Zen und die Wiedergeburt der christlichen Mystik - Zensho W Kopp - E-Book

Zen und die Wiedergeburt der christlichen Mystik E-Book

Zensho W. Kopp

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Beschreibung

Dieses grundlegende Buch beschreibt mit einfachen, klaren Worten den Weg der spirituellen Verwirklichung im Geiste des Zen und der christlichen Mystik. Eingehend behandelt es alle wesentlichen Fragen des spirituellen Lebens und begleitet den Leser Schritt für Schritt auf seinem Weg zum wahren Selbst. Mit großer Lebendigkeit und schonungsloser Offenheit verweist es auch auf die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Erneuerung der christlichen Spiritualität, durch die Wiedererweckung der in Vergessenheit geratenen christlichen Mystik. Ein aufrüttelndes Buch von großem praktischen Wert für die heutige Zeit!

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Zensho W. Kopp

ZEN

und die Wiedergeburt der

christlichen Mystik

Ein Wegführer zum wahren Selbst

ZENSHO W. KOPP ist einer der bedeutendsten spirituellen Meister der Gegenwart. Er ist der direkte Dharma-Nachfolger von Zen-Meister Soji Enku (1908-1977) und Autor zahlreicher Zen-Bücher. Zensho unterweist eine große Gemeinschaft von Schülern und leitet in Wiesbaden das Zen-Zentrum Tao Chan.

Dieses grundlegende Buch beschreibt mit einfachen, klaren Worten den Weg der spirituellen Verwirklichung im Geiste des Zen und der christlichen Mystik. Eingehend behandelt es alle wesentlichen Fragen des spirituellen Lebens und begleitet den Leser Schritt für Schritt auf seinem Weg zum wahren Selbst. Mit großer Lebendigkeit und schonungsloser Offenheit verweist es auch auf die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Erneuerung der christlichen Spiritualität durch die Wiedererweckung der in Vergessenheit geratenen christlichen Mystik.

ISBN 978-3-8434-6266-2

Zensho W. Kopp:

Zen und die Wiedergeburt der christlichen Mystik

© 2010 Schirner Verlag, Darmstadt

Umschlaggestaltung: Michel Schmidt, Jörg Zimmermann;

E-Book-Erstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt, Germany

www.schirner.com

1. E-Book-Auflage 2016

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten

Inhalt

Vorwort

1 Die Allgegenwart des Einen Geistes

Der Geist als Schöpfer aller Dinge

Der Trug der Vielheit

Die allem zugrunde liegende Wirklichkeit

2 Vom Ichwahn zum wahren Selbst

Die Illusion der Persönlichkeit

Buddhas Lehre vom Anatman

Das wahre Selbst als das ewige »Ich bin«

3 Innere Umkehr

Die Suche nach dem Glück

Die Bewusstwerdung der Leerheit aller Erscheinungen

Entschlossenheit auf dem spirituellen Weg

Freisein von Vielsorgerei

Rückhaltloses Vertrauen

4 Im Angesicht des Todes

Nichts ist wichtig angesichts der Gegenwart des Todes

Die untrennbare Einheit von Leben und Tod

Keine Angst vor dem Tod

Der Moment des Sterbens

5 Sehnsucht nach direkter Gotteserfahrung

Gotteserfahrung nicht erst im Jenseits

Leerwerden zur Fülle des göttlichen Seins

Das Wirken der göttlichen Gnade

Das Loslassen aller Gottesvorstellungen

Die Befreiung von religiösen Zeichen und Symbolen

6 Vom nur gedachten Gott zur unaussagbaren göttlichen Wirklichkeit

Worte sind nur Wegweiser

Das Geheimnis jenseits der Schrift

Das innere Schweigen vor dem Unendlichen

7 Lebendige Christusnachfolge

Die Freude des Herzens

Vom Dogma zum gelebten Glauben

Der mystische Kreuzestod

An der Schwelle des mystischen Todes

8 Im Feuer der göttlichen Liebe

Das Licht des göttlichen Dunkels

Das Erwachen zur letzten Wirklichkeit

9 Die Suche nach dem Meister

Voraussetzungen zur wahren Schülerschaft

Die Notwendigkeit des Meisters

Die Gefahr der Pseudo-Gurus

Bewusstseinszerstörung durch Drogen

10 Meditation und gelebte Spiritualität

Verantwortungsvolle Meditationsschulung

Falsche Meditationspraxis

Zen im Alltag

11 Das Zen der alten chinesischen Chan-Meister

Die Begegnung zwischen Lin-chi und Huang-po

Direktes Deuten auf den Herz-Geist

12 Die Freiheit des Zen

Zen wird nicht durch Suchen erlangt

Persönliche Erfahrung ist alles im Zen

Zen-Meister Lin-chis mahnende Worte

Das Koan »MU«

Quellenverzeichnis

Glossar

Kontaktadresse

Vorwort

Der sich nach einer Antwort auf die Sinnfrage des Lebens sehnende Mensch unserer westlichen Kultur fühlt sich heute in seiner eigenen Religion nicht zu Hause. Er findet keinen Zugang mehr zu seiner in Veräußerlichung und Moral stecken gebliebenen christlichen Religion. Einer so geprägten und im Dogma erstarrten Verkündigung, die hauptsächlich dazu neigt, verwaltet zu werden, fehlt jedoch der spirituelle Impuls zur mystischen Inspiration. Es fehlt ihr die belebende Kraft zur gelebten Religion.

Die Berufung auf den Glauben und auf ein religiöses Bekenntnis kann dem nach wirklicher Gotteserfahrung Verlangenden nicht ausreichen. Er sehnt sich vielmehr nach religiöser Eigenerfahrung, nach dem Berührt- und Ergriffenwerden vom Göttlichen. Ihm geht es um lebendige Erfahrung und nicht um einen im äußeren Glaubensbekenntnis nur gedachten Gott, denn – wenn der Gedanke an ihn vergeht, vergeht auch der Gott – der nichts weiter als nur ein Gedanke war.

Das vorliegende Buch beschreibt den Weg zur spirituellen Verwirklichung im Geiste des Zen und der christlichen Mystik. Es legt die Essenz der Religionen frei, indem es die ihnen allen zugrunde liegende mystische Erfahrung als gemeinsamen Ursprung aufzeigt. So erweckt es auch in besonderer Weise die in Vergessenheit geratene christliche Mystik wieder zu neuem Leben. Denn sie birgt in sich ungeahnte geistige Schätze, die der heute von vielen westlichen Menschen bevorzugten östlichen Mystik in nichts nachstehen. Die intensive Auseinandersetzung mit der christlichen und der östlichen Mystik, insbesondere mit der tiefen Wahrheit des Zen, ließ mich erkennen, dass alle diese Wege in ihrer Essenz das Gleiche lehren.

Der Leitgedanke dieses Buches ist der Weg zur Befreiung – der Weg zum wahren Selbst –, der anhand zahlreicher Zitate der großen Meister des Zen wie auch der christlichen Mystik verstärkt hervorgehoben wird. Zusätzlich werden auch Beispiele aus heiligen Schriften der Inder, den Upanishaden und der Bhagavadgita, sowie dem chinesischen Taoismus angeführt.

Am Anfang des Buches steht eine grundlegende Einführung in die Natur des Geistes. Denn zu Beginn der spirituellen Praxis, besonders bei der Meditation, ist ein erstes theoretisches Verständnis davon, was der Geist ist, unerlässlich. Im tibetischen Buddhismus sagt man, Meditation ohne konkrete Sichtweise sei wie das Umherirren eines Blinden in der Wüste. Da der Geist die Basis unseres gesamten Erlebens ist, ist es für die spirituelle Praxis sehr wichtig, eine gewisse Vorstellung vom Wesen des Geistes zu haben. Ohne eine Ahnung davon, wie der Geist wirklich ist, laufen wir sonst Gefahr, uns in der Meditationspraxis im Kreis zu drehen und die spirituelle Verwirklichung zu verfehlen.

Aus eigener Erfahrung und durch langjähriges Anleiten von Schülern weiß ich, dass ohne wirkliches Bemühen kein Fortschritt auf dem geistigen Weg möglich ist. Deshalb wendet sich dieses Buch an alle ernsthaft geistig Suchenden, die das aufrichtige Verlangen nach konsequenter und sicherer spiritueller Führung haben. Die Absicht war, den Leser aufzurütteln, so dass er, wenn er sich ganz auf das Buch einlässt, am Ende vielleicht ein anderer sein wird, als er zu Beginn der Lektüre war.

Es möchte den Wahrheitssuchenden zu jener inneren Erfahrung hinführen, wo Buchwissen durch die Weisheit des Herzens und der Glaube an einen nur gedachten Gott durch die Erleuchtung des eigenen Geistes ersetzt wird.

Wiesbaden, Mai 2004           Zensho W. Kopp

Du, oh Gott, hast uns zu Dir hin erschaffen und deshalb ist unser Herz unruhig, bis es ruht in Dir.

Aurelius Augustinus (5. Jh.)

1 Die Allgegenwart des Einen Geistes

Der Geist als Schöpfer aller Dinge

Die Allgegenwart des Einen Geistes durchdringt das ganze Universum. Aller Wechsel und Wandel ist die fortschreitende Selbstentfaltung und Selbstverwandlung dieses Allgeistes, ist die Bewusstwerdung des unaussagbaren göttlichen Urgrundes. Die ganze unendliche Vielfalt der äußeren Erscheinungswelt ist somit die Manifestation dieses einen allumfassenden Geistes, und das Universum seine Offenbarung. Diese dynamische Natur des Universums erstreckt sich vom kleinsten Atom bis in die großen Dimensionen der Galaxien. Alles befindet sich in unaufhörlicher Bewegung, die aber letztlich nur im Geist stattfindet.

Der Geist ist die Grundlage von allem, »aus ihm, durch ihn und in ihm sind alle Dinge« (Röm 11,36), und außerhalb des Geistes existiert überhaupt nichts.

In dem Augenblick, wenn wir unsere geistige Blickrichtung vom Äußeren abkehren und in der meditativen Schau nach innen wenden, werden wir erkennen, dass dieser Eine Geist unser wahres göttliches Selbst ist. Im Dunkel des Herzens, in unserem Allerinnersten, leuchtet er als ein strahlendes Licht, das gleich einer ewigen Flamme das ganze Universum erleuchtet. Dieses, unser »wahres Wesen« ist die allen unseren Erfahrungen zugrunde liegende Wirklichkeit. Es ist weder kommend noch gehend; allgegenwärtig, still und rein und außerhalb von Raum und Zeit. Als die reine Ur-Quelle allen Seins ist es ungeboren und unzerstörbar.

Doch diese unsere ursprüngliche göttliche Natur ist stets von einer Vielzahl von Leidenschaften und Vorstellungen überdeckt. Das ununterbrochene Fließen des ständig Begriffe fabrizierenden Verstandes und unsere tief verwurzelten Denkgewohnheiten legen einen dunklen Schatten auf unser wahres Selbst. Fasziniert von diesem Schauspiel auf der Oberfläche unseres Bewusstseins, sind wir unfähig, uns davon zu lösen, und so befinden wir uns im Zustand der Verdunkelung und Verwirrung des Geistes. Wir sind in unseren eigenen Projektionen gefangen und halten sie für eine Realität, die getrennt von uns existiert.

Durch diese Fehlwahrnehmung geblendet, können wir die Wirklichkeit unseres wahren Seins nicht mehr wahrnehmen, und so wandern wir verloren im Samsara, dem Kreislauf von Geburt, Altern, Verzweiflung, Krankheit, Schmerz und Tod. Solcherart gefangen im Traum einer vermeintlichen, vielheitlichen Welt, haben wir uns selbst verloren und wissen nicht mehr, wer wir sind. Da diese Traumwanderung jedoch nur eine »Vision« ist, können wir von einem wirklichen Geschehen, als einem tatsächlichen Ereignis, nicht sprechen. Wir glauben zwar, uns in einer dreidimensionalen, vielheitlichen Welt von Raum und Zeit zu bewegen, in Wirklichkeit jedoch bewegt sich nur der Geist. Der Geist ist die Grundlage von allem, der Samsara findet nur im Geist statt. Das ganze Universum in seiner unendlichen Vielfalt und alle die verschiedenen Wesen sind nichts anderes als »Geist«, neben dem nichts anderes existiert. Im Lankavatara-Sutra, einer der bedeutendsten Schriften des Mahayana-Buddhismus, heißt es:

Was außen zu sein scheint, existiert in Wirklichkeit nicht; es ist tatsächlich nur der Geist, der in der Vielfältigkeit erblickt wird; Körper, Besitz und Welt – sie alle sind nichts als Geist.1

Alles, was wir in der Welt wahrnehmen, auch die scheinbare Festigkeit der Substanz, ist demnach nichts anderes als die illusorische Vorstellung des Geistes. Der Geist ist der Schöpfer aller Dinge. Und da auch unser Körper ein Teil dieser Welt ist, müssen wir konsequenterweise folgern, dass er ebenfalls nichts anderes als eine Vorstellung ist. Er ist nichts anderes als eine besondere Auswirkung unseres Karma. Unser Körper ist somit die sichtbar gewordene Erscheinung unseres früheren Bewusstseins, welches diese Form entsprechend seiner besonderen Neigungen in vorausgegangenen Leben verursacht hat. Seine scheinbare Materialität und Festigkeit ist eine Illusion aufgrund der unvorstellbar schnellen Bewegung seiner atomaren Bestandteile, die natürlich ebenfalls rein mental zu sehen sind.

Das, was wir im Allgemeinen als die Realität unserer Außenwelt bezeichnen, hat in Wirklichkeit nicht mehr Substanz als ein Traumgebilde. Alle Traumgeschehnisse geschehen nicht wirklich – sie sind nur Manifestationen des Geistes. Obwohl verschiedene Formen, Geräusche, Gerüche, Berührungen, Menschen, Tiere und Häuser in den Traum hineinprojiziert werden, haben sie doch keine Wirklichkeit.

Und so heißt es im Mahayana-Samparigraha, einem Grundriss der buddhistischen Mahayana-Lehre aus dem vierten Jahrhundert:

Das Prinzip der »Nur-Geist-Lehre« kann veranschaulicht werden durch einen Vergleich mit dem Traum und dem Träumer. Solange man noch nicht Erleuchtung erlangt hat und zur wahren Weisheit erwacht ist, entspricht die Situation vollkommen jener, in der das Träumen nicht erkannt wird, weil man noch träumt. Solange man aus dem Traum des Samsara (dem Kreislauf von Geburt und Tod) noch nicht erwacht ist, kann man die tiefe Wahrheit der »Nur-Geist-Lehre« nicht wirklich verstehen.2

Die einzige Welt, von der wir überhaupt sprechen können, ist die Welt unserer Erfahrung. Wenn wir aber meinen, durch die sinnliche Wahrnehmung einer äußeren Welt auch auf ihr tatsächliches Vorhandensein schließen zu können, befinden wir uns im Irrtum. Der einzige Beweis, den wir hier erbringen können, ist der der Funktionsfähigkeit unserer Sinne. Denn alles, was wir als Materie bezeichnen, ist nichts anderes als eine Dimension des Geistes, die uns als Materie erscheint, weil wir Widerstand, Form, Sichtbarkeit und dergleichen als Materie definieren. In Wirklichkeit ist es jedoch unmöglich, die Gegenstände unserer Wahrnehmung zu berühren. Wir können nur Tastempfindungen beschreiben, Widerstände fühlen, Formen sehen usw. – dies hat aber mit Materie nicht das Geringste zu tun. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine Anzahl von Sinneswahrnehmungen, die wir mit dem Begriff Materie benennen.

Da wir die Welt nur mittels unserer Sinne und des Bewusstseins wahrnehmen, müssen wir uns eingestehen, dass wir nur von einer subjektiv erfahrenen Welt, als einer Vorstellung, reden können. Und dies bedeutet in letzter Konsequenz: Die Welt ist nichts anderes als »unsere Vorstellung«.

Der Trug der Vielheit

Alles, was wir als die vielfältige Welt wahrnehmen, ist eine Idee, eine Vorstellung in unserem Geist, die aber nicht von unserem individuellen Geist geschaffen wird. Vielmehr nimmt er nur daran teil, das heißt die Vorstellungen der materiellen Objekte werden ihm gegeben. Da es in Wirklichkeit jedoch keine verschiedenen Arten von Geist gibt, müssen wir konsequenterweise folgern, dass die vielen individuellen Geister nur scheinbare Teile eines einzigen unteilbaren Geistes sind.

Denn wenn der in jedem individuellen Wesen anwesende Geist ein besonderer Geist wäre, dann wäre es nicht möglich, dass zwei Menschen die gleiche Welt in gleicher Weise wahrnehmen können. Jeder Einzel-Geist müsste seine eigene, von allen anderen Einzel-Geistern getrennte, unterschiedliche Weltwahrnehmung haben. Da aber jede, durch unsere geistige Verblendung bedingte, vielheitliche Wahrnehmung eine Täuschung ist, müssen wir daraus schließen, dass es nur ein einziges Sein gibt. Jede dualistische Sicht ist eine Täuschung, die mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt. Die Wirklichkeit ist in jedem Augenblick so, wie sie ist, vollkommen. Es gibt nur ein einziges Sein und somit nur ein einziges Selbst als die alleinige Wirklichkeit des Einen Geistes, und keine einzelnen, von ihm getrennten, für sich bestehenden »Einzel-Selbste«. Wir wollen versuchen, dies an einem Beispiel zu verdeutlichen.

Stellen wir uns einmal bildlich vor, wir Menschen wären im unendlichen Weltraum schwebende, buntschillernde Seifenblasen. Der Bereich innerhalb wie außerhalb jeder Seifenblase ist die grenzenlose unendliche Weite des Weltraums.

Ob sich in dieser unendlichen Weite nun hundert, tausend oder millionen Seifenblasen befinden, so können wir doch nicht von einer wirklich vorhandenen Vielheit von einzelnen Räumen innerhalb der Seifenblasen sprechen. Jede räumliche Unterscheidung ist nur eine scheinbare. In Wirklichkeit gibt es nur die eine unendliche Weite des Weltalls. Aber in ihrem durch die Verdunkelung des Geistes bedingten Zustand des Nichtwissens glaubt sich jede Seifenblase im Besitz eines eigenen Innenraums und erlebt sich so als ein von allen anderen Seifenblasen getrenntes Einzelindividuum. In dem Augenblick aber, wenn sie das trügerische Spiel durchschaut und platzt, existiert nichts anderes mehr als die eine grenzenlose Wirklichkeit des Alls. Dieser Vergleich macht deutlich, dass die sich unseren Sinnen darbietende Wahrnehmung einer vielheitlichen, äußeren Welt eine Täuschung und somit eine »Fehlwahrnehmung« ist.

Die vom Durchschnittsmenschen erkannte Welt ist daher nichts anderes als die vom Egobewusstsein begrenzte und als Vielheit fehlinterpretierte Wahrnehmung des unteilbaren Seins. Das Egobewusstsein verhält sich hierbei wie ein Magier, der uns eine Welt erfahren lässt, die in Wahrheit nicht vorhanden ist. Geblendet von diesem Trug einer vermeintlichen, vielheitlichen Welt, ist es uns somit nicht mehr möglich, unser wahres Selbst als die allen unseren Erfahrungen zugrunde liegende göttliche Wirklichkeit zu erkennen.

Je mehr wir uns aber, losgelöst von allem Äußeren, dem inneren Licht des Geistes zuwenden, werden wir unser wahres Selbst als das allen Wesen gemeinsame Selbst erfahren. Mit den Worten des weisen Sehers Vamadeva in der Brihadaranyaka Upanishad, einer der heiligen Schriften der Inder, können wir dann sagen:

Ich bin das Selbst der ganzen Menschheit, wie der Sonne. Wer Brahman – den göttlichen Allgeist erkennt, der weiß, dass er das Selbst in allen Wesen ist. Sogar die Götter könnten ihm kein Leid zufügen, ist doch sein inneres Selbst auch das ihre.3

In der Sprache der christlichen Mystik: »Alles ist erfüllt von der Fülle Gottes« (Eph 3,19), wie der Apostel Paulus im Neuen Testament sagt. Es gibt nichts außer Gott. Er entfaltet sich in allem was ist, er ist das innerste Prinzip alles Seienden. Die Allgegenwart des Einen Geistes ist die überall und in allem anwesende Gegenwart des Heiligen Geistes, und das Universum ist seine Offenbarung. Es wird von Ihm »ausgeatmet«, wie die indischen Upanishaden es ausdrücken, über den unvorstellbar langen Zeitraum eines Mahamanvantara hinweg, um dann für eine ebenso lange Periode der Ruhe wieder eingeatmet zu werden.

Die Hindutradition spricht hier vom Ruhen und Träumen Brahmans – des allem zugrunde liegenden göttlichen Allgeistes. Ruht Brahman im traumlosen Schlaf, so gibt es kein Weltall. Es existiert dann keine Vielfalt der Erscheinungen, kein Denken und kein individuelles Bewusstsein. Es gibt dann nur noch das eine reine Bewusstsein des Einen Geistes. Wechselt Brahman aber von der Traumlosigkeit zum Traum über, dann erhebt sich in diesem Traum das ganze Universum mit seinen vielfältigen Erscheinungen. In der Bhagavadgita, die als das »Evangelium« des Hinduismus gilt, beschreibt Gott Krishna diesen rhythmischen Zyklus der Schöpfung mit folgenden Worten:

Am Ende der Nacht der Zeit kehren alle Dinge zu mir zurück, und wenn der neue Tag der Zeit beginnt, bringe ich sie wieder ans Licht. So bringe ich alle Schöpfung hervor, und diese rollt umher in den Kreisen der Zeit. In diesem Schöpfungswerk bringt die Natur alles hervor, was sich bewegt und was sich nicht bewegt: Und so gehen die Kreisläufe der Welt rundherum.4

Dieser Schöpfergeist ist die ewig selbstseiende Urwesenheit des göttlichen Seins. Er ist ein einziges, großes erleuchtendes Ganzes, allgegenwärtig, vollkommen, still und rein. Er ist wie ein alles umschließender Spiegel, von dem die Berge und Flüsse der Erde und Himmel, Sonne, Mond und Sterne wie Spiegelbilder projiziert werden. Im Shraddhotpada-Shastra, einer buddhistischen Schrift aus dem zweiten Jahrhundert, heißt es:

Alle Dinge in der Welt sind unwirklich und trügerisch; es sind nur Projektionen des Geistes. Gleich den Bildern, die in einem Spiegel erscheinen, entbehren auch alle Dinge in Wirklichkeit jeder wahren Substantialität; sie sind unwahr, illusionär und »Nur-Geist«.5

In unserem Erwachen aus dem Traum einer äußeren Erscheinungswelt, eingespannt in der Illusion von Raum und Zeit, werden wir erkennen, dass der Eine Geist unser wahres göttliches Selbst ist und dass es in Wirklichkeit keine verschiedenen, individuellen Geister gibt. Der individuelle Geist ist letztlich nichts anderes als der durch das dualistische und somit eingrenzende Denken hervorgerufene »mikrokosmische Teilaspekt« des kosmischen Geistes.

Es ist, als schauten wir durch einen Strohhalm hindurch in den Himmel und hielten das solcherart begrenzte Wahrnehmungsfeld für den ganzen Himmel. In einem alten indischen Gleichnis wird die Situation des in seiner verengten Betrachtungsweise gefangenen Menschen mit einem Frosch im Brunnen verglichen.

Ein Frosch lebte seit langer Zeit in einem alten Brunnen, der sich am Rande des Meeres befand. Er wurde in ihm geboren und aufgezogen.

Eines Tages fiel ein Fisch, der aus dem Meer gesprungen war, in den Brunnen. Als der Frosch sich von seinem ersten Schreck erholt hatte, fragte er vorsichtig den Neuankömmling: »Was bist denn du für ein sonderbares Wesen und wo kommst du denn her?« Der Fisch antwortete: »Ich bin ein Fisch und komme aus dem Meer.« – »Vom Meer?« fragte der Brunnenfrosch ganz erstaunt. »Wie groß ist denn das Meer?« – »Sehr groß«, gab der Fisch zur Antwort. Der Frosch streckte seine Füße aus und fragte: »Ist das Meer so groß?« – »Es ist viel größer!« sagte der Fisch. Da hüpfte der Frosch mit einem gewaltigen Sprung von der einen Seite des Brunnens zur anderen hin: »Ist es etwa so groß?«

»Mein Freund«, sprach da der Fisch, »das Meer ist so groß, dass du es nicht mit deinem Brunnen vergleichen kannst.« – »Jetzt hast du dich verraten, du Lügner!« rief da der Frosch, »denn etwas Größeres als meinen Brunnen kann es gar nicht geben!«

Solange wir unser wahres Wesen des unbegrenzten überweltlichen Geistes mit allen Arten von Begriffen und Vorstellungen überdecken, befinden wir uns in diesem bedauernswerten Zustand der Bewusstseinsverengung. Die Folgeerscheinung ist, dass wir nur noch einen winzigen Ausschnitt, einen kleinen Aspekt der gesamten Wirklichkeit, erfassen können. Die grenzenlose Weite des Geistes hat sich so zum kleinen Kreis des individuellen Bewusstseins verengt. In diesem Zustand der Bewusstseinsverengung ist sich der Mensch der Universalität seines Geistes nicht mehr bewusst, und so fristet er ein kümmerliches Dasein im Schattendunkel der Maya – dem großen Trugbild einer scheinbar äußeren Erscheinungswelt.

Die allem zugrunde liegende Wirklichkeit

Wir sind wie der alte Bettler, der in einer alten, zerfallenen Hütte lebt und schließlich vor Hunger stirbt, ohne zu ahnen, dass sich unter seinen Füßen ein wertvoller Schatz befindet. Bodhidharma, der legendäre erste Patriarch des Zen aus dem sechsten Jahrhundert, hat diese unsere Situation sehr treffend geschildert:

Die Menschen dieser Welt suchen Buddha in weiter Ferne. Sie wissen nicht, dass Buddha das Wesen ihres eigenen Geistes ist.6

Wir Menschen sind in unserem tiefsten Wesen Buddha. Das heißt, wir sind nichts anderes als der Eine Geist, die ewig unwandelbare Buddha-Wesenheit, die übersinnliche Quelle des gesamten Kosmos. Wir sind Söhne und Töchter des Allerhöchsten. Wir sind Licht vom Licht, welches als unser wahres Selbst in der Finsternis leuchtet, wie das Johannesevangelium sagt:

Das Licht leuchtet in der Finsternis, aber die Finsternis hat es nicht erkannt. (Joh 1,5)

Es ist das innere Licht, das im Augenblick unseres Erwachens aus dem Traum einer vermeintlichen, vielheitlichen Welt wie die Sonne in der Leere aufsteigt und das ganze Weltall mit seinem Glanz erleuchtet.

Aber die Menschen können den Zustand ihres »ursprünglichen Erleuchtetseins« nicht wahrnehmen, da sie nur das für Geist halten, was denkt, fühlt und wahrnimmt. Die meisten sind sogar der Ansicht, der Geist sei nichts anderes als eine Folgeerscheinung der Gehirntätigkeit innerhalb der knöchernen Schale ihres Schädels. Sie sind fest davon überzeugt, dass unser Gehirn mittels komplexer neurologischer Vorgänge den Geist produziert. Und so betrachten solche materialistisch denkenden Rationalisten den Geist als ein Resultat von biochemischen Prozessen in den Hirnzellen.

In Wahrheit jedoch verhält es sich genau umgekehrt. Das Gehirn ist nichts weiter als eine materielle Verdichtung geistiger Energie, und der Geist ist demzufolge nicht die Folgeerscheinung, sondern die »Ursache« alles Seienden und somit auch der Gehirntätigkeit.

Dieser Geist ist der allen unseren Erfahrungen zugrunde liegende universale Urgrund. Er ist der kosmische Brennpunkt des Bewusstseins in seiner Gesamtheit. Er ist die unwandelbare göttliche Wesenheit und der Schöpfer aller Dinge. Wenn auch »aus ihm, durch ihn und in ihm« (Röm 11,36) das ganze Weltall sein Bestehen hat, so ist er doch seiner wesenhaften Natur nach still, rein und leer. Mögen sich in ihm auch noch so viele Bewegungsabläufe vollziehen, so bleibt er trotz allem stets unbewegt. Nichts vermag ihn zu beflecken, und nichts vermag seinen unendlichen Glanz zu vermindern. Deshalb sagt der chinesische Zen-Meister Huang-po im neunten Jahrhundert:

Unser ursprüngliches Buddha-Wesen ist, vom Standpunkt der höchsten Wahrheit, ohne das geringste Teilchen von Gegenständlichkeit. Es ist leer, allgegenwärtig, still und rein. Es ist herrliche und geheimnisvoll friedvolle Freude – nichts anderes. Dringe tief in es ein, indem du selbst dazu erwachst.7

Solange wir aber noch durch unser Nichtwissen geblendet sind, können wir diese geistige Herrlichkeit unseres wahren Wesens nicht erkennen. So sind wir eingeschlossen im Bereich der trugvollen Erscheinungen der Maya. In unserer Identifikation mit einer scheinbaren äußeren Erscheinungswelt sind wir nicht mehr fähig, die Täuschung zu durchschauen und uns auf unseren ursprünglichen Zustand zu besinnen. Diese geistige Verblendung ist die eigentliche Ursache für den verhängnisvollen Irrtum, der den Menschen annehmen lässt, dass er ein gesondertes Ich, eine reale, selbständige Person sei. Dieses Nichtwissen führt zur Anhaftung, die ihrerseits wiederum das Egobewusstsein festigt und uns so an den Kreislauf von Geburt und Tod ankettet.

In Wahrheit jedoch ist eine für sich bestehende Person genauso wenig vorhanden wie eine äußere Welt, in der sie sich zu befinden glaubt.

2 Vom Ichwahn zum wahren Selbst

Die Illusion der Persönlichkeit

Wenn wir das, was wir im Allgemeinen als unsere menschliche Persönlichkeit betrachten, einer genauen philosophischen Analyse unterziehen, werden wir feststellen, dass es sich bei dieser »Persönlichkeit« um nichts anderes als um einen »bloßen Prozess« psychisch-physischer Phänomene handelt, dem in Wirklichkeit nicht mehr Substanz zukommt als einem Traum oder einer Schaumblase auf der Oberfläche des Meeres.

Nach buddhistischer Auffassung besteht der Mensch in seiner physisch-psychischen Erscheinung aus einer ständig wechselnden Kombination von einzelnen »Daseinsfaktoren«, die in funktioneller Abhängigkeit voneinander entstehen und wieder vergehen, um neuen, nachfolgenden Daseinsfaktoren Platz zu machen. Diese Daseinsfaktoren werden in fünf Gruppen, die sogenannten Skandhas, eingeteilt, die in der Reihenfolge abnehmender Dichtigkeit und Materialität aufgezählt werden als: Körperlichkeit, Empfindungen, Wahrnehmungen, Geistesregungen und Bewusstsein. Es darf jedoch keine dieser Skandhas, noch die Skandhas in ihrer Gesamtheit, als ein für sich bestehendes, eigenständiges Selbst betrachtet werden, auch nicht das Bewusstsein, das in seiner Feinheit unserer Vorstellung einer Seele am nächsten kommt.

In Wahrheit besitzen die Daseinsfaktoren überhaupt keine Wirklichkeit und haben nur ein momentanes, schnell dahinschwindendes Dasein. Die einzelnen Momente aller Prozesse geistigen und physischen Lebens verändern sich ständig ohne Unterbrechung, und zwar so schnell, dass der Wechsel von uns nicht bemerkt wird. Es existiert somit nichts anderes als eine Kette von Momentexistenzen und -kombinationen, in der Weise schnell aufeinander folgender Bewusstseinsblitze. Alle einem Individuum und der von ihm erlebten Erscheinungswelt zugehörigen Daseinsfaktoren währen nur einen kurzen Augenblick – und im nächsten Moment ist von dem, was soeben ins Dasein trat, schon nichts mehr da.

Empfindungen, Wahrnehmungen und Geistesregungen bilden nur die verschiedenen Erscheinungsweisen jener ununterbrochen aufeinander folgenden, einzelnen Bewusstseinsmomente, die mit unvorstellbarer Geschwindigkeit alle Augenblicke aufblitzen, um im selben Moment für immer zu verschwinden.

Durch unsere Identifikation mit diesen in funktioneller Abhängigkeit voneinander entstehenden und wieder vergehenden kurzen Bewusstseinsmomenten entsteht dann die Wahnidee einer gesonderten Persönlichkeit. Über die »Nicht-Persönlichkeit« und »Leerheit« dieses sich in rastloser Bewegung befindenden Skandha-Prozesses sagt Buddha:

Angenommen ein Mann betrachte sich die vielen Wasserblasen auf dem Ganges, und er beobachtete und untersuchte sie gründlich; nachdem er dies getan habe, erschienen ihm diese leer, unwirklich und ohne Substanz. In derselben Weise betrachtet der Mönch alles Körperliche, alle Empfindungen, Wahrnehmungen, Geistesregungen und alles Bewusstsein, ob vergangen, gegenwärtig oder zukünftig, eigen oder fremd, fern oder nah, und er erkennt sie als leer, nichtig und wesenlos. Und so sagt er sich: »Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst.«8

Haben wir erst einmal erkannt, dass die den Persönlichkeitswahn bildenden Daseinsfaktoren nicht unser wahres Selbst sind, brauchen wir den Tod dieser auch nicht zu fürchten – ganz im Gegenteil! Würde doch der Untergang der Daseinsfaktoren für den von aller Identifikation Befreiten den Aufgang des inneren Lichtes bedeuten. Hierzu sagt Zen-Meister Huang-po:

Könnte der gewöhnliche Mensch, wenn er im Sterben liegt, nur die fünf Daseinsfaktoren als leer erkennen und ganz erfassen, dass sie nicht ein »Ich« bilden, dass der wahre Geist ohne Form ist und weder kommt noch geht, dass sein Wesen weder mit der Geburt beginnt noch mit dem Tod vergeht, sondern ganzheitlich und unbeweglich in seinen Tiefen ist, und dass der Geist eins ist mit den Erscheinungen der Umwelt – dann würde er blitzartig Erleuchtung erlangen.9

Buddhas Lehre vom Anatman

Im Hinblick auf grobe Fehldeutungen der Skandha-Lehre, die zum Fundament aller buddhistischen Schulen gehört, muss hier gesagt werden, dass Buddha niemals gelehrt hat, es gäbe kein Selbst außerhalb dieses Komplexes unpersönlicher Daseinsfaktoren. Vielmehr verkündete er, dass innerhalb der Daseinsfaktoren ein für sich bestehendes Selbst, im Sinne eines beständigen, den Tod überdauernden und sich reinkarnierenden Ichs, nicht aufzufinden ist. Unter allen Lehren, die er verkündete, ist diejenige vom »Nicht-Ich«, dem Anatman, die am meisten missverstandene.

Buddhas Lehre vom Anatman richtet sich in Wahrheit gegen die Vorstellung einer für sich bestehenden Persönlichkeit. Es ist jene Wahnvorstellung, die die Menschen narzisstisch zu einer Art Selbstfesselung treibt, indem sie ihr »Selbst« als ein von allem anderen abgegrenztes, in sich beschlossenes »Ego« verstehen. Buddha ging es darum, zu einer Selbsterfahrung hinzuführen, die nicht egoistisch-egozentrisch an sich selbst festhält, sondern vielmehr erst in der Loslösung von sich selbst, im »Nicht-Ichwahn«, zur Verwirklichung kommt. Denn solange der Mensch noch in der Vorstellung lebt, sein Selbst bestehe in der Gegenüberstellung zu anderen Selbsten, überdeckt er gerade durch diese Wahnvorstellung das wahre ewige Selbst.

Wogegen Buddha sich verwehrte, war tatsächlich nichts anderes als die Gleichsetzung dieses wahren Selbst mit dem durch die Identifikation mit den Daseinsfaktoren, den Skandhas, hervorgerufenen »Ichwahn«. Durch diese Verwechselung der universellen Grundlage des menschlichen Bewusstseins mit dem illusorischen, vom Nichtwissen erzeugten Egobewusstsein sah sich Buddha gezwungen, den Begriff des Atman (Selbst) durch den des Anatman (Nicht-Selbst), im Sinne von non-ego (Nicht-Ich), zu ersetzen.

Es ist aber vollkommen falsch, wenn man glaubt, hieraus folgern zu müssen, die Atman-Lehre der Upanishaden sei mit dem Ichwahn gleichzustellen. Der buddhistische Gelehrte Daisetz Taitaro Suzuki meint hierzu:

Zu sagen, es gibt keinen Atman, ist nicht genug. Wir müssen einen Schritt weiter gehen und sagen, dass es einen Atman gibt: aber, dass dieser Atman nicht auf der Ebene des Relativen, sondern auf der des Absoluten ist.10

Die Leugnung eines illusorischen und begrenzten Ichs mit der Leugnung des Ewigen im Menschen gleichzusetzen, ist eine grobe Fehldeutung der Aussagen Buddhas. Buddhistische Autoren, die schreiben, dass es über die Skandhas hinaus nichts geben könne, was den Tod überdauert, maßen sich an zu lehren, was Buddha niemals gelehrt hat. Wenn wir wirklich begreifen wollen, was Buddha meinte, als er seine Lehre vom Anatman verkündete, müssen wir alle philosophischen Spekulationen weit hinter uns lassen und uns unserer inneren Erkenntnisquelle, dem Atman, selbst zuwenden.

Hier erst wird sich uns jenes unaussprechliche Geheimnis enthüllen, das jenseits aller Benennung von Sein oder Nicht-Sein sich als unser wahres Wesen offenbart. In der Katha Upanishad heißt es deshalb:

Kein Auge je gewahrt ihn, denn er ist nicht von sichtbarer Gestalt. Im Herzen aber ist er zu erkennen durch tiefe Andacht. Wer dort ihn hat geschaut, der ist unsterblich.11

Dadurch, dass Buddha lehrte, dass es ein für sich bestehendes, von allem abgegrenztes Einzel-Selbst nicht gibt, hat er dem Selbst das Sein nicht genommen. Ganz im Gegenteil! So sagt auch der bedeutende buddhistische Gelehrte und Autor Lama Anagarika Govinda:

Buddha ist das Symbol des vollkommenen Menschen, der des Göttlichen in sich bewusst geworden ist und es in sich verwirklicht hat.12

Solange wir uns noch fragen, ob wir einen besonderen Geist, ein Selbst oder eine Seele besitzen oder nicht, so liegt schon bereits in der zwischen Bejahung und Verneinung unterscheidenden, dualistischen Art der Fragestellung der entscheidende Fehler.

Es geht hier nicht um einen Geist oder ein Selbst in der Form des Habens, sondern um die unteilbare Wirklichkeit des Einen Geistes in der Form des »Seins«. Die jenseits aller menschlichen Begriffe liegende, unaussprechliche Wirklichkeit des Seins ist jenes ungeborene, ewige, unwandelbare Selbst, das die Grundlage aller unserer Erfahrungen ist. Dieses ungeborene »wahre Selbst« wird im Urbuddhismus am klarsten mit den Worten Buddhas bezeugt:

Es gibt, ihr Mönche, ein Ungeborenes, Ungewordenes, Ungemachtes, Unzusammengesetztes.

Gäbe es dieses nicht, so gäbe es auch kein Entrinnen aus der Welt des Geborenen, des Gewordenen, des Gemachten, des Zusammengesetzten.13

Wir sind uns bewusst, dass unser Körper einen Anfang hat und demzufolge dazu bestimmt ist, sich eines Tages aufzulösen. Aber dies betrifft nicht unser »wahres Selbst«, das ungebunden und unbegrenzt ist und somit nicht berührt wird von den Veränderungen der Erscheinungswelt, der dieser Körper mit allem Psychischen angehört. In der Katha Upanishad lesen wir:

Dieses ewige Selbst wird niemals geboren,

noch stirbt es jemals.

Es kommt von nirgendwoher

und wird nicht zu etwas.

Ungeboren, immerwährend, unsterblich ist es.