Zeiten des Aufruhrs - Richard Yates - E-Book
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Zeiten des Aufruhrs E-Book

Richard Yates

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Beschreibung

1955, in einer Vorstadt nahe New York: Hinter dem gepflegten Vorgarten tobt ein Ehekrieg. Frank und April Wheeler, einst ein junges, hoffnungsfrohes und vielversprechendes Paar, drohen unter dem Druck der allgemeinen Erwartungen an eine glückliche Ehe und ein erfolgreiches Berufsleben zugrunde zu gehen. Harmlose Äußerungen entzünden sich zu Hasstiraden und steigern sich zu bedrohlicher Wortlosigkeit.

Richard Yates’ Debütroman machte ihn in den USA schlagartig bekannt und sorgte auch in Deutschland dafür, dass Jahre nach dem Tod des Autors das Yates-Fieber ausbrach.

»Das eindringliche Psychogramm einer Ehe, die von Beginn an den Virus des Scheiterns in sich trägt. (…) Eine Tragödie hinter pastellfarbenen Fassaden.« Brigitte

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Seitenzahl: 530

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Im Jahr 1955, in einer Vorstadt nahe New York: Frank und April Wheeler sind ein junges, hoffnungsfrohes und vielversprechendes Paar. Er arbeitet in der City, sie widmet sich den Kindern und träumt von einer Schauspielkarrießre. Doch zunehmend fühlen sich die beiden dem Druck ausgesetzt, den allgemeinen Erwartungen an eine glückliche Ehe und ein erfolgreiches Berufsleben zu entsprechen. Sie geben sich Illusionen über die eigenen Möglichkeiten hin, träumen von einem Leben in Europa und vom sozialen Aufstieg – und rutschen dabei, ohne es zu bemerken, immer tiefer in die Spießbürgerlichkeit ab. Im unbeirrbaren Glauben an die eigene außergewöhnliche Existenz inmitten von Kleinbürgern verspielen Sie ihre tatsächlichen Möglichkeiten und das Leben selbst.

RICHARD YATES wurde 1926 in Yonkers, New York, geboren. Er war einige Jahre als Werbetexter beschäftigt und in den späten Sechzigern kurzzeitig als Redenschreiber für Senator Robert Kennedy tätig. Doch die meiste Zeit über arbeitete Richard Yates als Schriftsteller. Er verfasste sieben Romane und zwei Erzählungsbände. Bis zu seinem Tod 1992 lebte er in Kaliforniern. Heute zählt Yates zu den »wichtigsten amerikanischen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts« Frankfurter Allgemeine Zeitung

Inhaltsverzeichnis

WidmungInschriftTeil eins
EinsZweiDreiVierFünfSechsSieben
Teil zwei
EinsZweiDreiVierFünfSechs
Teil drei
EinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeun
Copyright

Für Sheila

Ach! wo Liebe sanft und wild zugleich!

JOHN KEATS

Teil eins

Eins

Als die letzten Geräusche der Generalprobe verklungen waren, blieben die Laurel Players noch eine Weile stumm und hilflos stehen und schauten blinzelnd über das Rampenlicht in den leeren Zuschauerraum. Sie wagten kaum zu atmen, als die gedrungene Gestalt des Regisseurs zwischen den verwaisten Sitzreihen auftauchte und gemessen zu ihnen auf die Bühne trat; scheppernd zog er eine Trittleiter aus der Kulisse, erstieg sie auf halbe Höhe und wandte sich den Schauspielern zu, um ihnen unter mehrfachem Räuspern zu sagen, daß sie eine verdammt talentierte Truppe seien, eine wundervolle Truppe, mit der sich arbeiten lasse.

»Es war ja nicht grade leicht«, sagte er mit aufblitzenden Brillengläsern. »Wir hatten hier eine Menge Probleme, und ehrlich gesagt, hatte ich mich schon mehr oder weniger damit abgefunden, meine Erwartungen zurückschrauben zu müssen. Schön, nun hört mal zu. Das klingt jetzt vielleicht abgedroschen, aber irgendwas ist hier heute abend passiert. Als ich heute abend hier gesessen habe, ist mir plötzlich zutiefst klar geworden, daß ihr zum erstenmal mit ganzem Herzen dabei wart.« Er legte die rechte Hand mit gespreizten Fingern auf die Brusttasche seines Hemds, um zu zeigen, was für ein einfaches, greifbares Ding das Herz war, dann ballte er die Hand zur Faust, bewegte sie in einer langen Kunstpause bedächtig und stumm hin und her, kniff ein Auge zu und formte die feuchte Unterlippe zu einem triumphierenden, stolzen Ausdruck. »Morgen abend noch mal so«, sagte er, »und wir liefern eine Wahnsinnsvorstellung ab.«

Vor Erleichterung hätten sie heulen können. Statt dessen brachen sie in Hurrarufe und Gelächter aus, schüttelten einander die Hände und küßten sich, einer ging einen Kasten Bier holen, und wenig später scharten sie sich im Parkett ums Klavier und sangen Lieder, bis man sich schließlich einhellig darauf einigte, nun lieber Schluß zu machen und sich einem erholsamen Schlaf zu überlassen.

»Bis morgen!« riefen sie, glücklich wie Kinder; auf der Heimfahrt im Mondschein kurbelten sie die Fenster ihrer Wagen hinunter und ließen die Luft mit ihren erquickenden Düften nach Lehmerde und frischen Blüten herein. Für manche der Laurel Players war es das erste Mal, daß sie die Ankunft des Frühlings bewußt zur Kenntnis nahmen.

Das war im Jahr 1955, und der Ort lag in Westconnecticut, wo man drei inzwischen gewachsene Siedlungen unlängst an einen breiten, tosenden Highway die sogenannte Route Twelve, angebunden hatte. Die Laurel Players waren Laiendarsteller, eine durchaus ansehnliche und ernsthafte, sorgsam aus jüngeren Erwachsenen der drei Ortschaften zusammengestellte Truppe, und dies sollte ihr erster Auftritt werden. Den ganzen Winter über hatte man sich in den Wohnzimmern der Mitspieler zu begeisterten Gesprächen über Ibsen, Shaw und O’Neill getroffen, und in einer Abstimmung hatte sich eine praktisch denkende Mehrheit schließlich für den »Versteinerten Wald« entschieden; die Rollenverteilung war vorab festgelegt worden, und alle konnten spüren, daß ihr Eifer mit jeder Woche zunahm. Insgeheim mochten sie ihren Regisseur für einen komischen kleinen Vogel halten (was er in gewisser Hinsicht auch war – er konnte offenbar nur in tiefernstem Ton reden und beendete seine Sätze oft mit einem leichten Kopfschütteln, das seine Wangen in Bewegung setzte), aber sie hatten ihn gern, respektierten ihn und glaubten fest an nahezu alles, was er äußerte. »Jedes Stück verdient, daß der Schauspieler sein Bestes gibt«, hatte er ihnen einmal gesagt, und ein andermal: »Denkt immer dran. Wir führen hier nicht bloß ein Stück auf. Wir gründen ein öffentliches Theater, und das ist schließlich was ganz Besonderes.«

Das Problem war, daß sie von Anfang an befürchteten, sich zu blamieren, und diese Furcht war, weil sie sie nicht zugeben wollten, noch schlimmer geworden. Die Proben fanden zunächst samstags statt – immer, so schien es, an jenen windstillen Februar- oder Märznachmittagen, wenn der Himmel weiß und die Bäume schwarz erscheinen und die braunen Äcker und Hügel nackt und zaghaft unter den zurückweichenden Schneefeldern hervorscheinen. Sooft die Players vor ihre Häuser traten und einen Moment innehielten, um sich die Mäntel zuzuknöpfen oder die Handschuhe überzustreifen, erblickten sie eine Landschaft, zu der eigentlich nur ein paar sehr alte, verwitterte Häuser paßten; dies ließ die eigenen Wohnstätten bedeutungslos, vergänglich und so lächerlich deplaziert erscheinen, als hätte man eine große Menge nagelneuen Spielzeugs über Nacht draußen liegen und naß werden lassen. Auch ihre Autos waren irgendwie unpassend – unnötig groß, schimmerten sie in Bonbon- oder Eiscremefarben, schienen vor jedem Schlammspritzer zusammenzuzucken und krochen schüchtern die holprigen Straßen hinab, die aus allen Richtungen zu dem tiefen, ebenen Betonstreifen der Route Twelve führten. Dort angelangt, schienen die Wagen sich endlich entspannen zu können, in ihrem ureigenen Element, einem langgezogenen lichten Tal aus buntem Plastik, Spiegelglas und rostfreiem Stahl – King Kone, Mobilgas, Shoporama, Eat –, doch irgendwann mußten sie der Reihe nach abbiegen und die gewundene Landstraße hinauffahren, die zur zentralen High School führte; sie mußten bremsen und auf dem friedlichen Parkplatz vor der Aula anhalten.

»Hallo!« riefen die Players einander zaghaft zu.

»Hallo! ...« »Hallo! ...« Widerstrebend betraten sie das Gebäude.

Mit ihren schweren Schuhen stapften sie über die Bühne, tupften sich die Nase mit Kleenex ab und studierten stirnrunzelnd ihren unsauber abgezogenen Text; ein durch den Raum gehendes, erleichtertes Lachen konnte schließlich die Situation entspannen, und man einigte sich wiederholt darauf, daß noch viel Zeit bleibe, um die Probleme zu lösen. Doch viel Zeit blieb in Wirklichkeit nicht mehr; alle waren sich darüber im klaren, und auch verstärkte Probenarbeit schien die Sache nur noch schlimmer zu machen. Lange nachdem es an der Zeit gewesen wäre, »das Ding«, so der Regisseur, »endlich auf die Beine zu stellen, zum Laufen zu bringen«, war das Ganze nach wie vor eine steife, formlose, unmenschlich schwere Bürde; die Players registrierten immer wieder in ihren gegenseitigen Blicken die Vorahnung des Scheiterns, im kleinlauten Nicken und Lächeln beim Abschied, in der hektischen Eile, mit der sie zu ihren Wagen aufbrachen und nach Hause fuhren, wo vielleicht noch ältere, weniger deutliche Vorahnungen des Scheiterns auf sie lauerten.

Doch nun, heute abend, vierundzwanzig Stunden vor der Premiere, hatten sie es irgendwie geschafft. Wie beschwipst vom ungewohnten Gefühl des Geschminkt- und Kostümiertseins hatten sie an diesem ersten warmen Abend des Jahres ihre Furcht vergessen: Sie hatten sich von der Dynamik des Stückes erfassen, mitreißen und es wie eine Woge über sich hereinstürzen lassen; es klang vielleicht abgedroschen (und wenn schon), aber sie waren mit ganzem Herzen dabei gewesen. Was konnte man mehr verlangen?

Auch die Zuschauer, die am darauffolgenden Abend in einer langen, akkuraten Wagenschlange eintrafen, waren sehr ernst. Wie die Players hatten sie größtenteils den Beginn des mittleren Alters gerade erreicht und trugen die Art von gepflegter Kleidung, die die New Yorker Modemacher als sportlichen Schick bezeichneten. Was Bildung, Beruf und Gesundheit betraf, lagen sie sichtlich über dem Durchschnitt, und es war außerdem zu spüren, daß sie diesen Abend für wichtig hielten. Als sie der Reihe nach den Saal betraten und ihre Plätze einnahmen, wußten sie alle und sagten es auch immer wieder, daß »Der versteinerte Wald« eigentlich nicht zu den großen Stücken der Weltliteratur zähle. Dennoch sei es ein gutes Theaterstück, dessen Botschaft nicht nur den dreißiger Jahren entsprach, sondern in jeder Hinsicht auch heute noch gültig sei (»sogar noch gültiger«, beschied ein Mann mehrmals seiner Frau, die ihm, nickend und auf den Lippen kauend, zustimmte, »sogar noch gültiger, wenn man’s bedenkt«). Allerdings war die Attraktion nicht das Stück selbst, sondern die Darstellertruppe – die mutige Idee als solche, der Elan und die Hoffnung, die sich damit verband: die Geburt eines wirklich guten öffentlichen Theaters in ihrer Mitte. Ebendies hatte sie angelockt, so viele von ihnen, daß der Zuschauerraum mehr als halb voll war, und ebendies sorgte dafür, daß sie, als die Lichter erloschen, still dasaßen, in gespannter Erwartung des Vergnügens.

Der Vorhang hob sich zu einem Bühnenbild, dessen hintere Wand vom Zusammenstoß mit einem Helfer noch schwankte, der die Bühne in letzter Minute verlassen hatte, und die ersten paar Dialogzeilen wurden durch ein unbeabsichtigtes Scharren und Krachen hinter den Kulissen beeinträchtigt. Das kleine Durcheinander zeigte die wachsende Hysterie der Darsteller an, doch vor dem Rampenlicht wurde dadurch nur der Eindruck verstärkt, es stehe etwas ganz Besonderes bevor. Es war, als wollten die Schauspieler beschwichtigend sagen: einen Augenblick, es hat noch nicht richtig angefangen. Wir sind alle ein bißchen nervös, aber haben Sie etwas Geduld. Und schon bald gab es keine Notwendigkeit zur Rechtfertigung mehr, denn das Publikum widmete seine Aufmerksamkeit der jungen Frau, die die Heldin Gabrielle spielte.

Ihr Name war April Wheeler, und bereits bei ihrem ersten Erscheinen auf der Bühne ging ein gerauntes »wunderschön« durch die Zuschauerreihen. Ein wenig später stupste man sich hoffnungsvoll an und flüsterte: »Sie ist wirklich gut«; einige, die zufällig wußten, daß sie keine zehn Jahre zuvor eine der führenden Schauspielschulen New Yorks besucht hatte, nickten in gebührendem Stolz. Sie war neunundzwanzig, eine hochgewachsene, aschblonde Frau, deren aristokratische Schönheit auch durch die amateurhafteste Beleuchtung nicht beeinträchtigt werden konnte; für ihren Part war sie ganz offensichtlich die Idealbesetzung. Selbst daß sie um die Hüften und Schenkel eine Spur zu füllig war, weil sie zwei Kinder zur Welt gebracht hatte, spielte keine Rolle, denn sie bewegte sich mit der sinnlichen Anmut der Jungfräulichkeit; wer zufällig einen Blick auf Frank Wheeler geworfen hätte, den rundgesichtigen, intelligent wirkenden jungen Mann, der, sich nervös auf die Faust beißend, in der letzten Zuschauerreihe saß, hätte gesagt, er sehe eher wie ihr Verehrer und nicht wie ihr Ehemann aus.

»Manchmal komm ich mir vor, als würd ich am ganzen Leib Funken sprühen«, sagte sie gerade, »und dann möcht ich raus und was ganz Verrücktes tun, was Wunderbares ...«

Die übrigen Schauspieler, die hinter den Kulissen kauerten und zuhörten, bewunderten sie plötzlich. Oder zumindest waren sie bereit, sie zu bewundern – selbst diejenigen, die ihr bei den Proben gelegentlich ihre mangelnde Bescheidenheit übelgenommen hatten; auf einmal war sie ihre einzige Hoffnung.

Der Hauptdarsteller war am Morgen an Darmgrippe erkrankt. Mit hohem Fieber war er im Theater erschienen, hatte behauptet, er fühle sich gut genug, um zu spielen, hatte sich dann aber fünf Minuten vor der Vorstellung in seiner Garderobe erbrochen; dem Regisseur war nichts weiter übriggeblieben, als ihn nach Hause zu schicken und die Rolle selbst zu übernehmen. Alles geschah so rasch, daß niemand mehr auf den Gedanken kam, vor die Bühne zu treten und den Ersatzmann anzukündigen; ein paar Nebendarsteller erfuhren davon sogar erst, als sie die Stimme des Regisseurs auf der Bühne den vertrauten Text sprechen hörten, den sie vom anderen Schauspieler zu hören erwarteten. Der Regisseur gab sich alle erdenkliche Mühe und verlieh jeder Textzeile einen fast professionellen Schliff, doch es ließ sich nicht leugnen, daß er – gedrungen, nahezu kahlköpfig und schier blind ohne seine Brille, die er auf der Bühne nicht tragen wollte – vom Äußeren her für die Rolle des Alan Squier überhaupt nicht geeignet war. Bereits sein erster Auftritt hatte dafür gesorgt, daß die Mitspieler einander ins Wort fielen und vergaßen, wo sie zu stehen hatten, und nun, im ersten Akt, mitten in seinem bedeutenden Monolog über die Nutzlosigkeit seines Daseins – »Ja, Verstand ohne Sinn, Lärm ohne Geräusch, Gestalt ohne Gehalt« – stieß er beim Gestikulieren mit der Hand ein Glas Wasser um, dessen Inhalt sich über den Tisch ergoß. Er versuchte die Sache mit einem Kichern und einer Reihe improvisierter Zeilen zu überspielen – »Seht ihr? So nutzlos bin ich. Dann will ich mal aufwischen helfen –, doch der Rest der Textstelle war ruiniert. Der Virus des Scheiterns, der die ganzen Wochen über geschlummert hatte, war nun schlagartig aktiv geworden und hatte sich von dem hilflos sich erbrechenden Mann aus verbreitet, bis alle Mitspieler infiziert waren – außer April Wheeler.

»Hättest du was dagegen, daß ich dich liebe?« sagte sie gerade.

»Nein, Gabrielle«, sagte der Regisseur, vor Schweiß glänzend. »Da hätte ich bestimmt nichts dagegen. «

»Findest du mich attraktiv?«

Der Regisseur begann mit dem Bein unter dem Tisch auf und ab zu wippen. »Es gibt bessere Ausdrücke, um dich zu beschreiben.«

»Wieso fangen wir dann nicht wenigstens mal damit an?«

Sie war nun ganz auf sich alleine gestellt und wurde mit jeder Textzeile sichtlich schwächer. Vor dem Ende des ersten Akts merkten nicht nur die Players, sondern auch die Zuschauer, daß sie ihre Rolle nicht mehr im Griff hatte, und bald waren alle peinlich berührt. Mittlerweile bewegte sie sich abwechselnd zwischen unechten Bühnengebärden und furchtsamer Reglosigkeit; sie zog verkrampft die Schultern ein, und trotz der dicken Schminke war zu erkennen, daß ihr die Schamröte in Hals und Gesicht stieg.

Dann folgte der polternde Auftritt von Shep Campbell, dem jungen, rothaarigen Ingenieur, der den Gangster Duke Mantee spielte. Die ganze Truppe hatte sich wegen Shep von Anfang an Sorgen gemacht, doch andererseits waren er und seine Frau Milly, die bei der Beschaffung der Requisiten und bei der Werbung geholfen hatte, so begeisterte und freundliche Leutchen, daß niemand sich zu der Empfehlung hatte durchringen können, ihn zu ersetzen. Das Ergebnis dieser Nachsicht war nun – und auch Campbells Nervosität trug dazu bei –, daß er eine seiner Schlüsselzeilen vergaß und andere so rasch und leise sprach, daß sie jenseits der sechsten Reihe nicht mehr zu hören waren; mit seinem ständigen Kopfnicken, den hochgekrempelten Ärmeln und dergleichen agierte er nicht wie ein Gangster, sondern eher wie ein übereifriger Kaufmannsgehilfe.

In der Pause ging das Publikum grüppchenweise nach draußen; man rauchte, spazierte unbehaglich durch den High-School-Flur, studierte die Anschlagstafel und rieb sich die feuchten Hände an den schmalgeschnittenen Hosen und eleganten Baumwollhemden ab. Niemand wollte zurück in den Saal und den zweiten und letzten Akt über sich ergehen lassen, aber dann taten sie es doch alle.

Auch die Players kamen wieder, und ihr einziger Gedanke, klar wie der Schweiß auf ihren Gesichtern, bestand inzwischen darin, dieses wahrhafte Trauerspiel so rasch wie möglich hinter sich zu bringen. Die Aufführung schien sich stundenlang hinzuziehen, eine grausame, endlose Geduldsprobe; April Wheelers Darbietung war so schlecht wie die der anderen, wenn nicht sogar noch schlechter. Auf dem Höhepunkt des Stücks, bei der Sterbeszene, die laut Regieanweisung durch Schüsse von draußen und Feuerstöße aus Dukes Maschinenpistole untermalt hätte sein sollen, war Shep Campbell beim Abfeuern seiner Waffe so unkonzentriert und gerieten die anschließenden Gewehrschüsse hinter der Bühne so laut, daß der Dialog der Liebenden im ohrenbetäubenden, qualmenden Durcheinander unterging. Das Fallen des Vorhangs war ein wahrer Gnadenakt.

Der gedämpfte Applaus wurde bewußt so lange ausgedehnt, daß es zwei Vorhänge gab; beim einen waren die Players gerade auf dem Weg in die Seitenkulissen und stießen, als sie kehrtmachten, miteinander zusammen, der andere erwischte die drei Hauptdarsteller in einem flüchtigen Tableau menschlicher Trostlosigkeit: der Regisseur blinzelte kurzsichtig vor sich hin, Shep Campbell hatte zum erstenmal an diesem Abend den passenden grimmigen Blick aufgesetzt, April Wheelers Gesicht war zu einem steifen Lächeln erstarrt.

Kurz darauf gingen die Lichter an, und niemand im Publikum wußte, wie er sich verhalten oder was er sagen sollte. Mrs. Helen Givings, die Immobilienmaklerin, ließ mit unsicherer Stimme immer wieder ein »sehr hübsch« vernehmen, doch die meisten Zuschauer blieben stumm und steif und fingerten, als sie aufstanden und in die Gänge zwischen den Reihen traten, nach ihren Zigarettenpäckchen. Ein eifriger Schüler, der an diesem Abend die Beleuchtung bedient hatte, sprang mit quietschenden Turnschuhen auf die Bühne und rief einem unsichtbaren Gefährten oben in den Soffitten ein paar Anweisungen zu. In selbstbewußter Pose stand er im Rampenlicht, das Gesicht mit den glänzenden Pickeln erfolgreich im Schatten haltend, während er sich stolz so drehte, daß die Gerätschaften des Elektrikers – Messer, Zangen, Kabelrollen – zu sehen waren, die an einem profihaften Werkzeuggürtel aus Ölleder hingen, den er lässig über einer der prallen Gesäßhälften seiner Latzhose trug. Dann gingen die Lichter aus, der Junge trat im Halbdunkel ab, und der Vorhang wurde zu einer stumpfen Wand aus grünem Samt. Nun sah man nur noch die Gesichter der Zuschauer, die durch die Gänge und Hauptausgänge hinausstrebten. Beflissen und mit großen Augen bewegten sie sich paarweise voran, als wäre ein ruhiger und geordneter Abgang von dieser Stätte auf einmal ihr einziges Lebensziel, ja, als würden sie überhaupt erst wieder zu leben beginnen, wenn sie draußen wären, weg von den wabernden, rosafarbenen Auspuffschwaden und dem knirschenden Kies des Parkplatzes, draußen, wo sich der schwarze Himmel für immer und ewig wölkte und wo Hunderte von Tausenden von Sternen funkelten.

Zwei

Franklin H. Wheeler zählte zu den wenigen, die gegen den Strom schwammen. Er tat dies mit zaghafter Bedächtigkeit und, wie er hoffte, mit Würde; vorsichtig schritt er zwischen den Sitzreihen hindurch zur Bühnentür, nickte mit den Worten »Verzeihung ... Entschuldigung« lächelnd einigen bekannten Gesichtern zu und hielt dabei die Hand in der Hosentasche, um seine Knöchel zu verbergen und abzutrocknen, nachdem er die ganze Aufführung hindurch an ihnen herumgekaut hatte.

Er war adrett und kräftig, ein paar Tage weniger als dreißig Jahre alt, hatte kurzgeschorenes schwarzes Haar und verfügte über jenes unaufdringlich gute Aussehen, das einem Werbefotografen zur Darstellung eines kritischen Konsumenten von gutgemachter, aber preisgünstiger Ware dienen könnte. Doch trotz des Mangels an hervorstechenden Zügen war sein Gesicht ungewöhnlich wandelbar: mit jedem Wechsel des Ausdrucks ließ es plötzlich eine völlig andere Person erkennen. Wenn Frank Wheeler lächelte, war er ein Mann, der sehr wohl wußte, daß man sich über das Scheitern einer Laienaufführung nicht viel Kopfzerbrechen zu machen brauchte, ein liebenswürdiger, vernünftiger Mann, der genau die richtigen Trostworte für seine Frau hinter der Bühne finden würde; aber in den Momenten, in denen er nicht lächelte, während er sich durch die Menge schob, deutete sich in seinen Augen das schwache chronische Fieber der Verwirrtheit an, und da schien es eher, als hätte er selbst Trost nötig.

Das Problem war, daß er am Nachmittag in der Stadt, wie gelähmt von dem, was er als den »denkbar ödesten Job« bezeichnete, die ganze Zeit über seine Kraft aus der Vorstellung von Szenen bezogen hatte, die an diesem Abend noch ablaufen sollten: wie er nach Hause eilen, lachend seine Kinder in die Luft schwingen, einen Aperitif hinunterkippen und bei einem frühen Abendessen mit seiner Frau plaudern würde, wie er sie anschließend, seine beruhigende Hand auf ihrem straffen, warmen Schenkel (»Wenn ich doch bloß nicht so nervös wäre, Frank!«), zur High School fahren würde, wie er gebannt und stolz dasitzen, dann aufstehen und bei fallendem Vorhang in den donnernden Beifall einstimmen würde, wie er sich begeistert und aufgewühlt durch die jubelnde Menge hinter der Bühne durchkämpfen und seiner Frau den ersten tränenreichen Kuß abfordern würde (»War es wirklich gut, Liebling? War es wirklich gut?«) und wie sie schließlich beide, in der bewundernden Gesellschaft von Shep und Milly Campbell, irgendwo auf einen Drink Station machen und, unter dem Tisch einander die Hände haltend, das Ganze noch einmal durchsprechen würden. Nirgends in diesen Vorstellungen hatte er das Gewicht und den Schock der Realität vorausgesehen; nichts hatte ihn davor gewarnt, daß er von dem faszinierenden, strahlenden Anblick eines Mädchens, das er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, überwältigt sein würde, daß dessen Blicke und Gebärden ihm vor Sehnsucht die Kehle zuschnüren würden, und daß dieses Mädchen vor seinen Augen dann wieder vergehen und sich in das reizlose, leidende Geschöpf verwandeln würde, dessen Existenz er jeden Tag seines Lebens zu leugnen versuchte, das er jedoch ebenso gut und schmerzlich kannte wie sich selbst, eine magere, verklemmte Frau, deren gerötete Augen vorwurfsvoll blitzten, deren falsches Lächeln beim Applaus ihm so vertraut war wie seine Füße, seine klamme, immer nach oben rutschende Unterwäsche und sein herber Geruch.

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