Zeitloswelt - Heike Schulz - E-Book
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Heike Schulz

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Beschreibung

Von der Familie genervt und von der besten Freundin hintergangen: Mines Wunsch, sie alle nicht mehr zu sehen, geht schneller in Erfüllung als erwartet. Sie findet sich in einem Wald wieder, fernab jeglicher Zivilisation. Ferdi, ein Junge mit verstümmeltem Arm und altertümlichen Manieren, rettet sie aus einem reißenden Bach und wird zu ihrem Begleiter in einer Welt, in der nur das Überleben zählt. Seine Erzählungen klingen jedoch unglaubwürdig. Als dann auch noch ein bunt zusammengewürfelter Trupp Jugendlicher Jagd auf sie macht, muss Mine sich den Gegebenheiten stellen – und ihrer eigenen Persönlichkeit.

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Zeitloswelt

 

ISBN 978-3-96741-027-3

 

Hybrid Verlag

 

© by Hybrid Verlag,

Westring 1

66424 Homburg

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

1.Ebook-Auflage 02/2020

 

Autor: Heike Schulz

Umschlaggestaltung: © 2020 by Creativ Work Design, Homburg

Lektorat: Jeannine Molitor, Barbara Dier

Korrektorat: Tina Winderlich

Buchsatz: Sylvia Kaml

Autorenfoto: Alena Schuirmann

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

 

 

 

 

Heike Schulz

 

Zeitloswelt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Horror

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Oskar

 

A Happy Beginning

Inhaltsverzeichnis

15

212

317

421

525

630

735

841

944

1049

1155

1264

1369

1474

1580

1683

1790

1894

1998

20105

21109

22117

Epilog119

Danksagung121

DIE AUTORIN122

 

 

1

 

Der grüne Kerl auf der Fußgängerampel ließ sich für Mines Geschmack heute Morgen viel Zeit damit, seinen roten Kollegen abzulösen. Hoffentlich kam der bald in die Gänge, sonst käme sie schon wieder zu spät zur Schule. »Ten, nine, eight …«, zählte sie in Gedanken den Countdown mit, den Pink per Kopfhörer in ihre Ohren schmetterte, und fummelte am Kabel ihres Smartphones herum. Wieso sah das Ding jeden Morgen wie eine Handvoll Spaghetti aus? »… four, three, two, one …« Auf »Fun« hatte sie es endlich entknotet und trat auf die Fahrbahn. Wenn auch nur für einen Augenblick, denn irgendwer packte sie am Arm und riss sie wieder auf die Bordsteinkante zurück. Die Schultasche rutschte ihr von der Schulter und nur mit Mühe hielt sie das Gleichgewicht. Verdattert drehte sie sich um und erblickte einen alten Mann, dessen Mund irgendetwas formte, das seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, garantiert nichts Freundliches war. Der Griff, mit dem er Mines Arm umklammert hielt, verstärkte sich schmerzhaft. Was hatte der denn für Probleme? Genervt zog Mine mit der freien Hand die Stöpsel aus ihren Ohren. Sofort löste das Gekreisch des Mannes Pinks Funhouse ab.

»Ich fragte, ob du lebensmüde bist!«, verstand sie ihn endlich. »Hast du den nicht gesehen?« Er gab ihren Arm frei und deutete dem Sattelschlepper hinterher, der rasch im Verkehrsgewimmel untertauchte und auf dessen Kühlergrill Mine wohl kleben würde, hätte der Mann sie nicht so geistesgegenwärtig von der Fahrbahn zurückgezogen.

»Wow«, hauchte sie beeindruckt, »das war übelst knapp.«

Sie nahm den Greis, der ihr da soeben von Teufels Schippe geholfen hatte, genauer in Augenschein. Hut ab, dass so ein Auslaufmodell noch solche Reflexe hatte. Der war doch sicher schon fast hundert, auch wenn er recht gut in Schuss wirkte und ein bisschen wie der Opa aus der Werbung für Fischstäbchen aussah.

»Danke«, murmelte Mine und bückte sich nach ihrer Schultasche, die ihr von der Schulter gerutscht war und ihren Inhalt über den Bürgersteig verteilt hatte. Hastig sammelte sie die herausgefallenen Bücher auf, während sich der kleine Volksauflauf, den ihr Beinahe-Unfall hervorgerufen hatte, bereits wieder auflöste.

Ausgerechnet heute den Löffel abzugeben hätte gerade noch gefehlt. Mine hielt kurz inne und stellte sich Tizians Gesicht vor, wie er sich mit Tränen in den Augen zu ihr herabbeugte, um ihr einen letzten Kuss auf die toten Lippen zu hauchen – sofern Tillas Plan glattlief und Mine tatsächlich in der Theater-AG das Casting für die Rolle der Julia gewinnen würde.

»Du musst dich besser vorsehen, Mine. Nicht nur dein Leben hängt davon ab«, riss sie die Stimme des Alten aus ihren Tagträumereien. Geflüstert diesmal, aber so dicht an ihrem Ohr, dass sie erneut zusammenschrak.

»Kennen wir uns?«, fragte sie und schaute verwirrt auf, doch ihr Lebensretter war bereits in der Menschenmenge verschwunden. Seltsam. Woher kannte er ihren Namen? Vielleicht von einem der Hefte, die noch immer auf dem Gehweg verstreut lagen? Wilhelmine Pommersbach stand vorschriftsmäßig darauf, auch wenn sie Pickel von dem Namen bekam und Mine bevorzugte. Sicher hatte sie sich verhört, schließlich pulsierte immer noch eine gehörige Portion Adrenalin durch ihre Blutbahn.

Achselzuckend klaubte sie ihre übrigen Sachen zusammen und richtete sich auf. Sie beschloss, den Rest des Schulwegs besser auf den Verkehr zu achten, und regelte die Lautstärke ihres Handys zwei Stufen herunter. Green Day, erkannte sie sofort, als sie die Stöpsel zurück in ihre Ohren drückte.

Perfekt.

 

»Ein Opa hat dich gerettet?« Tillas Gesicht zeigte exakt die befürchtete Portion Spott.

»Das war nicht lustig«, protestierte sie und klappte die obere Hälfte ihres Pausenbrots auf. Bärchenwurst. Na klasse.

»Da hat wohl dein kleiner Bruder mal wieder bestimmt«, stellte Tilla schmunzelnd fest und hielt Mine ihre eigene Frühstücksdose hin. Rohkoststreifen. Und wie immer perfekt auf die gleiche Größe geschnippelt.

Angeekelt klatschte Mine ihr Frühstück zurück in die Butterbrotdose und langte bei Tilla zu. »Wenn der Alte nicht gewesen wäre, könntest du jetzt mit mir die Orchideen düngen.«

»Ja, schon gut. Dir ist ja zum Glück nichts passiert. Und? Kannst du deinen Text?«, wechselte Tilla das Thema, als sei Mines gerade noch verhinderter Abgang keine weitere Ausführung wert.

»O schwöre nicht beim Mond, dem wandelbaren, der immerfort in seiner Scheibe wechselt, damit nicht wandelbar dein Lieben sei!«, zitierte Mine mit vollem Mund.

»Ja, da war schon sehr viel Schönes dabei. Aber beim nächsten Mal bitte ohne Möhrchenknacken im Hintergrund. Du klingst sonst wie Ostwind beim Wiederkäuen.«

»Pferde sind aber keine Wiederkäuer.«

»Klugscheißer«, konterte Tilla grinsend und hielt ihrer Freundin erneut ihre Rohkostauswahl hin. »Übrigens: Da vorne geht er.«

»Wer?«

Tilla rang theatralisch nach Atem. »Dein Romeo, du Nuss. Tizian. Da!« Sie deutete mit einem Kopfnicken zu einer Gruppe Jungs, die scherzend und mit Sporttaschen bepackt aus dem Turnhallenfoyer traten. Einen Moment lang fanden Tizians Augen Mines und seine Wangengrübchen vertieften sich.

»Nicht hinsehen«, zischte Tilla. Unauffällig schob sie sich in Mines Blickwinkel. »Er ist aber wirklich ein Sahnestück«, erklärte sie mit Kennerblick auf den breitschultrigen Jungen, dessen dunkle Lockenpracht noch nass vom Duschen war und ihm tief in die Stirn hing. »Wenn’s bei dir nicht klappt, lässt du mich dann an ihm naschen?«

War das etwa wieder einer von Tillas Testballons?

Mine konnte sich bei den Scherzen ihrer Freundin nie ganz sicher sein, wie viel davon ernst gemeint war. Dabei könnte Tilla an jedem Finger zehn Typen haben, da kam es ihr doch gar nicht auf einen mehr oder weniger an. Bei Mine hingegen sah das ganz anders aus.

Klar war sie bei den Jungs beliebt, aber die meisten behandelten sie eher wie einen guten Kumpel, mit dem man abhängen oder Party machen konnte. Keiner von ihnen schaute sie so an, wie Tizian es tat. Wenn sein Blick sie traf, hatte sie das Gefühl, von einem Sonnenstrahl geküsst zu werden. Ihr Flirt hatte zwar nach zwei Dates, von denen sich das erste eher zufällig ergeben hatte, noch gar nicht richtig angefangen, doch sie spürte, dass daraus etwas werden konnte. Sofern niemand dazwischenfunkte. Sie musterte Tilla, deren Augenmerk der Gruppe um Tizian mit der Aufmerksamkeit einer Löwin folgte, die ein paar Gnus beobachtet.

»Ja klar, wenn Kolja nichts dagegen hat«, gab Mine bemüht lässig zurück.

Tilla riss ihren Blick von den Jungs los. »Kolja?«, wiederholte sie, als müsste sie sich erst wieder an den Namen ihres aktuellen Lovers erinnern. »Der sagt doch zu allem, was ich vorschlage, Ja und Amen.« Sie wickelte eine Strähne ihres blonden Haars um ihre manikürten Finger. »Eine Zeit lang ist das sehr angenehm«, erklärte sie und zwinkerte Mine anzüglich zu. »Aber nun komm, es klingelt gleich und wir wollen die alte Peters doch nicht warten lassen mit ihrem bescheuerten Dürrenmatt. Der Besuch der alten Dame! Wahrscheinlich könnte die Peters ohne Probleme die Hauptrolle in dem Stück übernehmen. Ach, was sag ich? Sie hat die Rolle bereits einmal gespielt. Damals, bei der Uraufführung.«

Lachend hakte sie Mine unter und zog sie Richtung Schulgebäude.

Im Klassenzimmer herrschte, wie immer kurz nach der großen Pause, der blanke Wahnsinn. Ein paar Jungs pokerten in der letzten Reihe lautstark um einen Gutschein vom Schnellimbiss, eine Gruppe Mädchen drängelte sich zwecks Restaurationsarbeiten am Make-up vor dem Waschbeckenspiegel, der Rest der Meute pinnte die letzten Hausaufgaben ab oder schaute YouTube-Videos auf dem Handy. Mine und Tilla warfen ihre Taschen auf ihre Plätze und gesellten sich zu den Pokerspielern. »Na, wer führt mich denn gleich in die Goldene Möwe aus?«, rief Tilla und setzte sich. Die Schulglocke läutete die fünfte Stunde ein, allerdings fühlten sich nur wenige bemüßigt, zu ihren Plätzen zu gehen und ihre Bücher herauszuholen.

»Kommst du?«, fragte Mine, doch sie bekam nur ein Augenzwinkern Tillas zur Antwort. Also ging sie alleine zurück zu ihrem Platz, kramte ihren Dürrenmatt hervor und setzte sich. Kurz darauf huschte eine atemlose Frau Peters herein, stellte ihre Aktentasche neben das Pult und tupfte sich mit einem Spitzentaschentuch die Schläfen ab.

»Bitte verzeihen Sie mein spätes Erscheinen. Ich hatte noch ein dringendes Elterngespräch«, stammelte sie, was kaum jemanden zu jucken schien. Offensichtlich erschüttert betrachtete sie das Treiben. »Bitte, so nehmen Sie doch Platz!«, flehte sie ohne nennenswerten Erfolg. Es bedurfte einiger Bettelei, bis sich auch die letzten endlich zu ihren Stühlen bequemt und ihre Privatgespräche beendet hatten.

Beim Vorlesen mit verteilten Rollen trug Tilla ihren Text mit der Stimme einer der Telefondamen vor, die spät abends auf dem Sportkanal ihre Dienste anpriesen.

Mine verdrehte genervt die Augen. Sie selbst mochte Frau Peters. In ihren Faltenröcken und bretthart gestärkten Spitzenblusen wirkte sie immer ein bisschen so, als hätte sie jemand mit einer Zeitmaschine aus den Fünfzigern ohne Zwischenstopp ins Jahr 2018 katapultiert. Dabei war jedoch vergessen worden, ihr ein Handbuch über die Jugend von heute mitzugeben. Wenn über dem Steiß einer Schülerin ein Stringtanga oder ein Arschgeweih hervorblitzte oder sich auch nur ein BH-Träger unter einem Top zeigte, bekam sie regelmäßig Schnappatmung. Rap-Musik, die naturgemäß von Obszönitäten und Beleidigungen wimmelte, war für sie Anlass eines ewigen Feldzuges gegen den Untergang des Abendlandes.

»Bitte, Tilla«, jammerte Frau Peters. »Klara Wäscher ist eine vom Schicksal gebeutelte Frau. Sie wurde in Schimpf und Schande aus ihrem Heimatdorf vertrieben, da können Sie sie nicht sprechen lassen wie …« In Ermangelung eines passenden Vergleichs senkte sie errötend den Blick.

»Wie eine Bitch?«, schlug Tilla mit Unschuldsmiene vor.

Der Kurs begann zu kichern.

Auf Frau Peters‘ Wangen zeichneten sich rote Flecken ab, doch ehe sie etwas erwidern konnte, rettete sie der Schulgong.

»Muss das immer sein?«, raunte Mine, als sie ihre Schullektüren einpackten. »Was hat die Frau dir eigentlich getan?«

Tilla kicherte. »Nichts«, antwortete sie. »Das ist es ja. Sie tut nichts. Gar nichts. Steht nur da, stammelt und guckt blöd aus ihrem Spitzenblüschen hervor.« Sie deutete mit einem Kopfnicken auf die Lehrerin, die mit bebenden Fingern ihre abgegriffene Aktentasche packte und mit eingezogenem Kopf regelrecht aus dem Klassenzimmer flüchtete. »Wenn sie sich nur ein einziges Mal wehren würde«, murmelte Tilla nachdenklich, doch dann blitzte auch schon wieder der gewohnte Spott in ihren Augen auf. »Komm, Tizian wartet«, drängte sie zum Aufbruch, wobei sie so ordinäre Kussgeräusche schmatzte, dass Mine vor Fremdscham die Hitze in die Wangen schoss.

»Du bist unmöglich.« Kopfschüttelnd stellte Mine ihren Stuhl auf den Tisch und folgte ihrer Freundin hinaus auf den Flur.

 

Vor dem Haupteingang des Schultheatergebäudes drängelte sich bereits ein knappes Dutzend Mädchen. Offenbar hatten sie sich alle von Steffenhagens Einladung zum Casting für die Julia, die sich an die Schülerinnen ab der neunten Klasse richtete, angesprochen gefühlt.

»Verdammt«, murmelte Mine, als sie sich mit wackeligen Knien dem Backsteingebäude näherte. »Bei der Konkurrenz habe ich doch sowieso keine Chance.«

Tilla schnaubte verächtlich. »Red doch keinen Stuss. Schau mal die da.« Sie deutete mit dem Kinn auf eine Gruppe älterer Mädchen, die rauchend etwas abseits unter einer Rosskastanie standen. »Die haben sowieso schon verloren. Wenn Steffi riecht, dass die gequarzt haben, schmeißt er die raus, bevor sie auch nur pieps sagen können. Wie blöde kann man sein, sich für eine Kussrolle vorzustellen und vorher eine zu qualmen?«

Skeptisch musterte Mine die weiteren Bewerberinnen. »Aber die da?« Sie wies unauffällig auf drei langbeinige Grazien, die mit Textzetteln bewaffnet gelangweilt an einen Blumenkübel lehnten.

»Zu groß, zu mager«, urteilte Tilla nach einem kurzen Blick. »Wir suchen Julia und nicht Germany‘s next Topmodel. Du bist genau richtig mit deinen eins siebzig und deinen Kurven.«

»Aber zumindest haben sie ein passenderes Outfit.« Mit spitzen Fingern zupfte Mine am Saum ihres schwarzen Tanktops, auf dessen Vorderseite ein silberner geflügelter Totenschädel prangte. Julia trug auch ganz sicher keine lila Armstulpen oder Armeehosen mit Nietengürtel. Aber das war nun mal alles, was Mines Kleiderschrank zu bieten hatte.

»Dein Look ist okay«, beruhigte Tilla sie. »Vergiss nicht, es ist eine moderne Inszenierung, auch wenn die Darsteller Shakespeares Geschwafel übernehmen.«

Mine kicherte. Warum die makellose Tilla, die sonst mit Genuss die äußerlichen Schwächen anderer mit spitzer Zunge sezierte, ausgerechnet ihren Stil akzeptierte, war ihr ein Rätsel. Bei anderen blieb kein Nasenhöcker von Tilla unkommentiert und keine Cellulitisdelle mit spöttischer Bemerkung unbestraft, aber nie verlor sie ein abwertendes Wort über Mines äußere Erscheinung. Mit ihrem blassen Teint, den schwarz geschminkten Augen oder ihrer Vorliebe für Goth-Mode war Mine das genaue Gegenteil der gertenschlanken und stets in Markenklamotten top gestylten Tilla.

Deren honigblonde Haarpracht schmiegte sich stets anmutig um ihr herzförmiges Gesicht, während Mine jeden Morgen einen aussichtslosen Kampf mit ihrem schwarz-rot gesträhnten Ananaskopf austrug.

Plötzlich kam Bewegung in die wartende Menge. Unter der Kastanie schnippten die Mädchen ihre halbfertig gerauchten Kippen in den Sand und traten sie aus. Die Grazien bei dem Blumenkübel stopften hastig die Textzettel in ihre Umhängetaschen und stöckelten zum Eingangsbereich des Theaters, wo Herr Steffenhagen soeben die Türen öffnete und mit dem Stopper blockierte.

»Es steigt der Mut mit der Gelegenheit, meine Damen. Also hereinspaziert!« Erfreut vollführte er eine einladende Geste.

Sie stolperten durch den abgedunkelten Zuschauerraum bis an den Rand der hell ausgeleuchteten Bühne, auf der ein paar Kästen aus der Turnhalle als Provisorium für den Balkon herhalten mussten.

»Setzt euch. Wir gehen in alphabetischer Reihenfolge vor.« Herr Steffenhagen stieg die Stufen zur Bühne hinauf. »Ich hoffe, ihr habt alle euren Text gelernt? Zweiter Aufzug, zweite Szene, Romeo und Julia in Capulets Garten. Birte Ahrweiler, bitte. Auf, auf, ein edler Geist kennt keine Furcht!«

Eine der Raucherinnen erhob sich von ihrem Platz, den sie gerade erst in der ersten Reihe eingenommen hatte, und folgte Herrn Steffenhagen auf die Bühne. Ein paar ihrer Freundinnen setzten zu einem aufmunternden Applaus an, der jedoch sogleich erstarb, als niemand mit einfiel. Birte beschattete ihre Augen mit der Hand gegen das grelle Scheinwerferlicht und sah sich unsicher um.

»Dort hinauf«, erklärte der AG-Leiter und deutete auf den Kastenstapel.

»Die können wir abhaken«, wisperte Tilla in Mines Ohr, während Birte umständlich den Behelfsbalkon erklomm.

Herr Steffenhagen gab einen Wink hinter die Kulissen. »Tizian, dein Auftritt.«

Mit selbstbewusster Lässigkeit schlenderte Tizian ins Scheinwerferlicht. Fast schon kollegial nickte er dem Lehrer zu, unter dessen Leitung er schon unzählige Male die männlichen Hauptrollen der Theater-AG gespielt hatte.

Ein Glanz ging von ihm aus und er genoss nicht nur an der Schule einen gewissen Promistatus. Dank der Lokalpresse, die regelmäßig von den Schulaufführungen berichtete und stets einen Absatz alleine über ihn brachte – mit Foto und Interview –, war er fast so berühmt wie der hiesige Friseur, der es bei einer Castingshow im Fernsehen mal in den Recall geschafft hatte.

Tizian trat an den Kastenstapel und zitierte aus dem Gedächtnis: »Der lacht über Narben, die nie keine Wunde fühlte. Aber stille! Was für ein Licht bricht aus jenem Fenster hervor? Es ist der Osten, und Juliet ist die Sonne.«

Auf Herrn Steffenhagens Wink hin trat Birte an den Kastenrand.

»Geh auf, schöne Sonne, und lösche diese neidische Luna aus, die …«, setzte Birte mit zittriger Stimme an, doch Herr Steffenhagen unterbrach sie mit einer ungeduldigen Handbewegung.

»Stopp, Birte. Ist das der Text, den du gelernt hast?«

»J-ja«, stotterte Birte.

»Diese Rolle? Sonst nichts?« Steffenhagen runzelte die Stirn.

Birte schaute verunsichert in die Richtung, in der sie wohl ihre Freundinnen jenseits der Scheinwerfer vermutete und aus der nervös Getuschel kam. »Nein«, antwortete sie und fuhr mit ihrem Text fort: »… neidische Luna aus, die schon ganz bleich und krank …«, doch abermals wurde sie von Steffenhagen unterbrochen.

»Danke für dein Kommen, Birte, aber das ist der falsche Text. Du hast Romeos Rolle gelernt. Die Nächste, bitte. Sarah Dennert.«

Unter schadenfrohem Gekicher der Blumenkübel-Grazien stolperte Birte von der Bühne, raffte hektisch ihre Tasche auf und flüchtete aus dem Theater.

»Eine weniger«, bemerkte Tilla trocken. »Was für eine hohle Nuss.«

Sarah Dennert hatte zwar den richtigen Text gelernt, doch ihre schauspielerischen Fähigkeiten beschränkten sich auf Augen aufreißen im Stile einer Stummfilmdiva und ausladende Gesten, bei denen es sie beinahe vom Behelfsbalkon schmiss.

Steffenhagen ließ sie gerade mal zwei Sätze sprechen, dann hatte er genug. »Die Nächste.«

Auch die folgenden beiden Kandidatinnen erwiesen sich als talentfreie Zonen, die nach wenigen Worten von der Bühne geschickt wurden.

Julia Nummer fünf, eine der Blumenkübel-Grazien, beschwerte sich sofort nach Betreten der Bühne über das grelle Scheinwerferlicht und weigerte sich, unter solch unprofessionellen Bedingungen zu arbeiten.

Sie rauschte davon, ohne auch nur eine einzige Silbe ihres Textes dargeboten zu haben.

Mit den Bewerberinnen schwand auch Steffenhagens Zuversicht, und je mehr sich die Namensliste dem Buchstaben P näherte, umso sauertöpfischer begrüßte er die Mädchen. Mine überlegte schon, ob sie sich nicht lieber heimlich davonstehlen sollte, als er rief: »Wilhelmine Pommersbach!«

Es bedurfte Tillas schmerzhaften Ellbogen-Checks, um sie aus dem Sitz zu treiben. »Toi, toi, toi«, wisperte Tilla ihr zu, dann wankte Mine auch schon die Bühnenstufen hinauf.

»Mine«, stammelte sie, als sie vor Steffenhagen ankam.

»Was?«, antwortete er unwirsch.

»Das ist mein Name«, erklärte Mine und wich seinem Blick aus. »Mine, nicht Wilhelmine.«

»Wie auch immer.« Er machte eine genervte Handbewegung. »Auf den Balkon!«

Ungelenk bestieg Mine den ersten Kasten. Mittlerweile hatte sich der Stapel durch ihre Vorgängerinnen etwas verschoben, wodurch eine kleine Lücke zwischen den Einzelteilen entstanden war. Mine versuchte sie mit einem Ausfallschritt zu überwinden, allerdings verfehlte sie dabei die nächste Stufe und kippte polternd in den Kastenstapel. Hitze schoss ihr in die Wangen. Sie spürte, wie ihre Handgelenke gegriffen und sie nach oben gezogen wurde.

»Alles okay, Mine?« Tizians Gesicht war so nah bei ihrem, dass sie seinen Pfefferminz-Atem riechen konnte.

Von weit her, aus einem anderen Universum, hörte sie Herrn Steffenhagen fluchen.

»Ja, danke«, hauchte sie. Tizian gab ihre Handgelenke frei, doch immer noch spürte sie seine Wärme auf ihrer Haut.

»Können wir jetzt weitermachen?«, maulte Steffenhagen und brachte Mine damit wieder zurück auf Planet Erde.

»Sorry«, entschuldigte sie sich und kletterte endlich auf die Balkon-Attrappe. Ihr Kopf fühlte sich an wie leergepustet, ihr Text schien bei ihrem Sturz irgendwie unter den Kästen liegengeblieben zu sein, doch als Tizian seine Einleitung beendet hatte, strömten die Worte wie von selbst aus ihr heraus.

Sie war nicht mehr die täppische Mine, sie war Julia, die ihren Liebsten erhörte, und erst als sie ihren Text beendet hatte und Herr Steffenhagen »Vielen Dank, Mine« in die ergriffene Stille sagte, fand sie in ihren Körper zurück.

»Das war schon sehr schön«, verkündete er, als sie vom Balkon heruntergeturnt war. »Aber ich hätte gerne noch eine zweite Kandidatin als Vergleich. Die Mädchen, die wir bisher gesehen haben, können wir getrost außer Acht lassen. Wir brauchen jemand anderes.« Suchend blickte Herr Steffenhagen im Zuschauerraum umher, der nun bis auf Tilla menschenleer war. Die Mädchen, die nach ihr hätten auftreten sollen, waren wohl inzwischen nach Hause gegangen. »Wie ist es mit dir?«

»Was, ich?« Tilla schreckte in ihrem Sitz zusammen. »Nein, danke. Ich bin nur zu Mines seelischer Unterstützung hier. Ich bin keine Bewerberin.«

»Kannst du denn den Text?« Herr Steffenhagen schien nicht locker lassen zu wollen.

»Ähm, ja. Ich habe ihn mitgelernt, als Mine und ich zusammen geübt haben.«

»Dann komm doch bitte herauf. Tu mir den Gefallen. Es dauert auch nicht lange.«

»Wenn’s unbedingt sein muss.« Lustlos erhob sich Tilla von ihrem Platz, aber sobald sie die Bühnenstufen erklommen hatte und im Scheinwerferlicht stand, legte sich ein Zauber über sie. Wie zuvor Tizian füllte sie die Bühne mit ihrer selbstsicheren Präsenz, als sie sich Herrn Steffenhagen vorstellte und Tizian mit einem geflüsterten »Hi« begrüßte.

Mine kam sich plötzlich in Tillas Gegenwart wie ihre eigene Karikatur vor.

»Bitte, die Bühne gehört euch«, erklärte Herr Steffenhagen, machte eine einladende Geste und trat zur Seite.

Mine schenkte er keine weitere Beachtung. Unauffällig verkrümelte sie sich in den hintersten Winkel des Zuschauerbereichs, von wo aus sie den Auftritt ihrer Freundin verfolgte.

Natürlich stolperte Tilla nicht wie ein Bauerntrampel in den Kastenstapel. Stattdessen erkletterte sie ihn mit einer Leichtigkeit, als hinge sie an unsichtbaren Fäden. Sie machte auch keine ausladenden Gesten wie die meisten ihrer Vorgängerinnen. Ihre Körpersprache war wohldosiert und wirkte völlig natürlich. Ebenso wie ihre Aussprache, die ihren Text bis weit in den Zuschauerrang trug und dabei dennoch so intim klang, als belauschte man das vertrauliche Flüstern eines Liebespaares.

Es biss hinterhältig in Mines Herz, doch sie musste zugeben, dass Tillas Darbietung perfekt war, und nicht nur das: Mit ihrer aparten Erscheinung harmonierte sie mit Tizian wie ein Pott mit seinem Deckel.

»Danke, Tilla. Das war sehr schön«, verkündete Herr Steffenhagen. »Bist du ganz sicher, dass du dich nicht für die Rolle bewerben willst?«

»Vielen Dank, Herr Steffenhagen«, hauchte Tilla und lächelte geschmeichelt. »Ich …« Ihr Blick fiel für einen Sekundenbruchteil auf Mine. Etwas Prüfendes lag darin. Dann wanderte er zu Tizian. »Also, na ja, …«

Eine Schlinge schien sich um Mines Hals zu legen und sich langsam zuzuziehen. Tilla, dieses niederträchtige Aas. Hatte sie nicht heute Morgen erst Tizian wie eine läufige Hündin hinterhergestarrt? Und jetzt, da sich die Gelegenheit bot, schnappte sie gnadenlos zu.

Genug! Atemlos vor Wut stolperte Mine aus dem Theater hinaus ins Freie und prallte vor dem plötzlichen Sonnenlicht zurück. Es schien sie mit seinem Strahlen zu verhöhnen. Blindlings hastete sie davon. Nur weg von Tizian. Weg von Schleimbrocken Steffenhagen. Und erst recht weg von diesem Miststück Tilla, das ihr ein heuchlerisches »Mine, warte!« hinterherschickte.

Zunächst rannte sie nur ziellos durch die Innenstadt, doch die Menschenmenge in der Einkaufszone war ihr schon bald zuwider. Kurzerhand flüchtete sie in den Stadtpark. Unter einer Trauerweide, deren Zweige bis hinunter auf den Rasen reichten und ein duftiges, grünes Kuppeldach bildeten, fand sie endlich ein ruhiges Plätzchen. Keuchend sank sie in den Schneidersitz und ließ ihren Tränen freien Lauf.

Wie hatte sie sich nur auf diesen Scheiß einlassen können? Mach doch beim Casting mit! Wie Hohn klang Tillas Vorschlag nun in ihren Ohren. Tizian würde so gut zu dir passen! Verlogenes Miststück. Aber sie war ja selbst schuld. Sie hätte auf ihr Bauchgefühl hören sollen. Schauspielerin, ja klar doch. Ausgerechnet sie, die sich am liebsten in Luft auflösen würde, wenn sie im Unterricht an die Tafel gerufen wurde.

Tja, dumme Kuh, das hast du nun davon, beschimpfte sie sich selbst. Zuerst kippst du wie eine Besoffene beinahe von der Bühne. Dann reißt du das Ding doch noch rum und der Drops ist schon fast gelutscht, da kommt Tilla und fährt dir volle Kanne in die Parade. Geschieht dir nur recht. Warum sollte eine wie Tilla auch ausgerechnet deine Freundin sein?

Mine lachte bitter auf. Wie gerne hatte sie Tillas Märchen geglaubt. Angeblich hatte sie auf ihrer alten Schule nie so eine tolle Freundin gehabt wie Mine. Wäre diese Schlange doch bloß in ihrem bescheuerten Ingolstadt geblieben. Aber nein, ausgerechnet hierher nach Bergheim musste sie letzten Sommer ziehen. Das Model und der Freak, ja, genau das waren sie. Bestimmt hatten sich insgeheim alle an der Schule kaputtgelacht darüber, wie sie dieser eingebildeten Tilla-Trulla hinterhergedackelt war. Und ausgerechnet ihr hatte sie ihre Gefühle für Tizian anvertraut, von denen nicht einmal ihre eigene Mutter etwas ahnte.

Grimmig begann Mine, Fransen aus dem Riss ihrer Armeehose zu zupfen, der den Blick auf ihr bleiches Knie freigab. Tilla würde sich nun also Tizian angeln. Das alleine schnürte ihren Magen schon schmerzhaft zusammen. Schlimmer war nur, dass sie nun gar keinen Menschen mehr zum Reden hatte. Ihre Eltern interessierten sich ja kaum noch für sie. Immer hieß es nur Max hier, Max da! Wie einen Kronprinzen behandelten sie ihn und überall musste er mit dabei sein. Nie hatte sie ihre Eltern mal für sich. Außerdem mäkelten sie ständig an ihr herum. Besonders an ihren Klamotten. Dauernd wollte ihre Mutter sie davon überzeugen, auch mal was Netteres anzuziehen. »Warum denn immer schwarz? Du würdest in einem schicken hellen Kleid so hübsch aussehen. Und deine Haare! Kind, das macht dich doch so blass!«, hallte die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf wider. Mit beiden Händen griff Mine in den Riss über dem Knie und zerrte ihn mit einem zornigen Ratsch bis zu den Seitennähten auseinander. So, das hatte ihre Mutter jetzt davon! Na, wenigstens lohnte sich nun die Shoppingtour, die sie ihr für morgen versprochen hatte. Endlich würden nur sie beide allein nach Köln zum Einkaufen fahren. Aber wenn ihre Mutter dachte, sie würde sich zur Feier des Tages breitschlagen lassen und ein rosa Rüschenkleidchen kaufen, hatte sie sich geschnitten. Schwarze Röhrenjeans, dazu ein blutrotes Top und einen superbreiten Nietengürtel. Genau das brauchte sie jetzt.

Gerade als Mine beschloss, ihr Zerstörungswerk auch an dem anderen Hosenbein fortzusetzen, vibrierte plötzlich ihr Handy. Eine WhatsApp von Tilla. Fester als nötig drückte sie die Nachricht weg. Auch ihre nächsten drei Versuche ignorierte sie, und als schließlich ein Anruf von ihr einging, war sie kurz versucht, ihr Handy gegen den Stamm der Weide zu schleudern.

»Lass mich in Ruhe, du falsches Biest!«, zischte Mine, schaltete das Telefon aus und schob es in ihre Tasche zurück. Als nun noch ein Hund seine schnüffelnde Nase durch die Zweige stieß und Anstalten machte, sich zu ihr unter die Weide zu gesellen, war es endgültig vorbei mit der Ruhe. Sie bedachte den Hund mit einem missmutigen »Verzieh dich« und erhob sich. Es war ohnehin Zeit, nach Hause zu gehen. Nicht, dass sich ihre Eltern Sorgen um sie machen würden. Die merkten ja sowieso nicht, wann sie kam oder ging. Aber ihr Magen verlangte allmählich nach einem Abendessen, und so klopfte Mine ihre Hosen sauber und trat den Heimweg an.

2

 

Mine betrat den Hausflur und warf mit einem lauten Knall ihren Schlüssel in die Keramikschale auf dem Sideboard. »Bin zurück!« Statt einer Antwort schallte nur die Titelmelodie von SpongeBob aus dem Wohnzimmer. »Freut mich auch, euch zu sehen«, murmelte sie und schleuderte ihre Schultasche neben den Garderobenständer.

»Max, sei so gut und mach den Kasten aus, wir wollen zu Abend essen«, kam die Stimme ihres Vaters aus der Küche, begleitet von verführerischen Düften nach Knoblauch, Basilikum und Olivenöl.

SpongeBobs Stimme wurde mitten im Satz abgewürgt und im nächsten Moment stürmte Max in den Flur. Sein Blondschopf war ganz verstrubbelt und das Gesicht gerötet. Offenbar war es heute in Bikini Bottom besonders aufregend gewesen. »Mine ist da!«, verkündete er lautstark und verschwand sofort wieder im Wohnzimmer, um gleich darauf mit etwas, das einem explodierten Kanarienvogel nicht unähnlich sah, zurückzukehren. »Guck mal, hab ich heute in der Schule für dich gemacht!« Er drückte ihr das Geschenk feierlich in die Hand und strahlte stolz.

»Und was soll das sein?« Mine musterte das Teil skeptisch und entdeckte einen Metallring an der Oberseite. Offensichtlich ein Schlüsselanhänger aus Moosgummi. Er war gelb und eckig. Kleine Kreise waren mit Filzstift aufgemalt, und Max hatte dazu riesige Wackelaugen und an der unteren Kante braunes und weißes Moosgummi aufgeklebt. Das Ding erinnerte Mine an irgendetwas, aber sie kam nicht drauf.

»Pikachu?«, fragte sie ins Blaue hinein.

Max‘ Strahlen wurde eine Spur blasser, als er den Kopf schüttelte.

»Stimmt«, bestätigte Mine. »Das ist nicht Pikachu. Das ist höchstens Pimatschu, so bematscht, wie der aussieht.«

Nun erlosch Max‘ Strahlen endgültig. Er schob die Unterlippe vor und wiederholte: »Hab ich für dich gemacht.« Ehe Mine etwas entgegnen konnte, drehte er sich um und stürmte in die Küche.

Das Abendessen verlief schweigsam. Zumindest, was Mine betraf. Max hingegen plapperte unaufhörlich und erzählte von irgendwelchen Schulfreunden, die offenbar neuerdings einen Wettbewerb daraus machten, wer sich die größte Kaugummikugel in den Mund stopfen konnte.

»Zehn Hubba Bubbas hat Marius geschafft und alle sagen, er hat gewonnen, obwohl ich elf drin hatte. Fabi hat aber gesagt, ich habe verloren, weil mir einer wieder rausgefallen ist. Stimmt aber nicht, das war nur Spucke. Fabi ist voll doof, aber die anderen lassen ihn immer bestimmen!« Wie zum Beweis, über welch enorme Ladekapazitäten sein Mundwerk verfügte, schob er sich ein großes Knäuel Nudeln in die Backen.

Angewidert ließ Mine die Gabel fallen. Klasse, dabei hatte sie sich so auf Nudeln mit Pesto gefreut.

»Schatz, schmeckt’s dir nicht?«, fragte ihr Vater besorgt. »Vielleicht zu viel Knofi?«

»Nein, alles super, wie immer.« Mine wies mit einem Kopfnicken auf ihren Bruder. »Aber wenn der noch weiterredet, wird mir schlecht.«

»Ach, hab dich doch nicht so«, verteidigte ihre Mutter ihn. »Kaugummis und Spucke, was ist denn daran schlimm?«

»Und er frisst wie ein Schwein.«

»Wilhelmine!« Empört fixierte ihre Mutter sie mit strengem Blick.

»Mine genügt«, verbesserte Mine sie kalt.

»Du entschuldigst dich sofort bei deinem Bruder!« Ihre Mutter deutete auf Max, in dessen Augen es verdächtig glitzerte.

»Sorry«, murmelte Mine betreten, worauf Max die Tränen zurückdrängte und sich wieder seinen Nudeln widmete.

»Das war im Sportunterricht«, fuhr er nach einer Weile fort. »Mama, ich brauch auch neue Turnschuhe. Meine alten tun an den Füßen weh. Da!« Er machte Anstalten, seinen Fuß auf die Tischplatte zu bugsieren und ihnen seine malträtierten Zehen zu präsentieren.

»Max, setz dich bitte anständig hin und iss«, beendete ihr Vater das Schauspiel, bevor Mine etwas Unfreundlicheres einwerfen konnte.

»Gut, du hast Montag wieder Sport, oder? Dann fährst du morgen eben mit nach Köln. Da kaufen wir dir welche«, schlug ihre Mutter vor.

Mine schüttelte ungläubig den Kopf. Hatte sie etwas verpasst? Stand heute Macht alle Mine fertig in der Zeitung? »Ich dachte, wir beide fahren morgen alleine shoppen!«, rief sie und stieß ihren Teller von sich.

»Es macht doch nichts, wenn er mitkommt! Na, was hältst du davon, Junior?« Ihr Vater schien die Idee auch zu feiern.

»Ja, ja! Super!«, krähte Max und warf die Arme in die Luft, wie ein Torschütze nach dem entscheidenden Treffer.

»Mama!« Mine spürte, wie die Wut langsam in ihr hochbrodelte. »Wir beide fahren alleine! Du hast es mir versprochen!«

»Aber er braucht doch neue Schuhe. Max hat …«

»Ja klar, Max! Immer nur Max!«, schrie Mine. »Ich bin euch doch scheißegal!«

»Das stimmt doch gar nicht«, widersprach ihr Vater.

»Ach, nicht? Die ganze Zeit hört ihr euch diesen Mist von Spucke, Kaugummi und was weiß ich nicht noch alles an. Aber fragt mich einer auch nur ein einziges Mal, wie es mir geht? Wie zum Beispiel mein Casting war?«

»Wie war denn dein Casting, Schatz?«, fragte ihr Vater in einem beinahe rührend lächerlichen Versuch zu retten, was nicht mehr zu retten war.

»Beschissen!« Mines Stuhl kippte hinten über, als sie auf die Füße sprang.

»Jetzt ist aber genug, junges Fräulein. Du gehst rauf in dein Zimmer.« Die Stimme ihrer Mutter bebte gefährlich vor mühsamer Beherrschung. »Und zwar sofort!«

Wortlos starrte Mine von einem zum anderen. Ihre Mutter erwiderte ihren Blick. Sie schien nur darauf zu warten, dass Mine etwas Falsches sagte. Ihr Vater versuchte ein aufmunterndes Lächeln und Max spielte mit seinen Nudeln, als sei nichts gewesen. Tränen schossen ihr in die Augen und ließen alles vor ihr verschwimmen. Nur mit Mühe konnte sie sie zurückdrängen. Oben. Gleich. Bloß nicht jetzt und hier heulen. Erhobenen Hauptes ging sie zur Tür hinaus. Die Klinke schon in der Hand drehte sie sich ein letztes Mal um.

»Ich wünschte, ihr würdet alle aus meinem Leben verschwinden«, presste sie so ruhig wie möglich hervor und schlug die Küchentür hinter sich zu. Noch vor dem untersten Treppenabsatz suchten sich ihre Tränen die erlösende Bahn.

Sie war nicht willkommen.

Weder bei Tilla oder Tizian noch in der Theater-AG und erst recht nicht in dieser sogenannten Familie. Diese glasklare Erkenntnis traf sie so hart, dass es ihr einen Herzschlag lang den Atem verschlug. Kraftlos sank sie auf die Bettkante. Hätte der Sattelschlepper sie doch heute Morgen erwischt, dann wäre allen wohler! War das wirklich erst ein paar Stunden her? Was sollte sie nur tun? Mit wem reden? Sie lehnte sich gegen das Kopfteil ihres Himmelbettes und zog ihr Handy aus der Tasche. Verzweifelt scrollte sie die Kontaktliste durch, doch bei jedem ihrer Einträge fiel ihr ein anderes Schimpfwort ein: Lügner, Heuchlerin, Schleimer, keiner von denen verdiente mehr ihr Vertrauen. Ihre beste Freundin und sogar ihre eigene Familie hatten sie verarscht. Und auch die anderen waren keinen Deut besser.

Sie rief ihre Musik-App auf, wählte Nightwish aus der Playlist aus und stopfte sich die Kopfhörer in die Ohren. Okay, wenn die anderen auf sie verzichten konnten, konnte sie das umgekehrt schon lange. Sollten doch alle auf Nimmerwiedersehen verschwinden, sie brauchte niemanden mehr. Trotzig rollte sie sich auf die Seite, zog die Knie vor die Brust und starrte auf das Display ihres Radioweckers, bis irgendwann endlich ihre Tränen versiegten und sie in einen unruhigen Schlaf fiel.

 

Verpennt. Das wusste Mine sofort, als sie die Augen aufschlug. Warum hatte sie den blöden Wecker nicht gehört? Und warum hatte ihre Mutter sie nicht geweckt? Weil du dummes Stück die Kopfhörer drin hattest, gab sie sich selbst die Erklärung und zog die Stöpsel aus den schmerzenden Ohren. Schon zwanzig vor neun, mit viel Glück schaffte sie es vielleicht noch zur dritten Stunde. Sicher würden alle fragen, was los war, und dafür hatte sie heute absolut keinen Nerv. Hastig wühlte sie frische Unterwäsche aus dem Schrank und hetzte ins Bad. Beim Blick in den Spiegel schreckte sie entsetzt zurück. Marilyn Manson bei Gewitter blickte ihr mit verquollenen Augen entgegen. Das schwarze Zeug musste auf jeden Fall runter, aber fürs Schminken blieb keine Zeit mehr.

Unter der heißen Dusche überlegte sie, womit sie die Verspätung erklären könnte, und entschied sich, etwas von einem dringenden Arztbesuch zu erzählen. Die Entschuldigung würde sie sich selber schreiben, die Unterschrift ihrer Mutter hatte sie ja seit der fünften Klasse drauf. Oder wollten sie dafür ein Attest?

Rasch schrubbte sie sich die Zähne, schlüpfte nach einem kurzen Schnuppertest in die Sachen von gestern und hastete nach unten. Beim Kühlschrank noch ein tiefer Zug Milch direkt aus der Packung, eine Handvoll kalter Nudeln von gestern Abend in den Mund gestopft, dann schnappte sie auch schon ihre Schultasche und rannte aus dem Haus. Hastig zerrte sie das alte Fahrrad ihrer Mutter aus der Garage, schwang sich auf den Sattel und strampelte los. Glücklicherweise begegnete ihr niemand in ihrem Viertel und so konnte sie eine Kreuzung nach der anderen ohne anzuhalten durchbrettern. Ihr Glück hielt auch in der Innenstadt an. Keine Autos, die sich durch die Straßen quetschten, keine Busse, keine Fußgänger, nichts. Umso besser, so konnte sie, ohne erwischt zu werden, die Abkürzung quer durch die Fußgängerzone nehmen.

Als sie an die Stelle kam, an der sie gestern um ein Haar der Sattelschlepper auf den Kühler genommen hatte, stutzte sie. Auch hier war die Straße menschenleer. War vielleicht heute irgendein Feiertag, von dem sie nichts mitbekommen hatte? Das wäre echt der Brüller der Woche: Sie strampelte sich hier einen ab, um noch halbwegs rechtzeitig zur Schule zu kommen, und in Wahrheit war heute frei. Das wäre ja so was von typisch für ihre Pechsträhne!

---ENDE DER LESEPROBE---