Zerbrochenes Vertrauen - Catherine McKenzie - E-Book

Zerbrochenes Vertrauen E-Book

Catherine McKenzie

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Beschreibung

Auf der Suche nach einem Neuanfang ist Julie durch das halbe Land gereist. Und das beschauliche Mount Adams scheint genau der richtige Ort für ihre Familie zu sein. Sie hat nicht erwartet, dort einem Mann zu begegnen, der sie so sehr fasziniert. Immer wieder trifft sie sich mit dem verheirateten John und testet die Grenzen von Liebe und Vertrauen aus. Bis sie eines Tages erkennen muss, dass ihr Handeln ungeahnte Folgen hat.

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Seitenzahl: 474

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Das Buch

Auf der Suche nach einem Neuanfang ist Julie durch das halbe Land gereist. Und das beschauliche Mount Adams scheint genau der richtige Ort für ihre Familie zu sein. Sie hat nicht erwartet, dort einem Mann zu begegnen, der sie so sehr fasziniert. Immer wieder trifft sie sich mit dem verheirateten John und testet die Grenzen von Liebe und Vertrauen aus. Bis sie eines Tages erkennen muss, dass ihr Handeln ungeahnte Folgen hat.

Die Autorin

Catherine McKenzie lebt mit ihrem Ehemann im kanadischen Montreal. Sie studierte Geschichte und Jura und arbeitet heute als Anwältin. Nebenbei bloggt sie für The Huffington Post.

Mehr über die Autorin unter www.catherinemckenzie.com.

CATHERINE

MCKENZIE

ZERBROCHENES

VERTRAUEN

Roman

Aus dem Englischen von Marie Rahn

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe Fractured erschien 2016 bei Lake Union Publishing

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 02/2018

Copyright © 2016 Catherine McKenzie

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Claudia Krader

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München, unter Verwendung eines Motivs von © Stocksy/Daren Wanderer

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-21398-5V001

www.heyne.de

Für Abigail Koons

HEUTE

John

6.00 Uhr morgens

Ich bin mir nicht sicher, was mich dazu brachte, jeden Morgen am Vorderfenster Wache zu halten.

Wahrscheinlich etwas ganz Harmloses. Jedenfalls werde ich das sagen, wenn man mich später fragt. Was auch der Grund gewesen sein mochte, mittlerweile habe ich das Gefühl, ich hätte meinen Tag schon immer so angefangen. In Boxershorts, mit dem Kaffeebecher in der Hand und Blick auf das Nachbarhaus. Und würde ihn auch weiterhin so beginnen, obwohl ich weiß, dass das nicht möglich ist.

Der Kaffee in meinem Becher ist stark und bitter. Dampf entsteigt ihm und quillt über den Rand. Da wir die Heizung noch nicht angestellt haben, ist der Holzboden unter meinen nackten Füßen kalt. Ein Luftzug vom Fenster, das neu abgedichtet werden müsste, verursacht mir eine Gänsehaut an den Armen. Mir geht auf, wie wichtig für mich diese Momente der Stille sind. Die Zeit dafür, mir einen Kaffee zu machen und ihn zu trinken.

Das sind die Momente, über die ich nachdenken muss. Um zu beobachten. Mich vorzubereiten.

Ein Schatten wächst und schrumpft über unsere schmale Straße. Um bessere Sicht zu haben, schiebe ich die Gardine ein Stückchen zur Seite. Diese Spitzenvorhänge hasse ich. Sie wirken feminin und bieten bei Weitem nicht so viel Privatsphäre, wie sie versprechen. Ein Hochzeitsgeschenk meiner Schwiegereltern. Unmöglich, sie abzulehnen. Unmöglich, sie nicht zu benutzen.

Der schmale freigelegte Streifen der Fensterscheibe zeigt mir nur den rissigen schwarzen Asphalt vor unserem Aufgang. Es ist Herbst. Die wenigen, stark beschnittenen Bäume, die unsere Straße säumen, leuchten in Rot, Orange und Gold. Schon bald werden die bunten Blätter eine weitere meiner Aufgaben bilden. Weil sie auf die Straße fallen. Die Dachrinnen und Gullys verstopfen. Doch im Augenblick tanzen sie fröhlich im Morgenlicht und tauchen den anbrechenden Tag in ein unschuldiges Licht.

Unschuldig.

Dieser Tag wirkt unschuldig, genau wie das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ich hätte nie gedacht, dass ein Haus etwas anderes sein könnte als nur ein Haus. Im Grunde denke ich das auch heute nicht. Doch nach all den Geschehnissen ist es leichter, die Schuld auf etwas anderes zu schieben.

Etwas Lebloses.

Etwas Entlegenes.

Jedenfalls weg von mir.

Also schiebe ich die Schuld auf das schmale, dunkelgelbe Schindelhaus mit den weißen Zierleisten. Das ich jeden Morgen beobachte. Ich schiebe die Schuld auf die rote Tür und die zweigeteilten Fenster, die blicklos zu mir zurückstarren.

Das ist leichter, als mir selbst die Schuld zu geben.

Jener Tag vor zwei Monaten fing auch so an. Ich am Fenster. Der Kaffee im Becher zu heiß. Kurze Zeit später das schreckliche Quietschen der Reifen. Das Krachen von Metall auf Knochen. Die Schreie. Die Tränen. Die Unschuldsbekundungen.

Da, schon wieder dieses Wort. Früher kam es mir nur selten in den Sinn, heute dreht sich alles darum.

Über mir höre ich das Tappen von Schritten. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite zuckt ein Vorhang.

Ich lasse die dünne Gardine fallen.

Um nicht ertappt zu werden. Besonders heute nicht.

Willkommen, Nachbar!

Im Namen des Pine-Street-Nachbarschaftsvereins (PSNV) möchte ich Sie und Ihre Familie herzlich in unserem Viertel willkommen heißen. Wir freuen uns über Ihren Zuzug und hoffen, Sie werden hier genauso gerne leben wie wir. Achtung: Wir nehmen gute Nachbarschaft sehr ernst, aber keine Angst: Es macht viel Spaß.

Dieses Briefchen steckt in einem unserer üblichen Präsentkörbe. Sie finden Folgendes darin**:

–  Unser PSNV-Willkommenspaket mit Informationen über Sehenswürdigkeiten und Freizeitaktivitäten in Cincinnati.

–  Unseren PSNV-Restaurantführer mit Lokalen, in denen glutenfreies und allergikerfreundliches Essen angeboten wird. Persönlich getestet von unseren Nachbarn.

–  Ein paar gesunde Snacks zur Überbrückung, bis Sie Zeit für einen Einkauf haben.

–  Eine Kontaktliste aller Nachbarn des PSNV.

Bitte mailen Sie mir unter [email protected] so bald wie möglich Ihre Kontaktdaten. Dann füge ich Sie in unsere Mailingliste ein, damit Sie ab sofort unseren Newsletter bekommen und keine unserer wunderbaren Veranstaltungen verpassen. Wenn ich das sagen darf: Wir in Mount Adams wissen, wie man die Hütte zum Wackeln bringt.

Apropos: Unsere allmonatliche Blockparty findet nächsten Monat in unserem Haus statt. Bitte kommen Sie am 1. November pünktlich um 18 Uhr zu uns nach Pinehurst, Pine Street 12.

Weitere Informationen über die Blockpartys (inklusive der Richtlinien zum Genuss alkoholischer Getränke) finden Sie im Willkommenspaket.

Noch einmal: Herzlich willkommen! Wir freuen uns darauf, Sie kennenzulernen.

Mit herzlichen Grüßen

Cindy Sutton

Gründerin und Vorsitzende des PSNV von 2009 bis heute

**  Bitte teilen Sie es mir mit, sollten nicht alle Posten auf der Liste im Präsentkorb enthalten sein.

EDEN PARK

Julie

Zwölf Monate zuvor

An meinem ersten Tag im neuen Zuhause stand ich im Morgengrauen auf, schlüpfte in die Joggingsachen, die ich mir am Bettende zurechtgelegt hatte, und verließ mit unserem deutschen Schäferhund Sandy so leise wie möglich das Haus.

Es war Anfang Oktober. Eine gewisse herbstliche Schärfe lag in der Luft. Ich zog den Reißverschluss meiner Laufjacke zu, setzte die Kapuze auf und strich mir den Pony aus der Stirn. Sandy hechelte neben mir, sodass sich eine Atemwolke um ihre schwarze Schnauze bildete.

Alle Häuser in unserer neuen Straße hatten unterschiedliche Farben. Genau das hatte mich für dieses Viertel eingenommen. Die hügeligen Straßen und die dicht nebeneinander stehenden Gebäude sahen aus wie San Francisco mit einem Hauch Cape Cod. Die Häuser am Mount Adams, einem der sieben Hügel Cincinnatis, sind schmal, hoch und entweder farbig gestrichen oder mit verwitterten Holzschindeln verkleidet. Am Fuß des Hangs fließt der Ohio River in fröhlichen Grün- und Blautönen. Am oberen Ende der Straße ragt eine große Steinkirche empor, überall gibt es versteckte Pfade zwischen den Bäumen. Ein paar Blocks weiter lockt eine Einkaufsgegend mit Restaurants und hübschen Läden in roten Backsteinhäusern.

Bevor wir hierherzogen, war ich nie in Cincinnati gewesen, was für mich zugegebenermaßen einen Teil seines Reizes ausmachte. An einen vollkommen neuen Ort ohne jegliche Vergangenheit zu ziehen erschien mir als die einzig richtige Lösung in dem Chaos, zu dem mein Leben geworden war. Vor dem Umzug studierte ich wochenlang Karten der Umgebung, um mich zurechtzufinden und mein neues Leben mit möglichst wenigen Hürden zu beginnen.

Während ich den Hügel hinunterjoggte, spulte ich den Weg zum Eden Park im Kopf ab. Ich hatte die Route so einfach wie möglich gewählt. Parkside zum Martin Drive, der mich schließlich zum Author’s Grove führen würde.

Zumindest hoffte ich das.

Author’s Grove – Autorenhain. Diese Bezeichnung sprang mir förmlich ins Auge, als ich die Umgebung studierte. Ich wusste sofort, dass ich dort als Erstes hinwollte. Eine befriedigende Erklärung für diesen Namen hatte ich zwar nicht gefunden, aber ich stellte es mir als lauschiges, inspirierendes Plätzchen vor. Vielleicht gab es dort Bänke, ortsansässigen Autoren gewidmet, die über den Ohio River, die sieben Hügel oder die Geschichte der Stadt schrieben. Es mochte ein Ort sein, an dem ich mich im nächsten Sommer niederlassen und nachdenken konnte. Allerdings war es möglicherweise auch nur ein außergewöhnlicher Name auf einer Landkarte, der mehr versprach, als er hielt.

So etwas war in meinem Leben oft geschehen.

Einen offiziellen Eingang zum Park gab es nicht, nur ein Wäldchen aus großen Laubbäumen und ein Schild auf einer Steinsäule mit einem Wasserspeier zeigten an, wo ich mich befand. Ich blieb kurz stehen, um meine Dehnübungen zu machen und die leise Furcht zu vertreiben, die mich beschlichen hatte. Dazu griff ich nach dem kleinen, runden GPS-Tracker mit Panikknopf, den ich an meinem Schlüsselband um den Hals trug. Den hatte ich ständig bei mir, genau wie den Schrittzähler am Handgelenk. Er übertrug ein Signal zu einer Basisstation in meinem Haus und gleichzeitig zu einem Sicherheitsdienst an einem mir unbekannten Ort. Um meine Nerven zu beruhigen, sagte ich die Kommandos auf, die Sandy und ich in der Hundeschule gelernt hatten. Fuß! Knurren! Fass!

Niemand weiß, dass du hier bist,beruhigte ich mich, als ich in Startposition ging und die Hände auf dem kalten Boden abstützte. Keine Ausreden mehr. Start in drei … zwei … eins …

Los!

An jenem Tag entdeckte ich den Author’s Grove nicht, sondern mehr Hügel, als ich mir vorgestellt hatte, und die Grenzen meiner Belastbarkeit Als ich fünf Meilen später erneut den Anfang meiner neuen Straße erreichte, wurde ich langsamer.

Wir waren nach Cincinnati gezogen, weil Daniel dort einen neuen Job angeboten bekam. Ich hatte auf einen Umzug bestanden, nachdem Heather Stanhope unsere Adresse in Tacoma herausgefunden und uns regelmäßig aufgesucht hatte.

Wer weiß, wie oft sie dort war, bevor sie aufflog? Ob sie in ihrem Wagen saß und zusah, wie ich den Müll rausbrachte oder Daniel den Rasen mähte? Oder gar an unsere Haustür kam, ohne anzuklopfen, oder unseren Briefkasten durchwühlte. Welches Bedürfnis erfüllte der Anblick meines Hauses bei ihr? Wieso behielt sie Reklamebriefe mit meinem Namen darauf? Weil es etwas war, das ich möglicherweise berührte? Versuchte sie in all den Stunden, in denen sie geduckt und möglichst unauffällig in ihrem Wagen saß, den Mut aufzubringen mir gegenüberzutreten? Und wenn ja, wozu? Oder hoffte sie nur, ihre Anwesenheit würde langsam in mein Bewusstsein dringen? Und was hatte sie letzten Endes dazu gebracht, Spuren zu hinterlassen, sogenannte Präsente, die mir Angst einjagten?

Das würde ich nie erfahren, es sei denn, ich fragte sie.

Mich schauderte, und ich verbannte den Gedanken.

Heather Stanhope wird mein Leben nicht ruinieren.

Dieses Mantra wiederholte ich täglich so oft, wie mein zwanghafter Mann sich die Hände wusch. Davon wurde mein Inneres so rau und wund wie seine Haut im Winter.

Da hörte ich Schritte hinter mir. Ein großer Mann in Joggingklamotten. Mehr konnte ich beim kurzen Aufblicken nicht erkennen. Meine ziegelrote Haustür war nur wenige Auffahrten entfernt. Fünf, vier, drei, zwei, eine. Als ich stehen blieb, sah Sandy zu mir hoch und wartete leise knurrend auf mein Signal. Ich stand an den großen schwarz-grünen Müll- und Recyclingtonnen, deren Wochentag für die Entleerung ich noch in Erfahrung bringen musste.

Der Mann hinter mir bog nach rechts in seine Auffahrt ab. Sein Haus sah ganz ähnlich aus wie meins. Jahrhundertwende mit modernen Anbauten über der Garage und nach hinten hinaus. Es war hellblau gestrichen, Fensterrahmen und Haustür glänzten lackschwarz.

Er winkte kurz. »Gehören Sie zu den Prentice’?«, fragte er. »Julie vermutlich?«

Meine Schultern verspannten sich. Knurren, fuhr es mir reflexartig durch den Sinn, dann beugte ich meine Hand in Vorbereitung auf das Signal, ihm Sandy auf den Hals zu jagen.

»Im letzten Newsletter wurde von Ihrem Zuzug berichtet«, erklärte er, als könnte er mein Unbehagen spüren. »Ich bin kein Stalker oder so.«

Ich rang mir ein Lachen ab und versuchte, beim Wort Stalker nicht zusammenzuzucken. »Das glaube ich Ihnen.«

Wir verließen unsere Auffahrten und trafen uns in der Mitte der Straße. Sandy befahl ich zu bleiben, wo sie war. Trotz meines Laufs war ich nervös. Auf gar keinen Fall wollte ich am ersten Tag Aufsehen erregen, indem ich meinen Hund auf einen vollkommen Fremden hetzte.

»Ich bin John Dunbar«, sagte er mit angenehmer Stimme. Ich wusste nicht, ob seine leicht gedehnte Sprechweise nur für ihn charakteristisch war oder zum hiesigen Akzent gehörte. Er wollte seine Hand ausstrecken, hielt dann aber inne. »Vier Meilen sorgen für einen ziemlich schweißigen Händedruck.«

»Bei mir waren’s fünf«, sagte ich mit einem Anflug von Stolz. Noch zwei Jahre zuvor konnte ich wegen der Pfunde aus der Schwangerschaft mit den Zwillingen nicht einmal einen Block weit rennen. »Zumindest glaube ich das. Schwer zu sagen, bei all den Kurven und Schleifen im Park. Jedenfalls macht es mir nichts aus.«

Sein Händedruck war fest und warm. Ich sah ihn genauer an. Braune Augen, blonde Haare, die nach dem, was ich unter seiner Kappe sah, bereits graue Ansätze hatten, Haut, die leicht verbrannte, wenn man sie zu lang der Sonne aussetzte. Markante Züge.

»Ein fester Händedruck bei Frauen gefällt mir«, bemerkte er.

»Mir auch.«

»Ha. Na dann. Noch was, das wir gemeinsam haben.«

»Wir haben etwas gemeinsam?«

»Na, das Joggen zum Beispiel.«

»Ach ja, richtig.« Ich war verwirrt und senkte den Blick. Wir trugen die gleichen Laufschuhe, er in der Männer-, ich in der Frauenversion. »Sehen Sie mal«, sagte ich und wackelte mit meinen Zehen. »Partnerlook.«

»Merkwürdig.«

»Finde ich auch. Mein Mann hat die gleichen.«

»Komisch.«

»Sie glauben wohl, ich scherze.«

Er runzelte die Stirn. »Nein, ich …«

»Stimmt aber. War nur ein Scherz.«

»Ach. Dann also keine Seelenverwandten.«

»Nein, wohl nicht.«

Ein quietschendes Rad bog in unsere Straße ein. Darauf kämpfte sich ein Junge mit einer schweren Tasche über der Schulter den Hügel hinauf. Er griff hinein und warf eine Zeitung in die erste Auffahrt.

Ich wandte mich Richtung meiner eigenen. »Sandy, bleib«, sagte ich in meinem besten Befehlston.

»Soll ich ihn warnen?«

»Nein, das geht schon. Wow, ein Zeitungsjunge. Habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen. Lesen die Leute noch Zeitung?«

»Klar. Wie sollten sie sonst erfahren, welche Katze in welchem Baum festsaß?«

»Aus der Lokalzeitung?«

»Aus der Lokalzeitung«, bestätigte er.

Das Rad kam quietschend näher. Ich hörte den dumpfen Aufprall der Zeitung vor dem Nachbarhaus. Wir sahen zu, wie der Junge auf uns zu radelte. Er war groß und dünn und hatte so strohblonde Haare, wie man sie sonst nur bei kleinen Kindern sieht.

Jetzt stieg er in die Eisen und blieb nur Zentimeter von John entfernt stehen, der nicht mit der Wimper zuckte.

»Ah, Mann. Ich dachte, diesmal kriege ich dich.«

John wuschelte ihm durchs Haar.

»Julie, dies ist mein Sohn Chris. Chris, dies ist unsere neue Nachbarin. Mrs. Prentice.«

»Hey.«

»Sie müssen entschuldigen. Das ist Teenagersprech für Nett, Sie kennenzulernen, Mrs. Prentice.«

»Machen Sie sich keine Gedanken. Ich hab selbst zwei Kinder, die sich für Teenager halten. Und kein Mensch nennt mich Mrs. Prentice. Nur Julie oder, wenn Sie es förmlicher haben wollen, Ms. Apple.«

»Apple wie Apfel? Oder wie die Firma?«, fragte Chris.

Ich spürte ein nervöses Kribbeln im Nacken. Eigentlich hatte ich meinen Mädchennamen nicht nennen wollen. Er gehörte zu den Dingen, die ich in Tacoma hatte lassen wollen, genau wie das grässliche Wetter.

»Chris!«

Wieder rang ich mir ein Lachen ab. »Meinen Sie, die Frage höre ich zum ersten Mal? Ja, Chris, wie die Firma, und nein, ich habe nichts damit zu tun. Und ja, in der Schule bin ich ständig deswegen aufgezogen worden. Apfelbäckchen und so weiter.«

»Apfelar…«

»Das reicht, junger Mann.« John tat so, als wollte er Chris den Mund zuhalten. Chris’ Stimme war nicht so tief wie die seines Vaters, doch auf dem besten Wege dorthin. Ich schätzte ihn auf vierzehn, fünfzehn.

Er duckte sich weg. »Dad.«

Dann schob er sein Rad Richtung Haus und ließ es vor der Garage einfach umkippen.

»Er stellt es nie ordentlich weg«, erklärte John. »Ich sag ihm ständig, dass irgendwann jemand drüberfallen wird.«

»Ist das nicht schon seit ewigen Zeiten so? Es ändert sich einfach nichts.«

»Außer die Sache mit Tinder.«

»Ich sollte wohl wissen, was das ist, oder?«

»Bitte! Auch ich weiß nicht, was das sein soll. Solche Begriffe suche ich mir nur im Internet zusammen und lasse sie hin und wieder im Gespräch fallen, damit meine Kinder glauben, ich wüsste, was sie so treiben.«

»Und, funktioniert es?«

Daraufhin kreuzte er die Finger beider Hände und hielt sie in Schulterhöhe. »Bisher keine ungewollten Schwangerschaften.«

»Sehr schön.«

Die Kirchenglocken fingen an zu läuten, volltönend und durchdringend. Ich warf einen Blick auf mein Handgelenk. Sieben Uhr.

»Verdammt«, sagte ich. »Ich muss los.«

»Ja. Ich auch. Es war schön, Sie kennenzulernen.«

»Fand ich auch.«

Trotzdem setzten wir uns nicht sofort in Bewegung.

Nein, gib du auf, dachte ich und wandte mich zum Gehen, bevor er sah, dass ich rot wurde.

Ich lief die wenigen Stufen zu meiner Haustür hinauf und drückte meinen Daumen auf das elektronische Türschloss. Ein paar Wochen zuvor war ich extra hierhergefahren, um mich zu vergewissern, dass es ordnungsgemäß eingebaut wurde. Der Handwerker hatte mich eindeutig für verrückt gehalten, aber in Fragen der Sicherheit verstand ich keinen Spaß.

»Übrigens hat mir Ihr Buch wirklich gefallen«, rief John mir nach, als ich die Tür aufschob.

Meine Schultern schnellten bis zu den Ohren.

Bitte frag nicht, ob das persönliche Erfahrungen waren, bitte nicht …

»Sie haben eine ziemlich ausgeprägte Fantasie.«

Ich drehte mich um und lächelte. »Tja, vielen Dank, Herr Nachbar.«

Sam und Melissa warteten im Flur auf mich, beide noch im Schlafanzug. Sie waren diesen Herbst sechs geworden und ähnelten sich so sehr, wie es bei einem Zwillingspärchen möglich war. Große braune Augen mit langen Wimpern und eine Haut, die schnell braun wurde, obwohl ich sie dick mit Sonnencreme Lichtschutzfaktor 50 eincremte und ihnen UV-Schutz-T-Shirts anzog, sobald sie länger als zehn Minuten draußen waren.

Melissa sprang mir schon mit ihrem üblichen Schlachtruf: »Momsy!«, auf den Arm, bevor ich ganz durch die Tür war. Sam kletterte Sandy auf den Rücken und rief: »Hü!« Der Hund schaute mit hängenden Ohren zu mir auf.

»Dan? Daniel?«

»Hier«, rief er aus der Küche.

Ich schob mir Melissa auf den Rücken und ging den Flur hinunter. Die Vorbesitzer hatten ein Vermögen ausgegeben, um Wände einzureißen und aus einem Labyrinth winziger Zimmer große, luftige Räume zu machen, die ineinander übergingen. Wohnzimmer, Esszimmer, Küche. Die blau und grau lasierten Wände schufen zusammen mit den hellen Holzdielen eine Atmosphäre wie in einem Strandhaus.

Obwohl wir uns den Luxus geleistet hatten, das Umzugsunternehmen ein- und auspacken zu lassen, war das Haus längst nicht fertig eingerichtet. Bilder lehnten an den Wänden, überall standen Kisten im Weg. Ich war mir ziemlich sicher, dass die meisten Möbel am Ende ganz woanders stehen würden, als die Möbelpacker sie platziert hatten, obwohl sie meinen Anweisungen genau gefolgt waren.

Die Küche hatte für mich den Ausschlag gegeben. Sie war mit weißen und dunklen Schränken ausgestattet. Ihre gesamte rückwärtige Wand bestand aus Glas und bot einen fantastischen Blick auf die riesige Terrasse und den Fluss dahinter. Daniel hatte gesagt, die Heizkosten würden uns das Genick brechen, aber für jemanden, der einen Großteil des Tages im Haus verbrachte, war gutes Licht entscheidend. Vor allem, wenn man zehn Jahre im Nordwesten gelebt hatte. In Tacoma war es durchschnittlich über zweihundert Tage im Jahr bewölkt, sodass man nur zu einer Tageslichtlampe greifen konnte. Oder zu Antidepressiva.

»Ist es möglich, dass wir sogar an unserem ersten Tag zu spät kommen?«, fragte ich Daniel, der seinen Schlips band und sich dabei in der Scheibe der Mikrowelle betrachtete. Er hatte sich die Haare schneiden lassen, und der Schnitt war ein bisschen zu kurz geraten. Sein Haar wurde am Hinterkopf spärlicher, aber bislang hatte ich nicht den Mut aufgebracht, ihn zu fragen, ob ihm das aufgefallen war.

Daniel bildete eine seltene Ausnahme, denn er war rothaarig und sah dennoch wirklich gut aus. Er bekam keinen Sonnenbrand, sondern wurde richtig braun. Ein paar Sommersprossen betonten seine grauen Augen. Sein Bart war ein perfekter Dreitagebart. Ich hatte gehofft, wenigstens eines der Kinder würde nach ihm kommen, aber sie waren beide Kopien meiner selbst.

»Wieso sollte es heute anders sein?« Er vollendete seinen Knoten und zog die Krawatte zurecht.

»Die Hoffnung stirbt zuletzt.«

»Na ja, wenn du da draußen nicht so lange geflirtet hättest …«

»Was? Ich?«

Er grinste und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. »Schon gut, Schatz. Ein kleiner, harmloser Flirt macht das Leben spannend.«

Als die Kirchenglocke eine Stunde später wieder läutete, hatte sich Stille über das Haus gesenkt. Ich hatte zugesehen, wie Daniel mit den Kindern auf dem Rücksitz unserer Limousine weggefahren war. Bei uns gab es keine SUVs oder Minivans, da wir die hassten. Dann hatte ich erst einmal tief durchgeatmet.

Ich ging durch den ersten Stock und sammelte die Spuren des täglichen Kampfes auf, die Zwillinge aus dem Haus zu treiben. Eine Superman-Unterhose. Überall verstreute Legoteilchen, auf die ich ständig trat. Pokémon-Karten, die Sam zwei Tage nach Beginn der Grundschule haben wollte und eifersüchtig vor seiner Schwester hütete, obwohl er zu faul war, sie ordentlich in das Album einzusortieren, das er zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Ich hätte den ganzen Tag damit verbringen können, hinter den Kinder herzuräumen, sie von hier nach dort zu fahren und mich um all ihre Bedürfnisse zu kümmern.

Die erste Hälfte ihres Lebens hatte ich auch genau das getan und würde es vielleicht immer noch machen, wäre da nicht die Idee gewesen, die zu Dem Buch führte, das wiederum zu … tja, es war zu kompliziert, mein Leben danach in zwei Worten zu beschreiben.

All das lag nun hinter uns, und vor mir lag der Abgabetermin von Buch Zwei. Das waren auch zwei Worte, obwohl darin nicht meine Gewissheit mitschwang, dass es niemals an Das Buch heranreichen würde. Die Deadline lag schwer erkämpfte zwölf Monate entfernt. Das war zwar ein billiger Autorentrick, der aber, so befürchtete ich, bei mir funktionierte.

Was hieß, ich musste aufgerundet zweihundertvierundsiebzig Wörter pro Tag schreiben, um die hunderttausend Wörter zu erzielen, die das Manuskript umfassen sollte. Das schien machbar, lächerlich gar, wenn man bedachte, dass ich das erste in einem fiebrigen Rutsch geschrieben hatte. Doch da mir ständig etwas dazwischenkam, das Leben beispielsweise, musste ich in Wahrheit tausend Wörter täglich schreiben. Montags bis freitags von neun bis drei, da dann die Zwillinge wieder auftauchten und die Stille störten, die ich brauchte, um in die Tiefen meiner Seele zu steigen. Die ich zum Schreiben benötigte. Ein großer Teil des Problems war allerdings, dass ich nicht genau wusste, was ich schreiben wollte.

Im Leben jedes Menschen gibt es Komplikationen.

Manchmal sucht man sie sich aus, und manchmal werden sie einem zugeschanzt.

Der Trick ist, die beiden Varianten voneinander zu unterscheiden.

GEBURTSTAGSKIND

John

Zwölf Monate zuvor

Am Morgen meines fünfundvierzigsten Geburtstags wachte ich mit einem Schlag auf.

Genauso fühlte es sich an, obwohl ich sicher in meinem Bett lag. Wie wenn man im Traum zu Boden fällt.

Ich riss die Augen auf. Wusste nicht, wo ich war. Einen Moment bekam ich Panik, dann zwang ich mich nachzudenken. Stückchen für Stückchen kehrte mein Leben zu mir zurück. Zuhause. Bett. Frau. Geburtstag. Fünfundvierzig.

Wie zum Teufel war das nur passiert?

Ich wartete, bis mein Herzschlag sich beruhigt hatte, dann sah ich auf die Uhr. Fünf Uhr fünfunddreißig.

Na super. Jetzt wachte ich schon zur Altmännerzeit auf, genau wie mein Vater.

Ich kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich nicht wieder einschlafen würde. Also lag ich einfach da und lauschte auf Hannas Atem. Sie konnte immer ausgezeichnet schlafen. War weg, sobald ihr Kopf das Kissen berührte. Wachte genau eine Minute vor dem Schrillen des Weckers auf. Ich zog sie zwar damit auf, war aber eigentlich nur neidisch. Mir hingegen war jede einzelne Stunde der Nacht vertraut.

Irgendwann stand ich auf. Schließlich konnte ich die frühe Stunde genauso gut nutzen, um … ja, um was zu tun?

Ich hatte keine Hobbys, die man um diese Uhrzeit ausüben konnte. Zum Lesen war ich zu unruhig. Also ging ich erst einmal ins Bad, um meine Blase zu entleeren. Gehörte das auch dazu, wenn man fünfundvierzig war? Eine schrumpfende Blase und weniger Schlaf? In dem großen Spiegel erhaschte ich einen Blick auf mich. Ich war stets stolz darauf gewesen, wie fit ich für mein Alter war. Konnte ich das noch von mir behaupten?

Der Spiegel sagte Nein.

Ich ging in unseren begehbaren Schrank und suchte nach meinen Joggingsachen. Im Frühjahr hatte ich Pläne für einen Halbmarathon gehabt. Große Pläne. Zurückgestellt.

Jetzt war es Zeit, sie wieder anzugehen. Das oder vor dem Unvermeidlichen zu kapitulieren.

Also zog ich mich an, hinterließ eine Nachricht für Hanna und rannte in die Morgendämmerung.

Nach nicht mal einer Stunde war ich wieder zurück. Meine Beine fühlten sich an wie Gummi, und die Schultern taten mir weh. Ich war, genau wie befürchtet, völlig außer Form.

All das verflog in den wenigen Minuten, in denen ich mich mit Julie unterhielt, unserer neuen Nachbarin. Nach unserem Gespräch wartete ich auf der Vordertreppe, bis sie im Haus verschwunden war. Ein Promi in unserem Viertel, dachte ich. So etwas Aufregendes war in Mount Adams seit Ewigkeiten nicht geschehen.

Im Haus hatten Hanna und die Kinder sich in einem Halbkreis aufgestellt und erwarteten mich mit einem verschwörerischen Grinsen. Hanna hielt einen Teller in der Hand, der mit dem Deckel unseres Woks bedeckt war.

»Herzlichen Glückwunsch, Dad«, riefen Becky und Chris, bevor sie eine misstönende Version von Happy Birthday anstimmten.

Hanna hob den Deckel. Darunter leuchteten zwei Wunderkerzen über den Ziffern auf einem in sich zusammengesunkenen Schokoladenkuchen. Fünf und Vier. Oder Vier und Fünf, von Hanna aus. Es drängte mich, danach zu greifen und ihn umzudrehen. Stattdessen setzte ich ein breites Grinsen auf.

»Kuchen zum Frühstück«, sagte Becky. »Ist das nicht toll?«

»Ja. Supertoll.«

»Können wir ihn sofort anschneiden?«

»Selbstverständlich«, sagte Hanna.

Der ganze Trupp marschierte in die Küche. Hanna reichte mir ein Messer. Becky und Chris stimmten noch einmal das Geburtstagsständchen an, nur sangen sie diesmal nicht Happy Birthday, lieber Dad, sondern Happy Birthday, alter Mann.

Hanna brachte sie zum Schweigen. »Seid nett, Kinder. So, John. Achtung, nichts sagen, bevor du den ersten Bissen gegessen und dir was gewünscht hast.«

Ich zog meine Lippen mit einem imaginären Reißverschluss zu. Dies war eine von Hannas Kardinalregeln. Der magische Geburtstagskuchenwunsch. Offenbar ging der Wunsch nur in Erfüllung, wenn zwischen dem Ausblasen der Kerzen (in diesem Fall dem Entfernen der Wunderkerzen), dem Anschneiden des Kuchens und dem ersten Bissen absolute Stille herrschte.

Ich schnitt mir ein Stück ab und aß einen großen Happen mit der Gabel, die sie mir reichte.

Ein langer Lauf und Kuchen zum Frühstück.

Ich hatte schlechtere Anfänge für ein neues Lebensjahr erlebt.

Die Kinder schlangen ihren Kuchen hinunter und gehorchten, als Hanna ihnen befahl, sich für die Schule fertig zu machen. Wir mussten den Turbo anschmeißen. Es war halb acht, und wenn wir nicht in die Gänge kamen, würden wir uns alle verspäten.

»Wie ist sie denn so?«, fragte Hanna ein paar Minuten später im Bad. »Die neue Nachbarin? Chris hat gesagt, ihr hättet euch draußen unterhalten.«

Sie bürstete sich ihre Haare und trug gleichzeitig Make-up auf. Ich trocknete mich vom schnellsten Duschen der Welt ab. Meine Muskeln protestierten bereits, weil ich mich nicht gedehnt hatte. Ich wusste nicht, ob magische Geburtstagswünsche funktionierten, aber ich hatte den Geburtstagsentschluss gefasst, regelmäßig joggen zu gehen. Mindestens vier Meilen am Tag.

»Sie ist berühmt«, sagte ich.

»Ach ja? Das stand gar nicht im Newsletter.«

Vor ein paar Jahren hatte Cindy Sutton, die in unserer Straße wohnte, sich zur Vorsitzenden unseres Nachbarschaftsvereins aufgeschwungen und mit ein paar anderen Vollzeitmüttern einen wöchentlichen Newsletter gestartet.

Cindy hatte das Herz am rechten Fleck und war in unserer Straße ziemlich beliebt, weil sie anderen großzügig ihre Zeit schenkte, vor allem frischgebackenen Müttern. Aber als ich das erste Mal den Newsletter bekam, drückte ich sofort auf Abmelden. Leider verstand sich Cindy auf dieses Spiel. Sie kontrollierte die Mailingliste genauso wie die Nachbarschaftswache, die sie kurz darauf gegründet hatte.

Innerhalb weniger Tage drängte mich Hanna, den Newsletter um des lieben Friedens willen wieder zu bestellen. Ich gab nach und las ihn hin und wieder, um etwas zu sagen zu haben, falls ich Cindy über den Weg lief. Daher hatte ich vor ihrer Ankunft alles über die Prentice’ gelesen. Daniel arbeitete in der Werbebranche. Julie blieb zu Hause. Zwei Kinder. Ein Hund. Aus dem Staat Washington.

»Sag Cindy nichts«, erwiderte ich. »Ich hatte den Eindruck, dass Julie das für sich behalten will.«

»Warum hat sie es dir erzählt?«

»Hat sie nicht. Ich habe sie erkannt.«

»Wer ist sie denn?«

»Julie Apple.«

Hanna sah mich fragend an. Meine Frau liest keine Romane.

»Sie hat dieses Buch geschrieben. Das Mörderspiel. Du weißt schon, das vor ein paar Jahren in aller Munde war?«

Sie tippte sich auf die Schläfe. »Da klingelt nichts.«

Ich küsste sie. Sie schmeckte nach Zahnpasta und Schokoglasur. Zwar sah sie nicht mehr wie zwanzig aus wie damals, als wir zusammengekommen waren, aber eigentlich zog ich die heutige Version vor. Sie war stark, selbstsicher, kompetent und schön. Ich konnte mich glücklich schätzen.

»Erstaunlich, dass du dich an jedes Detail deiner Fälle erinnerst, aber die Popkultur an dir vorbeigeht, als käme sie vom Mars.«

»Wir waren noch nicht auf dem Mars.«

»Sehr witzig.«

»Meine Speicherkapazitäten sind begrenzt«, sagte sie und tippte sich erneut an die Schläfe. »Die muss ich mir für Wichtiges aufsparen.«

»Wofür zum Beispiel?«

»Zum Beispiel für Dinge, die ich öfter tun sollte.« Sie warf einen Blick auf das Handtuch, das ich ziemlich lose umgebunden hatte. »Nicht schlecht für fünfundvierzig.«

»Ach ja?«

»Ja.« Sie drehte den Kopf zur Tür. »Kinder! Beeilt euch, sonst verpasst ihr den Bus.«

Becky rief durchs Treppenhaus: »Ich dachte, ihr fahrt uns?«

»Heute nicht. Los, Bewegung.«

Dann trat Hanna näher zu mir und legte ihre Hände auf meine Hüften. Das Handtuch glitt zu Boden. Schweigend standen wir da, lauschten auf das Grummeln und Rumoren der Kinder. Die Haustür ging auf und wieder zu.

»Um halb zehn habe ich ein Meeting«, bemerkte ich.

»Da wirst du wohl zu spät kommen. Oder?«

»Soll das ein Witz sein? Da wird ein Geburtstagswunsch wahr.«

Sie fing an, ihre Bluse aufzuknöpfen. »Siehst du, hab ich doch gesagt. Diese Wünsche gehen in Erfüllung.«

»Daran werde ich nie mehr zweifeln.«

Was ist der Unterschied zwischen Googeln und Stalken?, hatte Julie, ein Jahr bevor sie hierherzog, in einem Artikel gefragt. Wann überschreitet man die Grenze von Neugier zu Besessenheit? Vom Fan zum Fanatiker? Von Anerkennung zu Bedrohung?

Durch den Artikel war nicht mehr nur Julies Buch in aller Munde, sondern sie selbst. Ich las ihn, als ich auf der Arbeit eine Pause brauchte, und fand ihn ziemlich erschreckend. Der Hilfeschrei einer Frau, die völlig verstört war. Panik hatte. Die hoffte, wenn sie ihre Not öffentlich machte, würde die Person, die ihr das Leben zur Hölle machte, endlich damit aufhören.

Aber die hörte nicht auf.

Später, als ich mit anderen Eltern am Rand des Fußballfelds stand und die Kinder anfeuerte, gingen mir ihre Worte nicht aus dem Kopf. Der Artikel hatte nichts Gutes bewirkt. Im Gegenteil, Julie schien weniger Mitgefühl zu bekommen als ihre Stalkerin. Die Schmähreden in den Kommentaren zeugten von übelster Frauenfeindlichkeit. Es gab sogar Rufe nach Vergewaltigung und Verstümmelung. Nach Bücherverbrennung.

Ich versuchte mich auf Beckys Spiel zu konzentrieren. Die Luft roch nach feuchter Erde und welkem Gras. In den Lederschuhen, die ich zur Arbeit anzog, froren meine Füße. Ich nahm mir vor, für den Rest der Fußballsaison Stiefel im Kofferraum zu haben.

»Hast du die Online-Petition unterschrieben?«, fragte jemand neben mir.

Cindy. Hinter ihr standen zwei der Mütter, mit denen sie normalerweise zusammen war. Leslie und Stacey. Ich winkte ihnen zu, doch sie konzentrierten sich auf das Spiel. Cindy trug einen roten Anorak und eine Trillerpfeife um den Hals. Sie war bereits verwarnt worden. Wenn sie noch einmal pfiff, würde sie die Spiele nicht mehr anschauen dürfen. Dennoch war ziemlich klar, dass sie das nicht abhalten würde, falls jemand ihrer fünfzehnjährigen Tochter Ashley zu nahe käme. Die spielte mit Becky in derselben Mannschaft, obwohl zwei Jahre Altersunterschied zwischen ihnen bestand. Becky war groß, frühreif und liebte Fußball. Ashley hingegen spielte nur halbherzig und ihrer Mutter zuliebe.

»Was?«, fragte ich.

»Die Petition«, wiederholte Cindy. »Die letzte Woche herumging. Wegen der Temposchwellen in unserem Block.«

Ausdruckslos starrte ich sie an. Auf der Liste all der Dinge, die mir völlig egal waren, standen Temposchwellen ganz oben. Ich war sogar dagegen, hielt jedoch wohlweislich den Mund.

»Ich hatte keine Zeit, sie mir anzusehen. Gibt es eine Deadline?«

»Nein, eigentlich nicht, aber …«

Der Schiedsrichter pfiff scharf, hob eine rote Fahne und unterbrach das Spiel. Jemand brüllte: »Foul.«

»Ich glaube, da ist jemand verletzt«, sagte ich zu Cindy.

»Was? Ist es Ashley? Ich kann sie nicht sehen …«

Ich blendete sie aus, während ich das Spielfeld überblickte. Mädchen aus Beckys Mannschaft umringten eine Spielerin, die am Boden lag. Eines ihrer Beine wirkte schrecklich verdreht und war bis zum Knie mit Schlamm bespritzt. Den Kopf konnte ich nicht erkennen, aber als ich mir die anderen Mädchen näher ansah, stieg mir Säure in die Kehle. Nicht Becky. Nicht Becky. Nicht. Becky.

Ich lief los, behindert von meinen Schuhen, die im Schlamm stecken blieben. In den wenigen Sekunden, bis ich bei ihr war, hatte Panik mich durchflutet. Ich stürzte mich zu Becky auf den Boden und verdrehte damit fast eines meiner steifen Beine. Beckys Gesicht war bleich, und ihre blonden Zöpfe waren schlammbraun.

»Schatz, ist alles in Ordnung?«

»Dad?«

Ich legte ihren Kopf auf meinen Schoß. Der Schlamm drang durch meine Hose. »Das wird wieder. Ganz bestimmt.«

Einer der anderen Väter untersuchte behutsam ihr Bein. Er war der Rettungssanitäter, der bei allen Spielen dabei war. Unsere Blicke trafen sich. Er schüttelte den Kopf und holte sein Handy hervor. Mir wurde flau.

»Dad? Was ist denn los?«

»Nichts, Schatz. Wir müssen ins Krankenhaus.«

»Mein Bein tut weh. Richtig, richtig schlimm.«

Sie hatte Tränen in den Augen. Ihre Sommersprossen zeichneten sich deutlich von ihrer blassen Haut ab.

»Ich weiß, Süße. Du bist wirklich sehr tapfer.«

Sie kniff die Augen zu und wurde noch blasser. Ich zog meine Jacke aus und deckte sie damit zu.

»Hat sie einen Schock?«, fragte ich den Sanitäter.

»Sieht so aus. Der Krankenwagen kommt in zwei Minuten. Dann wird sie stabilisiert.«

»Hörst du das, Becky? Zwei Minuten, okay? Halt zwei Minuten durch.«

Ihre Augenlider flatterten. »Tut mir leid.«

»Was sollte dir denn leidtun?«

»Wegen deiner Geburtstagsüberraschung.«

»Ich dachte, die war heute Morgen.«

Sie schüttelte den Kopf und zuckte zusammen.

»Halt still. Nicht mehr bewegen, bis der Krankenwagen da ist.«

»Wir hatten alles so schön geplant.«

Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie war schweißbedeckt. Mir raste das Herz. Ich konnte kaum atmen.

Reiß dich zusammen, befahl ich mir. Reiß dich zusammen, für Becky.

»Aber ich brauch doch nichts.«

»Kuchen«, sagte sie. »Noch mehr Kuchen.«

»Den essen wir, wenn wir nach Hause kommen.«

Sie nickte, immer noch mit zusammengekniffenen Augen. Ich drückte sie so fest an mich, wie es unter diesen Umständen ging, bis der Krankenwagen eintraf.

Die Sanitäter kamen mit einer Trage über den Rasen gelaufen. Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass keine Verletzung der Halswirbelsäule vorlag, hoben sie Becky sanft auf die Trage. Dann rannten wir alle über das Spielfeld zum Krankenwagen. Als Becky einen Zugang gelegt bekam, verzog sie das Gesicht, doch ihre Miene entspannte sich, als die Sirene über uns losheulte.

Ich schickte Hanna eine SMS, in der ich sie bat, zum Kinderkrankenhaus auf dem Burnet Campus zu kommen. Becky habe sich das Bein gebrochen, sei aber ansonsten okay.

Hanna traf mit tränenüberströmtem Gesicht in der Notaufnahme ein. Als sie sah, dass mit Becky so weit alles in Ordnung war, lehnte sie den Kopf an meine Schulter und weinte. Becky verhielt sich bewundernswert tapfer, während ihr Bein geschient wurde. Der Bruch war weniger schlimm als gedacht. Der Arzt meinte, er würde rasch heilen, da Becky noch so jung sei. Hanna und ich durften fast die gesamte Zeit bei ihr bleiben. Wir waren sogar die Ersten, die auf ihrem Gips unterschrieben.

Als wir nach Hause kamen, hatte Chris die Glasur meines zweiten Geburtstagskuchens modifiziert und um einen ziemlich realistisch aussehenden Gipsverband bereichert. Außerdem verhielt er sich Becky gegenüber sehr rücksichtsvoll. Es war schön zu sehen, wie nett sie miteinander umgingen. Das kam nur noch selten vor, seit sie beide Teenager waren.

Ich erinnerte mich daran, dass Chris Becky gegenüber ausgeprägte Beschützerinstinkte gezeigt hatte, als sie klein war. Schwesterchen nannte er sie, und das noch Jahre nachdem sie auf ihren richtigen Namen bestand.

Später, im Bett, sinnierten Hanna und ich darüber, dass man im Leben nie wusste, was einem an einem einzigen Tag passieren konnte. Wir konnten uns glücklich schätzen, dass Becky nie Schlimmeres zugestoßen war. Bekannte von uns hatten sich mit Krebs auseinandersetzen müssen. Ein Freund hatte sein Kind sogar an den plötzlichen Kindstod verloren. Chris und Becky hingegen waren gesund und wohlauf. Wenn wir die nächsten paar Jahre unbeschadet überstanden, konnten wir unsere größten Ängste hinter uns lassen.

Als ich für diesen Tag die Augen schloss, war ich glücklich und erleichtert.

Der erste Tag meines sechsundvierzigsten Lebensjahrs. Hoffentlich auch der schlimmste.

Falsch gedacht.

Am nächsten Morgen wachte ich früh auf. Ich zog meine Joggingsachen an und trank meinen Kaffee am Fenster. Dabei blickte ich auf die Straße. Punkt sechs Uhr trat Julie aus ihrem Haus und startete ihre Morgenrunde.

Ich stellte den Kaffeebecher ab, verließ leise das Haus und rannte ihr nach.

Und dachte, dass von einem Tag auf den nächsten alles anders werden kann.

HEUTE

John

7.00 morgens

Als Hanna, Chris und Becky nach unten kommen, stehe ich am Herd und backe Pfannkuchen.

»Machst du mir eine Giraffe, Dad?«, fragt Becky.

Mit ihren vierzehn Jahren ist sie bereits größer als Hanna. Sie schlägt nach meiner Seite der Familie. Meine Schwester ist eins siebenundsiebzig. »So groß werde ich nicht«, versichert Becky allerdings regelmäßig. Als würden ihre Knochen aufhören zu wachsen, wenn sie es nur häufig genug wiederholte.

Sie schlingt mir die Arme um den Leib und schmiegt ihre weiche Wange zwischen meine Schulterblätter. Normalerweise mache ich nur sonntags Pfannkuchen. Aber momentan ist alles anders und der Montag wie ein Sonntag, bis hin zum Ahornsirup, der in der Mikrowelle erhitzt werden soll, und dem Stärkegeruch des Teigs in der Pfanne.

»Na klar, Kleine.«

Ich gieße die komplizierte Form in die zischende Pfanne. Es hat Jahre gedauert, aber mittlerweile kriege ich mit dem flüssigen Teig fast alles aus dem Reich der Tiere hin.

»Was ist mit dir, Han?«, frage ich. »Hättest du gern ein süßes Häschen?«

»Bäh«, erwidert meine Frau und reibt sich den flachen Bauch wie früher, als sie schwanger war. »Ich kriege nichts runter.«

»Wer weiß, wann wir wieder was zu essen kriegen.«

Ich denke daran, wie gereizt Hanna sein kann, wenn sie nicht genug isst. Aggressiv. Das Gegenteil von dem, was wir heute brauchen.

Was ich heute brauche.

»Halb eins«, bemerkt Chris.

Er sitzt am Küchentisch und liest die Zeitung, die er früher austrug.

Davor.

Danach.

Unser Leben ist jetzt in zwei Teile gebrochen. Dazwischen liegt die Verwerfungslinie der Familie Dunbar.

»Was meinst du?«

»Die Mittagspause ist um halb eins.«

Ich blicke zu meinem Sohn. Mit seinen knapp sechzehn Jahren hat er genauso hellblondes Haar wie als Kind. Wie er so in seinem allerersten Anzug dasitzt, erinnert er mich an mich selbst, als ich nach Abschluss der Schule zu Vorstellungsgesprächen ging.

Wenn ich meinen Anzug anziehe, wird wieder jemand sagen, wie ähnlich wir uns sehen. Wie leicht es wäre, uns aus der Distanz miteinander zu verwechseln.

Von Nahem sind die Unterschiede aber deutlich. Die Narbe auf seiner linken Wange. Unser Gewicht. Chris war schon immer schlank. In den letzten Monaten hat er alles wieder verloren, was er bei seinem Baseballtraining im letzten Sommer zugelegt hatte. Ohne Kleider sieht er aus wie die dürren Männchen in den Comics, die mein Vater aus seiner eigenen Kindheit aufbewahrt hat. Die, die immer Sand ins Gesicht kriegen.

Wer weiß, was geschieht, wenn wir nicht auf ihn Acht geben.

»Dann sollten wir definitiv was essen«, sage ich so beiläufig wie möglich.

Er zuckt die Achseln. Hanna betrachtet ihn mit jener Mischung aus Liebe und Sorge, mit der sie ihn seit zwei Monaten ansieht. Als könnte Chris etwas Unerwartetes tun. Auch sie ist formell gekleidet und hat die hellblonden Haare hinten zusammengefasst. Sie hat das schwarze Etuikleid und den Blazer an, den sie normalerweise bei Gericht trägt. Was wohl angemessen ist, denn genau dort werden wir den Tag verbringen.

»Pass auf, Dad. Sonst brennt er an«, bemerkt Becky und späht um mich herum. Ihr strohfarbenes Haar ist ungekämmt und zerzaust. War das etwa seit Tagen so und wir haben es nicht bemerkt?

Ich drehe mich zur Pfanne zurück und flippe Beckys Giraffe gerade rechtzeitig auf die andere Seite.

Aber sie bricht am Hals in zwei Teile.

Ich versuche, das nicht als böses Omen zu betrachten.

VERTRAUTE NACHBARN SIND GUTE NACHBARN

Julie

Elf Monate zuvor

Der erste November war ein verregneter Herbsttag. Es war dunkel, als ich aufwachte. Mir kam es so vor, als würden wir die Sonne nie wieder sehen. Das Haus roch feucht, und ich schrieb mir einen Zettel, um nicht zu vergessen, mit Daniel darüber zu reden.

Einen Monat nach unserem Umzug hatte ich mich ganz gut an meine Routine gewöhnt. Routine ist wichtig, wenn man den Hauptteil des Tages allein verbringt.

Jeder Wochentag sah etwa so aus: Joggen mit Sandy um sechs, Frühstück um halb acht, die Zwillinge in ihre Schuluniform zwingen um acht, um halb neun mit Daniel über die Aufgaben verhandeln, die ich an die Tafel der Speisekammertür geschrieben hatte. Viertel nach neun hatte ich geduscht und an meinem Schreibtisch Platz genommen, den ich vor den Panoramafenstern im Flur des zweiten Stocks aufgebaut hatte. Das war mein Refugium zum Schreiben.

Dann checkte ich den kleinen Kalender, den ich angelegt hatte und der mir einerseits zeigte, wie viele Wörter, gemessen am Endziel hunderttausend, ich an diesem Tag schreiben musste und wie viele ich bereits geschrieben hatte. Letztere Zahl stieg nicht so schnell, wie sie sollte. Ich hatte noch elf Monate bis zur Deadline und nur siebentausendfünfhundert Wörter geschafft, achthundertdreiunddreißig weniger als für Oktober angestrebt. Ich musste schneller machen und zählte darauf, dass meine Routine mir dabei half.

Aus Gründen, die mir selbst nicht klar waren, gehörte es zu meiner Routine, nach jenem ersten Gespräch nie mehr mit unserem Nachbarn von gegenüber zu reden, ganz gleich, wie oft sich unsere Wege kreuzten, und sie kreuzten sich oft. Vielleicht lag es an Daniels Bemerkung übers Flirten. Wenn wir uns bei unseren täglichen Joggingrunden über den Weg liefen, nickte ich ihm höchstens zu. Auch er machte keinerlei Anstalten, eine Unterhaltung anzufangen.

Nach ein paar Wochen bekam ich den Eindruck, er ginge mir aus dem Weg. Wenn ich um den Park herumlief, kam er mir entgegen. Zwar machten wir uns ein Zeichen wie alle Jogger, aber keiner von uns wechselte die Richtung. Ich hätte den ersten Schritt machen können, tat es aber nicht.

Früher war ich nie allein gejoggt. In Tacoma lief ich mit meiner Freundin Leah. Wir hatten dasselbe Schritttempo und dasselbe Ziel, die zwanzig Pfund zu verlieren, die wir nach der Schwangerschaft nie losgeworden waren. Dabei plauderten wir über die Kinder und Bekannte. In der Krise nach dem Erscheinen des Buchs hörte sie mir mit Engelsgeduld zu, während ich ihr mein Herz ausschüttete.

Es war für mich ganz neu, mit meinen Gedanken allein zu sein, aber eigentlich nicht unangenehm. Nach ein, zwei Meilen hörte ich nur noch das rhythmische Tappen meiner Füße, das normalerweise alles andere in meinem Kopf übertönte. Was im Großen und Ganzen gut war.

Als es an diesem Tag auf elf Uhr zuging, hatte ich siebenhundertneunundachtzig Wörter geschrieben, worüber ich froh war, obwohl mir mittlerweile die Finger wehtaten.

Wir hatten uns noch nicht entschieden, was wir mit der Heizung machen sollten. Unser Haus war über hundert Jahre alt, und die ursprünglichen Erbauer mussten, je nach Jahreszeit, entweder ständig gefroren oder geschwitzt haben. Die Vorbesitzer hatten bei der Renovierung kostbare Fliesen am Kamin freigelegt, aber die alten, schmiedeeisernen Heizkörper behalten. Von ihrem Knacken und Quietschen schrak ich oft zusammen.

Ich hatte gehört, Heizkörper müssten ausbluten, um anständig zu funktionieren, aber das klang so grausam, dass ich der Sache nicht weiter nachgegangen war. Stattdessen saß ich mit einer Decke über den Beinen vor meinem großen, silbergerahmten Bildschirm und rieb mir fröstelnd die Hände.

Ich warf einen Blick auf die Uhr, die ich in der rechten Ecke des Monitors platziert hatte. Noch fünf Minuten, dann würde die von mir eingerichtete Internetsperre aufgehoben, und ich konnte eine Viertelstunde surfen.

Nur fünfzehn Minuten.

So viel hatte ich mir alle zwei Stunden zugestanden, entweder für Recherchen oder das schwarze Loch Facebook.

Als das Signal ertönte, ging ich genau dorthin und überprüfte zum ersten Mal an diesem Tag meine private und meine Fanseite. Dazu hatte ich mir ein weiteres Limit gesetzt. Ich durfte nur zweimal pro Tag Informationen über mich checken, höchstens.

Wenn man das so liest, wirkt es ziemlich selbstverliebt, aber bei mir war es längst nicht mehr Eitelkeit, sondern Zwang. Das Internet ist die größte Cocktailparty der Welt. Anonymität ersetzt in der Alchemie der Gerüchteküche den Alkohol, und wer bleibt nicht stehen und lauscht, wenn er den eigenen Namen hört? Nur jemand, der stärker ist als ich.

Rasch postete ich Glückwünsche an die acht Freunde, die an diesem Tag Geburtstag hatten. Wieso freuen sich die Leute über die Glückwünsche von Unbekannten? Noch so eine der unbeantworteten Fragen im Leben. Dann sah ich auf meiner Fanseite nach, ob es neue Posts gab.

O mein Gott, ich habe gerade Das Mörderspiel ausgelesen und fasse es einfach nicht, dass ich das nicht habe kommen sehen. Sie sind meine Lieblingsautorin, für alle Zeiten.

Das gefiel mir, und ich schrieb einen kurzen Dank, bevor ich mir die Kommentare ansah.

Du bist doch blöd, hatte ein Charmeur geschrieben, wenn du das nicht gesehen hast. Das Ende war doch klar. Frauen können einfach nicht schraiben.

Mir dröhnte das Blut in den Ohren, als mein Blick die Seite hinunterglitt.

Hör nicht auf ihn, Julie. Der kann nicht mal richtig schreiben.

Sei doch still, wenn du nichts Positives schreiben kannst.

Was ist dein Problem, Schlampe? Iss mein Recht auf freie Meinungsäusserung, yo.

Julie, der Typ muss gesperrt werden.

Was bist du denn für ein frauenfeindliches Arschloch? Hau ab.

So ging es weiter, neunundsiebzig Kommentare, alle innerhalb von dreiundzwanzig Minuten nach dem ursprünglichen Post verfasst.

Ich spürte einen Knoten im Magen, roch meinen eigenen Schweiß. Vor einer Weile hatte ich gelesen, das Lesen negativer Kritiken könne als eine Form des Ritzens betrachtet werden. Zwar hatte ich nie verstanden, was Menschen dazu brachte, sich buchstäblich ins eigene Fleisch zu schneiden, aber die Analogie traf bei mir einen Nerv. In den letzten Jahren hatte ich gegen so etwas gezwungenermaßen Schutzmaßnahmen entwickelt, aber wenn es hart auf hart kam, fühlte ich mich dennoch wund und verletzt.

Ich konnte nicht nachvollziehen, warum Das Buch solche negativen Kommentare provozierte. Es gab auch positive, aber das begriff ich genauso wenig. Ich war nicht die Einzige, der es so erging, aber es fühlte sich trotzdem so an, als sei es persönlich gemeint.

Dennoch las ich alle Kommentare, jeden einzelnen.

Gerade wollte ich ein Video über niedliche Welpen aufrufen, um den vagen Schmerz in meinem Herzen zu vertreiben, da sprang mir ein Name ins Auge.

Heather Stanhope war wieder da. Vier Minuten zuvor hatte sie etwas geschrieben.

Julie Apple hat dabei geholfen, meine beste Freundin zu ermorden. Nur zum Spaß. Komisch, oder?

Meine Hand flog zur Maus, um den Post zu löschen, doch bevor ich das konnte, fuhr der Browser herunter.

Als ich das Icon anklickte, um ihn wieder zu starten, blitzte in Neonrot ein Hinweis über meinen Bildschirm.

IHR BROWSER WURDE WEGEN IHRER VORKEHRUNGEN BEI MYSANITY GESCHLOSSEN. ZUGANG IST IN ZWEI STUNDEN WIEDER MÖGLICH. DANKE, DASS SIE UNSERE DIENSTE NUTZEN.

Frustriert knallte ich meine eiskalte Hand auf den Schreibtisch und schnitt mich an der Kante.

Ritzen, in der Tat.

»Wie ist es möglich, dass sie einen Kommentar auf meiner Seite abgibt?«, fragte ich meinen Anwalt Lee Williams, während ich mit dem Handy am Ohr durch das Wohnzimmer tigerte. Bei einem Stundensatz von sechshundertfünfzig Dollar war er angeblich der beste Anwalt in Sachen Doxing, einer neuen und immer häufiger vorkommenden Straftat, bei der Menschen im Internet persönliche Informationen über andere verbreiteten. Den Begriff Doxing war nur einer von vielen, die ich lernen musste. Darunter Catfishing, was bedeutet sich als ein anderer ausgeben, um jemanden in eine Beziehung zu locken. Doxbin dagegen ist eine Internetseite, auf der man persönliche Informationen über bestimmte Leute teilte, eine Art Wikileaks für miese Exfreunde. Dazu kamen mehr juristische Begriffe, als ich je in meinen Romanen benutzen konnte.

»Das hatten wir doch schon, Julie.« Für jemanden, der so groß und breit war wie er, hatte Lee eine erstaunlich hohe Stimme. Als ich mich das erste Mal mit ihm traf, musste ich mir alle Mühe geben, nicht loszukichern. Das lag jedoch vielleicht auch an dem Wodka, den ich mir damals regelmäßig beim Frühstück in meinen Orangensaft mixte. »Wenn sie neue E-Mail-Adressen und Onlineprofile hat, können wir nicht mehr tun, als sie zu melden, sobald sie etwas schreibt, und sperren zu lassen.«

»Verstößt sie damit nicht gegen ihre Auflagen? Kann man sie nicht ins Gefängnis stecken oder zumindest ihren Internetzugang sperren wie bei den Pädophilen?«

»So weit ist die Gesetzgebung noch nicht, so leid es mir tut.«

»Warum verklagen wir sie dann nicht?«

»Sie wissen, was ich davon halte.«

Ich hatte ihm genug bezahlt, damit er es mir sagte.

Bei einer Verleumdungsklage ist man nur einen einzigen Tag glücklich und zwar, wenn man die Klage einreicht, spulte er sein Sprüchlein ab. Danach gäbe es jeden Tag neue eidesstattliche Versicherungen, Untersuchungen und Behauptungen, also alles, was ich ursprünglich vermeiden wollte. Außerdem zusätzliche Publicity, die ich satthatte, wie ich bereits tausendmal erklärt hatte.

Außerdem: Wer sich verteidigt, klagt sich an.

»Sie müssen einen Weg finden, das zu umgehen«, erklärte er. »Haben Sie darüber nachgedacht, Ihr Facebook-Konto zu schließen?«

Ich blickte aus dem Fenster, saugte an dem Schnitt in meiner Hand und spürte den metallischen Geschmack meines Bluts auf der Zunge. So was passierte mir ständig. Ich stieß gegen Möbel, schnitt mich an scharfen Kanten. Daniel nannte mich ein tollpatschiges Trampel. In meinem Fall war diese Redundanz gerechtfertigt.

John stand auf der Leiter und hatte die Hände in der Dachrinne. Da es schüttete, wirkte er vollkommen durchweicht. Über die Dachrinne floss das Wasser die Fassade hinunter. Da war wohl etwas verstopft. Was sollte ihn sonst bei derartigem Wetter vor die Tür locken?

»Dann hat sie gewonnen«, sagte ich.

»In diesem Fall gibt es keine Gewinner oder Verlierer.«

»Sie haben gut reden.«

Daraufhin schnalzte er missbilligend mit der Zunge, wie stets, wenn ich seine Geduld auf die Probe stellte. Ein Geräusch, durch das ich mich nichtswürdig fühlte, als wäre ich das Opfer einer Massenhysterie.

Gab es wirklich keine andere Möglichkeit für mich? Entweder verließ ich die sozialen Netzwerke oder musste lernen, mit derartiger Häme umzugehen, ohne etwas dagegen unternehmen zu können?

Ich war quer durchs Land umgezogen. Musste ich vollkommen vom Erdboden verschwinden?

»Wie läuft’s mit dem Buch?«

»Es würde sehr viel besser laufen, wenn ich mich nicht mit so einem Scheiß beschäftigen müsste.«

»Das kann ich mir vorstellen. Machen wir es dann so?«

»Da gibt’s ja nichts zu machen.«

»Nein, ich fürchte, nicht.«

Wir beendeten das Gespräch. Ich sah John zu, der in seiner Dachrinne herumstocherte und schließlich einen großen Klumpen Blätter entfernte. Daraufhin schoss das Wasser durch das Fallrohr. John jubelte so laut, dass ich es durch den Regen hören konnte.

Hätte doch nur mein Leben auch so schnell in Ordnung gebracht werden können.

»Wieso gehen wir da hin?«, fragte Daniel, als wir am Ende des Tages die Straße hinuntereilten, während die Zwillinge vorausliefen.

Es hatte endlich aufgehört zu regnen. Dennoch strömte ein Bächlein Regenwasser über den Asphalt. Wir befanden uns auf dem Weg zur monatlichen Blockparty bei den Suttons. Im Willkommensbrief hatte gestanden, dass einmal im Monat eines der vierzig Häuser unserer zwei Blöcke langen Straße alle Nachbarn zu einem geselligen Freitagabend beherbergte. Vertraute Nachbarn sind gute Nachbarn, stand als Motto unten auf allen vierzehn Seiten mit Nützlichen Telefonnummern und Kaum bekannten Fakten.

Ich hatte Cindy ein paar Tage nach unserem Einzug kennengelernt. Sie unterbrach mich, als ich gerade eine spannende, für Buch Zwei wesentliche Szene umschrieb, und zwar, um mir einen großen Präsentkorb zu überreichen, einschließlich gesunder Snacks für Ihre Kinder, weil Sie sicher keine Zeit hatten, die Bioabteilung im Supermarkt zu suchen.

Halb betäubt hatte ich ohne einen Kommentar den Präsentkorb entgegengenommen und war sie erst losgeworden, als ich murmelte, ich müsste meine Kinder von der Schule abholen. Wie dreist ihre Bemerkung war, entdeckte ich ein paar Tage später, als ich es endlich in den Supermarkt schaffte. Nur jemand, der sich absichtlich darum bemühte, konnte die Bioabteilung verfehlen. Später, als ich die orangeroten Finger der Zwillinge abschrubbte, überkamen mich Schuldgefühle. Sie hatten eine ganze Tüte Käseflips verspeist. Dann sagte ich mir, dass in Maßen alles erlaubt war, und zwang sie beim Abendessen, eine Extraportion Gemüse zu essen.

»Um unsere neuen Nachbarn kennenzulernen?«, sagte ich zu Daniel. Wir gingen auf meinen Vorschlag hin, obwohl so etwas normalerweise nicht mein Ding war. Aber ich brauchte neue Freunde. Das war mir an jenem Nachmittag klar geworden, nach dem fruchtlosen Telefonat mit Lee. Ich brauchte jemanden, bei dem ich Dampf ablassen konnte, wenn die Heather Stanhopes dieser Welt mir zusetzten, ohne dass es mich sechshundertfünfzig Dollar die Stunde kostete.

»Hast du ihnen gesagt, sie sollen sich verkleiden?«, fragte Daniel und wies nickend zu den Zwillingen, die zur Party unbedingt Halloween-Kostüme anziehen wollten. Sam stellte Jake aus Jake und die Nimmerland-Piraten dar, und Melly war Merida aus Legende der Highlands und wirkte mit ihrer flammend roten Lockenperücke ein paar Zentimeter größer. Die Verkleidung trugen sie seit gestern Nachmittag, als sie, wie im Willkommensschreiben empfohlen, im Hellen von Tür zu Tür gegangen waren.

Kluge Nachbarn sind vorsichtige Nachbarn.

»Du weißt doch, dass sie die Kostüme bis Weihnachten tragen werden«, sagte ich.

Wir waren legerer gekleidet als die Zwillinge. Ich trug eine dunkle enge Jeans und einen grauen Kaschmirpullover, den ich mir gegönnt hatte, als Das Buch auf Platz eins kam. Daniel hatte Jeans und einen Pullover an, der seine Augen seltsamerweise blau wirken ließ.

»Wahrscheinlich.«

»Es war nie unsere Stärke, sich gut einzufügen.«

»Allerdings.«

»Bin ich eigentlich der einzige Mensch auf der Welt, der Halloween hasst?«

»Gut möglich.«

Ich schlug Daniel leicht auf den Arm. »Wieso hast du mich dann geheiratet?«

»Weil du unheimlich sexy warst. Mit deinem schiefen Pferdeschwanz und der Bibliothekarinnen-Brille …«

Wir hatten uns kurz vor den Abschlussprüfungen meines Jurastudiums kennengelernt, als er sich zum Lernen in die Fachbibliothek geschlichen hatte. Und er hatte nicht die sexy Jogginghose erwähnt, die ich damals seit drei Tagen trug.

»Wo ist die Brille übrigens abgeblieben?«, erkundigte sich Daniel.

»Vor zwei Umzügen verschütt gegangen.«

»Sehr schade.«

Er neigte sich zu mir, um mir einen Kuss zu geben, und sein Bart kitzelte auf meiner Haut.

»Mommy, Mommy, los, los!« Melly blieb vor uns stehen, bevor unsere Lippen sich trafen, und zerrte an meiner Hand. Sam zwängte sich zwischen sie und Daniel.

Daniel und ich lächelten uns über ihre kostümierten Köpfe hinweg an.

Gleichzeitig fragten wir: »Einmal herumwirbeln, Kinder?«

»Ja!«

Wir streckten die Hände aus, und sie bauten sich jubelnd vor uns auf.

»Vielen Dank«, sagte Cindy mit leicht besorgter Miene, als sie die Flasche Bordeaux von Daniel in Empfang nahm. Ihr Haus war eines der beiden, die mit ihrer Fassade aus verwitterten Zedernschindeln an Cape Cod erinnerten.

Cindy war recht hübsch, wie eine ehemalige Cheerleaderin, und wog zehn Pfund mehr, als ihr lieb war. Pfunde, die nur eine Frau bemerkte. Sie senkte die Stimme. »Sie wissen schon, dass dies eine alkoholfreie Party ist, oder?«

»Selbstverständlich«, sagte Daniel mit seinem in Vorstandsetagen erprobten Charme. »Das ist für nachher gedacht.«

Er lächelte strahlend und stieß sie ganz leicht an, was normalerweise fast jede Frau zwischen achtzehn und achtzig in Erregung versetzte.

Cindy war da keine Ausnahme.

»Dann bring ich das nur rasch in die Küche«, sagte sie mit geröteten Wangen. »Damit keiner auf falsche Gedanken kommt.«

»Wie sollten die denn aussehen?«, murmelte Daniel, nachdem sie verschwunden war und die Zwillinge in Richtung Kindergebrüll aus dem Souterrain flitzten. »Ich dachte, der Witz bei einer Blockparty besteht gerade darin, dass man nach Hause laufen kann, wenn man einen in der Krone hat?«

»Offenbar nicht.«

»Stand die Sache mit dem Alkoholverbot auch in diesem Willkommensding?«

»Kann sein.«

»Dann gehen wir nie wieder zu einer dieser Partys.«

»Ach, komm schon, Schatz.«

»Okay, dann bringe ich das nächste Mal einen Flachmann mit.«

»Gute Idee.«

Ich überflog das Zimmer auf der Suche nach einem bekannten Gesicht und verspürte dieselbe Unsicherheit wie jedes Mal in einem Raum voller Fremder.

Daniel war der geborene Verkäufer. Ob mit Alkohol oder ohne, er würde drei neue Freunde gefunden haben, bevor die Klarsichtfolie von der Rohkostplatte entfernt war.