsträhne aus der verschwitzten Stirn zu wischen. Mit einem Blick in den Rückspiegel setzte er sich die Mütze wieder auf. Dabei fiel ihm eine Gestalt auf, die langsam auf den Wagen und auf die Baracke zukam. Die Gestalt entpuppte sich als alter Mann in ziviler Kleidung. Ohne Uniform wirkte er im Führerhauptquartier dermaßen deplatziert, dass Erich wusste, dass etwas mit ihm nicht stimmen konnte. Der alte Mann befand sich nun seitlich vom Wagen und hatte den Eingang der Baracke fast erreicht, als er rüde angerufen wurde.
»He! Sie! Was haben Sie hier zu suchen?«
Der Soldat, der vor der Baracke Wache stand, hatte sein Gewehr in Anschlag genommen und bewegte sich mit eiligen Schritten auf den Mann in Zivil zu. Der schien davon wenig beeindruckt und zu Erichs Verblüffung blickte der Alte nicht zu dem Wachsoldaten, sondern direkt zu Erich ins Auto. Noch größer wurde Erichs Verwirrung, weil der Alte ihm irgendwie bekannt vorkam. Sein Gesicht wirkte so vertraut. In diesem Moment riss der Wachsoldat den Alten grob am Arm.
»Was Sie hier zu suchen haben, habe ich gefragt«, brüllte er ihn an.
Der Soldat hatte ein unangenehmes Äußeres, eng zusammenstehende, stechende Augen und eine auffällige Narbe quer über der rechten Gesichtshälfte.
»Ich möchte mich nur mit diesem jungen Mann unterhalten«, antwortete der Alte scheinbar gelassen und deutete dabei auf Erich, »stören Sie uns nicht!«
Der Wachsoldat schnappte nach Luft. Sprachlos über die Dreistigkeit des Alten stand er unschlüssig da und wusste nicht, was er tun sollte. In diesem Moment öffnete sich die Barackentür und Stauffenberg, dicht gefolgt von Haeften kam heraus.
Erich startete den Motor, der Soldat und der Alte wurden zur Seite gedrängt, als die Männer in den Wagen stiegen. Erich fuhr los. Langsam. Sie waren erst ungefähr fünfzig Meter gefahren, als Erich hörte, wie seine beiden Fahrgäste aufgeregt miteinander redeten.
»Wir hätten beide Zünder scharf machen müssen!«
»Dazu war keine Zeit!«
»Jetzt haben wir nur halbe Sprengkraft! Das reicht nicht!«
»Die Bombe steht direkt neben ihm, da reicht auch ein Kilo!«
»Aber wir wissen nicht, ob er da stehen bleibt!«
Erich trat abrupt auf die Bremse. Das konnte doch nicht wahr sein! Alles umsonst? Das Schwein sollte wieder davon kommen?
»Fahr weiter!« brüllte Stauffenberg ihn an, aber Erich hörte ihn nicht. Ihm war als hörte er ein schrilles Kreischen in seinem Kopf. Er war so entsetzt und wütend, er wollte zurück und ihn eigenhändig erwürgen!
»Komm zurück!« schrie Haeften, aber Erich war bereits aus dem Auto gesprungen und rannte den Weg zurück zur Baracke. Sie waren zweihundert Meter entfernt und Erich rannte, wie er noch nie gerannt war. Fünf Minuten! Fünf Minuten bis die Bombe explodieren würde. Aber wie viel Zeit hatten die beiden Männer gebraucht, bis sie aus der Baracke heraus gekommen waren? Erich versuchte, noch schneller zu rennen. Die Baracke kam näher. Der Alte und der Wachsoldat standen noch immer davor und diskutierten und der Soldat starrte jetzt irritiert zu Erich, stellte sich vor die Tür der Baracke und hob seine Waffe. Erich prallte in vollem Lauf in ihn hinein. Der Soldat ging zu Boden und ein Schuss löste sich, ohne jemanden zu treffen. Erich konnte sich mit Mühe auf den Beinen halten, da zerrte der Alte an ihm herum.
»Warte!«
»Loslassen!«
Aber der Alte war widerspenstig und zerrte an Erichs Jacke. Endlich gelang es Erich, sich loszureißen und die Tür zu öffnen, aber da war der Soldat schon wieder auf den Beinen und stürzte ihm nach. Gleichzeitig stürmten sie durch den kleinen Flur nach rechts auf den Besprechungsraum zu, als die Welt explodierte.
Schwarzstein bei Rasteburg
Erich erwachte allmählich. Er fühlte sich benommen. Hatte er gestern Abend so viel getrunken? Sein Kopf schmerzte und er ließ die Augen geschlossen. Irgendetwas war seltsam. Langsam dämmerte es ihm, dass er nicht in seinem Bett lag. Seine Unterlage war zwar weich, aber etwas drückte in seinem Rücken, er lag auf etwas. Er hörte Vogelgezwitscher! Erich schlug die Augen auf und sah Bäume. Schlagartig fiel ihm alles ein, die Bombe! Warum war es so still um ihn herum? Sollte da nicht Feuer sein und Schreie und ein riesiges Durcheinander? Erich erschrak. War er im Himmel? War er tot? Er setzte sich auf und sofort begann sich in seinem Kopf alles zu drehen. Da er auf den ersten Blick keine Gefahr erkannt hatte, schloss er die Augen wieder und wartete, dass der Schwindel etwas verging. Ihm war schlecht. Nach einer Weile hatte er Inventur gemacht, er hatte Kopfschmerzen, ihm war schwindelig und übel, wie bei einem starken Kater, aber davon abgesehen schien er unverletzt zu sein.
Er öffnete die Augen wieder und sah sich um. Er hatte auf einer dicken Baumwurzel gelegen. Er befand sich mitten im Wald und war ganz allein. Alles war still, nur die Vögel sangen.
Es war merkwürdig kalt, wie im Winter und, Erichs Herz setzte einen Schlag aus. Die Bäume hatten keine Blätter!
Wie war er bloß hierhergekommen? Er musste von der Explosion bewusstlos geworden sein und dann? Vielleicht hatte er im Koma gelegen und jetzt war bereits Winter? Und jemand, ein Arzt, hatte ihn in den Wald getragen, auf die dickste Baumwurzel weit und breit gelegt und allein gelassen, nur mit einer dünnen Jacke bekleidet. Erich stand auf und sah sich um, aber außer Bäumen gab es nichts zu sehen. Keine Bunker, keine Wege. Er hatte noch immer die Kleidung an, an die er sich zuletzt erinnerte. Es würde ihn wohl kein Krankenpfleger ein halbes Jahr in derselben Kleidung lassen. Erich konnte sich auf nichts einen Reim machen! Plötzlich stiegen ihm die Tränen in die Augen. Wo war er? Was war geschehen? Er fühlte sich entsetzlich allein und hilflos.
»Hallo!« versuchte er es halbherzig in den Wald hinein, aber natürlich erhielt er keine Antwort. Er beschloss, diesen Ort zu verlassen. Irgendwo würde er auf Menschen stoßen und irgendwie würde sich alles aufklären. Wenn er auch nicht wusste wie. Aufs Geratewohl wählte er eine beliebige Richtung und ging los.
Zu Erichs Erleichterung dauerte es nicht lange, bis er auf einen Weg stieß und er sich nicht mehr durch das Unterholz schlagen musste. Er schritt zügig aus, immerhin war ihm jetzt nicht mehr kalt. Den Temperaturen und der Fauna nach konnte es Ende Februar oder Anfang März sein. Wie war das nur möglich? Nach einer halben Stunde erblickte er in der Ferne ein Gebäude, einen Stall vielleicht. Er hielt darauf zu und bald entdeckte er einen Mann. Jetzt würde sich alles aufklären. Der Mann entpuppte sich als Schäfer, seine Schafe, vielleicht zwanzig an der Zahl, rupften am spärlichen Gras.
»Guten Tag«, grüßte Erich hoffnungsvoll.
Der Schäfer starrte Erich wortlos an. Er war seltsam gekleidet. Mit seinem langen Zottelbart, seinem Schlapphut und seinem langen, ausgefransten Mantel, der schon bessere Tage gesehen hatte, wirkte er wie eine Erscheinung aus dem Mittelalter. Jetzt fiel Erich auf, dass der Schäfer anstelle von Schuhen dicke Stoffstreifen um die Füße gebunden hatte. Der Mann rührte sich nicht, kein Muskel zuckte in seinem Gesicht, er starrte Erich nur aus stechenden Augen an.
Einen verrückten Moment lang glaubte Erich, dass er es mit einer verblüffend realistischen Vogelscheuche zu tun hätte. Dann machte er einen neuen Versuch.
»Wo sind denn alle?«
Der Schäfer brauchte offenbar eine Weile, bis die Frage zu ihm durchgedrungen war, dann deutete er als Antwort zögerlich auf seine Schafe. Erich begriff, dass der Schäfer nicht ganz richtig im Kopf war. Langsam und deutlich stellte er seine nächste Frage: »Können Sie mir sagen, wie ich in ein Dorf komme?«
Nach geraumer Zeit hob der Schäfer wortlos den Arm und deutete nach Westen.
»Danke!«
Erich ging zurück zum Weg, den er verlassen hatte, und folgte ihm nach Westen. Natürlich musste er als erstes auf den Dorftrottel treffen! Er bekam allmählich Hunger, seinen Durst hatte er an einem der zahlreichen Seen stillen können. Er mochte ein bis zwei Stunden gegangen sein, als er von Ferne den Kirchturm von Schwarzstein entdeckte. Am Morgen war er mit Stauffenberg und seinem Adjutanten durch Schwarzstein gefahren und hatte die gotische Kirche mit ihrem Stufengiebel gesehen. Er interessierte sich für Architektur und hatte der kleinen Kirche einen wohlwollenden Blick zugeworfen. Bald gibt es etwas zu essen, ermunterte er sich selbst. Es war bereits früher Abend und sein Magen knurrte mittlerweile so laut, dass der Gedanke an Essen alle anderen verdrängte. Schwarzstein war ein großes Dorf, fast schon eine Kleinstadt. Er hatte noch ein paar Reichsmark in der Hosentasche und würde sich als allererstes zu einem Gasthaus begeben und etwas essen. Dabei könnte er sich umsehen und lauschen, was über das Attentat erzählt wurde, mit Sicherheit gab es kein anderes Thema.
Erich erreichte das Dorf und sah auf den ersten Blick, dass etwas anders war. Nicht nur war es ihm am Morgen viel größer erschienen, was sofort ins Auge sprang, war die Tatsache, dass die Bewohner keine Fahnen aus den Fenstern hängen ließen. Wie überall waren die Menschen verpflichtet, die langen roten Fahnen mit dem weißen Kreis und dem schwarzen Hakenkreuz an der Fassade zu haben. Natürlich war es für die meisten Menschen nicht nur Pflicht, sie taten es gerne und mit Stolz! Hier in Schwarzstein gab es nicht eine Fahne. Hieß das, dass das Attentat geglückt war? Hatten die Menschen hier, kaum das Hitler tot war, die Fahnen eingeholt? Mit weniger Schwung ging Erich weiter in das Dorf hinein und stand nach kürzester Zeit vor der Kirche. Er hätte schwören können, dass es dieselbe Kirche war und er sich also in Schwarzstein befinden musste. Andererseits war das Dorf viel zu klein und Kirchen sahen sich ähnlich. Die Kirchentür öffnete sich und ein Mann in Sutane, offensichtlich der Pfarrer, kam heraus und Erich ging zu ihm.
»Guten Tag. Können Sie mir bitte sagen, wo ich hier bin? Es sieht so aus, als ob ich mich verlaufen habe.«
Der Pfarrer, ein schmächtiger, kleiner Mann mit dünnem Hals und schütteren, grauen Haaren, sah Erich von unten bis oben an. Er machte einen verwirrten, ja fast ängstlichen Eindruck.
»Sie sind nicht von hier«, stellte der Geistliche fest.
»Nein. Wie gesagt, ich habe mich verlaufen. Wie heißt dieses Dorf, bitte?«
»Nun ja«, stotterte der Pfarrer, »Schwarzstein. Sie sind in Schwarzstein, Nahe Rastenburg.«
Erich krampfte sich der Magen zusammen. Also doch, er hatte die Kirche richtig erkannt. Aber wieso sah hier alles so anders aus?
»Maria!«
Erich fuhr zusammen. Rief der Pfarrer jetzt die Mutter Gottes an? Aber der Pfarrer sah an Erich vorbei zur Straße und winkte aufgeregt eine Frau herbei. Die ließ sich nicht lange bitten, sondern eilte neugierig herbei. Maria war eine plumpe Frau um die sechzig mit einem Kleid, dass sie vermutlich von ihrer Großmutter geerbt hatte und aus Geiz noch immer noch für gut befand.
»Maria, der junge Mann hat sich verlaufen.«
Maria beglotzte Erich ungeniert von Kopf bis Fuß.
»Na, das glaub ich wohl. Und ich denke, ich weiß auch, woher er kommt.«
Erich und der Pfarrer sahen Maria fragend an.
»Aus Karlshof!« triumphierte Maria und blinzelte dem Pfarrer verschwörerisch zu.
»Ah!«, dem Pfarrer schien ein Licht aufzugehen, »natürlich.«
Erich hatte keine Ahnung, wovon die beiden sprachen, aber da sie jetzt weniger abweisend wirkten, entschied er sich, den Irrtum noch nicht klarzustellen.
»Kommen Sie, kommen Sie, wir kümmern uns darum, dass sie wieder nach Hause kommen«, sagte der Pfarrer.
»Aber doch nicht mehr heute Abend!« protestierte Maria, »Es fängt ja jeden Moment an zu regnen.«
Alle blickten gen Himmel, der sich finster verzogen hatte.
»Ja aber, was sollen wir denn mit ihm machen?«
»Wir können den Jungen jedenfalls nicht alleine losziehen lassen, der geht doch niemals freiwillig zurück! Also muss ihn jemand bringen und gleich sitzen alle beim Abendessen.«
»Das stimmt wohl.«
Erich sah von einem zum anderen. Er mochte es nicht sonderlich, wie sie so über ihn redeten, als ob er gar nicht da wäre. Und warum sollte er wohl nicht freiwillig zu diesem Karlshof zurück, was gab es dort, weshalb man nicht freiwillig dorthin wollte? In diesem Moment knurrte Erichs Magen laut und vernehmlich.
»Na sehen Sie«, blaffte Maria den Pfarrer an, »der Junge hat Hunger!«
Als ob damit alles entschieden wäre, wurde beschlossen, dass Maria 'den Jungen' mit zu sich nehmen und erst einmal eine 'anständige Mahlzeit verpassen' würde. Gleich war sie Erich wesentlich sympathischer und er folgte ihr widerstandslos zu ihrem Haus.
Auf dem kurzen Weg fiel Erich auf, dass einige Pferdefuhrwerke im Dorf herum standen, er entdeckte aber kein einziges Auto.
»Wilhelm!« schrie Maria beim Eintreten. Erich wunderte sich darüber, wer denn heutzutage noch Wilhelm hieß, wie der ehemalige Kaiser.
»Wilhelm, wir haben einen Gast.«
Sie betraten eine kleine Stube. Die spärliche Möblierung bestand aus einem Tisch, ein paar Stühlen und einem großen Buffet. Wilhelm saß am Tisch und las Zeitung, die er beim Eintreten Erichs und Marias senkte und den Blick auf den größten und prächtigsten Backenbart freigab, den Erich je gesehen hatte. Tatsächlich kannte Erich Backenbärte nur von alten Fotos. Er macht seinem Namen, Wilhelm, alle Ehre!
»Das ist... Ja wie heißen Sie denn überhaupt, junger Mann?« Maria stemmte empört die Hände in ihre breiten Hüften.
»Erich Becker«, beeilte Erich sich zu antworten.
»Aha! Das ist also Erich Becker. Der ist aus Karlshof abgehauen! Der arme Junge!«
»Ach du Schreck! Und dann bringst du ihn hierher zu uns?«
»Er hat Hunger!« Maria schnaufte vor Empörung. Hunger schien für sie essenziell zu sein und alles andere zu erklären. Erich stimmte ihr insgeheim zu, der guten Frau.
Wilhelm brummelte unwillig in seinen Bart, wagte aber keine offenen Widerspruch.
»Na dann setzen Sie sich mal«, forderte er Erich auf.
»Vielen Dank!«
Erich setzte sich erschöpft an den Tisch und sog begierig den Essensgeruch aus der Küche in die Nase. Wilhelm musterte ihn skeptisch und Erich lächelte verbindlich bis Maria das Essen auftrug. Es gab Kartoffeleintopf mit Schweinefleisch, er schmeckte himmlisch!
»Seit wann sind Sie denn unterwegs?« wollte Maria wissen.
»Also, ehrlich gesagt, weiß ich das nicht so genau. Ich bin heute gegen Mittag im Wald aufgewacht. Ich bin wohl gestürzt und muss mir den Kopf angeschlagen haben, an einer Wurzel vielleicht. Jedenfalls kann ich mich an nichts erinnern.«
Diese Ausrede hatte Erich sich unterwegs zurecht gelegt und hoffte, dass sie ihn für die erste Zeit der Desorientierung helfen würde.
»Aber Ihren Namen wissen Sie noch!« warf Wilhelm ein.
»Ähm, ja, den weiß ich noch.«
Maria war aufgestanden und untersuchte umstandslos Erichs Kopf.
»Da ist keine Beule!«
»Ja, aber trotzdem. Ich erinnere mich nur noch an meinen Namen.«
Endlich ließ Maria von Erichs Haaren ab.
»Fürchterliche Frisur haben Sie! Hinten viel zu kurz und vorne viel zu lang! Haben alle in Karlshof so einen Schnitt?«
»Ich weiß nicht, ich erinnere mich ja nicht.«
»Und was Sie anhaben! Das ist so eine Art Anstaltsuniform, ja? Sieht ja fast militärisch aus.«
»Sehr merkwürdig!« grummelte Wilhelm zustimmend.
Erich wurde flau im Magen. Anstalt? Und wieso erkannten die keine normale Uniform? Er besah sich jetzt Wilhelms Kleidung näher. Normale zivile Kleidung, Hemd, Krawatte, Weste mit Taschenuhr, Hose und Jacke. Der Schnitt und der Stoff wirkte etwas altmodisch aber sonst ganz normal, jedenfalls normaler als Marias Großmutterkleid.
»Vielleicht«, erwiderte Erich unsicher.
»Na ja! Sie können im Stall übernachten. Morgen früh bringt Sie dann jemand nach Karlshof zurück. Sie werden doch nicht etwa einen Anfall bekommen heute Nacht?«
»Anfall?«
»Na diese Anfälle, die Sie haben. Sie und Ihresgleichen. Fallsucht, so nennt man das ja wohl.«
Allmählich dämmerte es Erich, was für eine Art von Anstalt es in Karlshof geben könnte, eine Anstalt für Epileptiker. Wahrscheinlich hielten Maria und Wilhelm ihn für nicht ganz zurechnungsfähig. Das könnte vielleicht hilfreich sein.
»Ich werde heute Nacht ganz sicher keinen Anfall haben, versprochen.«
Das Essen war beendet und Maria trug das Geschirr in die Küche. Wilhelm murmelte etwas von 'Abort' und verließ das Zimmer. Erich war allein. Sein Blick fiel auf die Zeitung, die zusammengefaltet auf einem Stuhl lag. Er hechtete hinüber und schnappte sich die Zeitung. Da musste etwas über das Attentat stehen! Er faltete sie auseinander und blickte verwirrt auf die Schrift. Es handelte sich um einen alten Schrifttyp, wie er seit 1941 verboten war. War die Zeitung schon mehr als drei Jahre alt? Erich suchte nach dem Datum und fand es, die Zeitung stammte vom 03. März 1884!
Erich schnaubte. Das war ja wohl ein Witz! Eine sechzig Jahre alte Zeitung! Wilhelm und Maria hatten wohl ein paar Schrauben locker.
»Kommen Sie!« Wilhelm stand in der Tür, in der Hand eine alte Petroleumlampe. Erich folgte ihm nach draußen in den kleinen Stall, den er sich mit einem Pferd und zwei Kühen teilen würde. Es war angenehm warm und roch nicht allzu streng.
»Sie interessieren sich wohl für Antiquitäten«, sagte Erich und deutete auf die Laterne.
»Was? Nein!« Wilhelm guckte ihn verständnislos an. »Die Laterne kann ich Ihnen nicht hierlassen, Sie wissen schon, ruck zuck brennt hier alles.«
»Verstehe.«
Ruck zuck legt der arme Irre aus der Anstalt Feuer und brennt dir das Dach über dem Kopf nieder! Erich war leicht verärgert, aber es war nicht weiter schlimm, im Dunkeln zu bleiben. Sicher würde es genügend Licht von den Straßenlaternen geben. Erich schob sich ein paar Heuballen zusammen und nahm die Decke entgegen, die Wilhelm ihm reichte. Der Geruch verriet Erich, dass es sich um die Pferdedecke handelte. Sie wünschten sich eine gute Nacht und Erich blieb allein zurück.
Es war tatsächlich dunkel, so dunkel, dass Erich die Hand vor den Augen nicht sehen konnte. Es gab kein Licht von Straßenlaternen. Natürlich nicht! Erich hatte einen kurzen Moment lang vergessen, dass Verdunklungsgebot herrschte.
Er wunderte sich darüber, wie er das hatte vergessen können und dann fiel es ihm ein. Sie hatten ganz normal in der Stube gesessen, so wie früher, wie vor dem Krieg, mit Licht an und ohne Vorhänge und Jalousien vor den Fenstern.
Mein Gott, wie lange war das her? Er war sechzehn, rechnete er nach, als er zuletzt mit seinen Eltern und Edith ohne Verdunkelung in der Stube gesessen hat. Edith, die kleine, liebe Edith, immer gut gelaunt, keiner Fliege konnte sie etwas zuleide tun! Wie sehr er ihn hasste! Er betete, dass das Attentat geglückt war und die Welt von ihm befreit war! Morgen würde er es wissen. Morgen würde er auf normale Leute treffen. Morgen...
»Genug geschlafen? Die jungen Leute heutzutage, nicht zu fassen!«
Erich fuhr mit einem Ruck auf, der Stall war taghell und er sah sich drei Männern gegenüber, die ihn anglotzten und über ihn lachten.
»Los, junger Mann, aufstehen! Waschen können Sie sich da im Zuber. Wir frühstücken heute im Gemeindehaus neben der Kirche.«
Lachend zogen die Dorfbewohner davon, Erich schlug die Pferdedecke zurück und ging zum Zuber. Angeekelt blickte er ins trübe Wasser, in dem Strohhalme herum schwammen, offensichtlich die Pferde- und Kuhtränke. Schulterzuckend spritzte sich Erich etwas von dem eiskalten Wasser ins Gesicht und erschauerte. Er hatte tatsächlich lange geschlafen, tief und fest, das hatte er auch nötig gehabt nach der Anspannung. Die vergangenen drei Tage hatte er vor Nervosität kaum ein Auge zugetan.
Erich zupfte sich das Heu von der Kleidung und strich seine Uniform so gut wie möglich glatt. Er konnte es nicht riechen, aber er war sich sicher, dass er himmelweit nach Pferd stank.
Einigermaßen hergerichtet ging er zum Gemeindehaus hinüber. Er stellte fest, das es gar keine Straßenlaternen gab, die nicht hätten brennen können, das Dorf war wohl zu klein oder zu arm. Im Gemeindehaus erwartete ihn mehr als eine Überraschung, der große Raum war voll. Mindestens fünfzehn Männer und Frauen waren dort um einen gedeckten Tisch versammelt. Die Männer saßen größtenteils, die Frauen schenkten Kaffee aus und verteilten Brot. Alle hielten in ihren Bewegungen und ihren Gesprächen inne und blickten neugierig Erich entgegen. Die Überraschung war aber nicht die Versammlung selbst, sondern die Bekleidung der Leute, besser gesagt die Verkleidung. Sie alle hatten sich kostümiert und Erich hatte das Gefühl, ungebeten in eine Dorffeier zu platzen.
»Kommen Sie«, rief Maria, »setzen Sie sich!«, sie trug das altmodische Kleid vom Vortag und passte damit perfekt zu den anderen. Erich setzte sich auf dem ihm angebotenen Platz am Kopf des Tisches. Alle anderen bis auf eine junge Frau nahmen ebenfalls Platz und machten einen gut gelaunten Feiertagseindruck. Die junge Frau, die auffallend hübsch war und ein langes graues Kleid mit vielen Rüschen und Falten über ihrem Hinterteil trug, schenkte Erich lächelnd eine Tasse Kaffee ein.
»Sehr authentisch«, murmelte Erich und meinte es als Kompliment für ihr Kleid.
»Authen...?«
»Ihr Kostüm«, half Erich aus, »es wirkt sehr echt. Halten Sie ein Kostümfest ab?« wandte er sich an die Allgemeinschaft. Nach einigen Sekunden verblüffter Stille, lachten die meisten und zwei tippten sich vielsagend an die Stirn. Erich errötete und wurde zornig, aber er ermahnte sich dazu, ruhig und freundlich zu bleiben und das Spiel dieser Dorfdeppen mitzuspielen.
»Hört auf, über ihn zu lachen«, ermahnte Maria, »er kann doch nichts dafür!«
Die Tür öffnete sich und der Pfarrer huschte herein. Er setzte sich auf den letzten frei gebliebenen Platz neben Erich.
»Ein Gebet!«
Alle senkten die Köpfe und falteten die Hände, während der Pfarrer ein kurzes Tischgebet murmelte. Danach griffen alle zu Brot, Butter und Schmalz und geschäftiges Geschirrklappern hub an. Erich beugte sich zu dem Pfarrer hinüber, den er für seriöser und vertrauenswürdiger hielt, als den Rest der Versammlung.
»Sagen Sie bitte, ist das hier eine Art Kostümfest?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen, mein Sohn.«
»Können Sie mir bitte sagen, welches Datum wir heute haben?«
»Natürlich«, der Pfarrer lächelte erleichtert über die Normalität der Frage. »heute ist der vierte März.«
Erich zögerte. Ach was soll es? Es hielten ihn ja ohnehin alle für unzurechnungsfähig.
»Und welches Jahr?«
Der Pfarrer, der gerade von seinem Brot abbeißen zu wollte, stockte inmitten der Bewegung.
»1884.«
»Wollen Sie mich verarschen?« rief Erich empört aus.
Sofort verstummten alle Gespräche. Die Frauen blickten ihn zurechtweisend an, die Männer warnend. Ein junger Mann stand auf und baute sich drohend auf, bis er von seinem Tischnachbarn dazu gebracht wurde, sich wieder zu setzen.
Erich konnte es nicht fassen, ein ganzes Dorf hatte sich abgesprochen, dem armen, entflohenen Irren aus dem Nachbardorf eine Komödie vorzuspielen und selbst der Pfarrer war sich dafür nicht zu schade. Was für eine unwürdige Posse!
Der Pfarrer wandte sich jetzt zu ihm.
»Sie müssen Verständnis haben! Normalerweise frühstücken wir natürlich nicht zusammen, aber heute, nun ja, wir haben fast nie einen Fremden im Dorf und die Leute sind neugierig. Das ist nicht boshaft gemeint, im Gegenteil, sie alle nehmen Anteil an Ihrem Schicksal. Sie sind ja auch gut aufgenommen worden und nach dem Frühstück helfen wir Ihnen weiter.«
Erich war etwas besänftigt.
»Nach dem Frühstück?«
»Ja, gleich nach dem Frühstück bringt Sie Heinrich Wegener mit dem Karren nach Karlshof zurück.«
»Das mache wohl besser ich«, sagte der junge Mann, der drohend vom Tisch aufgestanden war mit lauter Stimme. Zustimmendes Murmeln erhob sich. Erich wurde klar, dass sie ihm nicht über den Weg trauten und ihn vielleicht sogar für gefährlich hielten. Das Frühstück war nun keine fröhliche Veranstaltung mehr und schnell beendet. Erich tat es fast ein wenig leid, ihre Zusammenkunft in Verkleidung, um den Irren zu begaffen, so empfindlich gestört zu haben und er bedankte sich schließlich artig bei Maria, Wilhelm und dem Pfarrer.
Kurz Zeit später trottete das Pferd zwischen einsamen Wäldern und Seen den Weg entlang. Erich saß auf dem Bock rechts neben dem missmutigen, schweigsamen, jungen Mann, dessen Namen er nicht kannte. Sie waren etwa zehn Minuten unterwegs, als Erich ihn fragte, wie lange sie noch brauchen würden.
»Nicht lange. Noch zwanzig Minuten.«
Erich ballte sein rechte Faust, lehnte sich etwas zurück und spannte alle Muskeln an, dann schlug er dem jungen Mann so hart er konnte seine Faust gegen die rechte Schläfe. Der Mann wurde nach links geschleudert und Erich hielt ihn schnell am Arm fest, damit er nicht vom Kutschbock fiel.
Er brachte den bewusstlosen Mann neben sich in eine sichere Position und nahm dann die Zügel auf, um die Karre anzuhalten. Er sprang vom Bock, ging um den Karren herum und zog den schweren Mann vorsichtig herunter. Mühselig zerrte er ihn ein Stück vom Wegesrand weg und lehnte ihn in sitzender Position an einen Baum.
»Tut mir wirklich sehr leid! Hat aber bestens geklappt. Du bringst mich in keine Anstalt!«
Erich hoffte, dass der Mann keinen größeren Schaden genommen hätte, wahrscheinlich würde er sehr bald wieder zu sich kommen und Kopfschmerzen haben. Dann kam ihm eine Idee. Er beugte den Mann noch einmal vor und mühte sich, ihm die warme Wolljacke auszuziehen. Die konnte er selbst bestens brauchen.
»Tut mir wirklich, wirklich leid! Aber wir haben Krieg!«
Er sprang gut gelaunt auf den Kutschbock, zog sich die Jacke über und trieb das Pferd an. Sein Plan war, an Karlshof vorbei nach Rastenburg zu fahren. Rastenburg war eine richtige Stadt mit Bahnhof und Flughafen. Dort würde er seine Geschichte vom Schlag auf den Kopf mit vorübergehenden Gedächtnisschwund erzählen und sicherlich ins Lazarett und später zu seiner Kompanie gebracht werden. Er schätzte, dass er eine gute Stunde brauchen würde. Was gäbe er nicht um ein Motorrad!
Seine Ankunft in Rastenburg hatte Erich sich anders ausgemalt. Ganz anders!
Wie in Schwarzstein hingen keinerlei Fahnen an den Fassaden. Vor dem Rathaus war die schwarz-weiß-rote Flagge gehisst, aber nur diese. Es gab weder Autos noch Motorräder, noch nicht einmal eine Straßenbahn. Pferdefuhrwerke, Kutschen und Reiter zu Pferde beherrschten das Bild. Und alle, alle Menschen waren verkleidet!
Erich war starr vor Schreck. Die Leute warfen ihm misstrauische Blicke zu. Die gestohlene Jacke machte sich gut, aber Erich bemerkte, dass er der einzige Mann ohne Kopfbedeckung war. Als er am gestrigen Tag im Wald erwacht war, war seine Uniformmütze nicht da gewesen. Wenn schon eine fehlende Kopfbedeckung ausreichte, um die Menschen misstrauisch zu machen, wie mochte dann die Uniform unter der Jacke wirken oder der Umstand, dass er nicht im Zivil war mit Weste und Anzug, so wie alle anderen, die er sehen konnte.
Er parkte den Karren an einem Platz, wo bereits andere Fuhrwerke standen und band das Pferd an eine dafür vorgesehene Halterung. Unsicher ging er zu Fuß durch die Stadt und vermied die Blicke der anderen Passanten. An einem belebten Platz vor der Kirche fand er das Gesuchte in Form eines Jungens von vielleicht zehn Jahren, der Zeitungen zum Kauf anbot.
»Ich hätte gerne eine.«
»Macht fünf Pfennige.«
Erich kramte nach den Münzen in seiner Hosentasche und fand eine passende Münze. Schon als er die Zeitung in Empfang nahm, sah er wieder die altdeutsche Schrift. Ein Blick auf das Datum bestätigte seine schlimmste Vermutung: 04. März 1884.
War er verrückt geworden?
»Heh! Sie! Das ist kein richtiges Geld!«
Erich sah auf den Zeitungsjungen herab. »Hier, nimm Sie zurück!«
»So geht das aber nicht! Gekauft ist gekauft!«
»Du kannst die Zeitung und das Geld behalten und jetzt troll dich!«
Der Zeitungsjunge erkannte, dass mit diesem merkwürdigen Mann nicht zu spaßen war und entfernte sich einige Meter. Erich stand wie vom Donner gerührt, die Gedanken schossen nur so durch seinen Kopf, aber keiner davon ergab einen Sinn. Was er jetzt dringend brauchte, war ein Ort, wo er in Ruhe nachdenken konnte.
Er betrat die Kirche und schob sich in eine der hinteren Kirchenbänke. Hier war er genau richtig, die Kirche war fast leer und das Halbdunkel verbarg seine unpassende Kleidung. Die Ruhe und die Kälte wirkten bald etwas besänftigend auf ihn, führten aber dennoch zu keinem Gedanken, den man vernünftig hätte nennen können. Wie kann das sein, fragte er sich immer wieder. Sollte er zu Gott beten, hier an diesem Ort? Leider glaubte er nicht an Gott und ein Gebet hatte ihm noch nie weiter geholfen. Vielleicht gab es ja doch einen Gott, einen Herrscher über alles, auch über die Zeit? Blödsinn! Er hatte sich vorstellen können, im Koma gelegen zu haben und deshalb im Winter erwacht zu sein, nachdem im Sommer die Bombe explodiert ist. Aber natürlich im Winter nach dem Attentat, 1944 oder von ihm aus auch 1945. Aber doch nicht davor! Es gab nur eine logische Erklärung und vor dieser graute es Erich. Er war verrückt! Er war ein Mensch aus dem 19. Jahrhundert, der sich einbildete, in der Zukunft gelebt zu haben. In dieser entsetzlichen Zukunft mit all ihren Schrecken. Mit Hitler. Welches kranke Hirn würde sich so etwas ausmalen? Und sich dabei so normal fühlen? Unglücklich, verwirrt, aber im Großen und Ganzen normal. Nach zwei Stunden musste Erich sich eingestehen, dass er trotz der Jacke durchgefroren und in seinem Gedankenkarussell zu keinem Ergebnis gekommen war. Er beschloss, die Sache praktisch anzugehen und sich seine allernächsten Schritte zu überlegen. Sein Magen meldete sich schon wieder und er dachte, wie störend und gleichzeitig praktisch es war, vom Hunger an die einfachen Bedürfnis des Lebens erinnert zu werden. Er brauchte Essen und eine Unterkunft für die Nacht. Dafür brauchte er Geld, was er nicht hatte. Jedenfalls keine Währung, die in dieser Zeit gültig war. Er befingerte die Reichsmark in seiner Hosentasche. Er liebte sie! Gerade, als er angefangen hatte, sich für verrückt zu halten, war ihm eingefallen, dass er sich die Münzen und seine Uniform schlecht einbilden konnte. Sie waren der Beweis! Er kam aus der Zukunft!
Er durchsuchte seine anderen Taschen in der Hoffnung, etwas zu finden, dass er eintauschen könnte. Zigaretten wären gut, aber er hatte nie welche besessen. In der linken Jackentasche stieß er auf einen kleinen Stoffbeutel. Irritiert betrachtete er ihn, denn er hatte ihn noch nie gesehen. Es handelte sich um einen ungefähr zehn mal fünfzehn Zentimeter großen Beutel aus braunem Samt, der oben mit einer Kordel fest zugezogen war. Im Inneren schien sich etwas hartes und etwas knisterndes zu befinden. Bevor Erich den Beutel öffnete, dachte er gründlich nach.
Gestern Morgen, als er seine Uniform angezogen hatte, hatte sich dieser Beutel definitiv nicht in seiner Tasche befunden, das wusste er genau. Er ging die einzelnen Geschehnisse seit dem gestrigen Morgen in Gedanken durch, kam aber auf keine Lösung. Hatte ihm jemand, während er bewusstlos im Wald lag den Beutel in die Tasche gesteckt? Dann fiel es ihm ein. Der alte Mann! Der alte Mann vor der Baracke, der ihm merkwürdig bekannt erschienen war, hatte an ihm herumgezerrt. Da musste es passiert sein! Erich öffnete den Zugverband und schielte ins Innere. Er zog einen kleinen, gefalteten Bogen Papier heraus und versuchte zu erkennen, was noch im Beutel war, aber das Kirchenlicht war zu gedämpft. Vorsichtig schüttete er sich den Inhalt auf die Hand und war sprachlos. In seiner Hand glitzerte ein beachtlicher Haufen Kristalle, die wie Diamanten aussahen, und noch mehr befanden sich noch im Beutel. Da hatte er sein Geld! Es kann so einfach sein! Na gut, Geld war es nicht, aber damit ließe sich etwas anfangen, viel sogar. Sorgfältig füllte er die Diamanten wieder zurück in den Beutel und widmete sich dem Papier, das er zuerst gefunden hatte. Es handelte sich um ein einfaches Blatt, dass eng in Handschrift beschrieben war. Erich stand auf, begab sich zu den brennenden Opferkerzen, um Licht zum Lesen zu haben, und las:
Pennsylvania Railroad
New York Central Railroad
Carnegie Steel Company
Standard Oil Company
American Telephone and Telegraph Company
Morgan & Company
Maxwell-Briscoe Motor Company
Es war eine Liste. Es gab keine Anrede, keine Unterschrift, nur Namen von Firmen, amerikanischen Firmen, wie unschwer zu erkennen war. Es gab ungefähr fünfzehn Einträge, dann einen Satz: 'Achtung: 1907 und 1929 Börsenkrach!'
Es folgten acht weitere Firmennamen und schließlich ganz am Schluss eine Aufforderung: 'Finde Isabel Bolder, London!'
Erich seufzte. Das war ihm zu viel für einen Tag. Er würde später darüber nachdenken, jetzt brauchte er etwas zu essen!
Vor der Kirche stand noch immer der Zeitungsjunge, sein Stapel Zeitungen war deutlich kleiner geworden. Missmutig betrachtete er Erich, der auf ihn zukam.
»Wollen Sie jetzt Ihre Zeitung bezahlen?«
»Sei nicht so frech! Du kennst dich doch bestimmt gut aus in dieser Stadt.«
»Na sicher!«
»Kannst du mir sagen, ob es hier einen Juwelier gibt?«
»Ach, dafür haben Sie Geld!«
»Ich will nichts kaufen, sondern etwas verkaufen. Also?«
»Einen Juwelier gibt es schon, aber ich glaube nicht, dass der Ihnen was abkauft. Da sollten Sie besser woanders hin.«
»Und wohin?«
»Na ins Judenviertel. Die sind da richtig!«
Erich überlegte kurz, der Kleine schien clever zu sein.
»Bringst du mich hin? Ich kenne den Weg nicht.«
»Und was krieg ich dafür?«
»Wenn du ein bisschen Geduld hast und wartest, bis ich Geld getauscht habe, und du mir dann noch eine Gaststätte zeigst, wo man gut essen und übernachten kann und ein Geschäft, wo man Kleidung bekommt, schenke ich dir fünf Mark.«
»Schenken! Das ist harte Arbeit, dafür sollten Sie mir mindestens sechs Mark geben!«
»Na schön, sechs Mark.«
»Oder acht!«
»Übertreib es nicht, Bengel!«
»Schon gut, ich muss aber erst noch die restlichen Zeitungen im Verlag abliefern.«
Während der Junge, der Karl hieß, seine Zeitungen ablieferte, suchte Erich möglichst unauffällig einen der kleinsten Diamanten aus seinem Beutel heraus und steckte ihn in die Hosentasche. Der jüdische Händler besah sich den Diamanten gründlich mit einer Lupe und bot Erich schließlich zweihundert Mark an. Erich konnte den Wert des Geldes zu dieser Zeit nicht einschätzen, ging aber davon aus, dass der Händler ihm einen zu niedrigen Preis bot und begann zu feilschen. Sie einigten sich endlich auf vierhundert Mark, wobei der Händler einen sehr zufriedenen Eindruck machte.
»Soviel Geld habe ich nicht hier. Ich kann Ihnen jetzt einhundert Mark und einen Schuldschein geben. Morgen kommen Sie wieder und dann bekommen Sie den Rest.«
Erich willigte ein. Als nächstes suchte er, geführt von Karl, ein Geschäft für Herrenbekleidung auf. Der Verkäufer betrachtete Erichs Uniform mit entsetztem Blick und bot ihm eine große Auswahl an Hemden, Krawatten, Westen und Anzügen an.
»Schuhe und Hüte bekommen Sie natürlich nicht bei mir.«
Erich war hungrig und hatte schon lange keine Lust mehr, einen Anzug nach dem nächsten anzuprobieren. Der Verkäufer war aufmerksam und schickte seinen Gehilfen in die Stadt, um eine Auswahl an Schuhen und Hüten herbei zu bringen. Schließlich entschied Erich sich mit Unterstützung Karls für einen der schlichteren Anzüge und eine Mütze, welche er gleich anbehielt. Naserümpfend wickelte der Verkäufer ihm seine Uniform zu einem handlichen Paket. Erich wusste nicht, ob er wegen des Pferdegestanks oder der Uniform selbst die Nase rümpfte. Inklusive eines Paar Schuhe kostete ihn das fünfundvierzig Mark. Jetzt dämmerte es Erich, dass der versprochene Lohn für Karl nicht gering war. Für weitere zehn Mark sicherte er sich ein Zimmer und ein Abendessen in einer gutbürgerlichen Gaststätte und entließ Karl mit seinen üppigen sechs Mark. Für den Moment satt und zufrieden ließ er sich in sein weiches Bett fallen. Er hätte sich noch einen Schlafanzug kaufen sollen, dachte er schläfrig. Das mache ich morgen in Berlin. Als erstes muss ich mich um das arme Pferd kümmern, das steht immer noch vor der Kirche. Ich muss jemanden finden, der es zurück nach Schwarzstein bringt. So verrückt, wie ich dachte, sind die Leute da gar nicht.
KAPITEL 2
London, März 1887
»Die Königin hat einen Brief für mich«, berichtete Isabel.
»Ich soll nach Balmoral reisen, um ihn abzuholen.«
»Weiter Weg für einen Brief.« Brummte Robert Baden-Powell.
»Sagt der Mann, der gerade erst aus Afrika zurück ist«, lachte Isabel.
»Und wie kommst du mit Abdul Karim voran?«
»Leider gar nicht. Ich bin einige Male in seinen Räumlichkeiten gewesen, ohne das Geringste gefunden zu haben. Vielleicht gibt es ja nichts zu finden. Soweit ich es bisher beurteilen kann, ist er unverdächtig.«
»Bleibe trotzdem an ihm dran! Seine Nähe zur Königin ist beunruhigend.«
»Selbstverständlich. Ich lasse ihn nicht aus den Augen! Und ich habe meinem Vater in Indien geschrieben und ihn gebeten, sich diskret über Karims Herkunft zu erkundigen.«
Baden-Powell gab dem Kellner unauffällig ein Zeichen und dieser kam eilfertig an ihren Tisch.
»Darf es noch etwas sein, die Dame, der Herr?«
»Ich nehme eine weitere Tasse Tee und eines Ihrer köstlichen Ingwer-Eclairs«, beschied ihm Isabel.
Baden-Powell schloss sich der Bestellung an. Halb amüsiert, halb verärgert registrierte er, dass der Kellner kaum die Augen von Isabel wenden konnte. Obwohl er sich selbst nicht übermäßig für das weibliche Geschlecht interessierte, konnte er Schönheit und Eleganz sehr wohl erkennen und verübelte dem Kellner sein freches Benehmen nicht allzu sehr. Er betrachtete Isabel wohlwollend. Sie kannten sich ihr halbes Leben, ihre Eltern waren in Freundschaft verbunden. Als Isabels Eltern nach Indien gegangen waren und Isabel mit nur 16 Jahren unter der Obhut Ihrer Majestät in England zurückgelassen wurde, hatten Roberts Eltern versprochen, auf Isabel acht zu geben. Das erwies sich als einfache Aufgabe, denn Isabel wuchs zu einer besonnenen, vernünftigen und selbständigen jungen Frau heran. Durch ihre zuverlässige und verschwiegene Art hatte sie es verstanden, sich das Vertrauen der Königin zu sichern. Während Victoria sich des Wertes Isabels voll bewusst war, wurde diese aufgrund ihrer Jugend und Schönheit oftmals unterschätzt, insbesondere von älteren Herren. Niemand argwöhnte, dass die charmante, junge Frau einen hellwachen Geist hatte, der sich bestens in Politik auskannte und Gespräche in ihrer Tragweite und Bedeutung wohl einzuschätzen wusste. Die Freundschaft zwischen Robert und Isabel beruhte nicht nur auf ihre lange Bekanntschaft, sondern auf ihrer Seelenverwandschaft, denn beide waren nicht nur geschickte Taktiker, sondern vor allem mutig, unerschrocken und tatkräftig.
»Da ist noch etwas, worüber ich mit dir reden wollte«, begann Isabel, »ich habe einen Brief erhalten von einem Londoner Anwalt, der die Interessen eines gewissen Herrn Eric Bakers aus New York vertritt. Er teilt mir mit, dass dieser Herr Baker wünscht, mich kennenzulernen.«
»Wer könnte ihm das verdenken? Schreibt er auch, aus welchem Grund?«
»Das ist es gerade, was mir merkwürdig erscheint. Der Grund ist fadenscheinig und vielleicht vorgeschoben. Er behauptet, eventuell ein entfernter Cousin von mir zu sein. Du weißt ja, dass meine Mutter Deutsche ist, ihr Mädchenname war Leuken, Elisabeth Leuken. Dieser Herr Baker sagt, dass seine Familie Becker hieß und aus dem Rheinland käme. Wie er darauf kommt, dass wir verwandt sein könnten, erschließt sich mir nicht. Ich kenne den Stammbaum meiner Mutter recht gut und bin mir sicher, dass es da zu keiner Zeit irgendwelche Beckers gab.«
»Ausgeschlossen ist es dennoch nicht. Vielleicht ist er im Alter nostalgisch geworden und dabei, seinen Familienstammbaum zu ergänzen. Das geht vielen Leuten so, wenn sie in die Jahre kommen.«
»Er ist in meinem Alter, 24, und um seinen Stammbaum zu vervollständigen, müsste er mich nicht persönlich treffen.«
»Dann ist er vermutlich mittellos und auf der Suche nach einer angeblich verlorenen Cousine, die unter der Obhut der Königin steht und ihm finanziell aushelfen kann!« argwöhnte Baden-Powell.
»Im Gegenteil. Ich habe Erkundigungen über ihn eingeholt. Er ist einer der reichsten Männer Amerikas!«
Robert ließ überrascht die Kuchengabel sinken und pfiff leise durch die Zähne.
Eine Weile aßen Isabel und Robert in Überlegungen versunken ihren Kuchen.
»Ich habe eine Idee«, sagte Baden-Powell schließlich, »du musst doch nach Balmoral. Lasse ihm mitteilen, dass du an dem und dem Tag dort sein wirst und bereit wärest, ihn da zu treffen. Wenn er darauf eingeht und sich tatsächlich die nicht unerhebliche Mühe macht, ins entfernteste Schottland zu reisen, nur um dich zu treffen, dann wissen wir, dass an der Sache etwas faul ist.«
Isabel durchdachte den Vorschlag.
»Ich denke, dass ist eine gute Idee«, sagte sie schließlich, »zumal einige Mitglieder des NID da sein werden, die sich vermutlich auch für einen reichen Amerikaner in London interessieren. Es kann nicht schaden, ihm auf den Zahn zu fühlen!«
»Halte mich auf dem Laufenden, dieser Baker hat mich neugierig gemacht.«
»Mache ich. Was wirst du als nächstes tun?«
»Das NID schickt mich in den Balkan. Ich soll Karten anlegen und ganz allgemein die Gegend auskundschaften. Mich insbesondere für politische Strömungen in Serbien interessieren. Eine Geheimorganisation, die sich 'die schwarze Hand' nennt soll für die Morde am serbischen König und seiner Königin verantwortlich sein. Ich denke, ich werde mich als Ornithologe ausgeben, die hält jeder für harmlose Spinner.«
Isabel lächelte. »Perfekt auf dich zugeschnitten!«
Aberdeen, März 1887
Erich stand auf dem winzigen Bahnsteig von Aberdeen Station und fror. Um kurz vor neun am Morgen war sein Nachtzug aus London in Aberdeen angekommen und obwohl sein erste Klasse Abteil an Komfort nichts zu wünschen übrig ließ, hatte er schlecht geschlafen.
Nun stand ihm eine siebenstündige Bahnfahrt mit der Deeside Line bis Ballater bevor, von dort aus hoffte er, eine Kutsche nach Balmoral zu bekommen. Es regnete und der scharfe Wind trieb die Regenschauer bis weit unter das Vordach des Bahnhofgebäudes. Erich stopfte seinen Schal fester unter den Wollmantel und war froh darüber, an Handschuhe gedacht zu haben. Der Zug fuhr unter viel Qualm, und quietschenden Bremsen ein und ein paar wenige weitere Fahrgäste kamen aus dem Inneren des Bahnhofgebäudes auf den Bahnsteig. Ein Gepäckträger verstaute die Koffer, während Erich das erste Klasse Abteil bestieg und erleichtert von wohliger Wärme empfangen wurde. Im Waggon gab es nur wenige Sitzreihen, alle in Fahrtrichtung mit viel Beinfreiheit. Erich nahm in der Mitte des Waggons einen Fensterplatz ein. In der Sitzreihe neben ihm, auf der anderen Seite des Ganges nahmen zwei Damen Platz. Nur noch drei weitere Herren stiegen ein und so blieb der Platz neben Erich frei.
Der Schaffner hatte Erichs Mantel bereits zur Garderobe gebracht und war nun den Damen behilflich, sich aus ihren Mänteln zu schälen. Erich blickte hinüber und es war, als durchführe ihn ein Stromschlag. Vor ihm, oder besser neben ihm, stand die schönste Frau, die er je gesehen hatte!
Sie war groß, ungewöhnlich groß für eine Frau. Dabei hatte sie eine sehr gerade Haltung, die nicht nur selbstbewusst, sondern geradezu königlich wirkte. Die elegante Haltung ihres Kopfes auf ihrem langen Hals, wie sie jetzt den Kopf zu ihm wandte und ihm nahezu huldvoll zunickte! Eine Sekunde blickte sie Erich in die Augen und er war sich sicher, niemals zuvor solche Augen gesehen zu haben.
Erich stieß den angehaltenen Atem aus und schnappte nach Luft. Es konzentrierte sich darauf nach vorne zu sehen, gleichmäßig zu atmen und möglichst locker zu wirken.
Diese Augen! Sie waren hellgrau und hatten, wenn er das in dieser kleinen Sekunde richtig gesehen hatte, einen schwarzen Ring um die Iris. Ihre Haut hatte die Farbe von... Wie nannte man das? Erich war in der Benennung von Farbnuancen nicht sehr bewandert. Sehr hell jedenfalls. Gab es nicht Malven in diesem sehr hellen beige? Oder war das Hibiskus? Braune Locken, aber man konnte sehen, dass es nicht nur Locken waren, die am Morgen mit dem Brenneisen geformt worden waren, sondern echte Locken. Viele, viele davon. Und das Gesicht war herzförmig mit einem kleinen, rosa, herzförmigen Mund!
Erichs Haut kribbelte, als ob Strom durch seinen Körper fließen würde. Er befürchtete, starr wie eine Schaufensterpuppe in seinem Sessel zu sitzen und versuchte, erst die Beine, dann die Arme etwas zu entspannen und ein angenehmes Lächeln aufzusetzen, für den Fall, dass sie zu ihm hinübersehen sollte.
'Königlich', dachte er, 'majestätisch'!
»Guten Morgen, meine Damen und Herren! Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, das wir in einer halben Stunde in unserem neuen Speisewagen, auf den wie einen gewissen Stolz hegen, Speisen und Getränke servieren. Bitte fühlen Sie sich eingeladen, jederzeit das Angebot zu genießen! Mein Name ist Jones, Sie können sich gerne mit jedem Wunsch an mich wenden. In sieben Stunden werden wir unser Endziel, Ballater, erreichen. Ich wünsche Ihnen eine höchst angenehme Fahrt!«
Noch vor wenigen Minuten hatte Erich mit großem Unwillen an die siebenstündige Fahrt gedacht, jetzt schien sie ihm eher zu kurz. Mein Gott, nur sieben Stunden! Wie soll ich es schaffen, sie in dieser kurzen Zeit für mich einzunehmen? Wenn ich es nicht schaffe, wird sie für immer aus meinem Leben verschwinden. Warum musste ich mich auch an den Fensterplatz setzen, soweit weg von ihr? Ich kann ja schlecht hinüber brüllen! Erich dachte an den Speisewagen und nahm sich vor, diesem engelsgleichen Wesen sofort zu folgen, sollte sie sich dorthin begeben. Im Abteil gab es trotz der guten Qualität des Zuges einen recht hohen Pegel an Fahrgeräuschen und Erich konnte die leise geführte Unterhaltung der beiden Frauen nicht verstehen. Die vom Schaffner angekündigte halbe Stunde war schon lange verstrichen, ohne dass die beiden Frauen Anstalten gemacht hätten, in den Speisewagen zu gehen. Endlich erhoben sie sich und kaum hatten sie sich in Bewegung gesetzt, sprang Erich auf und folgte ihnen. Der Speisewagen verfügte über drei Tische für jeweils vier Personen, von denen nur einer durch einen älteren Herrn belegt war. Die Damen steuerten auf einen der beiden freien Tische zu und setzten sich nebeneinander. Erich stand unschlüssig herum. Er war sich darüber im Klaren, dass er den letzten freien Tisch nehmen sollte und sich unter keinen Umständen zu den Frauen setzen konnte. Nur sieben Stunden!
»Ich bitte höflich um Entschuldigung!«
Die beiden Frauen sahen überrascht auf.
»Mein Name ist Baker, Eric Baker. Ich weiß, dass es Ihnen ungewöhnlich erscheinen muss, ja wahrscheinlich sogar ungehörig, deshalb bitte ich vielmals, mir zu verzeihen, aber ich dachte, die Zugfahrt dauert sehr lang und ein interessantes Gespräch würde sie sicherlich verkürzen. Deshalb möchte ich höflich fragen, ob Sie es mir gestatten würden, dass ich mich zu Ihnen setze.«
Die ältere der beiden Frauen starrte Erich mit weit aufgerissenen Augen und entsetztem Gesichtsausdruck an. Im Gesicht der jüngeren, der Göttin, meinte Erich ein Zucken um die Mundwinkel zu erkennen.
»Ganz sicher nicht!« rief die ältere Frau empört aus.
»Warum nicht?« sagte die Jüngere, »Sie haben vollkommen recht, die Reise ist lang und ein interessantes Gespräch könnte sie verkürzen. Bitte, nehmen Sie Platz!«
Die Ältere jappste vor Missbilligung, brachte jedoch keinen Einwand vor.
»Vielen Dank!« Erich setzte sich der Jüngeren gegenüber und versuchte, nicht über das ganze Gesicht zu strahlen.
»Womit kann ich dienen?«, erkundigte sich Jones, der Schaffner.
»Tee und Sandwichs, bitte.«
»Für mich ebenfalls«, beeilte Erich sich zu sagen.
»Darf ich fragen, ob Sie auch bis ganz nach Barreter fahren?« fragte Erich.
»Das ist der Fall«, antwortete die Jüngere, die Ältere hatte ihre Sprache offenbar noch nicht wiedergewonnen.
Erich frohlockte insgeheim. Der Zug hielt oft auf der Strecke, die Gefahr, dass sie bereits irgendwo auf der Strecke aussteigen würde, war groß gewesen. Erich lächelte sie an und sie lächelte ohne Scheu zurück. Ein kleines, ruhiges, freundliches, aber auch leicht spöttisches Lächeln.
»Waren Sie schon häufig in Schottland?«
»Nein, ich bin zum ersten Mal hier. Ich komme aus Amerika, aus New York.«
Die Ältere ließ ein empörtes Kieksen vernehmen.
»Ja, sehen Sie, das erklärt meine Unverfrorenheit und meine schlechten Manieren.«
Das Lächeln wurde breiter.
»Ach, ganz so schlimm ist es nicht. Und wir sind doch immer von Herzen froh, wenn wir unsere Vorurteile bestätigt sehen und nicht gezwungen werden, umzudenken.«
Tee und Sandwichs wurden serviert und eine Weile herrschte Schweigen. Erich hatte sich nicht getäuscht, die Augen waren von einem ungewöhnlich hellem grau mit einem schwarzen Ring um die Iris. Sie forderte ihn auf, von sich und New York zu erzählen und für Erich verging die Zeit wie im Flug, während er versuchte, amüsante oder erstaunliche Begebenheiten zu berichten und sich selbst in eine gutes Licht zu rücken, ohne angeberisch zu wirken. Er war sich nicht sicher, ob er damit Erfolg hatte, aber die Damen wirkten zumindest nicht offensichtlich gelangweilt.
Sie hatten sich ihm nicht namentlich vorgestellt und er wagte nicht, danach zu fragen. Gleichzeitig war er sich bewusst, dass er spätestens vor Ende der Zugfahrt ihren Namen erfahren musste. Nach ungefähr drei Stunden, viel zu früh für Erichs Geschmack entschieden sich die Damen, den Speisewagen zu verlassen und wieder ihre Plätze einzunehmen. Erich saß auf seinem alten Platz wie auf Kohlen und überlegte fieberhaft, was er unternehmen könnte. Auf jeden Fall würde er ihr seine Visitenkarte überreichen, aber dann war es an ihr, den Kontakt aufzunehmen und er wäre machtlos, falls sie das nicht tun würde. Die Ältere war eingeschlafen und seine Angebetete in ein Buch vertieft. Jules Verne. Erich starrte zum Fenster heraus und sah die karge und dennoch reizvolle, schottische Landschaft an sich vorüberziehen. Sanfte grüne Hügel wechselten sich mit kargen Felsen ab. Es gab nur wenige Bäume, aber viele Seen und Flüsse. Der Regen prasselte an die Fensterscheibe.
Er dachte an seine Eltern. Seinen ruhigen, bedachtsamen Vater und seine spontane, sprunghafte Mutter. Sein Vater hätte ihm jetzt geraten, die Dinge in Ruhe anzugehen, mit der Zeit würde alles sich von selbst ergeben. Seine Mutter hingegen, hätte ihm gesagt, dass er die Gelegenheit beim Schopfe packen solle.
»Ich bin so unhöflich!«
Erich zuckte zusammen, die Frau hatte sich neben ihn gesetzt und war ihm jetzt ganz nah.
»Ich habe mich gar nicht vorgestellt. Außerdem habe ich Ihnen verschwiegen, dass wir näher bekannt sind, als Sie glauben.«
»Wie das?«
»Nun, ich hätte es wirklich schon viel früher erwähnen sollen, aber irgendwie ergab es sich nicht. Wir sind Cousin und Cousine!«
Erich erschrak, bis ihm einfiel, wovon sie sprechen musste und dass sie in Wirklichkeit nicht miteinander verwandt waren.
»Ich bin Isabel, lieber Eric. Und da wir eine Familie sind können wir uns von nun an duzen.«
Spät am Abend erreichten sie das Schloss Balmoral. Im Dunkeln konnte Erich kaum etwas vom Schloss erkennen, aber er sah, dass es gewaltige Ausmaße hatte.
Sie waren alle drei erschöpft, müde und durchgefroren. Isabel übernahm die Führung, regelte alles Nötige und brachte ein paar Diener auf Trab. Ihre Ankunft war natürlich angekündigt und man hatte sie erwartet. Isabel verabschiedete sich von Erich und überließ ihn der Obhut eines Dieners namens Adam, der während seines Aufenthalts für ihn zuständig sein sollte.
Adam war nicht viel älter als Erich selbst und machte auf Anhieb einen sympathischen Eindruck. Er führte ihn durch eine große Anzahl an Korridoren und Treppenhäuser und Erich folgte ihm ergeben bis sie endlich das Zimmer erreichten, das ihm zugedacht war. Es war weder klein noch groß, aber auf jeden Fall recht behaglich. Im Kaminofen brannte Feuer, auf den Tischen standen brennende Petroleumlampen. Erich ließ sich erschöpft in einen Sessel fallen, während Adam Brennholz nachlegte. Der Diener war nicht besonders groß und ein deutliches Bäuchlein zeichnete sich unter seinem Plaid ab. Erich betrachtete ihn neugierig, die schottische Tracht war für ihn ungewohnt.
»Stammen Sie aus dieser Gegend hier?«
»Oh nein, ganz und gar nicht. Ich bin Londoner. Wäre ich Schotte, hätten Sie Schwierigkeiten, mich zu verstehen. Diese Kleidung trage ich nur hier. Ihre Majestät wünscht, dass alle Bediensteten in Balmoral schottische Tracht tragen.«
Er hatte freundliche, braune Kulleraugen in einem rundlichen Gesicht. Sein braunes Haar war wellig und hatte eine für die aktuelle Mode beinahe gewagte Länge. Wie so viele Männer der Zeit trug er einen gepflegten Vollbart.
»Ich hole Ihnen rasch einen Imbiss. Es dauert nicht lange.«
»Vielen Dank!«
Erich nutzte die Zeit, um das Zimmer zu inspizieren. Das Bett war groß, weich und zu seiner Überraschung warm. Unter der Bettdecke verbarg sich eine Kohlenpfanne. Himmlisch! Adam kam mit einem gut beladenen Tablett zurück und Erich setzte sich an den Tisch, um zu essen.
»Ich hoffe, die Suppe ist noch heiß.«
»Ist sie!«
»Bei den langen Gängen hier ist es schwierig, die Speisen noch heiß zu servieren. In Buckingham ist es natürlich nicht anders, aber da ist es nicht ganz so kalt.«
»Arbeiten Sie da normalerweise?«
»Ja, das tu ich, seit fast zehn Jahren. Ich habe eine kleine Bitte. Bitte sagen Sie es mir, wenn ich zu viel reden sollte. Manchmal, nun manche Herrschaften finden das.«
»Keine Sorge! Ich unterhalte mich gerne. Und wo wir gerade beim Thema sind, ich ziehe mich alleine an und aus und ich brauche auch niemanden, der mir den Rücken schrubbt.«
»Verstehe«. Adams Augen funkelten, »Sie sind modern. Amerikaner!«
»Ja«, lachte Erich, »modern bin ich wohl.«
»Ich habe Ihnen hier Ihren Pyjama zurechtgelegt. Morgen früh komme ich Sie wecken und bringe Sie zum Frühstück. Mir wurde gesagt, dass Sie das Frühstück zusammen mit Fräulein Bolder einnehmen werden.«
»Ausgezeichnet!«
Adam nahm die Kohlenpfanne aus dem Bett, wünschte eine gute Nachtruhe und verschwand.
Frühstück mit Fräulein Bolder. Erich sank selig lächelnd in den Schlaf.
Um kurz vor neun am nächsten Morgen betrat Erich, von Adam bis zur Tür begleitet, den Frühstückssalon. Obwohl es ein sehr kühler Morgen war, war das Fenster weit geöffnet und Dudelsack Klänge in infernalischer Lautstärke erfüllten den kleinen Salon. Am Tisch saß zusammengesunken eine Frau, die sich mit beiden Händen die Ohren zuhielt. Bei Erichs Eintreten hob sie ein wenig den Kopf ohne die Hände zu senken und Erich blickte in ein junges, ausgesprochen hübsches Gesicht, das im Moment allerdings einen sehr gequälten Ausdruck machte. Zögernd setzte sich Erich der Frau gegenüber an den runden Tisch, auf dem drei Gedecke standen. Ein Diener, der in einer Ecke des Raumes gewartet hatte, rückte Erich den Stuhl zurecht und schrie ihm ein 'guten Morgen' zu. Normalerweise hätte Erich sich der Dame vorgestellt, bevor er sich setzte, aber bei dem Lärm war daran nicht zu denken. Neugierig blickte Erich zu der jungen Frau hinüber, die die Augen fest verschlossen hielt. Er schätzte sie auf Ende zwanzig. Sie hatte braunes Haar, eine schlanke Figur und trug ein schlichtes, hellgraues Kleid.
Plötzlich sprang die Frau auf, war mit einem Satz beim Fenster, knallte es zu und schloss die Verriegelung. Danach setzte sie sich wieder auf ihren Platz und verbarg ihren Kopf in ihren verschränkten Armen auf der Tischplatte.
Erich räusperte sich. »Ist Ihnen nicht gut?« fragte er, »kann ich etwas für Sie tun?«
Erich blickte hilfesuchend zu dem Diener, aber der erwiderte seinen Blick nicht, noch wirkte er besorgt.
In diesem Moment betrat Isabel den Salon und Erich vergaß bei ihrem Anblick alles andere. Isabel trug das hübsche hellblaue Kleid vom Vortag, ihre Haut schien im Morgenlicht zu strahlen, ihre braunen Locken waren ordentlich drapiert und sie verströmte gute Laune. Wie durch ein Wunder hörten die Dudelsackpfeifer in diesem Moment auf zu pfeifen und eine himmlische Ruhe trat ein. Zu dieser Wohltat kam hinzu, dass Erich erleichtert war, nicht mehr mit der seltsamen Person am Tisch allein zu sein.
»Ah!« rief Isabel aus, »wie schön, ihr habt euch schon bekannt gemacht!«
»Ähm, nein«, erwiderte Erich, »dazu sind wir noch nicht gekommen. Die Musik, vielmehr die Dudelsäcke...«
Mit lautem Stöhnen setzte die junge Frau sich auf.
»Ruhe! Endlich! Es ist absurd!«
»Was?« fragte Isabel amüsiert und setzte sich zwischen die Frau und Erich.
»Whisky. Whisky und Dudelsäcke! Man sollte meinen, dass sich das ausschließt! Entweder man trinkt Whisky, dann hat man am nächsten Morgen Kopfschmerzen«, sie verzog das Gesicht, »oder man genießt diesen Höllenlärm! Wohl kaum! Beides zusammen ist absurd!«
»Willkommen in den Highlands, Louise« lächelte Isabel und fuhr an den Diener gewandt fort »bitte zwei schöne starke Kaffee, für meine Freundin, weil sie es nötig hat und für den Herrn, weil er Amerikaner ist.«
Der Diener schenkte Isabel Tee ein und wandte sich dann zum Buffet, um zu Erichs Zufriedenheit mit einer großen Kanne Kaffee zurück zu kommen.
»Dann mache ich euch mal bekannt«, sagte Isabel, »Louise, darf ich vorstellen, der Herr dir gegenüber ist Eric Baker, mein Cousin aus Amerika, der erst kürzlich in unserem schönen Königreich eingetroffen ist.«
Erich erhob sich und machte eine kleine Verbeugung in Richtung Louise.
»Eric, dies ist meine sehr gute Freundin Louise, auch Easy genannt. Im Gegensatz zu mir verschwendet sie ihre Zeit nicht mit Nichtstun, sondern übt einen Beruf aus, den der Journalistin, worum ich sie sehr beneide.«
Louise erhob ihre Kaffeetasse leicht in Erichs Richtung.
»Isabel hat mir bereits erzählt, wie gut Sie aussehen und ich muss sagen, sie hat nicht übertrieben.«
»Louise!« zischte Isabel und sah sie strafend an, Röte kroch langsam ihren Hals herauf.
»Wirklich?« lachte Erich und eine plötzliche, wilde Freude erfüllte ihn, »wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sie für eine Amerikanerin halten. Wegen ihres Berufes meine ich.«
»Wegen deiner schlechten Manieren meint er«, versetzte Isabel, »aber nein, frech und vorlaut kann man auch als Engländerin sein.«
Erich beobachtete fasziniert die beiden Frauen. Auch Louise war außergewöhnlich attraktiv. Sie wirkte intelligent und selbstsicher wie Isabel, hatte aber auch einen burschikosen und vielleicht leicht überheblichen Zug an sich.
»Ich kann auch ganz und gar gesittete, englische Konversation betreiben«, behauptete Louise, »Herr Baker, wie gefällt Ihnen Balmoral mit all seinen Schotten?«