Zirkus / Kommentar - Alexander Kluge - E-Book

Zirkus / Kommentar E-Book

Alexander Kluge

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Beschreibung

Seit frühester Kindheit ist der Zirkus für Alexander Kluge ein Faszinosum und ein Phänomen seiner Zuwendung, die sich über sein filmisches Werk (Die Artisten in der Zirkuskuppel, ratlos) bis in die jüngsten seiner literarischen Arbeiten erhalten hat. In ihm findet er das »Schattenbild der Arbeit« und zugleich das Inbild menschlicher Spitzenleistung von Liebe über Krieg bis zur Revolution. Denn die im Zirkus vorgeführten Leistungen sind Projektionsflächen von Utopien, bieten ein fassliches Bild für Entwicklungen der Zivilisation mit ihren fast unendlichen Möglichkeiten und zwischenzeitlich unvermeidlichen Abstürzen – gleich ob der Beifall aufrauscht oder die Artisten auf dem Boden der Manege ihre Glieder zählen.

In Wortfeldern, Bildern und Filmsequenzen (QR-Codes) öffnet sich auf 200 Seiten ein breites Panorama, in dem sich ratlose Artisten und hochdiffizil operierende Chirurgen ebenso tummeln wie die Kampfpiloten im Zirkus der Lüfte, allmachtstrunkene Sansculotten und nicht zuletzt: die Tiere, deren übermenschlichen Leistungen zwischen Dressur und Flucht dieses Buch ein bleibendes Denkmal setzt.

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Seitenzahl: 96

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Titel

Alexander Kluge

Zirkus/Kommentar

»Wir Artisten geben unser Leben für etwas, das seine Toten wert ist …«

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2022

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-76964-5

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

1 Das Virus als Verwandlungskünstler

Das Virus als Verwandlungskünstler

Strandung eines Zirkus während der Quarantäne

»Wir brauchen in ernsten Zeiten keinen Jux.«

Der Nika-Aufstand

Nichterfüllung eines Kinderwunsches

Warum ich in den Zirkus als Thema meiner Filme vernarrt bin

Nach ABSCHIED VON GESTERN

Wieso »ratlos«?

Angriff auf eine dicke Tür aus Glas

Medizinische Nothilfe

Ehrenplatz für den Chirurgen

Unvollendete Geschichte als artistisches Projekt

Widerspenstigkeit aller Landesteile Brasiliens gegen die Einheit

Der leichtsinnige Präsident, der die Ehrenbezeichnung »Politiker« nicht verdient

»Wie aus einem Anfängerfehler ein schönes Resultat hätte werden können« (Heiner Müller)

Ein Zirkusdirektor des Zufalls

Fliegender Zirkus

2 Am Grenzübergang brüllten die Tiere / Im Zirkuszelt erlöschen die Lichter

Kehrtwendung des Zirkus »Gleich«

»Friedensschluss der Klassen unter der Zirkuskuppel«.

Zirkus, ein Dom von Gerüchen

Der Geruchssinn als Bauteil moderner Gedankenarbeit

Einst war ich für Zirkus zuständiger Genosse

Sturmwarnung

Gespräch mit Kong über das menschliche Herz

Endlich Kurs auf die festlose Zeit

Massensterben von Zirkusunternehmen

Lamento eines Zirkusabwicklers bei der Treuhand 1990

Der Rettungsweg Nummer eins dagegen (»Kulturgut«) wäre meines Erachtens das Ende der Zirkusfreude

Vertrauenswürdigkeit von Fakten

Bericht über Schutzengel im Zirkus

3 ARBEIT / Können! Zirkus / Kunst

Kommentar zu »Kreisförmiges Arbeitsfeld, Sichtfeld am Arbeitsplatz«

Deutsches Wörterbuch

Kommentar zu »Organisationsarbeit«

Eine besondere Art von »Zirkus«

Der »Zirkus« einer Panzerdivision

»Worte, die nicht unter den Begriff

Arbeit

fallen«

Anfänge der Menschenkunst

»Ein Artist in Not«

Überlistung der Schwerkraft

»Vereinte Kräfte« / »Gefügeartige Arbeit«

Anti-Schwerkraftkämpfer

Eine rettende Tat

4 Entstehung der Hochbauweise von New York aus dem Geiste der Vergnügungsparks

Rem Koolhaas

Walter Benjamins Lieblingsfilm

»Die Liebe träumt von ihrer absoluten Gewalt«

Der Wahrsager als Utopist

Die Achterbahn

Schon verloren geglaubter Traum / Brauchbarkeit

5 Die Neugier auf das »wahre Wilde«

Hybride Formen des Zirkus

Der Theater- und Showunternehmer Cunningham mit seiner »Kannibalen-Gruppe« in Halberstadt

Die Gründung von Cunninghams erster Show

Cunninghams zweite Show

Diebstahl an einer Show

6 Tiere im Bombenkrieg

Zirkus in Quarantäne

Jetzt, im ersten vollen Kriegsjahr 1940

Sturheit der Ortspolizei bei der Anwendung luftschutzrechtlicher Bestimmungen

Richtungsstreit im Reichspropagandaministerium über den Wert des Zirkus im Kriege

Luxustransport mitten im Krieg

Artistische Genies zum Gratispreis aus dem besetzten Polen

Sensibilität der Kreatur für den Ton bombentragender Flugzeuge

Zootiere im Bombenkrieg

Flucht der Tiere

Mut der Artisten – eine heilige Sache

7 Er rettete das Liebste, was er besaß, und zugleich eine Nachhut von zwölf Elefanten

Er rettete das Liebste, was er besaß, und zugleich eine Nachhut von zwölf Elefanten

Elefanten verhüten eine Panik

Den Zirkusdirektor Sarrasani befiel ein Herzleiden

Die Stadt Chicago liegt auf Sumpfgebiet

Der Brand des Elefantenhauses in Chicago

Das Böse ist ein Trümmerstück

Klumpung von Unglück

Eine Delegation von Elefantenseelen spricht

Nachweise und Hinweise

Bildnachweise

Dank

Fußnoten

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Abb. 1

Abb. 2

Abb. 3:Der Hirsch springt über die Gruppe der Jäger sowie durch die wie einen Reifen gehaltene Peitsche des Dompteurs.

Abb. 4

»WIR ARTISTEN AN DER WERKBANK, IN DEN ZENTREN DER WISSENSCHAFT, IN LIEBESDINGEN, IN DEN LEBENSLÄUFEN UND IN DER POLITIKSIND KINDER DER LEISTUNGSGESELLSCHAFT.

NICHT FÜR EIN ERBE, NICHT VOM ACKER, NICHT FÜR RAUBZÜGE MIT DEM SCHWERT LEBEN WIR, SONDERN WIR BÜNDELN DIE EIGENEN KRÄFTE. WIR SIND BAULEUTE UNSERER ZUKUNFT. UNTER DER ZIRKUSKUPPEL ÜBEN WIR UNS ALS PLEBEJISCHE REPUBLIKANER. UNSERE REPUBLIK HAT SELTSAME EIGENSCHAFTEN …«

Abb. 5:Katholische Hochzeit im Löwenkäfig.

Abb. 6

Abb. 7

1

Das Virus als Verwandlungskünstler

Abb. 8

Abb. 9/10:Viren unter dem Elektronenmikroskop.

Das Virus als Verwandlungskünstler

Unter dem intensiv sein Ultraviolett verbreitenden Blauhimmel des April 2020 gab es keinen Zirkus. Die Vorstellungen abgesagt. Nur weil die Masse der heutigen Kinder nichts von einem konkreten Zirkusangebot weiß, wurde keine TIEFE TRAUER VON KINDERN bekannt, weil der Zirkus ausfiel. Die Masse der Kinder wusste von keinem Zirkusangebot.

Das Virus COVID-19 geht zurück auf eine Generationenfolge von RNA-Fragmenten, deren Ahnenreihe letztlich bis in die Zeit von vor 3,5 Mrd. Jahren zurückreicht. Die frühesten Generationen liegen genau an der Nahtstelle zwischen lebendig und tot – halb Hardware, halb Software. Das ist im Prinzip so geblieben.

Eine Generationenkette von Zirkusreiterinnen, deren Familien aufeinanderfolgen – alle übten schon als Kinder in den 13 Quadratmetern der Manege –, ist in nichts zu vergleichen mit der Masse der VERMEHRUNGSSÜCHTIGEN PLATONISCHEN KÖRPER, die wir Viren nennen. Die evolutionäre Intelligenz dieser Viren ist von der unsrigen fast völlig verschieden. Im Gegensatz zum riesenhaften Alter ihrer Abstammungsketten haben sie sich, obwohl ihre Biomasse dazu ausreichen würde, nie zu Gebilden von Elefantengröße entwickelt. Sie ändern ihre Zusammensetzung und ihre Eigenschaften ständig, indem sie durch Kopierfehler mutieren. Diese Wandlungsfähigkeit ist der Grund dafür, dass Manfred Eigen sie eine Quasi-Spezies nennt. Sie bilden keine Gattung, sondern changieren. Sie sind Verwandlungskünstler: robust, ubiquitär, »analphabetisch«, nie größer, als sie von jeher waren, und in dieser Ungreifbarkeit UNBEZWINGLICH. Sie verhalten sich wie »Schauspieler der Evolution«.

Strandung eines Zirkus während der Quarantäne

Der Landkreis in Westdeutschland, in dem sich ein großer Fleischverarbeitungsbetrieb befand, von dem Kontaminationen mit dem Virus ausgingen, war bei der Gewerbeaufsicht auf Kritik gestoßen. Der Landkreis war vom Landtag und vom zuständigen Ministerium gerügt worden. Als jetzt ein Zirkusunternehmen, das dringlich Veranstaltungen brauchte, um seine Tiere zu füttern, um die Erlaubnis bat, sich auf einem Anger mit einem Programm zu etablieren, antwortete der städtische Dezernent unwirsch: »Wir lassen keine WANDERNDE PEST in die Stadt.« Der Zirkus hatte vorgeschlagen, die Vorstellungen zu verkürzen und jeweils nur eine kleine Zahl von Zuschauern einzulassen. Zwei Meter Abstand der Besucher auf den Bänken sei garantiert. Maskenpflicht. Auch für die Artisten. Die Clowns hatten Maskerademasken für sich erfunden: Masken, die, wenn man sie abriss, zu neuen Maskierungen führten, und das bis zu dreizehn Mal.

Das Gesundheitsamt der Stadt hatte jedoch aufgrund der Aufwirbelungen, verursacht durch die Tiere und die Künstler, eine Aerosol-Gefahr für das Luftfeld über der Manege festgestellt. Das Amt hielt jede Zirkusveranstaltung für ausgeschlossen. Dabei waren in diesem Bundesland Kinovorstellungen erlaubt. Der Zirkus besaß nicht die gleiche Lobby. Er besaß auch nicht die Geldmittel, einen Anwalt zu bezahlen, der vor dem Verwaltungsgericht wegen Ungleichbehandlung geklagt hätte. Zuletzt wurde auch die Veranstaltung eines Geisterzirkus (ohne Zuschauer) vom Amt abgelehnt.

»Wir brauchen in ernsten Zeiten keinen Jux.«

Gegen diesen Ausdruck des städtischen Dezernenten verwahrte sich der Zirkusprinzipal. Wiederum scheiterte eine wirksame Gegenwehr am fehlenden Anwaltshonorar für den Zivilprozess.

Im Verlauf dieser Auseinandersetzung mit der Verbotsbehörde verlor der Familienzirkus seine letzten Rücklagen. Die Tiere brüllten. Es kam es zu einer Untersuchung durch das Ordnungsamt. Dem Zirkus wurde die Gewerbelizenz entzogen. So kam es zum Konkursantrag. Die wertvolle Restmasse, das Können der Artisten und das Verständnis der Tierbändiger, wurde im Verfahren nicht bewertet. So hat das Virus einen der wenigen überlebenden Zirkusse im Lande umgebracht. Durch Sekundäreffekt. Das Virus: ein destruktiver Alleskönner.

Abb. 11:Pferdekunst als ein antikes Panorama.

Abb. 12:Zirkus in der Französischen Revolution 1793. »Apotheose der Vernunft«.

Der Nika-Aufstand

Seit Wochen bekämpften sich in den Straßen die Zirkusparteien von Byzanz, die GRÜNEN und die BLAUEN. Im 6. Jahrhundert sind die Wagenrennen das Hauptereignis im Zirkus. Der Kaiser befindet sich verborgen hinter den Leinwandflächen seiner Loge. Davor die Silentiarii und einige Beamte. Sie sorgen dafür, dass um die Loge so etwas wie Schweigen dem Gebrüll von den Zirkusrängen und dem massiven Geräusch der Pferde und Wagen entgegenwirkt. In Chören können die Demen (»Völker«) ihre Wünsche mitteilen. Der Kaiser hört sie. Gelegentlich gibt er durch ein Handzeichen oder durch seine Sprecher Antwort. Dazu muss er aus seinem Zelt heraustreten.

Im Zirkus brachen bereits viele Aufstände aus. Kaiser wurden zur Flucht getrieben, Ersatzkaiser eingesetzt.

Heute sind durch den Präfekten der Stadt verschiedene Anführer beider Parteien, so viel GRÜNE wie BLAUE, verhaftet worden. Vierzehn davon wurden zum Tode verurteilt. Während der Vollstreckung brechen zwei der Holzgerüste auseinander, an denen die Verurteilten zu Tode gebracht werden. Es geschieht selten, dass eine dieser robusten Anlagen zerbricht. Merkwürdig, dass hierdurch zwei ranghohe Anführer der GRÜNEN und zwei ebenso ranghohe Anführer der BLAUEN paritätisch vom Tode vorläufig verschont werden.

Die verfeindeten Zirkusparteien vereinigten sich. Sie forderten Abbruch der Vollstreckung. Gott hat eingewirkt. Der Kaiser schweigt. Auch dies ungewöhnlich, da er stets antwortet, wenn BEIDE DEMEN, d. ‌h. die gesamte Tribünenfläche, ihre Wünsche äußern. Keine Reaktion in der Loge. Wie eine Puppe der Kaiser, bewegungslos. Die Beamten um ihn herum sind unruhig. Inzwischen werden die GERETTETEN VERURTEILTEN von Mönchen in einer Kirche, ganz in der Nähe des Zirkus, in Sicherheit gebracht. Das Asyl ist nicht unberührbar, aber ein Eindringen der Garnison in das Heiligtum wäre für beide Parteien des Zirkus das Zeichen zum offenen Aufstand. Auch so ist die Aufregung groß. Mit Latten und Stangen bewaffnete Haufen ziehen vor die Präfektur, zünden sie an.

Am nächsten Tag betritt der Kaiser den Zirkus, als sei nichts geschehen. Beide Zirkusparteien fordern erneut Begnadigung. Wieder antwortet der Kaiser mit keiner Geste. Es ist aber bekanntgeworden, dass er Truppen aus Adrianopel heranzieht. Was will er mit Truppen in den undurchdringlichen Straßen der Hauptstadt? Das Verhalten des Kaisers erscheint, so der Althistoriker Mischa Meier, nach den im Jahr 2003 verfügbaren Quellen als STICHELEI. Wollte er einen Aufstand provozieren, um anschließend durch dessen Unterdrückung ein ZEICHEN SEINER MACHT zu demonstrieren? Dafür spricht jedes Detail des äußeren Verlaufs.

Der Kaiser jagt die Truppen Belisars auf die Straßen. Sie erleiden Verluste, sammeln Wut. Er entlässt den Präfekten, den Leiter des Finanzressorts und andere seiner Gefolgsleute, als fürchte er sich. Gerüchte, er werde die Hauptstadt verlassen, werde fliehen, sind gestreut. Einen Neffen des vorvergangenen Kaisers Anastasios beredet Justinian, sich aus dem Palast zu entfernen. Es steht fest, dass das VEREINIGTE VOLK diesen Erben sogleich zum neuen Kaiser ausrufen wird. Der junge Mensch sucht sich zu verweigern. Er fürchtet, dass er geopfert werden solle. Seine Berater protestieren. Der Kaiser verspricht ihm Belohnung, wenn er sich zu diesem Schauspiel ENTFERNUNG VOM HOFE hergibt. Es geschieht, was erwartet wird. Die Volksmenge, verstärkt durch hohen Adel, Beamte – die Häupter des Verrats am Kaiser zeigen sich –, erhebt den protestierenden Jüngling zum neuen Kaiser.

General Narses hat inzwischen durch Bestechungsgeschenke und Streuung von Nachrichten die Häupter der GRÜNEN und der BLAUEN