Zeitgeschichte. Schicksal. Selbstbestimmung. -  - E-Book

Zeitgeschichte. Schicksal. Selbstbestimmung. E-Book

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Gertraude Ralle, Ärztin, blickt zurück auf ihr Leben mit all den unerwarteten Verwicklungen, Sehnsüchten und Wünschen: „Ich weiß, ich bin weder bekannt noch berühmt. Meine Lebenssituation unterscheidet sich in nichts von der der meisten Menschen meiner Umgebung. Mit meinen siebenundsiebzig Jahren gehöre ich zu den privilegierten Alten, die in materieller Sicherheit leben, sich der langjährigen Friedensperiode dankbar bewusst sind, einerseits energiegeladen, neugierig und unternehmungslustig noch Einfluss nehmen wollen, sich sogar verantwortlich fühlen, andererseits das Ende ihrer Lebenszeit näher kommen sehen. Ich habe viel erlebt: die zahllosen Schicksale und Begegnungen während meiner ärztlichen Tätigkeit, die Erfahrungen mit einer eigenen schweren Erkrankung, die Ereignisse im Zusammenhang mit der Ausreise aus der DDR, vielleicht auch die Erschütterungen, die das Scheitern meiner Ehe begleiteten, natürlich die Erlebnisse mit den Kindern und Enkeln. Das alles bildet eine reichhaltige Fundgrube, ganz zu schweigen von den alltäglichen wechselvollen Begebenheiten und Beeinflussungen, aus deren Geflecht die Erinnerungen herausragen.“ Eine deutsch-deutsche Biografie, authentisch, berührend, erschütternd, lebendig und lebensnah. Absolut lesenswert.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 406

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gertraude Ralle

Zeitgeschichte.

Schicksal.

Selbstbestimmung.

Erinnerungen an ein leidenschaftliches Leben in Ost und West

Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-95894-083-3

© Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2018

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Klassentreffen – ein Blick auf deutsch-deutsche Zeitgeschichte
Frühe Kindheit mit Krieg und Hunger
Geburt
Krieg
Hunger
Die ersten Schuljahre in der sowjetischen Besatzungszone
Leben in den Anfangsjahren der DDR
Das Jahr 1953
Oberschulzeit
Krankheit – meine persönliche Universität
Studienvorbereitung
Bewerbungsdesaster
Hilfspflegekraft
Studienbeginn
Studentenjahre
Erwachsensein zwischen 1967 und 1983
Erste Schritte im Beruf
Wohnungssuche
Lebensalltag
Berufliche Situation
Ausreiseantrag als Ausweg aus der Perspektivlosigkeit
Rechtlos und ausgeliefert
Das Tor in die Zukunft
Das neue Leben im anderen Deutschland
Erste Schritte
Die neue Wohnung
Die neue Schule
Die neue Arbeitswelt
Ende einer Illusion
Reisen und Liebe
Ruhestand und Ehrenamt
Förderverein Seniorenzentrum Mittelstadt
Kirchengemeinderätin
Die schönste Rolle meines Lebens
Ausblick

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,

die Sonne stand zum Gruße der Planeten,

bist alsobald und fort und fort gediehen

nach dem Gesetz, wonach du angetreten.

So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,

so sagten schon Sybillen, so Propheten;

und keine Zeit und keine Macht zerstückelt

geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

(Goethe) 

Vorwort

Mir kommt es vor wie ein Sprung ins kalte Wasser: lustvoll, mutig, den Bauch voll wilder Hummeln, in der Brust die prickelnde Angst, die den Atem stocken lässt, im Kopf gleichermaßen die Vorstellung vom Risiko und der belebenden Frische und schließlich die befreiende Erleichterung, das quälende Zaudern überwunden und sich für das Wagnis entschieden zu haben.

Endlich habe ich mich zu dem Entschluss durchgerungen, das Abenteuer einer autobiografischen Rückschau zu wagen und meine Lebenserinnerungen niederzuschreiben.

Schon lange habe ich mit dieser Idee gespielt, sie mit mir herumgeschleppt. Ich habe mich vom Reiz des Vorhabens verführen lassen und bin im nächsten Augenblick vor dem eigenen Anspruch zurückgewichen. Auf unzähligen Wanderungen und in vielen schlaflosen Nächten habe ich jedes fassbare Für und Wider hin- und hergewälzt.

Was ging mir nicht alles durch den Kopf!

Wäre ich überhaupt fähig? Ich hatte mich nie mit dem Handwerk des Schreibens beschäftigt, kannte weder grundsätzliche Regeln noch gar allgemein gültige literarische Vorgaben. 

Würde es gelingen, die mir wichtigen Tatsachen anschaulich und überzeugend darzustellen?

Könnte ich nachvollziehbar zum Ausdruck bringen, was mein Innerstes bewegt? 

Ich hatte gerade in „Die Fehler des Kopisten“ von Botho Strauß gelesen und seine Begabung bewundert, wie er mit wenigen Worten eine Landschaft vor meinem inneren Auge hatte entstehen lassen, in der ich sogar den schwachen Lufthauch, der aus der Talsenke herauf strich, zu fühlen glaubte, die Blüten geschwängerte Luft einzuatmen schien und die in die Landschaftsmalerei eingewebten Gedanken aufnehmen konnte. Eine so intensive Bildhaftigkeit hatte ich bisher nur in der Musik erlebt. So würde ich mich nie ausdrücken können! Ich müsste schreiben wie mir der Schnabel gewachsen war. Dabei kenne ich doch die Gefahren meines vorlauten Mundwerks. Oft genug haben mir unbedachte Äußerungen die Schamröte ins Gesicht getrieben, auch wenn mir die Fähigkeit zum Rot werden fehlte.

Von mancherlei Seiten wurde geäußert, dass ich Talent zum Schreiben hätte. Beiläufige, ganz alltägliche Berichte wurden gelobt, meine Briefe als lesenswert angesehen. Gerade schrieb mein langjähriger Brieffreund, dass er alle meine Briefe aus den letzten dreißig Jahren im Zusammenhang gelesen und dabei Vergnügen und Kurzweil erlebt habe und immer wieder zu neuen Überlegungen angeregt worden sei. Ein solches Leseergebnis wäre mir durchaus der Mühe wert.

Aber wer bin ich, dass ich mir anmaße, mich zum Gegenstand allgemeinen Interesses zu machen? Meine Lebenssituation unterscheidet sich in nichts von der der meisten Menschen meiner Umgebung. Mit meinen siebenundsiebzig Jahren gehöre ich zu den privilegierten Alten, die in materieller Sicherheit leben, sich der langjährigen Friedensperiode dankbar bewusst sind, einerseits energiegeladen, neugierig und unternehmungslustig Einfluss nehmen wollen, sich sogar verantwortlich fühlen, andererseits das Ende ihrer Lebenszeit näherkommen sehen und einen Teil ihrer Ressourcen darauf verwenden müssen, um sich mit den schwindenden Kräften und Fähigkeiten zu arrangieren.

Es stimmt, ich habe viel erlebt. Allein die zahllosen Schicksale und Begegnungen während meiner ärztlichen Tätigkeit, die Erfahrungen mit der eigenen schweren Erkrankung oder die Ereignisse im Zusammenhang mit der Ausreise aus der DDR, vielleicht auch die Erschütterungen, die das Scheitern meiner Ehe begleiteten, natürlich die Erlebnisse mit den Kindern und Enkeln, das alles bildet eine reichhaltige Fundgrube, ganz zu schweigen von den alltäglichen wechselvollen Begebenheiten und Beeinflussungen, aus deren Geflecht die Erinnerungen herausragen. Doch die Vorstellung, dass meine Lebenserinnerungen als Berichterstattung gelesen werden, als eine Aneinanderreihung von Sensationen, Abenteuern oder Katastrophen, dieser Gedanke schreckte mich.

Ich möchte Zeugnis ablegen von meiner Zeit, die so schnell in Vergessenheit gerät, wie ich an mir selbst feststelle. An meinem Lebensweg möchte ich das Dilemma erkennbar werden lassen, in das wir hineingeboren werden, weil wir zwischen eigenen und fremden Bedürfnissen wählen müssen, weil wir im Gefängnis der eigenen Möglichkeiten und Grenzen festsitzen und mit dem Zeitgeist zugleich unheilvoll und heilsam verstrickt sind.

Im Geheimen bin ich überzeugt, dass ich etwas mitzuteilen habe. Vielleicht liegt das daran, dass ich selbst ganz fasziniert auf mein Leben schaue. Nicht dass es in irgendeiner Hinsicht etwas Besonderes gewesen wäre. Das nicht, aber es war so vielschichtig, so reichhaltig, so bunt. Je älter ich werde, um so erstaunter bemerke ich die lange, ereignisreiche Strecke, die ich überblicken kann, mit all den unerwarteten Verwicklungen. Schon seit geraumer Zeit nehme ich bei dem täglichen Kampf mit den eigenen Grenzen nicht nur dessen Last und Anstrengung wahr, sondern muss ihm auch Bewunderung zollen. Um Missverständnissen vorzubeugen, nicht mir gilt diese Bewunderung, sondern der Erkenntnis, dass mein Lebensmut, mein Optimismus, meine Energie und Empfänglichkeit, aber auch die Fähigkeit mich zu schützen, mein wertvollstes Kapital sind.

Ich interessiere mich sehr dafür, wie andere Menschen mit sich selbst, mit ihrem Schicksal, ihren Sehnsüchten und Wünschen fertig wurden, wie sie von ihrer Zeit geprägt wurden, gegen welche Grenzen sie anrannten und welche Wege sie fanden. Deshalb lese ich gern Biografien berühmter oder bekannter Persönlichkeiten.

Doch wer würde sich für mein Leben und Erleben interessieren?

Ich bin weder bekannt noch berühmt, noch mit besonderen Kennzeichen behaftet. Meine wohlwollende Umgebung betrachtet mich als umgänglich, unkompliziert, aufgeschlossen, auch als konfliktfreudig, was nicht mit Streitsucht oder Rechthaberei zu verwechseln sein soll. Allerdings gestehe ich, dass ich mitunter Diskussionen so anstrengend gestalte, dass schon mancher davonlief, vor allem, wenn ich mich im undurchdringlichen Dickicht meiner Argumentation verhedderte, weil ich das Thema in all seinen Dimensionen abzuhandeln versuchte. Während meine Gesprächspartner ermüden oder abschalten, empfinde ich die Atmosphäre als spannend und den sich steigernden Eifer wie bei einem spielerischen Wettkampf, bei dem ich versuche, meine Sichtweise verständlich zu machen. Es geht mir nicht darum recht zu haben. Ich möchte überzeugen, wovon ich selbst überzeugt bin. Ich fordere den Widerspruch der anderen heraus. Zustimmend nickende Gesprächspartner sind mir rasch langweilig. Durch Widerspruch gelange ich zu mehr Klarheit, auch zu neuer Argumentation. Je engagierter die Diskussion, umso mehr gewinne ich an Fahrt. Der Höhepunkt der Auseinandersetzung ist erst erreicht, wenn beim Gegenüber Anzeichen von Unmut oder gar Verstimmung bemerkbar werden. Dann kommt für mich die Stunde der Versöhnung. Ich entschärfe den Disput, interpretiere das Aufeinanderprallen der Meinungen als farbenfrohes Sammelsurium individueller Sichtweisen und werte das angeregte Gespräch als Bereicherung. Am Ende steht der Kompromiss, der die Heftigkeit der Auseinandersetzung als Maß der Tragfähigkeit der Beziehung definiert und damit alle zu Gewinnern erklärt. Meine regelmäßigen Zweifel, ob die anderen dem Resultat beipflichten können, scheinen durchaus berechtigt.

Liegen die Wurzeln meiner Schreiblust womöglich auch in diesem Spieltrieb? Ersetzt das Schreiben die Diskussion mit imaginären Partnern? Viele Fragen muss ich unbeantwortet lassen.

Doch nachdem ich den Sprung ins kalte Wasser gewagt habe, sollte ich zur Herangehensweise dieser Rückschau ein paar Erklärungen anfügen.

Mir ist bewusst, dass ich mich mit Erinnerungen, mit denen des eigenen Lebens zumal, auf ein unsicheres Terrain begebe. Zurecht weisen jüngst erschienene Bücher auf „Das trügerische Gedächtnis“ (Julia Shaw) hin, und die Neurowissenschaftlerin Hannah Monyer schreibt zusammen mit dem Philosophen Martin Grossmann ein Buch mit dem Titel „Das geniale Gedächtnis – Wie das Gehirn aus der Vergangenheit unsere Zukunft macht“. Ich muss diese neuen und neuesten Erkenntnisse, die ebenso spannend wie unvollständig sind, außen vor lassen. Ganz unwissenschaftlich ist mir klar, wie eigene Gedächtnisinhalte, Familienlegenden, Zeitgeist, Fotos und andere Dokumente zu einem Bild verschmelzen, das mir als mein Leben erscheint. Schon die Einbettung der emotionalen Erinnerung in die möglicherweise zugehörige Situation ist eine vage, willkürliche Verbindung und der Prozess des Schreibens, der das Immaterielle, Ungreifbare, Unsichtbare in Worte zu fassen versucht, es also auf die Welt bringt, kann nicht ohne Verformung, ohne Umdichtung ablaufen.

Was in dieser Autobiografie Dichtung ist und was Wahrheit, bleibt offen. Es ist auch ohne Belang. Auf den folgenden Seiten soll zu lesen sein, wie ich mein Leben darstelle, wie es sich mir gezeigt hat und wie es mich geformt hat. Ich schließe ein, dass meine Erzählung Über- und Untertreibungen enthält, dass sie durch Schönfärberei oder Polemik Anpassung erfahren hat, aber ich versichere, dass ich stets meinem Vorsatz treu geblieben bin, meine Wahrheit wiederzugeben, nicht zu richten und nicht zu werten, sondern zu zeigen: So habe ich mein Leben in Erinnerung.

Klassentreffen – ein Blick auf deutsch-deutsche Zeitgeschichte

Seit der Wiedervereinigung traf sich meine Abiturientenklasse, die das Schicksal in alle Winde zerstreut hatte, im jährlichen Abstand, jeweils mehrere Tage lang und jeweils an dem Ort, an den es den einen oder die andere der Klassenkameraden hin verschlagen hatte. Das schuf beste Voraussetzungen dafür, dass die Gespräche über belanglose Smalltalks hinausgingen, mit den Jahren zunehmend intensiver wurden und so den ehemaligen Schülerbeziehungen Entwicklung und Veränderung ermöglichten.

Für jedes Klassentreffen wurde vom jeweiligen „Gastgeber“ ein anspruchsvolles Kulturprogramm vorbereitet. Das brachte uns Geschichte, Kunstschätze, Sehenswürdigkeiten und das Brauchtum der verschiedenen Regionen Deutschlands auf sehr persönliche Weise nahe und lieferte gleichzeitig reichlich Gesprächsstoff für das zwanglose Miteinander. 

In dieser Klasse vollzog sich im Kleinen, was im Nachwendedeutschland zu kurz gekommen war. Hier wuchs tatsächlich etwas zusammen, was zusammengehörte, nicht nur dank der gemeinsamen Wurzeln, sondern weil Interesse am anderen bestand und weil auf Vorurteile, Besserwisserei, Polemik oder gar Instrumentalisierung verzichtet wurde.

„Weißt Du noch?“, das war eine der häufigsten Fragen, mit der die abgerissenen Fäden neu geknüpft wurden. Fünfunddreißig Jahre lange Lücken konnten durch eine völlig überraschte Begrüßung geebnet werden: „Hallo, Antje, Du hast Dich ja überhaupt nicht verändert!“ In die leicht verlegene Antwort: „Ich bin Oda, die Tochter“, schob sich, mit entschuldigender Miene lächelnd, der graue Kopf der Schulfreundin. Befreiendes Gelächter rundum verjagte aufkommende Peinlichkeit und förderte den Realitätssinn. Beim gegenseitigen Betrachten verschmolzen die Gesichter der mitgebrachten Erinnerungsbilder aus den Jugendtagen allmählich mit denen der anwesenden älteren Generation. Vertraute Stimmen, Gesten und Verhaltensweisen überbrückten hier und da die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Von einem Jahr zum anderen rückten wir näher zusammen.

Wir stammten ausnahmslos aus Greiz, der „Perle des Vogtlandes“ und wir bildeten uns etwas darauf ein. Das kleine Residenzstädtchen bezog seine Identität einerseits aus der Tradition des alten Geschlechts der Vögte von Reuß Ältere Linie, die später als Reichsfürsten einen der kleinsten Herrschaftsbereiche im zersplitterten Deutschland regierten und andererseits aus einer aufgeklärten Bürgerschaft, deren Wohlstand einer prosperierenden Textilindustrie zu danken war. „Was Greiz gewebt, was Greiz gefärbt, das hält bis es der Enkel erbt“, war ein geflügeltes Wort, das vor allem Fleiß, Solidität, Sparsamkeit und Stolz zum Ausdruck brachte, alles Eigenschaften, die wir Greizer Bürgerkinder mit der Muttermilch aufgesaugt hatten. Auch die Zeugnisse fürstlicher Pracht und Repräsentation wurden uns als teures Erbe vermittelt. Auf Grund der vielfältigen Erbteilungen beherrschten zwei imposante Schlösser das Stadtbild, das Obere Schloss, ursprünglich als mittelalterliche Burg auf dem Schlossberg errichtet und später als wirkungsvoller Renaissancebau zum Wahrzeichen der Stadt umgebaut, und das Untere Schloss neben der Stadtkirche. Nicht weniger herrschaftlich wirkte das Sommerpalais im klassizistischen Stil, das als „Maison de belle retraite“ als Lustschloss diente und eine berühmte Kupferstichsammlung und später auch die renommierte Karikaturensammlung „Satiricum“ beherbergte. Es wurde von einem weiträumigen, nach englischem Vorbild gestalteten Landschaftspark umgeben. Dieser Park war längst allen Bürgern zugänglich und durch seinen prächtigen Baumbestand, den See mit seinen Schwänen und Karpfen und den gepflegten Wiesen und Wegen zu einem Stück Guter Stube der Greizer geworden. Schließlich bewegte das Jagdschloss im Ortsteil Waldhaus mit dem benachbarten Mausoleum die Fantasie und Gemüter der jungen Generation. Ich erschauerte regelmäßig, wenn wir beim sonntäglichen Ausflug vor der kleinen Grabkapelle standen und ich mir vorstellte, dass dort die sterblichen Überreste unserer Fürstenfamilie lagen. Zugleich konnte ich mich der Enttäuschung nicht entziehen, wenn berichtet wurde, dass die Grabstätte noch keine hundert Jahre alt war und nur die letzten drei der adligen Ahnen beherbergte. Es kam mir fast wie ein persönliches Armutszeugnis vor.

Angereichert wurde die Heimatliebe auch durch die „Sagen des Greizer Reußenlandes“, die in kaum einem Bücherschrank fehlten. Uns Kindern waren sie vertraut wie Grimms Märchen, nur erzählten sie das Geheimnisvolle, Gefährliche, Märchenhafte und Abenteuerliche in einer wohl bekannten Umgebung, die durch die geschilderten Geschichten enorm aufgewertet wurde.

Neben seinen geschichtsträchtigen Kulturschätzen hatte sich Greiz auch als lebendige Theater-, Musik- und Sportstadt einen Namen gemacht. Unvergessen sind mir meine Theaterpremiere mit „Peterchens Mondfahrt“ nach dem Märchen von Gerdt von Bassewitz und mein erster Opernbesuch, bei dem mich Mozarts „Zauberflöte“ völlig überwältigte. Wochenlang war ich mit dem Bühnengeschehen beschäftigt, versuchte, die schönsten Szenen zu malen und die eingängigen Papageno-Arien auf dem Klavier nachzuklimpern. Ich war überzeugt, dass es kaum bessere Theater auf der Welt geben könnte. Erst als ich die Felsenstein-Inszenierung von „Ritter Blaubart“ an der Komischen Oper Berlin 1960 erlebte, stürzte ich das Greizer Theater von seinem Thron. 

Es galt als selbstverständlich, dass wir Schüler in die Sinfoniekonzerte gingen, im Schulchor sangen oder im Collegium musicum mitspielten, ein Theateranrecht abonniert hatten und in sportlichen Disziplinen nationale oder gar internationale Aufmerksamkeit erzielten. Die musikalische, literarische und sportliche Erziehung ließ in der Klasse auch fünfzig Jahre nach dem Abitur noch gemeinsame Interessen lebendig werden.

Ohne die genannten reichhaltigen Programme hätten sich unsere Klassentreffen sicher nicht zu dem einen jährlichen Ereignis entwickelt, das niemand missen wollte. Es wurde ja nicht nur geklatscht und getratscht, sondern Kultur konsumiert und Bildung angeboten! Was unser Zusammenwachsen aber wirklich förderte, war die Tatsache, dass wir nicht nur ein jährliches Wiedersehen feierten, sondern uns neue mehrtägige, gemeinsame Inhalte schenkten.

Unserer Klasse haftete schon während der Schulzeit der Ruf als Elite- und Streberklasse an. Viele der Klassenkameraden – die Klassenkameradinnen wurden selbstverständlich unter die maskuline Form subsummiert – stammten aus gehobeneren Familien: die Väter waren Ärzte, Apotheker, Rechtsanwälte, Geschäftsleute, kleinere Unternehmer, Pfarrer. Lehrerkinder wie ich selbst zählten zum aufstrebenden Mittelstand und wurden in der DDR-Herkunftsklassifikation als Sonstige bezeichnet, weil sie weder der Arbeiter- und Bauernklasse noch der Intelligenz zugeordnet waren. Das änderte sich erst nach einem Parteitagsbeschluss, nach dem auch Lehrern ein Intelligenzschein ausgestellt wurde. Die berufliche Qualifikation der Mütter spielte im gesellschaftlichen Ansehen keine nennenswerte Rolle. Soweit ich mich erinnere, waren die Mütter nicht berufstätig oder als mithelfende Ehefrau der unsichtbare gute Geist in Haus, Geschäft oder in der Praxis. Die Ausnahme bildeten die alleinstehenden Mütter, deren Männer auf dem Felde der Ehre für Führer und Vaterland ihr Leben gelassen hatten oder wahrheitsgetreuer: die sich hatten verheizen lassen müssen, ertrunken, verhungert oder verschollen waren. Diese Frauen mussten nicht nur für ihre Kinder allein sorgen, sondern für alles, was zum Leben gebraucht wurde. Von diesen Frauen wurde nicht gesprochen. Sie gehörten nicht zur angesehenen Bürgerschicht. Ihr Wert kam vielleicht in der vieldeutigen Bemerkung zum Ausdruck: „Die geht in die Fabrik, ist aber sonst ganz ordentlich.“

Den Werdegang meiner Mutter kannte ich genauer, betrachtete ihn folglich individueller und damit auch differenzierter. Meine Mutter hatte bei vielen Gelegenheiten betont, wie sehr es sie gekränkt hatte, dass sie nur die Haushaltsschule und nicht das Gymnasium besuchen durfte. Sie hätte so gern mehr gelernt! Als sie in die Fabrik ging, weil der Lohn meines noch nicht entnazifizierten Vaters hinten und vorne nicht reichte, arbeitete sie sich hoch von der Näherin am Band zur leitenden Lohnbuchhalterin. Mit dieser Laufbahn begründete sie oft ihre mit Wehmut und Stolz verkündete Gewissheit: „Aus mir wäre auch etwas geworden, wenn ich gedurft hätte!“

Obwohl der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden die Arbeiter- und Bauernkinder gezielt förderte, waren sie in unserer Klasse in der Minderheit. Hier hatten die Kinder aus besserem Hause das Sagen. Zum guten Ton dieser Schüler gehörte, sich zusätzlichem Unterricht zu unterziehen, etwa diverse Nachhilfestunden oder Klavierunterricht, in erster Linie aber Englisch, das an der Schule nicht gelehrt wurde. Wer auf sich hielt, ging zum Englischunterricht zur „Miss“, einer Greizer Institution in Gestalt einer älteren, zurückgezogen lebenden Dame mit humanistischer Bildung und tadellosen Manieren. Wer dort den Hamlet auf Englisch las und die wichtigsten Dialoge auswendig aufsagen konnte, der gehörte dazu.

Ich gehörte nicht dazu. Ich war erst zwei Jahre vor dem Abitur in diese Klasse gekommen, nachdem ich krankheitsbedingt zwei Jahre nicht zur Schule gehen konnte. Noch heute spüre ich das mulmige Gefühl, das sich einstellte, als mir klar wurde, dass ich mich nun selbst zur Streber- und Elitefraktion der Schule zählen musste. Das schien einerseits ganz schmeichelhaft, andererseits fiel die bis dato ausgestreute Häme nun auch auf mich zurück. Dass der Einstieg leichter wurde als befürchtet, hing mit einem zweiten Neuling zusammen, einem Sitzenbleiber, der natürlich auch nicht dazu gehörte. Dafür schien er aus seiner Situation bewundernswert Kapital zu schlagen, indem er lässig, offenherzig, unerschrocken, witzig und mit lauter Stimme rasch zum Wortführer avancierte. Das ist er bis heute geblieben.

Der besondere Ruf der Klasse hing auch mit ihrer überdurchschnittlichen Musikalität zusammen. Im Rahmen der politisch angeordneten Erziehung zu allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeiten hatte die Schule die Pflicht eingeführt, den Unterricht mit einem frei gewählten Lied zu beginnen. In dieser Klasse wurde das mit Lust und Ernsthaftigkeit betrieben. Gern wurden anspruchsvolle vierstimmige Sätze intoniert, mit denen sich leicht ungeliebte Unterrichtsstunden wenigstens um einige Minuten verkürzen ließen. Sogar ungeduldigen Lehrern nötigten sie mitunter anerkennende Bemerkungen ab.

Was ich an unseren Klassentreffen so sehr schätze, ist zum einen die Tatsache, dass sich im Laufe der Jahre echte Freundschaften entwickelt haben, mindestens aber vertrauensvolle, tragfähige Beziehungen. Ich fühle mich bereichert durch dieses Netz an Menschen, an die ich denken, mit denen ich telefonieren, diskutieren, die ich besuchen kann, mit denen ich auch schon unvergessliche Urlaubstage in der Provence verbrachte. Hinzu kommt, dass diese Freundschaften aus den gemeinsamen Wurzeln der Kindheit und Heimat erwachsen sind. Mit wem hätte ich die längst vergangenen Erinnerungen auffrischen können, mit wem die vertrauten Wege und Plätze aufsuchen, über die alten Schulstreiche lachen oder mich von den typischen Schülerängsten befreien können? Nachdem ich nicht mehr auf die Eltern zurückgreifen konnte, um schemenhafte Erinnerungsinseln zu einem klaren Bild zusammenzufügen, waren mir die Klassenkameraden zu einer erweiterten Familie geworden. In so vertrauter Runde sich sowohl an gemeinsame als auch an fremde Erlebnisse zu erinnern, sie zu reflektieren, das ist ein unersetzliches Geschenk.

Zum anderen repräsentiert die Klasse, zu deren Treffen von Anfang an die Lebenspartner gehörten, ein Stück Zeitgeschichte und zwar in einer vielfältigen, aber nicht untypischen Weise.

Als ich fünfunddreißig Jahre nach dem Abitur erstmals zu diesem Klassentreffen kam, glichen die meisten Begegnungen einem Neuanfang mit unsicherem, vorsichtigem Herantasten, denn ich hatte den Kontakt völlig verloren gehabt. Möglicherweise hatte das damit zu tun, dass ich mich am Ende meiner Schulzeit zwei Klassen zugehörig fühlte. Meiner alten Klasse galt meine natürliche Verbundenheit, denn wir waren gleichaltrig und hatten so prägende Erlebnisse wie die Tanzstunde und den ersten Schülerball geteilt. In der neuen Klasse traf ich auf die jüngeren Geschwister meiner bisherigen Klassenkameraden, so dass ich mich nicht nur fremd, sondern viel erwachsener fühlte und auch ein wenig überlegen. Zwar kannte ich einige Mitschüler und Mitschülerinnen, weil wir als Nachbarskinder zusammen gespielt hatten und uns beim Sport, im Chor oder auf dem Schulhof begegnet waren, aber es waren nur zwei Jahre, in denen wir eine gemeinsame Schulbank drückten. Nach dem Abitur verlor ich nach und nach alle aus den Augen, zumal außer mir niemand in Leipzig Medizin studierte. Dort rückten schnell neue Kontakte und Interessen in den Vordergrund. Immerhin hatte ich vereinzelt Briefkontakt gehalten, so dass wenigstens Almut meinen durch die Heirat geänderten Namen kannte und schließlich dafür sorgte, dass ich in die Klasse zurückfand.

Jedenfalls waren die Klassentreffen für mich lebendiger Unterricht in erlebter Geschichte und schenkten mir Einblicke in eine fast unerschöpfliche Fülle an Lebenswegen, Lebensgestaltungen und Schicksalen. Je älter ich wurde, desto interessierter verfolgte ich dieses unsichtbare und kaum zu entwirrende Flechtwerk individueller Lebensentscheidungen auf dem Hintergrund der jeweiligen familiären, sozialen, kulturellen und politischen Gegebenheiten.

Schon vor dem Abitur trennten sich unsere Wege und liefen in sehr unterschiedliche Richtungen: Frauke, Antje und Hella übersiedelten noch vor dem Mauerbau in die Bundesrepublik, Claus und ich selbst folgten vor dem Mauerfall, die anderen blieben DDR-Bürger und trafen ihrer politischen Überzeugung entsprechend auf sehr unterschiedliche Bedingungen.

Bis zum 13. August 1961, als Walter Ulbricht den sozialistischen Schutzwall bauen ließ, gehörte der Gedanke, das politische System zu verlassen zum Alltag. Ich erinnere mich noch genau, wie sich nach den großen Ferien am ersten Schultag jeder umschaute und erstaunt, überrascht oder neidisch feststellte, wer diesmal fehlte. Deutschland war geteilt in hüben und drüben und wer in den Westen abhaute, der war nübergemacht. Später hieß das offiziell Republikflucht und war lebensgefährlich. Die Gründe für die Flucht waren sehr vielfältig. Über sie wurde nur gemutmaßt, öffentlich darüber zu sprechen war zu riskant, allenfalls wurden Gerüchte hinter vorgehaltener Hand weitergegeben.

An den Tag des Mauerbaus erinnere ich mich noch sehr genau. Es war ein sonniger herrlicher Sonntagmorgen als uns die erschreckende Nachricht aus dem Radio wie ein Fausthieb traf. Fassungslos und doch nüchtern klar erkannte ich, dass wir nun eingemauert waren. Der Sozialistische Schutzwall schützte nicht den Sozialismus vor seinen äußeren Feinden, sondern verhinderte, dass der Regierung das Volk weg lief.

Ein Witz, der bald kursierte, schilderte das ganze Dilemma: Treffen sich zwei Freunde. Fragt der eine: Was würdest Du tun, wenn Du erfährst, dass in der Berliner Mauer ein Loch ist? Sagt der andere: Na, ist doch klar, ich würde nach Rostock fahren. Da staunt der erste: Wieso nach Rostock? Würdest Du nicht abhauen? Sein Freund: Natürlich, aber ich würde mich hinten in der Schlange anstellen!

Auch in meiner Familie spielte das Thema eine Rolle. Mein ältester Bruder Dieter war noch vor Gründung der DDR über Westberlin in die Bundesrepublik geflohen. In seinem autobiografischen Bericht schreibt er: „Aus Gründen, über die ich auch heute nichts Verlässliches zu sagen weiß, geriet ich gegen Ende meines dritten Studiensemesters (an der Universität Rostock) in die Netze konspirativer Dienste, die zwischen den Fronten des eskalierenden Kalten Krieges nach Informanten suchten. Entkommen bin ich diesen Verwicklungen im Frühjahr 1949 durch die Flucht...“.1

Von den Fluchtplänen meiner Eltern erfuhr ich als unfreiwillige Zeugin, da ich mit ihnen im gleichen Zimmer schlief. Aus ihren geflüsterten Gesprächen war mir schnell klar, dass es um das Abhauen ging. Ich verstand auch, dass mein Vater sehr darunter litt, nicht mehr als Lehrer arbeiten zu dürfen, während eine Wiedereinstellung im Westen als unproblematisch galt. Auch die Bedenken, die Großmutter allein zurück zu lassen, konnte ich leicht nachvollziehen, aber dann kamen die immer wiederholten offenen Fragen. Sie wurden Abend für Abend hin und her gewälzt. Wo sollten sie hinziehen? Würden sie eine Wohnung finden? Wie wäre das so ganz ohne Freunde? Würde die ohnehin schon ramponierte Beziehung zur kommunistischen Schwester meiner Mutter dadurch vollends zerbrechen? Wer könnte bei der Bewerbung behilflich sein? Am meisten Kopfzerbrechen verursachte die Überlegung, ob meinem Vater der 1932, also noch vor dem sogenannten „Dritten Reich“, ausgesprochene „Beamtenstatus auf Lebenszeit“ in der Bundesrepublik anerkannt werden würde. Prinzipiell war das wohl so, doch hatte anscheinend mein Vater irgendeine magische Altersgrenze überschritten, wodurch alles in Frage gestellt werden sollte. Mir selbst erschien das Thema der Verbeamtung völlig belanglos. Noch als ich 1983 vor die gleiche Frage gestellt wurde, ahnte ich nur, dass der Beamtenstatus sowohl Ansehen, als auch Sicherheit bedeutete.

Die Fluchtgedanken hörten erst auf, als mein Vater „mit Wirkung vom 15. März 1953 als Lehrer mit einer dreimonatigen Probezeit“ wieder eingestellt worden war. Ob dabei allerdings die in der Einstellungsurkunde ausgesprochene Erwartung eine Rolle spielte, „dass Sie Ihre ganze Kraft der neuen demokratischen Schule zur Verfügung stellen und unsere jungen Menschen zu aufrichtigen und wahrhaft demokratischen Patrioten erziehen“, darf bezweifelt werden.

Auch mein jüngster Bruder Hans hatte Mitte der fünfziger Jahre, noch minderjährig, sein Heil in der Flucht gesucht, wenn hierbei auch politische Gründe eine untergeordnete Rolle spielten. Er wollte wohl am ehesten der elterlichen Aufsicht und was weiß ich für pubertären Problemen entkommen. Doch der Gedanke an die offen stehende große weite Welt war durchaus auch verführerisch. Unser Vater hat ihn aus einem Auffanglager in Westberlin zurückgeholt.

Die Option, die DDR zu verlassen, gewann in unserer Familie 1960 neue Aktualität, nachdem mir mitgeteilt wurde, dass ich frühestens nach einer zweijährigen Wartezeit zum Studium zugelassen würde. Meine Eltern versuchten alles, um diese Entscheidung zu revidieren; sie stellten Anträge bei allen zuständigen Behörden, sprachen persönlich beim Schuldirektor und Dekan vor, halfen mit, befürwortende Zeugnisse über außerschulische Aktivitäten zusammen zu tragen. Sie führten die mir verliehene „Silberne Ehrennadel des Nationalen Aufbauwerks“ an und verwiesen auf die Aussagen von Kreisarzt und Krankenhausdirektor, die auf Grund der von mir freiwillig und unentgeltlich geleisteten Dienste im Krankenhaus und Gesundheitswesen die zweifelsfreie Eignung für das Medizinstudium attestiert hatten. Ich hatte die Reifeprüfung mit „sehr gut“ bestanden. Die Gesamteinschätzung las sich wie eine Lobeshymne.

Dennoch war allen Bemühungen kein Erfolg vergönnt. Deshalb befürchteten meine Eltern sehr, dass ich eines Tages nicht mehr nach Haus kommen, sondern im Westen mein Glück suchen würde.

Ich selbst trug mich in dieser Zeit überhaupt nicht mit den Gedanken an einen Weggang. Ich sah wohl auch genügend Mängel im System, die Verlogenheit der Propaganda und die Hohlheit der Versprechen. Aber die gab es in der Bundesrepublik auch. Außerdem war ich gewillt, mich dafür einzusetzen, an Ort und Stelle eine Gesellschaft aufzubauen, in der zu leben es sich lohnte. Ich war noch beseelt von der naiven Vorstellung, dass die junge Generation mit der ihr eigenen Zuversicht, mit gehörigem Selbstvertrauen, Fleiß und Können ihr Geschick in die eigenen Hände nehmen würde, wenn die alte Garde erst einmal abgetreten war. Ich wollte auch lieber in der DDR Medizin studieren, weil ich von den Vorzügen des staatlichen Gesundheitswesens überzeugt war. Die Pflicht zu Reihenuntersuchungen, Vor- und Nachsorge, Impfungen, Schwangerenfürsorge, Spezialsprechstunden für Mutter und Kind, Betriebs- und Schularztsystem und ähnliches hatten ihre Wirkung gezeigt. Im internationalen Vergleich schnitt die DDR in wesentlichen gesundheitspolitischen Statistiken beachtlich gut ab. Der 1956 auch in der DDR gezeigte bundesdeutsche Film „Weil du arm bist, musst du früher sterben“ mit Bernhardt Wicki, hatte mich so erschüttert, dass es mir unmöglich schien, ärztliches Handeln und Geld verdienen miteinander zu vereinbaren.

Zwanzig Jahre später allerdings war die Illusion eines besseren Gesundheitswesens unter sozialistischen Bedingungen leider endgültig geplatzt.

Vorerst nahm ich den Kampf um einen Studienplatz auf. Vorbild war unter anderem die Aussage jenes Sitzenbleibers, der in einem Klassenaufsatz geschrieben hatte: „Ich wollte auf die Oberschule, aber die Oberschule wollte mich nicht. Da lief meine Mutter von Pontius zu Pilatus, dann wollte mich die Oberschule.“ (Er musste diesen Satz aus der endgültigen Fassung des Aufsatzes streichen, damit ihn die Oberschule auch behielt.) Ich lief nun auch von einer Universität zur anderen, Jena, Leipzig, Halle, Berlin, Rostock, Greifswald und erfuhr überall die gleiche Ablehnung. Ich solle mich im Praktikum bewähren. Es sei schon ein großes Entgegenkommen, dass dieses Praktikum nicht in der Produktion oder in der Braunkohle geleistet werden müsse, sondern im Pflegeheim oder Krankenhaus, wo ich den ärztlichen Beruf von der Pike auf erlernen könne. Die Klassenbeste aus meiner ersten Oberschulklasse wurde zwei Jahre zuvor noch mit der Auflage konfrontiert, erst eine Lehre in einer Weberei oder Färberei abzuschließen, ehe sie sich ihrem Wunsch, Medizin zu studieren zuwenden könne. „Vielleicht“, so hieß es in der Begründung, „gefällt Ihnen der Beruf einer Textilarbeiterin so gut, dass Sie auf ein Studium verzichten.“

Eines Tages flatterte unerwartet ein Brief in unseren Kasten, in dem nüchtern mitgeteilt wurde, dass ich mich bewährt hätte und mir bereits nach nur einem Praktischen Jahr ein Studienplatz zur Verfügung gestellt werden würde.

Wenn ich im Folgenden die gesellschaftspolitischen Verhältnisse kurz skizziere, so sei ausdrücklich betont, dass damit keinerlei Anspruch auf Richtigkeit oder gar Faktengenauigkeit verbunden ist, sondern dass ich meine damalige Sichtweise aus der heutigen Erinnerung wiederzugeben versuche. Ich habe bewusst auf Quellenstudien verzichtet, nicht nur, weil dies einen ganz anderen Ansatz erfordert, sondern vor allem, weil es mir auf die Schilderung meines persönlichen Erlebens ankommt. Gerade in der Gegenüberstellung meiner subjektiven Geschichtsschreibung zur offiziellen Darstellung sehe ich einen Reiz und Wert meiner Zeitzeugnisse.

Die Klassenkameradinnen, die gen Westen gezogen waren, begannen ihr Erwachsenenleben in den blühenden Wirtschaftswunderjahren. Ihre berufliche Entwicklung und weitere Lebensgestaltung unterschied sich damit erheblich von denjenigen, die in der DDR geblieben waren. Sie hatten zwar erleben müssen, was es heißt, alles stehen und liegen zu lassen und ohne richtigen Abschied die Heimat, also alles Vertraute zu verlassen und sich einer ziemlich ungewissen Zukunft auszuliefern. Sie waren aber auch in eine fruchtbare, vielversprechende Aufbruchstimmung hinein katapultiert worden.

Die fast dreißig Jahre, die bis zum Mauerfall vergingen, hatten sie zu westdeutschen Bürgerinnen gemacht, wie sie in den Jahren zwischen 1960 bis 1990 geprägt wurden. Die angepasste, konservative Jugend in der Bundesrepublik konnte sich unaufgeregt nach alter Väter Sitte um Karriere, Familie, Haus und Hobby kümmern und tat das auch. Es gab keinen bemerkenswerten Bruch in der Wertewelt der bürgerlichen Gesellschaft.

Das Ende des Zweiten Weltkrieges war im Westen als Zusammenbruch Deutschlands beschrieben worden, aber auch als eine Niederlage, aus der man sich wieder aufrappeln musste. Im Osten dagegen wurde der 8. Mai als „Tag der Befreiung“ zum gesetzlichen Feiertag erhoben. Er sollte jedes Jahr daran erinnern, dass die Rote Armee, gestützt auf das Proletariat die Ketten der Sklaverei gesprengt und den Faschismus besiegt hatte. Das ruhmreiche Brudervolk der Sowjetunion hatte mit der Oktoberrevolution und dem Sieg über Nazideutschland den Weg in eine neue, sozialistische Zeit frei gekämpft.

Wie selbstverständlich in der DDR Faschismus und Kapitalismus gleichgesetzt wurden, beleuchtet eine Episode, die sich Mitte der siebziger Jahre abspielte. Mein Bruder aus Tübingen besuchte uns in Leipzig. Bei seinem Anblick rief meine sechsjährige Tochter Petra erstaunt und erleichtert aus: „Onkel Dieter, du siehst ja gar nicht aus wie ein Faschist!“

Auf den Trümmern des zerschlagenen Deutschlands entstand im Westen in kürzester Zeit ein blühendes Land. (An diese Art blühende Landschaften, die Helmut Kohl bei der Wiedervereinigung verhieß, dachten wohl die meisten DDR-Bürger.) Die Demokratisierung erstarkte auf den Pfeilern eines modernen Grundgesetzes und der alten Wirtschaftsstrukturen. Mit Hilfe des gigantischen Marshallplans erlangten Westdeutschland und Westeuropa einen Wohlstand, der über alles bisher Dagewesene hinausging. Er beinhaltete nicht nur die Beseitigung von Hunger, Armut, Not, sondern garantierte Freiheit und Demokratie. Er wurde zum fruchtbaren Boden für Kultur, Bildung, Wissenschaft, Gesundheit und soziale Absicherung. Die Aussöhnung mit dem „Erzfeind“ Frankreich, die Bildung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die Einbindung in das transatlantische Verteidigungsbündnis (NATO), die Völker verbindende Reisefreiheit, das alles fand breite Zustimmung und machte „den Westen“ zum Bollwerk gegen Stalin und die Sowjetunion, die als Zentrum der weltweiten kommunistischen Gefahr und zum Hauptfeind im Kalten Krieg deklariert wurde. Die kapitalistische Wirtschaft erhielt durch die soziale Marktwirtschaft ein menschliches Gesicht. Jeder Tüchtige erlebte, dass Leistung sich auszahlte, dass Investitionen sich lohnten. Der Kalte Krieg wurde vor allem mit den Mitteln des Wirtschaftsbooms geführt. Die Aggressivität dieses Krieges versteckte sich unter dem allgemeinen Wohlstand. Das änderte sich schlagartig, als mit der Kubakrise die Gefahr eines atomaren Weltbrands allen bewusst wurde.

Nun begannen die pazifistisch motivierten Ostermärsche der Atomwaffengegner und bildeten eine erste sichtbare Demonstration außerhalb der parlamentarischen Opposition. Der Mut zum Widerstand fand durch die Bürgerrechtsbewegung in den USA und Martin Luther King's „I have a dream“ einerseits und die Berichte über den Vietnamkrieg andererseits reichlich Nahrung. Die APO (außerparlamentarische Opposition), die hauptsächlich von der Studentenbewegung ausging, hatte mancherlei Gesichter, so dass sie Identifikationsraum für unterschiedlichste Wünsche und Lebensäußerungen bot. Es wurde schick, in Kommunen zu leben, die traditionellen gesellschaftlichen Tabus zu brechen, als Flower-Power-Hippies Leichtigkeit und Gewaltfreiheit zu demonstrieren, als Achtundsechziger den Muff von tausend Jahren unter den Talaren wegzuwischen, sich mit Hausbesetzungen gegen die Mietpreispolitik zu wenden oder sich in der Friedens- und Antiatombewegung zu engagieren.

In diese Jahre fiel bei meinen Klassenkameradinnen und ihren Partnern das Studium, die Familiengründung und die Suche nach dem eigenen Weg. Gewiss legte die antiautoritäre Bewegung mit ihrer Missachtung von Hierarchien, mit Betonung der individuellen Entfaltung und Kreativität, der wachsenden Bedeutung der Selbstwahrnehmung und Autonomie gerade in dieser Generation einen fruchtbaren Samen.

Bei den westdeutschen Klassenkameradinnen begann eine Phase der Konsolidierung. Es galt die beruflichen Chancen auszuloten, den Wohlstand auszubauen und die grenzenlos werdende Freiheit zu bewältigen. Reisen und Auslandsaufenthalte gewannen an Bedeutung. Die Nachbarschaft zu Österreich, Frankreich, Holland und der Schweiz wurde selbstverständlicher als die zum anderen Teil Deutschlands. Wer keine verwandtschaftlichen Beziehungen in die DDR hatte, verlor meist auch das Interesse an ihr. Das Leben hinter dem Eisernen Vorhang erschien wie ein rotes Tuch, es wurde kaum differenziert und im vereinfachten Stil der Bild-Zeitung wahrgenommen. Die Informationen waren hüben wie drüben propagandistisch gefärbt.

Ich erinnere mich an eine Begebenheit, die mir symptomatisch erschien. Anlässlich eines Besuchs im Westen 1957 wurde ich neugierig aufgefordert: “Zeig doch mal dein russisches Geld!“ Ich war entsetzt. Ich hatte kein russisches Geld, ich hatte Mark und Pfennig, die allerdings nichts wert waren. Die Bitte war nicht von irgendeinem weltfremden Hinterbänkler geäußert worden, sondern von der Stationsschwester einer Universitätsklinik! In der Vorstellung dieser Schwester gehörte die DDR zu Russland. Der Unterschied zwischen Russland und Sowjetunion war den meisten Westdeutschen völlig unklar. Das wesentliche Wissen über den Ostblock bestand in der Tatsache, dass dort der Kommunismus und die Russen herrschten.

Zwei andere, ganz banale Episoden, sind mir unauslöschlich im Gedächtnis geblieben, so dass ich annehmen muss, dass sie zu meiner Beurteilung der beiden deutschen Systeme beigetragen haben. Sie ereigneten sich im Interzonenzug, der von Nürnberg nach Leipzig fuhr und den innerhalb der DDR jedermann benutzen konnte. Dort kam ich mit einer jungen Frau aus Bayreuth in eine angenehme Unterhaltung, bei der wir auch auf die unmittelbar bevorstehende Bundestagswahl zu sprechen kamen. Wir hatten schon viele gemeinsame Ansichten ausgetauscht, so dass ich mich auf einer Wellenlänge mit ihr fühlte. Doch dann bemerkte sie ganz beiläufig, dass sie sich keine Gedanken um die Politik mache. Sie wähle das, was ihr Mann ihr sage. Ich war sprachlos. Wie konnte eine junge, scheinbar moderne Frau so naiv und uninteressiert sein!

Bei der anderen Begegnung war es wohl der westdeutsche Reisende, der sich über mich den Kopf zerbrach. Wir standen nebeneinander im Gang am Fenster. Er rauchte. Als er merkte, dass auch ich mir eine Zigarette anzünden wollte, hielt er mir seine Schachtel „Ernte 23“ hin mit der Bemerkung: „Bitte, nehmen Sie sich doch eine von mir, damit sie mal was Richtiges rauchen können.“ Obwohl ich liebend gern diese Filterzigarette probiert hätte, zwang mich mein verletzter Stolz, das Angebot abzulehnen. Ich kam mir so gedemütigt und armselig vor, während er locker und nichts ahnend mit dem typischen Geruch der freien Welt neben mir stand. Mit einem „Na, dann eben nicht“ drehte er mir den Rücken zu bis wir schweigend zu Ende geraucht hatten.

Sogar 1983 schlug mir noch diese erschreckende Fremdheit und Unbedarftheit westdeutscher Bürger entgegen. Diesmal waren es durchweg erfahrene Männer und Frauen mit leitenden Funktionen im Gesundheits- und Sozialwesen, die vom Leben in der DDR eine bedrückend undifferenzierte, klischeehafte Vorstellung hatten. Sie ließen sich mit viel ehrlichem Interesse die von mir erlebte Wirklichkeit berichten, aber sie hörten meine Berichte wie die Märchen aus 1000 und einer Nacht, schaurig-schön, unwirklich. Erst in der Zeit nach der Wende wurde mir bewusst, dass die mich persönlich so aufwühlenden Gründe meiner Ausreise bei den waschechten Wessis gar nicht ins Bewusstsein gedrungen waren, trotz aller Sympathie. Sie nahmen die DDR-Wirklichkeit nur langsam, auf Umwegen, situationsabhängig und entsprechend ihrer persönlichen Offenheit bzw. Erfahrung zur Kenntnis. Aber noch im Jahre 2003 musste ich mich mit Vorurteilen auseinandersetzen, die der Propagandamaschinerie des Kalten Krieges zu danken waren. Ich musste Vorwürfe über mich ergehen lassen, die mich beleidigen sollten. Es sei kein Wunder wie ich mich verhielt. Bei den Leuten von drüben fehle eben jede ordentliche Kinderstube. Von solchen „kommunistischen Pfeifen“ könne man nichts anderes erwarten.

Das wäre alles nicht erwähnenswert, wenn es nicht meine Verwunderung und meine staunende Enttäuschung zum Ausdruck bringen würde, dass auch nach fünfundzwanzig Jahren noch nicht zusammengewachsen ist, was zusammen gehört. Die gemeinsamen Wurzeln konnten in meiner Generation die vierzig Jahre währende Trennung und konkurrierende Entwicklung nicht wirklich zusammenhalten. Die Generation meiner Kinder nimmt den Status quo mehr oder weniger hin, sieht nur selten die Notwendigkeit sich mit den Ressentiments der Alten auseinanderzusetzen. Meine Enkel können vielleicht die Einheit vollenden, weil sie auf das bauen, was sie selbst gestaltet haben. Ihnen werden andere Lasten aufgebürdet.

Mit ganz anderen Herausforderungen sah sich die Jugend in der DDR konfrontiert. Hier veränderte ein radikaler Bruch vieler bis dahin gültiger Prinzipien das gesellschaftliche Miteinander. Unter den Schlagworten Entnazifizierung, antifaschistisch-demokratische Umwälzung und Zahlung der Kriegsschulden wurden innerhalb kürzester Zeit alte Strukturen zerschlagen und neue durchgesetzt. Justizreform, Bodenreform, Zwangsenteignung und Verstaatlichung mit Bildung der volkseigenen Betriebe VEB (im Volksjargon übersetzt hieß das angesichts der Misswirtschaft „Vorsicht, es bröckelt“), Zwangskollektivierung und Bildung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften LPG, zentrale Planwirtschaft mit Ersatz der fünf Länderregierungen durch vierzehn Bezirksräte, das waren die großen Schritte der ersten Jahre. Ich war damals zwölf Jahre alt. Das Gefühl der sprachlosen Ungläubigkeit, des Entsetzens ist noch heute in mir lebendig. „Die können mir doch nicht mein Thüringen wegnehmen! Das geht nicht. Das grüne Herz Deutschlands ist meine Identität.“ Es ging. Ich ertrug es. Die Zeit heilte den Verlust. Sie ließ mich auch die Fragwürdigkeit solcher Identitäten erkennen.

Da die Verfassung anfangs gesamtdeutsch angelegt, ein Friedensvertrag noch nicht geschlossen worden war und auch von offizieller Seite in Ost und West Deutschland als eine Nation angesprochen wurde (noch bis 1968 traten die deutschen Sportler bei den Olympischen Spielen in einer gesamtdeutschen Mannschaft auf), lebte ich, wie viele Menschen, in dem Glauben, dass all diese Veränderungen als Übergangsmaßnahmen keinen Bestand haben, sondern mit der Wiedervereinigung neu geordnet werden würden. Noch 1952 werde die Wiedervereinigung kommen, hatte der DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl ausgerufen.

Doch der Glaube daran wurde immer nachhaltiger erschüttert. Längst war klar, dass Volksdemokratie unter der Diktatur der Sozialistischen Einheitspartei (hier bezog sich die Einheit auf den Zusammenschluss der KPD mit der SPD) nichts mit Demokratie zu tun hatte. Alle demokratisch angemalten Strukturen waren Potemkinsche Dörfer. Es gab Gesetze, aber sie hatten keine Bedeutung. Niemand konnte sich auf sie berufen. Recht war nicht einklagbar. Recht hatte nur die Partei. Dass Louis Fürnbergs Verse „Die Partei, die Partei, die hat immer recht“ zur Lobeshymne in der DDR wurde, unterstreicht das. Und was die Partei sagte, das bestimmte Väterchen Stalin. Unermüdlich und selbstlos sorgte die gottähnliche Lichtgestalt, der große Generalissimus, für sein Volk. Hatte ich besonders anstrengende Aufgaben zu lösen, fiel mir unweigerlich Erich Weinerts Gedicht ein: “...Ich schau aus meinem Fenster in die Nacht. Zum nahen Kreml wend‘ ich mein Gesicht. Die Stadt hat alle Augen zugemacht. Und nur im Kreml drüben ist noch Licht...“. Diese Art Personenkult drang in mich ein, ohne dass es mir bewusst wurde. Als ich kurz nach Stalins Tod ein Buch gezeigt bekam, das Kurzbiografien von Stalins Opfern enthielt, war ich absolut überzeugt, dass es sich um übelste Verleumdung handelte, um einen Irrtum, um Westpropaganda, auf keinen Fall um Wahrheit.

Ich wurde eines Besseren belehrt.

Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 wurde gewaltsam niedergeschlagen. Dem Aufstand in Ungarn 1956 war das gleiche Schicksal beschieden. Der Prager Frühling von 1968 wurde als Konterrevolution ganz offensiv durch den Einmarsch und die Panzer der Bruderarmeen des Warschauer Paktes beendet. Jedes dieser Ereignisse verstärkte das Gefühl, dem System hilflos und dauerhaft ausgeliefert zu sein.

Der Mauerbau in Berlin am 13. August 1961 und der rigoros ausgeführte Schießbefehl entlang der Demarkationslinie schloss die letzten Schlupflöcher und zwang die Bevölkerung sich im geschlossenen System des real existierenden Sozialismus einzurichten. Radio und Fernsehen blieben lange Jahre das einzige Fenster, durch das die DDR-Bürger gen Westen schauen konnten, jedenfalls wenn sie nicht in der Gegend um Dresden, im Tal der Ahnungslosen wohnten, also dort, wo Westfernsehen nicht empfangen werden konnte. Anfang der 1960er-Jahre mussten Studentinnen und Studenten nicht nur ihren Einsatz als Erntehelfer absolvieren, sondern sie mussten die bäuerlichen Familien dazu überreden, sich von ihnen an Ort und Stelle die Fernsehkanäle heraus montieren zu lassen, mit denen der Empfang der Westsender möglich war. Kaum ein Bauer wagte Widerstand, zu groß war die Angst vor Repressalien. Wenn sich Studenten weigerten, wurden sie exmatrikuliert und mit einem Zugangsverbot für alle Universitäten und Hochschulen der DDR bestraft.

Studium, Familiengründung, Nestbau und erste Schritte im Beruf bestimmten auch bei den im Osten gebliebenen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden den Alltag. Unsere Wege waren ziemlich eng und geradlinig vorgezeichnet, jedenfalls solange wir uns angepasst verhielten. An Alternativen dachten die meisten nicht, auch ich sah keine. Von den versteckt existierenden Gruppierungen, vor allem im Umfeld der kirchlichen und kulturellen Arbeit und der späteren Friedensinitiativen wusste ich nichts, aber ich suchte auch nicht danach. Es galt schon als gefährlich, etwas von der Existenz der „Bausoldaten“ zu wissen, also jener jungen Männer, die den Dienst mit der Waffe verweigerten und stattdessen militärische Anlagen bauen mussten. Ich arrangierte mich, wie die Mehrheit um mich herum, jeder auf seine Weise. Wir lernten recht gut uns durchzuschlängeln. Wir wussten, wann es nötig war zu schweigen und welche Situationen Lippenbekenntnisse abverlangten.

Schon bei der Berufswahl bzw. der Wahl des Studienfachs musste man die politischen Verhältnisse berücksichtigen. Auch wenn ich mich sehr frühzeitig für den Arztberuf entschieden hatte, schielte ich oft mit Interesse und Neugier auf die Journalisten. Aber Fächer wie Geschichte, Philosophie, Jura, Wirtschaftswissenschaft, selbst Literatur oder Psychologie setzten eine hohe Bereitschaft voraus, sich die Parteilinie zu eigen zu machen. Wem das zu viel Bauchschmerzen verursachte, entschied sich besser für Medizin, Mathematik und andere Naturwissenschaften. Je weniger ein Fach Interpretationen vertrug, umso geringer war die Gefahr, sich mit unliebsamen Themen befassen zu müssen.

Aus meiner Klasse hatten allein sieben der in der DDR Gebliebenen ein Medizinstudium gewählt und waren trotz Familiengründung und Kindern als Ärzte bzw. Ärztinnen verschiedener Fachrichtungen in Krankenhäusern und Polikliniken des staatlichen Gesundheitswesens tätig. Lediglich einer war es gelungen, die Zahnarztpraxis ihres Vaters zu übernehmen. Das wurde nur ausnahmsweise genehmigt, da Privatpraxen nicht in das sozialistische Wirtschaftssystem passten. Bei altersbedingtem Ausscheiden wurde die Praxis in der Regel in das staatliche Gesundheitswesen integriert. Es gehörte zu den Selbstverständlichkeiten von DDR-Biografien, berufliche und familiäre Wünsche und Pflichten miteinander vereinbaren zu können.

Die nächst größere Berufsgruppe bildeten die Lehrerinnen, die durchweg Englisch, Französisch und Deutsch in den Oberklassen unterrichteten.

Ein Klassenkamerad hatte Portugiesisch studiert und arbeitete in der Kulturredaktion beim Rundfunk. Ein Sprachstudium in dem jeweiligen Land war leider keinem von uns vergönnt. Ersatzweise konnte man - ich weiß nicht mehr woher - Adressen für Briefkontakte bekommen. Ich selbst hatte gleich fünf Briefpartner: Didier aus Frankreich, Rasendratsirofo aus Madagaskar, Jean-Pierre, der als französischer Emigrant nach London gezogen war, Claine aus Kalifornien und Mitsuhiro aus Japan. Didier hatte mich zur EXPO 1958 nach Brüssel eingeladen. Es war ihm ein Rätsel, warum ich nicht kommen konnte. Jean-Pierre wollte sich mit mir in Mailand treffen, wo er Opernkarten hatte ergattern können, um die göttliche Maria Callas zu hören. Mitsuhiro schlug mir vor, ihn in Tokio zu besuchen. Ich bräuchte nur bis an die japanische Grenze zu kommen, dort würde er mich abholen. Mit dem Internationalen Studentenpass sei das ja auch nicht zu teuer. Er sehe nur eine Schwierigkeit, denn seine Mutter schnarche laut! Ich ließ die Kontakte abbrechen, weil unsere Lebensumstände Welten auseinanderklafften und ich keine Chance sah, jemals einen von ihnen zu treffen.

Ein Mitschüler, der ebenfalls mit einem Sprachstudium geliebäugelt hatte, entschied sich nach wohlwollender Beratung durch unseren Klassenlehrer für die Arabistik. Mit viel Fleiß, Strebsamkeit und anderen unverzichtbaren Voraussetzungen fand er den Weg in den diplomatischen Dienst und arbeitete bis zur Wende in diplomatischen Vertretungen der DDR in arabischen Ländern in unterschiedlichen Funktionen und Rängen.

Ein anderer Klassenkamerad war schon frühzeitig als Parteikader ausgewählt worden. Er stammte aus einer Arbeiterfamilie, fühlte sich der kommunistischen Idee ehrlich verpflichtet. Auf Grund seiner herausragenden Leistungen war er schon ein Jahr vor dem Abitur auf die Arbeiter- und Bauernfakultät nach Halle, eine Art Kaderschmiede, geschickt worden. Er studierte zunächst Sinologie, wurde dann aber, weil sich – wie er berichtete – im Gefolge der sogenannten großen Polemik zwischen der KP Chinas und der KPdSU die Beziehungen zwischen der DDR und China sehr verschlechterten, zu einem Dolmetscherstudium umgelenkt. Nach einigen Jahren als Dolmetscher an der Pekinger Botschaft der DDR studierte er zusätzlich Außenpolitik und arbeitete danach als Diplomat in Peking. Erst ab 1984 wurde er wieder als Dolmetscher tätig. Er dolmetschte so bekannte Persönlichkeiten wie Gorbatschow, Gromyko, Schewardnadse, natürlich Honecker und andere Regierungs- bzw. Politbüromitglieder. Das geflügelte Wort „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, ist seine deutsche Übersetzung eines Gedankens Gorbatschows im Gespräch mit der SED-Führung in den Oktobertagen 1989. Nach der Wende arbeitete er im Bereich Internationale Politik für die PDS bzw. Die Linke, fand aber auch als Übersetzer ein neues Tätigkeitsfeld. Er übersetzt bis heute vorwiegend Sachbücher aus dem Russischen und Englischen, „zum Training der grauen Zellen“ auch mal Krimis.

Noch eine bemerkenswerte Persönlichkeit ging aus unserer Klasse hervor. Jürgen, ein Pfarrerssohn und Drilling – seine Schwestern konnte man nur an ihren Musikinstrumenten auseinander halten –, hatte schon während der Schulzeit eine Art Ausnahmeposition inne. Wurde er vom Lehrer zu irgendeinem Thema gefragt, musste er mitunter erst auf die profanen Bretter des Schulalltags zurückgeholt werden. „Würden Sie bitte Ihre Frage wiederholen? Ich war gerade anderweitig beschäftigt“, war seine Erklärung für die geistige Abwesenheit. Jeder konnte sicher sein, dass er eine klare, fundierte Antwort bekam, ganz egal, ob es sich um ein mathematisches Problem, eine geschichtliche Episode oder ein naturwissenschaftliches Phänomen handelte. Mit 13 Jahren hatte er bereits den Jugendmusikwettbewerb im Fach Violine gewonnen und war mit dem Stavenhagenpreis ausgezeichnet worden. Nach dem Abitur war Jürgen Student an der Franz-Liszt-Hochschule in Weimar, mit dem Hauptfach Violine. Nach dem Diplom folgte ein siebenjähriges Engagement im Rundfunksinfonieorchester Berlin. Ganz unabhängig von dem geliebten Beruf als Geiger reifte ein noch tieferer Lebensentschluss, der in die Richtung Theologie ging, aber weltanschaulich erweitert und vertieft durch die Anthroposophie Rudolf Steiners. Nach dem theologischen Studium wurde er Pfarrer (Priester) in der „Christengemeinschaft“, die sich als „Bewegung für religiöse Erneuerung“ versteht. Seine Frau, Friederike, ging den gleichen Weg. Sie studierte Violine an der Hanns-Eisler-Hochschule in Berlin. Nach dem Staatsexamen und einer dreijährigen Aspirantur war ihr von ihrem Professor eine Assistentenstelle nahe gelegt worden. Doch der weitere Weg führte sie ebenfalls in die Pfarrerstätigkeit. Bei beiden blieb das Musikalische samt Violine immer in Reichweite, besonders durch die Mitwirkung im Gemeindeorchester und im Streichquartett.

Schließlich sei noch die Berufswahl unseres Klassensprechers erwähnt. Er hatte allgemeine Landwirtschaft studiert und war im größten Schweinezucht- und Mastbetrieb der DDR für die Entsorgung der Gülle verantwortlich, die die fast 200.000 Tiere produzierten. In den 1970er-Jahren galten diese Massentierproduktionsbetriebe als Leuchttürme sozialistischer Großprojekte, über deren Umweltbelastung kaum etwas an die Öffentlichkeit gelangte. Seine Frau war im gleichen Betrieb Laborleiterin und für die planmäßige künstliche Besamung der Muttersauen zuständig.

Auch die in die Klassengemeinschaft integrierten Partner brachten einen schier unerschöpflichen Erfahrungsschatz mit, der jedes Zusammentreffen befruchtete. An erster Stelle ist hier Volker Braun zu nennen, einer der angesehensten Dramatiker Deutschlands. Schon in der DDR war er mit höchsten Ehren bedacht worden, geriet allerdings wegen seiner staatskritischen Äußerungen auch zunehmend in Schwierigkeiten. Sein umfangreiches literarisches Werk ist freilich allen zugänglich und gibt in künstlerischer Weise Auskunft über seine Faszination und Enttäuschung, über seine Auseinandersetzung und seinen Kampf mit den politischen, gesellschaftlichen und psychologischen Gegebenheiten, unter denen er in der DDR und im wieder vereinten Deutschland lebt. Bei einem Klassentreffen schenkte er uns eine Leseprobe aus seiner ergreifenden autobiografischen Erzählung „Das Mittagsmahl“, bei dem er, zusammen mit Mutter und Geschwistern die Nachricht erhielt, dass sein Vater gefallen war – wie das Sterben im Krieg heißt. Ich kann an diesen Abend nicht ohne innere Erschütterung denken, so unmittelbar lässt Volker seine Leser bzw. Hörer an dem ganzen Schrecken teilnehmen. Das ist wahre Dicht-Kunst! Auf engstem Raum und in atemberaubend komprimierter Kürze zeichnet er das so schwer fassbare menschliche Drama eines Krieges.

Karsten, ein anderer Partner, brachte mit seiner niedersächsischen Herkunft einen fast schon hanseatischen Farbtupfer in das Klassengewebe. Der Oberstudiendirektor hatte als gebürtiger Wessi viele Jahre ein privates Gymnasium geleitet, gehörte in seiner Heimatstadt durchaus zu den Honoratioren und konnte oder wollte auch im privaten Umfeld den Pädagogen, (Kunst-)Historiker, Philosophen und Soziologen nicht verleugnen.