Zone 9 - Mascha Fekete - E-Book

Zone 9 E-Book

Mascha Fekete

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Beschreibung

Die Residenz regiert über zehn Zonen, letzte Refugien der Menschheit. Kyra lebt in der neunten Zone, die von drei Gruppen beherrscht wird. Die Springer kämpfen für Recht und Ordnung, während die Sinister versuchen, den Guides die Macht zu entreißen. Kyra träumt davon, aus dem riesigen Gebäude auszubrechen und zu sehen, was sich außerhalb verbirgt. Evakuierungen von höherrangig gestellten Mitgliedern der Zone und schließlich das mysteriöse Verschwinden ihrer Freundin Ava ändern ihren Plan. Irgendetwas geht in der Zone vor sich, und es ist nichts Gutes …

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

04/2023

 

Zone 9 - Caput Leonis

 

© by Mascha Fekete

© by Hybrid Verlag, Westring 1, 66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2023 by Mascha Fekete

Lektorat: Matti Laaksonen, Emilia Laforge

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Paul Lung

Autorenfoto: privat

 

Coverbild ›Adaption – Kadett 889‹

© 2022 by Magical Cover Design, Giuseppa Lo Coco

Coverbild ›Dangerous Person – Die Verdammten‹

© 2020 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Die letzte Melderin I. – Die Nachfolge‹

© 2018 by Katharina Netolitzky; Bilder: Stocksnap.io

Coverbild ›Ich ohne Wir – Elimination‹

© 2021 by Creativ Work Design, Homburg /Lizenzfreie Stockfoto-Nummer: 465238286, Bildnachweis: Krivosheev Vitaly / Lizenzfreie Stockfoto-Nummer: 1662258973, Bildnachweis: kornwa

 

ISBN 978-3-96741-199-7

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

Printed in Germany

 

 

Mascha Fekete

 

 

 

 

 

Zögere nicht.

Sie werden es auch nicht tun.

 

 

 

 

 

Dystopie

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für meine Mutter, die mich lehrte, dass ich alles schaffen kann, wenn ich daran glaube.

 

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechszehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Kapitel Fünfundzwanzig

Kapitel Sechsundzwanzig

Kapitel Siebenundzwanzig

Kapitel Achtundzwanzig

Kapitel Neunundzwanzig

Kapitel Dreissig

Kapitel Einunddreissig

Kapitel Zweiunddreissig

Kapitel Dreiunddreissig

Kapitel Vierunddreissig

Kapitel Fünfunddreissig

Kapitel Sechsunddreissig

Kapitel Siebenunddreissig

Kapitel Achtunddreissig

Kapitel Neununddreissig

Kapitel Vierzig

Die Autorin

Hybrid Verlag …

 

 

 

Wir rennen durch den kahlen Korridor. Kugeln rasen um mich wie ein Tornado, fetzen an meinem Gesicht vorbei, wie Bruchstücke einer untergehenden Siedlung. Jeden Moment kann mich eine davon treffen. Er dreht sich im Lauf um und schießt nach hinten. Gibt uns Rückendeckung. Ich inmitten dieses Schusswechsels. Ich weiß nicht, wie viele hinter mir fallen. Wie viele Seelen dieser Sturm in den Himmel trägt. Kann mich nicht nach ihnen umdrehen. Fliehe vor dem Tod. Ich sollte schießen. Das ist alles, was ich weiß.

Bereit zum Abschuss hebe ich die Waffe. Meine Hände frieren ein. Der Abzug liegt wie aus Blei gegossen unter meinem Zeigefinger. Keine Kraft der Welt könnte ihn hinunterdrücken. Mein Leben zieht an mir vorbei. Mein Leben, wie es einmal war. Ich erinnere mich, wie ich vor dem kleinen Fenster meines Zimmers saß und in die beige Welt blickte. Ich erinnere mich an jede Sekunde. Jede Handbewegung. Jeden Gedanken. Damals … Als wäre es heute.

 

 

 

 

 

Kapitel Eins

 

 

 

Die Welt ist eine einzige Wüste. Jedes Mal, wenn ich aus dem Fenster meines Zimmers blicke, frage ich mich, wie es vor zwanzig Jahren gewesen war. Ich habe mein ganzes Leben in der Zone 9 verbracht — ich kenne es nicht anders. Ein dicker Stempel ziert meine Stirn. Das erste Kind, das in dieser Zone geboren wurde. Zu Großem bestimmt. Nein, das bin ich ganz sicher nicht. Ich bin ein Niemand und werde auch nichts Großartiges bewirken. Das Einzige, um das ich mich sorge, ist zu überleben. Überleben im Chaos.

Nur wenn ich zu den Dünen hinausblicke, habe ich das Gefühl, wirklich atmen zu können, was seltsam ist, da die Luft da draußen mich umbringen würde. Ein Windzug streicht über den Sand und wirbelt die Körner auf. Wie es sich wohl anfühlen würde, wenn der Wind durch mein Haar gleitet? An seltenen Tagen, wenn die Wärme der Sonne durch mein Fenster blitzt, schließe ich meine Augen und stelle mir vor, draußen zu stehen. Tief atme ich ein und lasse weite Landschaften vor meinem inneren Auge entstehen. Grüne Wälder, wie ich sie aus Büchern kenne. Ich stelle mir vor, wie sie riechen könnten, wie sich die Rinde eines Baumes oder gar der Regen auf meiner Haut anfühlt. Doch sobald sich meine Lider wieder öffnen, kehrt der beklemmende Gedanke zurück, dass ich hinter den Mauern der neunten Zone verrotten soll. Täglich kommen mir die Gänge enger vor, die Zimmer kleiner und die Decke tiefer. Und wenn mir das Gefühl die Kehle zuschnürt, kämpfe ich mit mir selbst, keines der Fenster einzuschlagen — denn das wäre mein Tod. Die Luft des gesamten Planeten ist verseucht. Die Residenz hat zehn Zonen geschaffen, um die Menschen am Leben zu erhalten. Sie haben einen riesigen Filter erbaut, um das Atmen in diesem siebenstöckigen Gebäude zu ermöglichen. Wenn ich dicht an mein Fenster herantrete, kann ich noch einen Teil des weißen Schachts erkennen, der sich die Hauswand hochschlängelt.

Grausame Gerüchte schwirren durch die Zone, was mit denjenigen passiert, die sich hinauswagen. Verätzung der Luftröhre. Lähmung bis zum Tod. Herzstillstand. Fakt ist, dass es niemand wirklich weiß und jene, die es wissen, nehmen die Kenntnis mit in den Tod.

Meine Gedanken drehen sich eher darum, ob die Wälder wirklich existieren oder es nur diesen Sand gibt. Die Aussicht, es nie herausfinden zu können, ist mehr als deprimierend. Meine Mutter ist der Meinung, wir sollten alle Gedanken an die Außenwelt verdrängen und uns glücklich schätzen, hier leben zu können. Die meisten haben es damals nicht in eine der Zonen geschafft. Mit mir schwanger, sind meine Eltern vor achtzehn Jahren in die neunte Zone gesteckt worden und konnten sich ein neues Leben aufbauen.

Manchmal erzählt mir meine Mutter, wie es vor der Seuche war. Die alte Welt. Sie wuchs auf einer Farm mit Hunderten von Apfelbäumen auf. Wir haben hier in Zone 9 auch Äpfel, aber Mutter meint, die schmecken nach nichts. Nicht wie Vater, der behauptete, sie wären das Beste, was die Zone zu bieten hat. Leise seufzend lasse ich den Kopf gegen die Fensterscheibe sinken. Ich vermisse ihn, auch wenn er früher nicht oft zu Hause war. Vater starb, kurz nachdem meine achtjährige Schwester auf die Welt kam. Mit seinem Tod hat unsere Familie ihren Wert verloren, denn in der Zone zählt nur der des Familienoberhauptes. Hat man keines, ist man stellenlos und hat wenig Chancen auf jeglichen Erfolg. Ich hatte das Glück, dass Vater damals einen sehr guten Freund im Botenbüro hatte. Er half mir schon in jungen Jahren, dort einen Job zu ergattern, auch wenn meine Mutter nicht glücklich über diesen ist. Sie meint, es sei zu gefährlich für ein so junges Mädchen wie mich. Ich sehe das ein wenig anders. Das Geld konnten wir schon immer gebrauchen und durch den Job habe ich die Möglichkeit herumzukommen.

»Kyra!«, ruft mich meine Mutter. »Ava ist da.«

Mein Blick zuckt zu meiner kleinen Standuhr. »Ich komme!«

Ava ist meine beste Freundin, oder besser gesagt meine einzige richtige Freundin in der Zone. Wir kennen uns seit der Kindheit und machen so ziemlich alles zusammen. Ich springe auf und stolpere fast zu dem Klamottenstapel neben meiner Matratze. Ein letztes Mal gleitet mein Blick aus dem Fenster, bevor ich mir das erstbeste Shirt überstreife. Vor dem Spiegelsplitter, den Ava vor ein paar Jahren an meine Wand geklebt hat, binde ich mir eilig die braunen Haare zusammen und werfe meine Umhängetasche um.

»Was machst du denn so lange?« Meine Mutter bleibt im Türrahmen stehen und zieht beide Augenbrauen nach oben.

Doch das erste, was meinen Blick fängt, sind ihre dunkelblonden Haare, die zu einem hohen Dutt zusammengebunden sind. Dazu das elegante hellblaue Shirt? Oder zumindest eines der wenigen ohne Löcher. Garantiert hat sie ein Bewerbungsgespräch. Wieder einmal. Seit Vater tot ist, bekommt sie keinen Job mehr in der Zone, aber darüber will sie nicht sprechen. Also schneide ich das Thema von mir aus ebenfalls nicht an. Sollte sie abends immer noch kein Wort darüber verlieren, werde ich die Antwort sowieso kennen.

Ich dränge mich an ihr vorbei. »Ich bin doch schon fertig.«

»Du weißt, dass Fitsch nur darauf wartet, dich aus dem Botenbüro zu schmeißen. Obwohl mir das eigentlich auch nicht so unrecht wäre.«

Es quält meine Mutter, dass ich diejenige sein muss, die diese Familie am Leben erhält, weil sie es nicht kann. Deswegen tut sie immer so, als müsste ich diesen Job nicht machen.

Sie dreht sich um, greift in die Obstschale und wirft mir einen Apfel zu. »Für Aldor.«

Ich fange das Stück Obst mit beiden Händen und sende ihr einen Luftkuss. Ein breites Lächeln schießt auf ihre Lippen.

Auch wenn ich es eilig habe, nehme ich mir den Moment und versuche, mir diesen Ausdruck einzuprägen. Vermutlich werde ich ihn länger nicht zu Gesicht bekommen. Der Optimismus vor einem Vorstellungsgespräch bringt sie zum Strahlen, nur um dann mit jeder Absage in ein tiefes Loch zu fallen.

»Na geh schon«, sagt sie immer noch lächelnd und scheucht mich mit beiden Händen hinaus.

Ich zwinge meine Mundwinkel zu einem Grinsen in die Höhe. Es soll ihr Glück wünschen. Auch wenn ich nicht dran glaube, hoffe ich für sie, dass es diesmal klappt. Schweren Herzens wende ich mich von ihr ab und eile aus der Wohnung. Ich bin wirklich spät dran.

 

***

 

»Willst du, dass ich gekündigt werde?«, begrüßt mich Ava. Sie lehnt am Geländer direkt vor meiner Wohnung, beide Ellenbogen an den Eisenstangen und reckt die von Sommersprossen umgebene Nase. Als sie sich davon wegdrückt, rutscht das smaragdgrüne Shirt ihren Unterarm hoch. Das hatte ich ihr vor einem Jahr mal geliehen. Inzwischen habe ich mich mit dem Gedanken angefreundet, es nie wieder selbst zu tragen. Es hat sowieso einen Riss am Ärmelende.

»Tschuldige, ich hab mich in den Dünen verloren«, murmle ich und bemühe mich, keine Enge in meiner Brust aufkommen zu lassen. Was schwer ist, denn sofort stechen mir die grauen Wände in die Augen, die die neunte Zone zu einem Block formen. Sie stehlen mir jegliche Sicht auf den Himmel, die Wüste, die Sonne. Ich kann mich noch dumpf an eine Zeit erinnern, als die Mauern heller waren. Inzwischen hat sie der Dreck stark verdunkelt — zumindest in Ebene 2.

Die gesamte Zone 9 ist eigentlich ein altes Bürogebäude. Das Zentrum ist mittig offen und jede Ebene wird von einem schmalen Gang mit Geländer gerahmt. So kann man von jedem Stockwerk aus in die Halle der Ebene 1 hinuntersehen. Das ist ganz gut, denn dort finden unsere Versammlungen statt. Wäre da nicht die Tatsache, dass es dann fast unmöglich ist, einen Platz an den Eisenstangen zu bekommen. In den Gängen tummeln sich Menschenmassen. Jede dritte Tür im Zentrum wurde zu einem Geschäft oder einer Bar umfunktioniert.

Ava hebt eine Augenbraue und ihr leuchtend blauer Blick reißt meinen von den farblosen Mauern. »Du und deine Wüste. Irgendwann schmeiß ich dich dorthin hinaus.«

Wir lachen über Avas eigentlich gar nicht so lustigen Witz und gehen den Flur zwischen Geländer und Hauswand entlang. Kaum fünf Meter entfernt sitzt Aldor auf einem dunkelblauen Handtuch an die Wand gelehnt und winkt uns freundlich zu. Ein älterer Mann, der sich keine Wohnung in der Zone leisten kann. Jeden Tag bekommt er ein Stück Obst von uns. Wir haben zwar selbst nicht viel, aber meine Mutter findet es wichtiger zu teilen und wir kennen Aldor schon, seit wir hier leben.

»Hey Aldor, na, wie gehts dir heute?«

»Alles gut, Kyra. Danke«, antwortet er, während er den Apfel fängt. Die losen Fäden an seinen Ärmelenden schwingen dabei durch die Gegend. »Ihr zwei seht heute wieder so aus, als könntet ihr die ganze Zone für euch gewinnen. Heute wird ein guter Tag, das spüre ich.«

Aldor beißt in den Apfel und grinst über beide Ohren.

»Kyra will heute lieber in die Wüste«, neckt mich Ava, was mich mit den Augen rollen lässt.

»Die Wüste?«, fragt Aldor. »Die Wüste kenne ich nur zu gut. Sie ist trocken und heiß, doch auch wunderschön und unendlich. Wenn die Nacht die Hitze verdrängt und die Sterne den Sand erhellen, ist dein Geist frei.«

Aldors Worte dringen direkt in meine Seele. Nicht die Formulierung fasziniert mich, sondern die Echtheit darin. Er kennt die Wüste, hat sie selbst erlebt. Bevor wir in dieses Gefängnis gesperrt wurden, ist Aldor hunderte Male durch den Sand gewandert und ich fühle seine Worte, als würde ich sie selbst erleben. Sie schüren meine Sehnsucht.

Ava stößt mir den Ellenbogen in die Rippen. »Komm jetzt, sonst sind wir wirklich unseren Job los.«

Ava und ich arbeiten auf Ebene 3 — eine höher als unsere. Wir schlängeln uns an den murmelnden Menschenmassen vorbei. Aus einem der vielen Flure, die vom schmalen Gang am Geländer abzweigen, weht der Duft von frischem Brot. Die Tür des Bäckers muss offenstehen. Für einen Moment überdeckt er den Geruch des Schweißes der Menschen und ich sauge die Luft in meine Nase. Abgelenkt von der Geschmacksexplosion ducke ich mich erst im letzten Augenblick, um nicht in den bunten Tüchern hängen zu bleiben, die vor einem Geschäft baumeln. Am nächsten ziehe ich den Kopf knapp an etwas Glänzendem vorbei. Eine Pfanne, die an einem Haken von der Decke hängt, um die Kundschaft anzulocken. Die hing hier gestern noch nicht. Ich halte mich den Rest des Gangs links an dem Geländer, um nicht von dem restlichen Zeug erschlagen zu werden. Am Ende des Flurs gehen wir die Treppen hinauf zur Ebene 3.

»Meine Fingerknöchel brennen immer noch«, höre ich jemanden sagen.

Mein Blick schnellt zu dem Mann mit der rauen Stimme. Ein Sinister. Das Mitglied einer Gruppe von Idioten, die mit ihrem kampflustigen Gehabe die Zone für sich gewinnen wollen. Erpressung, Gewalt und ab und zu verschwindet ein Bewohner. Sie schrecken vor nichts zurück, um die Kontrolle zu erlangen.

Ihr Quartier liegt direkt hinter der Treppe in der dritten Ebene. Eine dunkle Flügeltür mit Kratzern, die im Deckenlicht schimmern. Ich stelle mir die Innenräume des Quartiers immer genau so düster vor, doch ich konnte noch nie einen Blick hinein erhaschen. Alles, was ich weiß, ist, dass es recht groß sein muss, denn bis zur nächsten Tür sind es einige Meter.

Der Mann lehnt neben einem weiteren Sinister an der Wand und hält ihm die Faust vors Gesicht. »Aber du willst nicht wissen, wie derjenige aussieht, dem ich diese roten Knöchel zu verdanken habe.« Ein fieses Schmunzeln wandert auf seine Lippen.

Mein Herz beginnt jedes Mal zu rasen, wenn ich einen von ihnen sehe, aber ich lass die Emotionen nicht in meine Augen steigen. Jetzt bloß keine Angst zeigen, sonst könnten sie mich als leichte Beute betrachten.

»Schade, dass es keiner von den Guides war«, erwidert der andere.

Meine Schritte werden schneller, länger. Ihre Blicke gleiten über die Bewohner, als würden sie uns überwachen. Ich zwinge mich dazu, wegzusehen. Vielleicht bemerken sie mich nicht, wenn ich ihnen nicht in die Augen blicke.

»Kyra!«

Ein Schauer rast bei der tiefen Stimme meinen Nacken hinunter und zieht sich wie eine Schlinge um meinen Hals.

Ich bleibe stehen.

»Sinpa!« Diesmal lässt mich die Beleidigung meine Zähne aufeinanderbeißen.

Sinpa bedeutet in der Zone so viel wie vaterlos. Ich dreh mich zu der Stimme um und erkenne Keno Fortis. Ein ehemaliger Klassenkamerad. Die dunkle Flügeltür fällt hinter ihm ins Schloss und er kommt geradewegs auf mich zu. Seit kurzer Zeit gehört er zu den Sinistern und bildet sich jetzt wohl etwas darauf ein. Da passt der Idiot auch gut rein! Er sieht aus wie der typische Surferboy, wie ich ihn aus alten Zeitschriften kenne. Seine blonden, schulterlangen Haare trägt er meist nach oben geknotet. Dazu strahlend blaue Augen. Außerdem ist er ziemlich groß und durchtrainiert. Wenn sein Charakter nicht so nervig wäre, würde er eigentlich ganz gut aussehen.

Augenrollend greife ich nach dem Gurt meiner Umhängetasche. »Was willst du, Keno?«

»Von einer wie dir? Nichts. Heul nicht gleich.« Er stützt seinen Unterarm auf das Geländer und reckt das Kinn überheblich.

»Du könntest dich glücklich schätzen, eine wie Kyra zu haben!«, verteidigt mich Ava.

»Ach so?« Keno nickt mir zu. »Was kannst du denn?«

Das dunkelrote Shirt spannt um seine Oberarme, als er sie vor der Brust verschränkt. Er verzieht sein Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. Zwei weitere Sinister schlendern zu ihm und betrachten mich mit einem ähnlich abfälligen Blick. Ich verlagere mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und knete das Leder meines Gurtes, bis meine Finger darauf abrutschen. Meine Hände schwitzen. Verdammter Mist, was soll ich auch antworten? Ich mache Botengänge und den Job verdanke ich meinem toten Vater. Wütend presse ich die Lippen aufeinander und starre Keno an.

Ava schüttelt ihre rote Mähne. »Sie ist schlau, witzig und wunderschön.«

Ich bin dankbar, dass sie mein peinliches Schweigen unterbrochen hat. Aber anstatt nun endlich zu erkennen, wie toll ich eigentlich bin, lacht Keno so laut, dass es durch den ganzen Flur schallt. Unwillkürlich stelle ich mir vor, wie befriedigend es sein würde, ihm jetzt eins auf die Nase zu geben und das Knacken zu spüren, wenn sie bricht.

Ava legt ihre Hand an meine Schulter und dreht mich von ihm weg. »Komm, gehen wir weiter — Keno ist ein Idiot.«

Das Lachen und weitere blöde Sprüche der Sinister begleiten uns noch, bis wir vor dem Tortuga stehen, die Bar, in der Ava kellnert. Sie winkt mir zum Abschied und verschwindet hinter der groben Holztür. Seufzend gehe ich weiter, mache wie jeden Tag einen Bogen um das tropfende Rohr, das an der Decke montiert den Gang am Geländer kreuzt, und einen Sprung über die zerbrochene Bodenfliese. Zumindest splittert in der dritten Ebene nicht der Putz von den Wänden ab, so wie in der Zweiten. Ich frage mich, wann der Tag kommt, an dem mir die Decke auf den Kopf kracht.

 

 

 

 

Kapitel Zwei

 

 

 

Das Büro der Botenliegt am anderen Ende der dritten Ebene. Ziemlich genau über meiner Wohnung. Als ich mich der Tür nähere, blitzt mein Spiegelbild in der Scheibe darin auf. Ich greife nach dem Türknauf und starre in meine dunklen Augen, bis ich dem Blick eines Mannes durch das Glas begegne. Er steht hinter dem weißen Tresen, keine drei Schritte gegenüber der Tür. Die Mundwinkel wie immer leicht nach unten geschoben, die Fingerspitzen gegen die glänzende Fläche gestemmt. Ein letztes Mal atme ich durch, bevor ich die Tür öffne.

»Hey Fitsch«, begrüße ich meinen Vorgesetzten. Ein kleiner, kräftiger Mann mit Brille und Dreitagebart.

»Na, auch schon hier?«, fragt er mit piepsiger Stimme und tippt zweimal auf seine rostige Armbanduhr, die wie durch ein Wunder dabei nicht auseinanderfällt.

Wie auf ein Stichwort schlägt der große Zeiger auf die Zwölf an der Wand über ihm.

»Ich bin doch pünktlich.«

»Pünktlich heißt fünf Minuten früher, Kyra!« Fitsch stemmt die Hände in die Hüfte.

Ich presse meine Lippen aneinander, um mir ein Schnaufen zu verkneifen. »Was hast du heute für mich?«

Grummelnd bückt er sich nach einem Paket. »Ich habe heute eine Lieferung in die Ebene 6.«

Ebene 6? Ist das sein Ernst? Meine Magendecke spannt sich an. Dort oben war ich noch nie.

Für ein paar Sekunden sieht er mich an, als würde er auf eine Reaktion warten, aber ich verziehe keine Miene. »Ich weiß, normalerweise macht Jona diese Ebene, aber er ist heute nicht zur Arbeit erschienen. Weißt du, wie wichtig die Lieferungen in die Ebene 6 sind?«

Die Ebene 6 ist der vorletzte Stock der Zone. Dort leben die Guides. Sie regieren die Zone — verwalten unsere Währung, den Zon, und bestimmen die Gesetze. Wenn du etwas falsch machst, kommst du vor den Rat der Guides und da wir hier keinen Platz für Gefängnisse haben, entscheiden sie, ob du aus der Zone verbannt wirst, was durch die Seuche deinen Tod bedeutet.

Fitschs prüfender Blick mustert immer noch mein Gesicht. Bloß nichts anmerken lassen, sonst überlegt er es sich womöglich anders. Ich wollte schon immer wissen, wie es dort oben aussieht. Ab Ebene 5 benötigt man eine Genehmigung.

Mein Herz pocht in meiner Brust, doch ich zucke gelassen mit den Schultern. »Ja, klar!«

Er hebt den Karton vor meine Nase und verengt die Augen. »Kyra, das ist kein Scherz. Du bist verantwortlich für diese Lieferung, wenn etwas schief geht, bist du dran. Kannst du die übernehmen?«

Als hätte ich eine Wahl. Würde ich nein sagen, wäre ich meinen Job direkt los.

»Ja, natürlich. Ich mach’s.«

Zögerlich reicht er mir das Paket. Im Laufe der Jahre habe ich gelernt zu erahnen, was sich in den meisten davon befindet und bei denen ich es nicht wusste, habe ich aufgehört, mich zu fragen. Dieses hingegen weckt meine Neugierde wieder. Was könnte wohl einem Guide zugesendet werden? Der Karton ist leicht, so groß wie mein Unterarm, zwei Finger dick. Ich beiße mir auf die Unterlippe, als ich die Aufschrift darauf lese. 6110. Ebene 6, 1 dafür, dass es sich um eine Wohnung handelt, Türnummer 10. Für einen Moment hätte ich fast vergessen, dass Fitsch mich beobachtet und bevor er auf die Idee kommt, mir das Paket wieder aus der Hand zu reißen, stecke ich es in meine Umhängetasche.

Er schiebt die Genehmigung über den Tresen, doch als ich danach greife, drückt er seinen Zeigefinger dagegen. »Du bringst die gleich wieder zurück, ja?«

Nickend verharre ich mit der Hand auf dem Stück Papier, bis er den Finger hebt. Fitsch hat noch nie jemandem richtig getraut und vermutlich wird sich das auch nie ändern.

Mit wackeligen Beinen steuere ich aus dem Büro und den Treppenaufgang entgegen. Das einzige Problem ist: Um zu den Stiegen zu gelangen, muss ich wieder an den Sinistern vorbei. Hoffentlich lungert Keno nicht noch immer vor dem Quartier herum. Meine weit geöffneten Augen wandern zwischen den Schultern und Köpfen der Leute hin und her. An dem Geländer, an dem Keno vorher gelehnt hat, steht jetzt niemand mehr. Vielleicht habe ich Glück. Bis kurz vor der Treppe kann ich mich zwischen den Menschenmassen hindurch ducken, die meisten von ihnen sind ohnehin größer als ich, aber vor dem Quartier der Sinister lichtet sich die Menge. Niemand möchte dort länger als notwendig sein. Ich kann die ersten Stiegen schon sehen, was meinen Puls eigenartigerweise noch mehr zum Rasen bringt. Meine Finger krallen sich an den Gurt der Umhängetasche und meine Schritte werden länger — bis sich eine Hand auf meine Schulter legt. Nicht grob, aber fest und bestimmend genug, dass ich stehenbleibe. Ich drehe mich um und starre in leuchtend blaue Augen. Keno. Sein Anblick verpasst mir einen eiskalten Schauer.

»Na? Wohin führt es dich heute?« Er zieht das Paket aus meiner Tasche und liest die Aufschrift. »Ebene 6? Wie kommt eine Sinpa zu so einem Paket?« Eine seiner Augenbrauen wandert skeptisch nach oben.

Mir weicht das Blut aus dem Gesicht. Fitsch wird mich auf der Stelle entlassen, wenn ich das Paket nicht ausliefere. Vielleicht könnte ich allein zurechtkommen, aber sofort schießen mir Mutter und meine kleine Schwester Soela in den Sinn. Hunger und Obdachlosigkeit wären nicht einmal unser größtes Problem. Es wäre der Durst, mit dem wir jeden Tag zu kämpfen hätten. Nein, ich reiße mich aus der Starre und schnappe nach der Box in Kenos Händen.

»Das hast du doch bestimmt geklaut.« Er streckt seinen Arm in die Höhe und ich greife ins Leere.

Ich kneife die Augen zusammen und versuche, eine warnende Miene aufzusetzen, aber mein Puls pocht durch meinen gesamten Körper.

Er hält das Paket neben sein Ohr und schüttelt es. »Vielleicht hat sich da einer der Guides das neueste Audioholo in die Sechste bestellt. Wäre doch zu schade, wenn er es niemals bekommen würde, oder?«

Audioholo. Ich stöhne. Sollte sich tatsächlich so ein Ding in dem Paket befinden, bin ich meinen Job los. Ein Holo würde mir Keno nie zurückgeben. Mein Vater hatte mal eines. Es dient nicht nur der Kommunikation mit einem zweiten Holo, sondern kann auch ein Lied speichern. Ab und zu taucht eines aus der alten Welt auf, das sie in der Werkstatt von den zerkratzten Scheiben wiederherstellen konnten.

»Gib es mir, Keno!« Ich bemühe mich um einen festen Tonfall, aber das Zittern in meiner Stimme lässt sich nicht unterdrücken.

»Oder wir sehen einfach nach, was drin ist.« Ein Ruf hinter mir. Rau, tief und genau derselbe abschätzige Unterton wie der eines Sinisters.

Ein kurzer Blick über meine Schulter bestätigt meine Vermutung. Einer von Kenos idiotischen Freunden, der aussieht, als hätte er sich die schwarzen Haare heute schon zehn Mal abgeleckt, kommt auf uns zu.

Kenos Mundwinkel zucken befürwortend nach oben. Er wendet das Paket auf die Rückseite und fasst zu dem Klebestreifen. Mit aufgerissenen Augen schnappe ich nach der Box. Meine Nägel kratzen am Karton, aber Keno ist schneller als ich. Seine Hand zuckt zur Seite und ich ernte ein höhnisches Lachen. Zumindest liegt sein Finger nicht mehr auf dem Streifen.

»Was meinst du, ist da drin? Holo?« Er nickt seinem Freund zu und wirft ihm die Box in die Hände.

Ich beiße die Zähne aufeinander, um nicht loszuheulen, wodurch sich ein Kloß in meinem Hals breit macht. Gegen Keno bin ich machtlos. Er ist größer, stärker und schneller als ich, und nun sind sie auch noch zu zweit. Mehr als ihn anzuflehen, es mir zurückzugeben, kann ich nicht tun. Doch dazu würde ich mich nie durchringen können.

Die Schmalzlocke hebt das Paket auf Augenhöhe. »Nah … zu schmal für ein Holo.« Für einen Moment schnuppert er an der Box und zuckt dann mit den Schultern. »Vielleicht Essensmarken.«

Das Paket fliegt im hohen Bogen wieder zurück in Kenos Hände. Mein verbissener Blick weicht einem stumpfen Starren. Erneut ins Leere zu fassen, würde ich nicht tränenlos überstehen. Und diesen emotionalen Zusammenbruch kann ich Keno nicht gönnen. Er hält das Paket hinter seinem Rücken und lehnt sich zu mir hinunter. Seine blauen Augen formen sich nach seinem fiesen Lächeln. Meine Zukunft liegt in seinen Händen und er weiß es.

Offenbar reicht ihm diese Genugtuung fürs Erste, denn er wirft mir das Paket vor die Füße. »Keine Angst. Wir machen doch nur Spaß.«

»Sehr witzig, Keno«, murmle ich ironisch und knie mich vor das Paket.

Mit zittrigen Fingern hebe ich es auf und schüttle es vorsichtig. Kein Klirren oder Rascheln, das auf zerbrochenes Glas schließen ließe. Erleichtert atme ich aus. Kenos Lachen sticht in meinen Ohren. Er fasst mir auf den Kopf und fährt mir so wild durch die Haare, dass ich auf meinen Hintern fliege. Die Zonenbewohner starren mich an. Kein Wunder. Mein Anblick ist jämmerlich. Ich sitze in der Mitte des Gangs auf dem Boden. Haarsträhnen fallen aus meinem Zopf und legen sich zerzaust um mein Gesicht. Von Keno sehe ich nur noch den Hinterkopf im Quartier der Sinister verschwinden. Ich presse meine Zähne aufeinander und versuche, die Tränen nicht in meinen Augen aufsteigen zu lassen. Jeder Bewohner, der auf meinen Blick trifft, wendet ihn ab. Vermutlich schämen sie sich oder haben Mitleid mit mir. Dennoch würde sich niemand jemals einmischen, solange ein Sinister involviert ist. Sofern kein Springer in der Nähe ist, kann Keno machen, was er will. Denn die haben es sich zur Aufgabe gemacht, in der Zone für Ordnung zu sorgen. Was so viel bedeutet wie die Sinister in Schach zu halten. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter und stehe auf.

 

***

 

Der Aufgang in die Fünfte ist etwas versteckter und nicht mehr im Zentrum. Ich passiere Babos Schmuckladen. Seine Tür ist wie üblich geöffnet und Babo steht hinter dem Tresen. Winkend gehe ich vorbei und ernte ein grinsendes Nicken. Mein Versuch, zurückzulächeln, scheitert. Die Unruhe, die Keno durch meinen Körper gejagt hat, drückt immer noch gegen meinen Brustkorb und alles, was ich denke, ist, dieses Paket unbeschädigt abzuliefern. Direkt hinter seinem Laden biege ich in einen Flur ein. Hier wird es ruhiger. Auch wenn ich das Gedränge gewohnt bin, habe ich erst jetzt das Gefühl, wieder richtig durchatmen zu können. Nur noch vereinzelte Bewohner kommen mir entgegen, meist Springer, denn die haben hier ihr Quartier. Wenn man möchte, kann man sich bei einer der Gruppen bewerben, aber man sollte sich sicher sein, dass sie einen auch aufnehmen. Wenn sie dich ablehnen, bist du gesellschaftlich ziemlich am Ende. Ich bin zufrieden mit meinem Job als Botin und werde das Risiko nicht eingehen, obwohl ich die Springer schon immer bewundert habe. Sie sind nicht nur mutig und stark, sie setzen sich auch für das Gute in der Zone ein. In ihrer schwarzen Kleidung wirken sie wie die Helden aus meinen Büchern. Vor den Quartierstüren bemerke ich einen Springer, den ich noch nie gesehen habe. Er hat kurzes braunes Haar, ist wie die meisten groß und unglaublich gut gebaut. Er unterhält sich mit einem Kollegen mit kurzem Irokesen-Haarschnitt. Seine Arme liegen vor der Brust verschränkt. Die Hand unter seinem Oberarm ballt sich zu einer Faust und zerknittert den Stoff seines Shirts. Je länger ich hinsehe, desto mehr fällt mir auf, wie angespannt er ist — seine Kieferlinie sticht scharf hervor. Worüber sie wohl reden? Von hier aus kann ich kein Wort verstehen. Als hätte er meinen Blick gespürt, dreht er den Kopf und schaut mir direkt in die Augen. Sein harter Blick trifft mich wie ein Blitz. Ich weiß nicht, was es ist, aber es löst irgendetwas in mir aus. Schlagartig fühle ich mich klein und machtlos, kann jedoch nicht wegsehen. Im nächsten Moment wendet er sich wieder von mir ab und ich entdecke ein Tattoo aus seiner Jacke bis hinter sein Ohr blitzen. Das Motiv erkenne ich nicht. Alles, was ich sehe, ist eine schwarze, dünner werdende Linie. Unwillkürlich stelle ich mir vor, wie es wohl aussehen würde. Die Tätowierungen der Springer tragen immer eine tiefere Bedeutung und liegen daher meist im Verborgenen. Bis jetzt hat mich das nicht sonderlich interessiert. Doch diesmal drängt alles in mir darauf, stehen zu bleiben und mehr herauszufinden. Dennoch reiße ich meinen Blick von dem Typen los und eile weiter. Keine Ahnung, woran es liegt, aber dieser unnahbare Kerl brennt sich in meine Gedanken.

Ich knete meine Finger, während ein kräftig gebauter Springer vor den Stiegen meine Genehmigung kontrolliert. Jetzt endlich werde ich die Ebene 5 mit eigenen Augen zu Gesicht bekommen. Als sie mich durchwinken, hämmert es in meinem Brustkorb. Wände rahmen die Treppe zu einem Tunnel. Die Muskeln in meinen Oberschenkeln machen sich bemerkbar, denn in meiner Eile nehme ich zwei Stufen gleichzeitig hinauf. In der Mitte der Treppe befindet sich eine kleine Plattform, die um eine Ecke führt. Licht scheint auf die obersten Stufen. So ein warmes und hartes Glühen kenne ich sonst nur von der Sonne. Kann das sein? Für mich ist es undenkbar, diese inmitten der Zone zu sehen. Meine Füße werden schneller, bis ich tatsächlich spüre, wie der Lichtstrahl meinen Körper wärmt. Geschichten über die höheren Ebenen schießen mir in den Sinn. Als ich jung war, erzählte mir einmal eine Frau, dass dort alles aus Gold bestünde, und eine andere sagte, dass es überall nach Rosen riechen würde. Beides ist nicht der Fall. Dennoch sind die Gänge so breit, dass sich die Menschen nicht aneinander vorbeidrängeln müssen. Fasziniert starre ich sie an. Weite Hosenbeine, gestreifte Blusen, Poloshirts — ihre Kleidung wirkt elegant und auffallend hell. Sie stehen vor ein paar Geschäften und sitzen in Bars, die ihre Tische in den Fluren aufgestellt haben. In den unteren Ebenen wäre das aufgrund des Platzmangels undenkbar.

Ich trete auf dunkles Holz. Obwohl sich an einigen Stellen Kratzer darin befinden, wirkt es edler als die gewohnten weißen Fliesen. Zwei glühende Rechtecke legen sich über die Dielen und ziehen meinen Blick zu der Quelle. Die Sonne scheint durch große Glasfenster herein und verströmt eine gewisse Wärme, die die ganze Halle füllt.

»Hast du dich verlaufen?« Eine tiefe Stimme lässt mich zusammenfahren.

Mein Blick schweift nach rechts, direkt in die Augen eines Springers. »Nein, ich …« Mir stockt der Atem, als sich ein zweiter Springer neben ihm aufbaut.

Sie versperren mir den Weg zu der Treppe, die zur Ebene 6 führen muss. Was auch immer ich sage, ohne das Stück Papier komme ich hier nicht weiter. Ich krame die Genehmigung aus meiner Umhängetasche und streiche sie glatt, bevor ich sie ihnen reiche. Mit zusammengekniffenen Augen liest der eine, während der andere noch einen Schritt auf mich zu macht.

»Irgendwelche Waffen?«

Obwohl ich mit dem Kopf schüttle, beugt er sich zu mir hinunter. Als er meinen Körper abklopft, verkrampfe ich. Selbst wenn in seinem Blick nicht das geringste Interesse an mir zu erkennen ist, bin ich diese Berührung nicht gewohnt und lasse sie starr über mich ergehen. Meine Handflächen sind schweißnass. Ich muss mich selbst daran erinnern, dass ich hier sein darf und verdammt nochmal keine Waffen bei mir habe. Als er seine Finger endlich von mir nimmt, wirft der andere einen Blick in meine Tasche und gibt mir die Genehmigung zurück. Sie machen einen Schritt zur Seite und legen mir die Sicht auf die Stiegen frei. Weiße Wände rahmen den Aufgang. Keine schwarzen Dreckschlieren, keine abgebrochenen Kanten an den Stufen. Nickend gehe ich an den Springern vorbei und die Treppe hoch. Diesmal langsamer. In der Mitte des Tunnels klingt das Gemurmel der Menschenmassen ab und ich kann mein Herz schlagen hören. Für die letzten Stufen lege ich die Hände um den Gurt meiner Tasche. Oben angekommen betrachte ich mit offenem Mund die Halle, die sich vor mir erstreckt. In einem Topf, in dem ich ohne Probleme selbst verschwinden könnte, stehen echte Pflanzen. Dunkelgrüne, dicke Blätter ragen bis auf Augenhöhe. So etwas habe ich noch nie gesehen! Vorsichtig lasse ich meine Fingerspitzen darüber gleiten. Sie fühlen sich glatt und weich an und geben meinen Fingern etwas nach. Ein Grinsen schleicht sich auf meine Lippen, als ich daran rieche. Den Duft habe ich mir immer ganz anders vorgestellt. Eher wie den eines Apfels, da Mutter immer sagte, die wachsen auf Bäumen. Doch er ist frisch und vollkommen neu.

Die Decke ist in Blau und Gold verziert und in der Mitte der Halle befinden sich breite Steinsäulen. Durch die großen Fenster glitzert die Sonne und zeichnet Lichtspiele an die Wände, tunkt den Raum in ein warmes Licht. Das Paket! Bei all der Faszination habe ich beinahe vergessen, warum ich hier bin. Ich ziehe es aus meiner Tasche und blicke auf die darauf geschriebene Nummer. Die Gänge sind übersichtlich gekennzeichnet, sodass ich mich schnell zurechtfinde. Außerdem sind sie doppelt so breit wie auf meiner Ebene und doch gespenstisch leer. Kein einziger Mensch ist hier unterwegs. Wahrscheinlich liegt das daran, dass ich auch kein Geschäft sehe. Stille, die ich bisher nur erfühlen konnte, wenn ich aus meinem Fenster in die Ferne blickte, und selbst dann musste ich eine Menge Fantasie einsetzen, um meine kleine Schwester auszublenden.

Bei der Tür mit der Aufschrift 6110 bleibe ich stehen. Mit der Hoffnung, dass in diesem Paket nichts ist, was Keno kaputtgemacht haben könnte, atme ich noch einmal durch. Nach meinem Klopfen öffnet eine Frau die Tür. Sie trägt einen überdimensionalen Hut und ich kann gar nicht anders, als ihn anzustarren. Als wäre in so einem Bau die Sonne zu stark.

»Was willst du?«, fragt sie misstrauisch und kneift ihre Augen etwas zusammen.

»Ich habe ein Paket für Sie.« Ich versuche, meine Stimme ruhig zu halten. Vergeblich, sie bricht.

»So? Wo ist Juno?«

Mein Blick fällt auf ihre Lippen, die bis über die Lippenlinie hinaus knallrot gezeichnet sind.

»Krank.« Ich weiß nicht, warum er heute nicht zur Arbeit erschienen ist, doch es ist die naheliegendste Erklärung, die mir einfällt.

»Verstehe. Na, komm schon rein.« Die Frau öffnet die Tür vollständig.

Ich gehe ein paar Schritte hinein und stehe direkt im Wohnzimmer. Die Wohnung scheint riesig zu sein. Sie ist hell, mit großen Fenstern und weißen Möbeln ausgestattet, die unheimlich teuer aussehen.

»Ich komme gleich«, sagt sie und verschwindet in einem Flur.

Als ich ihr nachsehe, fällt mir ein, dass Jona immer davon gesprochen hat, auf Ebene 6 Trinkgeld zu bekommen. Er hat nie verraten, wie viel. Gespannt beiße ich mir auf die Unterlippe und stelle mir vor, es könnten fünf Zon sein. Doch der Gedanke, dass der Inhalt des Pakets beschädigt sein könnte, reißt mir schnell die Zähne von den Lippen. Ein Schmatzen übertönt meine Gedanken und zieht meinen Blick nach links. Auf dem Sofa sitzt ein Mädchen. Vielleicht in meinem Alter. Sie sieht mich an, als käme ich gerade aus der Wüste und kaut so laut auf ihrem Kaugummi herum, dass ich mich nicht einmal mehr selbst atmen hören kann. Sie bietet mir nicht an, mich zu setzen, also bleibe ich wie angewurzelt mit dem Paket in den Händen stehen und warte. Um ihrem Blick nicht zu begegnen, lasse ich meine Augen quer durch den Raum wandern. Ich bin erleichtert, als die Frau zurückkommt und sehe ihre locker zur Faust geballte Hand. Tatsächlich könnten dort ein paar Zon Platz finden. Doch das interessiert mich ganz und gar nicht mehr. Meine Finger presse ich in das Paket und bete, dass es nicht beschädigt ist. Mit jedem Schritt, den die Frau auf mich zugeht, tritt mir ein neuer Schweißtropfen aus den Poren. Sie streckt mir die Hand entgegen, doch ich starre sie nur an.

»Na, was ist jetzt?«

Irgendetwas in mir scheint ihr das Paket nicht geben zu wollen, dennoch bewegt sich meine Hand mitsamt der Box in ihre Richtung. Die Frau nimmt es, noch bevor ich den Arm vollständig durchstrecke. Als sie es auf die Rückseite dreht, sehe ich die Münzen hervorblitzen, die sie dabei mit zwei Fingern gegen ihre Handfläche drückt. Mein Blick zuckt zurück zu dem Karton. Es ist, als würde sie meinen neuen Lebensabschnitt aufschlagen. Ich höre nicht einmal mehr das laute Kauen des Mädchens. Sie kratzt am Ende des Klebebands und verzieht die Mundwinkel, bis sie den Streifen zwischen Zeigefinger und Daumen zu fassen bekommt. Der Ruck, mit dem sie ihn von der Lasche löst, lässt mich krampfen und ich halte den Atem an, während sie in das Paket hineingreift. Ein länglicher Umschlag kommt zum Vorschein. Ich brauche einen kurzen Moment, bis ich realisiere, was das ist. Es ist ein Brief. Tief atme ich durch. Die Frau liest und will mir gleichzeitig die Hand mit den Zon entgegenstrecken, doch ihre Bewegung friert auf halber Strecke ein. Ihre Augen werden immer größer, bis sie sie vollkommen aufreißt und zu dem Mädchen schaut — vermutlich ihre Tochter. Zumindest ist sie ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Was wohl in dem Brief steht? Ihrem schockierten Ausdruck nach könnte jemand gestorben sein.

»Was willst du noch hier?«, fragt mich die Frau mit zittriger Stimme.

Mein Blick wandert auf die Münzen. Sollte ich sie nach dem Trinkgeld fragen? Wir hätten das Geld bitter nötig und sie muss es doch für mich geholt haben. Ich atme ein und hauche die Luft wieder wortlos aus, als sie selbst realisiert, wie fest sich ihre Finger in die paar Zon pressen. Ihre Fingerkuppen sind rot gefärbt. Schnaubend rollt sie die Lippen zu einem schmalen Strich, als wäre mein Blick ein gieriges Verlangen, das angesichts der schrecklichen Nachricht jetzt völlig unangebracht erscheint. Doch dann streckt sie ihren Arm und lässt die Münzen klirrend in meine Hand fallen. Ich schließe die Finger, ohne nachzusehen, wie viel sie mir gegeben hat.

»Ich wünsche noch einen angenehmen Tag«, sage ich, und zwinge mir ein dankendes Grinsen ins Gesicht.

Kaum habe ich die Wohnungstür passiert, schlägt die Frau sie hinter meinem Rücken zu. Eine Sekunde früher und diese Wucht hätte mir wahrscheinlich den rechten Fuß gebrochen.

»Wiedersehen«, murmle ich vor mich hin und öffne meine Finger.

Vier Zon. Diesmal könnten meine Mundwinkel nicht ehrlicher nach oben wandern. Das sind immerhin vier große Flaschen Wasser.

 

 

 

 

Kapitel Drei

 

 

 

Wie würde es sich wohl anfühlen, hier zu leben? Auf Ebene 6. Es ist zwar wunderschön und ich habe die Sonne noch nie so stark auf meiner Haut gespürt, aber die Frau sah trotzdem unglücklich aus. Wie misstrauisch sie mir die Tür öffnete, wie tief ihre Mundwinkel dabei lagen und die Sorgenfalte zwischen ihren Augenbrauen, die wahrscheinlich auch bei einem entspannten Gesichtsausdruck bestehen bleiben würde. Selbst das Mädchen grinste kein einziges Mal. Obwohl ich mir diese Ruhe immer gewünscht habe, kommt sie mir jetzt erdrückend vor. Keine Eckkneipen, in denen laut gelacht oder auf den Tischen getanzt wird, keine Verkäufer, die mir ihre Waren unter die Nase halten. Es scheint, als wäre diese Ebene tot und ohne jedes Gefühl. Keine Liebe oder Freude surrt durch die Flure. Vermisse ich etwa meine Ebene? Kenos Gesicht schießt mir durch den Kopf. Wo Liebe ist, ist auch Hass und den hege ich gerade so richtig für diesen Idioten. Wie konnte er meine Zukunft so leichtfertig aufs Spiel setzen? Ich stoße einen Schluchzer aus und starre in den endlosen Gang direkt vor mir. Am Ende des Korridors glitzert Sonnenlicht über das dunkle Fischgrätenparkett und meine Füße bewegen sich selbstständig darauf zu. Trotz dieser Leere möchte ich mehr von der Ebene entdecken. Ich werde vielleicht nie wieder so hoch kommen. Wenn ich mich noch ein wenig umsehe, fällt das bestimmt niemandem auf und Fitsch sage ich einfach, dass diese Frau eine ziemliche Quasselstrippe war.

Am Ende dieses ewig langen Ganges befindet sich eine kleine Versammlungshalle mit einer Theke in der Mitte. Alles ist in Weiß und Gold gehalten und mehrere Lampen hängen von der Decke, um den Raum zu beleuchten.

»Was soll das bitte bedeuten? Die Überfahrt kann dich das Leben kosten, weißt du nicht, wie gefährlich das ist?«

Die laute Stimme zieht meinen Blick in Richtung Bar, wo sich zwei Männer auf weißen Sofas gegenübersitzen.

»Brüll doch nicht so rum! Denkst du etwa, dass das meine Idee war?«, zischt der eine, von dem ich nur das lockige dunkle Haar erkennen kann.

»Es ist mir egal, wessen Idee das war. Du tust so, als hättest du keine Wahl!«

Der Lockenkopf blickt sich über beide Schultern und ich mache einen Schritt zurück in den Flur. Es wäre wahrscheinlich nicht vorteilhaft, wenn sie mich sehen würden, aber ich muss wissen, von welcher Überfahrt sie reden. Es ist nicht so, dass wir die Zone verlassen könnten. Wo wollen sie denn hin?

»Hör zu, Gerald. Du musst auch einmal etwas riskieren.«

»Riskieren?«, bricht es aus seinem Gegenüber heraus, sodass ich selbst dabei zusammenschrecke.

Plötzlich wird ihr Streit durch Musik unterbrochen. Mir sehr gut bekannte Klänge, die mich schnaufen lassen. In der Halle kann ich nichts erkennen, also wende ich mich herum. Eines der vielen Videos leuchtet an der Wand im Flur auf. Zuerst erscheint das Wappen der Residenz. Ein goldener Adler, der seine Flügel zur Seite streckt. So ein Video sehen wir jede Woche auch in den unteren Ebenen. Das Logo wird wie immer abgelöst von Elvira Pure, die Präsidentin der Residenz. Und wie gewohnt trägt sie komplett weiße Sachen und die Brosche mit dem Wappen. Ich verdrehe die Augen. Ein weiteres Video voller Schwachsinn kann ich grad echt nicht gebrauchen, ich will wissen, worüber die beiden Männer gesprochen haben.

»Bewohner der Zone 9. Ich bin dankbar für den Zusammenhalt, den wir leisten. Es ist wichtig, dass alle Zonen eine Einheit bilden und gemeinsam mit der Residenz an unserer Situation arbeiten. Bisher konnten wir die Seuche nicht unter Kontrolle bringen, aber wir sind voller Hoffnung und Zuversicht, dass wir bald wieder unser altes Leben führen können. Die Residenz wacht über euch …«

»… wie der Adler über seine Küken!«, äffe ich nach.

Bla bla … Es sind die typischen Phrasen, die jede Woche abgespielt werden. Ich wundere mich, dass sie den Text nicht einfach einmal aufnehmen und dasselbe Video dann jede Woche abspielen. Ihr dunkelbraunes Haar reicht ihr in perfekten Wellen bis zu den Schultern. Es ist bestimmt gefärbt, denn für ihr Alter hat sie verdächtiger Weise noch kein einziges graues Haar.

»Zusammenhalten, das bedeutet auch, miteinander zu teilen. Wir teilen alle zwei Wochen unser Essen mit euch und sind dankbar, dass wir das tun können. Nun erleiden wir eine Durststrecke und hoffen, einen Teil unserer Güte von euch zurückzubekommen. Die Ressourcen werden für die nächsten Lieferungen etwas geringer ausfallen, aber wir können euch versichern, dass wir bald wieder in der Lage sein werden, die volle Versorgung zu gewährleisten. Wir bitten um euer Verständnis und hören uns bestimmt bald wieder.«

Eine Durststrecke? Ihrer Güte? Unsere Läden sind nicht einmal halb bestückt mit den aktuellen Lieferungen aus der Residenz. Alle zwei Wochen fahren die LKWs bei uns ein. Die Lebensmittel sind sonst immer gleich. Wir haben hier nicht viel Auswahl, bis jetzt war das für mich in Ordnung. So eine Situation gab es bei uns noch nie. In den unteren Ebenen muss Panik ausbrechen. Mir schießt die Hitze in den Körper. Die Videos verschwinden zeitgleich von der Wand und das kalte Licht, das den Flur gerade noch so erhellt hat, erlischt. Dennoch starre ich weiterhin auf den nun blanken Fleck und spüre, wie meine Augen brennen, weil ich nicht einmal blinzle. Elvira Pures Stimme hallt in Endlosschleife durch meinen Kopf. Die Ressourcen werden für die nächsten Lieferungen etwas geringer ausfallen …Hunger. Seit Vaters Tod kommen wir gerade so über die Runden. Ich weiß, dass diese halbe Ration für viele in der Zone ein Todesurteil ist, und die Vorstellung, dass es unseres sein könnte, lässt mir das Blut aus den Wangen weichen.

Eine Hand packt mich an der Schulter. »Ich glaube nicht, dass du hier etwas zu suchen hast.«

Mein Atem stockt und jeder meiner Muskeln krampft. Erschrocken drehe ich mich um und sehe in die finstere Miene des großen, schwarz gekleideten Mannes mit den lockigen Haaren, der eben noch auf einem der weißen Sofas saß. Adrenalin pumpt durch meinen Körper.

»Ich habe mich verirrt«, erwiderte ich mit aufgerissenen Augen. »Ich liefere heute zum ersten Mal in dieser Ebene aus.«

Skeptisch hebt der Mann seine linke Augenbraue.

»Ich habe eine Genehmigung.« Hektisch krame ich sie aus meiner Tasche und halte sie ihm vor die Nase.

Er schenkt dem Zettel keine Beachtung und starrt mir nur weiterhin scharf in die Augen. »Ich weiß, wer die Botengänge in die Sechste macht und dein Gesicht habe ich noch nie gesehen.«

Das Papier vibriert durch das Zittern meiner Finger, also senke ich es und presse meine Hand gegen den Oberschenkel. Ich muss mich beruhigen!

»Juno ist krank.« Mein Puls pocht immer noch bis in meine Kehle, doch ich klinge schon etwas cooler. »Ich bin für ihn eingesprungen.«

Seine Augen verengen sich zu Schlitzen. »Wir können ja zusammen zu Fitsch gehen und ihn danach fragen.«

Er kennt Fitsch? Ich verkneife mir ein überraschtes Schnappen nach Luft. Gleichzeitig verziehe ich die Mundwinkel, als wäre ich im Recht. Er soll denken, dass er einen Fehler macht, mich jetzt nach unten zu bringen und Fitsch unnötig bei der Arbeit zu stören. Aber meine mageren Versuche haben keinen Erfolg. Er legt seine Hand zwischen meine Schulterblätter und drückt mich vorwärts. Wir gehen den Gang entlang, vorbei an den Wohnungstüren, vorbei an 6110. Es ist so still, dass ich die Anzugschuhe des Mannes mit jedem Schritt auf dem Fischgrätenparkett knallen höre. Es scheint fast so, als wolle er damit seine Dominanz zum Ausdruck bringen. Meine Sneakers hingehen erzeugen kaum ein Geräusch. Als wir die Treppe hinuntergehen, wandern seine Finger von meinem Schulterblatt zu meinem Arm. Ein eiserner Griff, der mir jeden Fluchtgedanken zwischen den Menschenmassen rauben soll. Schweiß rinnt mir die Schläfe hinunter, als das Gemurmel der Bewohner lauter wird. Kribbelnd rinnt der Tropfen meine Haut entlang, bis er sich in einer Haarsträhne neben meinem Ohr verfängt. Der Lockenkopf blinzelt immer wieder zu mir, also ignoriere ich das Kitzeln, um weiterhin möglichst ruhig zu wirken. Warum konnte ich meine Neugier nicht einfach unter Kontrolle halten und mich mit den Pflanzen zufriedengeben? Mutter wäre nicht böse, wenn ich meinen Job verlieren würde, aber ich weiß auch, dass unsere Überlebenschancen dann in einen gefährlichen Bereich sinken würden. Vor allem jetzt, wo die Essensrationen noch geringer ausfallen werden. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Läden die Preise erhöhen werden. Doch das ist nicht einmal mein größtes Problem. Das unerlaubte Betreten der höheren Ebenen wird nicht selten mit Verbannung gestraft. Auch wenn die meisten dieser Fälle einen schwerwiegenderen Grund haben, keimt die Furcht davor in mir auf.

 

***

 

Mein Herz pocht bis in meine Fingerspitzen, als wir im Botenbüro ankommen. Fitsch sitzt hinter seinem Schreibtisch neben dem Tresen. Sobald die Scharniere der Tür quietschen, hebt er seinen Blick.

»Gehört die zu dir?«, fragt der Lockenkopf, noch bevor wir vollständig über die Schwelle getreten sind.

Mit großen Augen springt Fitsch auf. »Das ist Kyra. Was hat sie denn jetzt schon wieder angestellt?« Seine Finger pressen so fest gegen das Holz des Schreibtisches, dass sich seine Fingerspitzen rot färben.

»Ich habe sie in Ebene 6 aufgegabelt, wie sie das Gespräch zwischen mir und einem Freund belauscht hat!«

Belauscht? Mein Gesicht muss aschfahl werden, denn ich fühle die Kälte darin aufsteigen. Es ging ihm nie um meine Genehmigung. Das Gespräch muss wichtig gewesen sein, vielleicht sogar gefährlich. Und ich habe es gehört.

»Ich habe mich verlaufen!«, rufe ich dazwischen. »Ich habe niemanden belauscht!«

Der Mann wirft mir einen strengen Schulterblick zu. »Du solltest aufpassen, wo du dich rumtreibst … oder was du meinst, gehört zu haben.«

Droht er mir? Wenn er auf Ebene 6 war, ist es nicht unwahrscheinlich, dass er ein Guide ist. Das ist nicht weniger schlimm, als sich mit einem Sinister anzulegen. Sie haben die Macht in der Zone. Wenn er meine Verbannung will, bin ich tot.

Ich schüttle den Kopf mit kleinen schnellen Bewegungen. »Ich habe nichts gehört.«

Für ein paar Sekunden fixiere ich seine vorgewölbten Augen, die scheinbar gerade versuchen, meiner Mimik abzulesen, ob ich lüge. Diesmal zucke ich nicht mit dem kleinsten Gesichtsmuskel. Das Einzige, worauf ich mich verbissen konzentriere, ist, zu verhindern, dass mir die Tränen in die Augen steigen.

»Danke Erol«, unterbricht Fitsch unser Starren. »Ich kümmere mich um sie.«

Erol wirft Fitsch noch einen kurzen Blick zu und nickt einmal, ehe er sich abwendet.

Ich schließe die Augen und lasse die Luft leise durch meine Nasenlöcher weichen. Er muss mir glauben, denn ich höre die Tür ins Schloss fallen. Doch da ist immer noch Fitsch, der mich bestimmt gerade anglotzt. Als ich meine Augen öffne, bestätigt sich meine Vermutung. Seine großen Zähne kauen wild auf seinen Lippen herum. Kein gutes Zeichen.

»Ich habe dir gesagt, wie wichtig die Lieferungen in die Ebene 6 sind! Ich habe dich gefragt, ob du das schaffen würdest und du hast ja gesagt. Kein Problem, hast du gesagt.« Seine ohnehin schon piepsige Stimme überschlägt sich. Er fasst sich mit beiden Händen an den Kopf und entblößt die kreisförmigen Schweißflecken unter seinen Achseln. »Weißt du überhaupt, wer das gerade eben war?«

Kopfschüttelnd steigen mir die Tränen nun endgültig in die Augen.

»Erol ist zuständig für den Import der Waren in die höheren Ebenen!« Seine Finger gleiten von seiner Halbglatze und fahren einmal quer über sein Gesicht. »Er stellt uns die Genehmigungen aus! Vielleicht ist es dir lieber, wir haben überhaupt keinen Zugang mehr dort hinauf?«

Das erklärt, wieso er Fitsch kennt, aber zeigt mir auch, dass er kein Guide ist. Eine Erkenntnis, die mir das Blut zurück in die Wangen treibt, jedoch nicht das Brennen meiner Augen lindert.

»Es tut mir leid, Fitsch«, sage ich und räuspere mich, um weitere Worte aus meinem Mund bringen zu können. Es fällt mir nicht leicht, Fitsch anzubetteln, das tat es noch nie, aber ich schlucke meinen Stolz hinunter und lasse ihn wie Blei in meinem Magen liegen. »Ich habe mich wirklich verlaufen. Ich habe die Lieferung einwandfrei abgegeben. Bitte gib mir noch eine Chance.« Ich lege die Hände zusammen, um meine Bitte zu unterstreichen. »Du weißt, ohne diesen Job können wir hier nicht lange überleben.«

Fitsch seufzt und verschränkt seine Arme. »Ich habe deinem Vater ein Versprechen gegeben. Aber irgendwann sind auch meine Grenzen erreicht.«

Ein paar Sekunden sehen wir uns einfach an und ich versuche, mein traurigstes Gesicht aufzusetzen. In diesem Moment rinnt mir sogar die erste Träne aus dem Augenwinkel und ich widerstehe dem Drang, sie wegzuwischen. Ich kann fühlen, wie sie an meiner Wange kitzelt und eine feuchte Spur hinterlässt, die der kleine Tischventilator kühlt, der seine Runden am Tresen dreht.

Fitsch haucht ein Stöhnen. »Kyra, das ist deine allerletzte Chance und das auch nur Balbor zu liebe. Du kannst froh sein, dass er dein Vater war.«

Zittrig atme ich ein und wische mir mit dem Handrücken über die Wange. Auch wenn ich Fitsch nicht sonderlich mag, könnte ich ihn gerade umarmen.

Er streckt mir die Hand fordernd entgegen und ich zücke die Genehmigung. »Aber glaub nicht, dass ich dich nochmal in die sechste Ebene hinaufschicke und für heute gibt es auch keine Bezahlung! Wir sehen uns morgen! Geh jetzt, bevor ich es mir anders überlege.«

Ein unendlicher Stein fällt mir vom Herzen, als ich mich rückwärts aus dem Botenbüro entferne.

 

 

 

 

Kapitel Vier

 

 

 

Die Menschen rennen durch die Ebene und rufen so wild durcheinander, dass ich kein einziges Wort verstehen kann. Plötzlich schreit jemand unmittelbar hinter mir und ich schnelle herum. Eine Frau streckt ihre Faust in die Höhe und stößt mich im Vorbeilaufen gegen die Wand. Ich strauchle, kann es aber gerade noch so vermeiden, mit meinem Gesicht den Boden zu stempeln. Was ist hier los? Gegen die Wand gelehnt, fällt mein Blick zu den Treppen. Die meisten rennen nach unten in die Halle der Ebene 1. Satzfragmente der Vorbeilaufenden schwappen zu mir herüber.

»Sollen wir den Hungertod erleiden?«

»Wir haben zwei Kinder! Wie sollen wir das schaffen?«

»Meine Schränke sind jetzt schon leer!«

Die Reduzierung der nächsten Lebensmittellieferung. Ich schlucke und drücke mich mit einer Hand von der Wand. Im Augenwinkel sehe ich Fitsch. Er lehnt mit verschränkten Armen im Türrahmen des Botenbüros und beobachtet die vorbeilaufenden Leute kopfschüttelnd. Für heute habe ich genug von seiner Stimme und bevor er mich zurück in das Büro winkt, verschwinde ich lieber aus seinem Blickfeld. Ich kämpfe mich den Gang an der Wand entlang vorwärts. Die Bewohner lehnen sich über das Geländer und brüllen hinunter. Schulter an Schulter drängen sie sich an die Eisenstange. In zweiter Reihe stelle ich mich auf die Zehenspitzen. Als ich einen Spalt zum Durchsehen finde, bekomme ich eine Portion Haare und beinahe einen Ellbogen ins Gesicht. Ich schlängle mich den Gang weiter durch, bis sich kurz vor den Stiegen das Gedränge der Menschen etwas auflöst und ich einen Platz am Geländer finde. Mein Blick fällt auf das Quartier der Sinister und noch bevor ich realisiere, wonach ich Ausschau halte, habe ich den ganzen Flur schon nach Keno abgesucht. Keine Spur von diesem Mistkerl. Ich kralle meine Hände an die Eisenstange und beuge mich etwas darüber. Drei Guides steigen auf das kleine Podest, welches mittig in der Halle der Ebene 1 steht. Schlagartig wird es still. So still, dass ich das Knarren der Holzblöcke des Podests hören kann. Alle blicken auf Rufus Prence. Er ist der gewählte Anführer der Guides und damit der ganzen Zone. Allerdings fand die Wahl vor zwanzig Jahren statt und seitdem hat es keine neue gegeben. Seine Haare mischen sich in braunen und grauen Strähnen und er trägt, wie alle Guides, einen blauen knöchellangen Mantel, nur mit dem Unterschied, dass seinen ein Abzeichen ziert. Es steht dafür, dass er hier das Sagen hat. Ich glaube, einmal gehört zu haben, dass es ein Militärabzeichen aus der alten Welt ist. Die zuvor in die Luft ragenden Fäuste senken sich nach und nach und die tobenden Beine bleiben im Boden verwurzelt stehen. Neben mir kann ich den schnellen Atem der Bewohner hören. Ich weiß nicht, ob es ein Gefühl der Angst oder der Bewunderung ist, aber Rufus Prence hat immer diese ganz besondere Wirkung auf die Masse.

»Bewohner«, ruft er und streckt dabei beide Arme zur Seite. Der Blick aus seinen kleinen Augen wandert durch die Menschenreihen vor ihm, weiter durch die hinteren. Auch mich trifft er für den Bruchteil einer Sekunde und durchfährt mich respekteinflößend. Seine Bewegungen sind langsam und er wirkt wie immer ruhig. Dennoch kann ich das kleine Zittern seiner Finger erkennen, bevor er sie wieder gegen die Oberschenkel klatschen lässt.

»Bewohner der Zone 9«, wiederholt er diesmal so laut, dass seine Stimme durch alle Ebenen dröhnt.

Dem Echo folgend, blicke ich nach oben und entdecke das Gesicht des Kaugummi kauenden Mädchens in der Sechsten. Mit ausreichend Platz lehnt sie neben ihrer Mutter über dem Geländer und schmatzt, beide Unterarme gelassen gegen die Eisenstange gestützt. Sie bläst eine Blase, so groß, dass ihre Nase dahinter verschwindet und lässt sie platzen.

»Die reduzierten Lieferungen sind kein Grund für einen Aufstand. Wir müssen in dieser schweren Zeit zusammenhalten und uns nicht gegeneinanderstellen«, sagt Rufus Prence und im selben Moment sieht mir das Mädchen direkt in die Augen.

Eben noch stand ich vor ihr, in einem Wohnzimmer, größer als unsere gesamte Wohnung. Nun schaut sie auf mich herab, wie ich mich zwischen den Menschenmassen an das Eisen dränge. Auch wenn sie längst wusste, wie es in den unteren Ebenen aussieht, habe ich erst jetzt das Gefühl, sie würde mein wahres Ich erkennen. Atem zischt auf meinen Nacken, meine Schultern drücken gegen fremde Haut und meine Finger krallen sich in das Geländer, damit ich den Platz nicht verliere. In ihren Augen hingegen kann ich den Luxus immer noch spiegeln sehen. Das weiße Sofa, auf dem sie saß. Die stillen Räume. Die Wärme der Sonne, die ich nie mehr vergessen werde. Schlagartig fühle ich mich ärmer, als ich je war.

»Wir haben keine andere Wahl, als uns aufs Überleben zu fokussieren. Jede Ebene bekommt wie immer gleich aufgeteilte Rationen zugeteilt, nur dass diese etwas kleiner ausfallen.«

Meine Bauchdecke drückt gegen das Geländer und ich kann jetzt schon die Magensäure fühlen, die mir die Übelkeit in die Kehle befördert. Geflüster surrt um mich, schwillt an zu leisem Gemurmel, das droht lauter zu werden. Gleich aufgeteilte Ration bedeutet, dass die unteren Ebenen aufgrund ihrer höheren Einwohnerzahl hungern müssen und die höheren sich weiterhin die Mägen vollschlagen können. In jedem Stock gibt es einen eigenen Lebensmittelladen, bei dem man seine Trackt-Nummer vorzeigen muss, um dort einkaufen zu können.

Hinter mir schluchzt eine Frau und ein Mann spricht ihr gut zu. Seiner zittrigen Stimme zufolge glaubt er allerdings selbst nicht an seine aufbauenden Worte. Ich verbiete mir, mich nach ihnen umzudrehen, aus Angst, ich könnte sie kennen. Selbst wenn ich es wollte, ich kann ihnen nicht helfen.

»Ich bitte euch, Ruhe zu bewahren!« Rufus Prence weist uns mit beiden Händen darauf hin, still zu sein. »Wartet die nächste Lieferung erst mal ab. Wir haben schon viele Hürden gemeinsam überstanden und wir werden auch diese überleben. Ich gebe euch mein Wort. Begebt euch jetzt in eure Ebenen oder zurück an eure Arbeitsplätze. Richtet euren Hass nicht gegeneinander. Richtet eure Wut nicht an diejenigen, die euch die Hand reichen. Zeigt uns eure Stärke und füllt eure Mägen mit Vernunft. Wir können die Situation nicht kontrollieren, wir können nur mit Stärke reagieren und zeigen, wer wir sind! Gemeinsam!«

»Gemeinsam!«, erwidert die Menge.

Doch ich schüttle meinen Kopf. Leere Worte. Als würde Elvira Pure durch ihn sprechen. In Ebene 2 wird der Hunger ausbrechen.

Auch wenn ich versuche, es mir zu verkneifen, fällt mein Blick nach oben zu dem Mädchen. Immer noch starrt sie auf mich herab, doch diesmal sehe ich nicht weg. Sie senkt ihr Kinn, und ihre Augen verdunkeln sich durch die Schatten, die ihre kapuzenförmigen Augenbrauenknochen werfen. Ihre weiße Bluse glänzt wie Seide in dem kühlen Licht und eine hellbeige Zigarettenhose blitzt zwischen den Stäben des Geländers hervor. Mit einer Hand drehe ich den Ärmel meines Shirts und vergrabe den Stoff in meiner Faust, um das Loch darin zu verstecken. Ich habe mich noch nie für meine Kleidung geschämt. Bis jetzt. Schlagartig kommen mir die vier Zon in meiner Hosentasche in den Sinn, die ich schon für Wasser eingeplant hatte. Fest pressen sie sich gegen meinen Oberschenkel. Ich unterdrücke den Drang, sie neu zu sortieren. Vermutlich hat sie die Münzen schon längst vergessen. Sie braucht sich nicht sorgen. Sie weiß es. Ich weiß es. Ein leichtes Schmunzeln bildet sich auf ihren Lippen. Arrogant und abschätzig. Ihre Mutter greift ihren Arm und wendet sich vom Geländer ab. Ich bleibe zurück mit dem Gefühl, einen Kampf verloren zu haben, ohne jemals um etwas gekämpft zu haben.

 

***