Zu viel Liebe kann töten - Bernhard Schaffrath - E-Book

Zu viel Liebe kann töten E-Book

Bernhard Schaffrath

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Beschreibung

Es geht um die großen Gefühle der Liebe und ihre Gefahren, wenn man für sie alles aufgibt. Zu viel Liebe kann töten.

Das E-Book Zu viel Liebe kann töten wird angeboten von tredition und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Zeit, Tag, Menschen, Augen, Frau, Hand, Wissen, Kopf, Welt, Sagen, Mann, Blick, Ende, Paar, Jahre, Gedanken, Liebe, Gesicht, Angst, Oft, Recht, Kinder, Moment, Familie, Neuen, Glück, Tage, Herz, Mensch, Nacht

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 273

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Bernhard Schaffrath

Zu viel Liebe kann

töten

Selma und Hannes

© 2022 Bernhard Schaffrath

Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer

ISBN Softcover: 978-3-347-63178-6

ISBN Hardcover: 978-3-347-63179-3

ISBN E-Book: 978-3-347-63180-9

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Inhaltsverzeichnis

Zu viel Liebe kann töten, Teil I

1. Die Fortbildung

2. Hannes

3. Selma

4. Ankunft

5. Einführung

6. Gedanken

7. Der Anruf

8. Robert

9. Gespräche

10. Selmas Spiel

11. Die Abendverabredung

12. Eifersucht

13. Nur ein Kuss

14. Leidenschaft

15. Rückkehr

16. Zweifel

17. Glück und Last

18. Bedrückung

19. Briefe

20. Die Verabredung

21. Beruhigung

22. Das Treffen

23. Annis Besuch

24. Gefährliches Spiel

25. Der Fund

26. Forderungen

27. Anni und Rainer

28. Das Entspannungsseminar

29. Fatale Entdeckung

30. Verdächtiger Blick

31. Das Cafe

32. Frauenabend

33. Schlechtes Gewissen

34. Die Entdeckung

35. Reden

36. Katastrophe

37. Entscheidende Frage

38. Klaus

39. Der Entschluss zu gehen

Zu viel Liebe kann töten, Teil II

40. Der Brief

41.Weihnachten

42. Bescherung

43. Angst vor der Ruhe

44. Die Nacht schluckt alle Zweifel

45. Verlängerung

46. Entscheidung

47. Erinnerungen

48. Herausgerutscht

49. Mila

50. Therapie

51. Hoffnung

52. Rückkehr

53. Neuanfang?

54. Rainer

55. Neuanfang!

56. Telefonat und Folgen

57. Die Täuschung

58. Wieder im Schoß der Familie

Zu viel Liebe kann töten, Teil I

1. Die Fortbildung

Fortbildungsveranstaltung, Anreise 17.00 Uhr, Freitagabend, mit Zertifikat. Sie war furchtbar aufgeregt, sah kaum seine Betrübnis.

„Jetzt mach kein solches Gesicht, ich komme ja wieder“, sie lachte, es klang etwas zu blechern, nicht aus dem Inneren. „Nun lass aber mal gut sein.“

Selma packte dabei. Die innere Unruhe gab ihrem jugendlichen Aussehen noch mehr Dynamik, ihre Augen flackerten ein wenig, keine Ruhe, um darin zu versinken.

Hannes verfolgte sie durchs Haus, war um jede Handreichung, um die sie ihn bat, froh. Er gab sich ein ruhiges Äußerliches und sie begnügte sich bereitwillig damit.

Sie war eine sehr schöne Frau mit ebenmäßigen Zügen, hatte einen reizvollen jugendlichen Körper, deutlich sich abzeichnende, volle Brüste. Sie wirkte wie dreißig, obwohl sie in diesem Jahr schon zweiundvierzig werden würde.

Ihr aufgeregter Herzschlag war deutlich am Halsansatz zu sehen, als sie rekapitulierend inne hielt, ob sie auch nichts vergessen habe. Dann eilige Schritte, dort noch ein Taschentuch, hier noch Zettel und Stift, ein Buch für alle Fälle. Die Schlösser der Tasche knackten, endlich fertig. Es war kaum 15.00 Uhr.

„Am liebsten würde ich jetzt schon losfahren, aber“, sie sah seinen auf sie gerichteten Blick, „es ist ja noch zu früh, nicht vor 16.00 Uhr, ich habe ja nur eine halbe Stunde Fahrt.“

„Lass uns rauchen und noch einen Kaffee trinken“, sie schien begeistert von Hannes Vorschlag, der sich sogleich daran machte, die Espressomaschine anzuwerfen. Er hätte gerne Küsse getauscht, Umarmungen, sie festgehalten, aber auch er spürte nun kaum mehr Ruhe.

Die Tassen landeten etwas unsanft auf dem Tisch.

„Es sind doch nur drei Tage, Sonntag bin ich spätestens um 15.00 Uhr wieder da. Dann gehen wir spazieren, machen noch etwas zusammen.“ Sie hob die Kanne von der Herdplatte, goss ein.

„Aber es sind ja auch zwei Nächte“, er sprach leise, schluckte bei dieser Feststellung.

Es waren nur 25 Kilometer.

Er hatte ihr überlassen, das Wochenende zu planen, wie sie es wollte.

„Die Abende sind wichtig für die Gruppe. Ich möchte auch das erleben.“ Mehr an Kommentar erfuhr er nicht als Begründung für die Buchung ihres Zimmers, obwohl sie hätte heimkommen können. Er traute sich auch nicht, es zu hinterfragen oder gar zu diskutieren. Sie hatte sich die Freiheit erbeten und er hatte nicht widersprechen wollen.

Er wollte nicht kleinlich sein.

„Ich brauche momentan meine Freiheit“, hatte sie gesagt, „ich muss das Gefühl bekommen, auch etwas Vernünftiges alleine durchziehen zu können.“

Er lehrte seine Tasse in einem Zug, spürte den heißen Kaffee bis in den Magen hinunter, hatte das Gefühl, dass er bis in unendliche Tiefen stürzte.

„Jetzt nicht das Gesicht verlieren und fragen, ob sie mir auch treu sein wird“, schoss es ihm durch den Kopf, sie würde es ihm übelnehmen, setzte sein Vertrauen zu ihr voraus.

„Ich liebe dich“, er suchte ihre Augen zu erhaschen.

„Ich dich auch, das weißt du doch“, sie zwang sich einen Moment zur Ruhe, Dann begann die Aufregung wieder Besitz von ihr zu nehmen.

Es war das erste Mal seit einer langen und sehr schwierigen Zeit, dass sie wieder über Nacht wegblieb. Das letzte Mal lag vier Jahre zurück, mitten in einer schweren Krise. Das erste Mal wieder, dass sie freiwillig woanders schlafen würde.

Dass es gleich zwei Nächte waren, störte ihn sehr, sie hätte ja mal nach Hause kommen können. Aber er wollte ihr zugestehen, was er in langen Gesprächen zugesagt hatte, sie auf keinen Fall bevormunden.

Und es fiel ihm nicht leicht, vor allem nachdem, was sie die letzten Jahre erlebt hatten.

Sie hatte sich erhoben, um ihre Schlüssel zum wiederholten Male in der Tasche zu fühlen, das Vorhandensein des Führerscheins zu überprüfen und Geld und Scheckkarte zu begutachten. Es befand sich alles am vorgesehenen Platz in ihrer Handtasche.

„Vergiss die zwei Maschinen Wäsche nicht und achte darauf, dass die Kleine regelmäßig trinkt. Sonst hast du ja alles im Griff, ich verlass mich da voll und ganz auf dich.“

Es klang fremd, aus ihrem Mund Anweisungen zu hören für etwas, was er seit Jahren tat. Der Haushalt war ihm ebenso wenig fremd wie die Betreuung der Kinder.

Die wenigen Aufgaben waren mit Sicherheit zuverlässig zu leisten.

„Und sei nicht traurig, wenn du abends allein im Bett liegst. Träum etwas Schönes. Ich bin ja bald wieder da.“

Der Gedanke an die zwei Nächte zog sich wie eine kleine Ewigkeit. Die Aufforderung, etwas Schönes zu träumen, klang wie Ironie. Er hätte am liebsten losgepoltert, sie solle ihm nichts beschönigen mit leeren Worten.

Aber er lächelte, obwohl er das Gefühl hatte, dass sich dabei seine Gesichtsmuskeln verzerrten.

Sie bemerkte es nicht, war mit ihren Gedanken schon auf der Fahrt, hatte bereits die Türe hinter sich geschlossen.

„Du musst noch tanken“, Hannes maß dieser Aussage besondere Bedeutung bei, weil er sich sprachlos fühlte.

„Oh, das hätte ich fast vergessen, dann muss ich ja doch früher los. Außerdem muss ich die Einrichtung noch suchen. Hoffentlich verfahre ich mich nicht.“

Es klang wie das freudige Wahrnehmen einer Chance, die Wartezeit bis zur Abreise argumentativ zu verkürzen.

„Dann muss ich wohl los.“

Er schaute zur Uhr, erschrak über die Geschwindigkeit des Sekundenzeigers und begriff, dass man Zeit nie aufhalten konnte. Und er begriff auch, dass sie nicht nur Wunden heilte, wie man sagte, sondern auch aufriss.

Er kapitulierte.

„Ich glaube, du solltest jetzt wirklich fahren“, seine Stimme kam ihm fremd vor.

Sie lächelte, als ob sie erleichtert wäre, dass er ihr die Entscheidung für den Zeitpunkt ihrer Abreise damit abgenommen hätte.

„Dann will ich mal. Trägst du mir die Tasche noch ins Auto?“

Er war schon aufgestanden, hatte den langen Bügel der Tasche um die Schultern gelegt, stand einen Moment, als ob er einen Ausbruch ihrer Gefühle erwartete.

„Nun geh schon“, sie schob ihn fast vor sich her und er bewegte sich langsamen Schrittes zur Türe.

Als der Wagen beladen war, standen sie sich etwas unschlüssig gegenüber, nicht wissend, wie nun der Abschied laufen sollte, hier draußen, vor aller Augen.

„Gehen wir noch mal hinein“, sie nahm damit die Unsicherheit. Dann umarmte sie ihn, hielt ihn fest an sich gedrückt.

„Es wäre schön, wenn du mitkämest, aber ich muss dies alleine durchziehen. Es ist wichtig für mich.“

Dann küsste sie ihn auf den Mund, ohne dabei die Lippen zu öffnen. Sie verweilte einen Augenblick, um sich dann wieder dem Auto zuzuwenden.

Seine Hände griffen ins Leere. Er hätte sie gerne zurückholen wollen, noch mal umarmen, festhalten. Aber er ließ ab, sank kraftlos in sich zusammen, rief einen Gruß.

„Ruf mal an, wenn du magst“, innständig bat er darum, bemüht, seinem Wunsch einen Hauch von „Nebenbei“ zu geben: „Ich liebe dich.“

Sie startete, winkte noch einmal, dann fuhr sie los, entschwand aus dem Hof, entzog sich seinem Blick

Erinnerungen stiegen in ihm hoch. Erinnerungen an solche Szenen, die unheilschwanger die letzten Jahre begleitet hatten und deren Ausgang er nie gekannt hatte. Aber es war Vergangenheit und er schüttelte den Kopf, als ob er damit alle Belastungen abwerfen könnte

Dann ging er zurück ins Haus, öffnete den Schrank, goss sich ein großes Glas Cognac ein und trank in tiefen Zügen. Eine wohlige Wärme durchzog seinen Körper. Es half ihm, seine Gedanken zu ordnen und einen Moment Ruhe zu spüren.

Sie war mit einem Lächeln in die zu erprobende neue Freiheit aufgebrochen. Er fühlte sich gefangen im goldenen Käfig eines Wochenendes ohne sie. Es würde angefüllt sein mit Warten und Nachdenken, zu viel, wie er spürte. Aber es würde sich nicht umgehen lassen.

Zu viel war die Jahre vorher geschehen, zu viel lastete noch auf seinen Schultern, zu viel Unbewältigtes, dass noch auf Klärung wartete, um Sicherheit zu geben, die jetzt noch nicht vorhanden war.

Und es durchströmte ihn ein seltsames Gefühl der Angst, dessen Kern er nicht fassen konnte.

War es vielleicht zu früh für Experimente der Selbstbestimmung und Freiheit, nach allem, was geschehen war?

Aber irgendwann musste man den Schritt wagen, und sich der neuen Situation stellen. Immerhin hatten sie gemeinsam dafür gekämpft und auch den Konsequenzen zugestimmt.

Vielleicht war es genau das Richtige, vielleicht aber auch falsch verstandene Toleranz, wie es die Psychologen zu formulieren liebten.

Sie hatten schmerzlich erfahren, was Liebe bedeuten kann und sie hatten mit großer Anstrengung gelernt, wie man damit umgeht.

Jetzt hatten sie gehandelt und ihnen blieb nur die Hoffnung, dass die vielen schlauen Menschen, die sie behandelt und beraten hatten, Recht behielten.

2. Hannes

Es waren schwere Jahre, die hinter ihnen lagen, Jahre der Zweifel und Selbstkritik, der Infrage Stellung aller Eckdaten eines gemeinsamen Lebens, der Erkenntnisse teilweise auch sehr erschütternder Momente aus Vergangenem und der Suche nach Neuem.

Und immer wieder der Versuch, gemeinsam weiterzugehen.

Das Wissen um die berühmte Midlife-Crisis half kaum, denn nirgends war die Vehemenz einer solchen Zeit beschrieben. Und begleitende Eltern fehlten zu diesem Zeitpunkt schmerzlich.

Hannes hatte sich als wahrer Freund erwiesen, stützte, wo es ging, half, wo er gebraucht wurde, stand die Ängste aus, wenn sie den Eindruck machte, dass sie es alleine nicht schaffen würden. Und nicht selten „drehte er verzweifelt am Rad“ und hatte große Mühe, nicht abzudrehen.

In dieser Zeit erlebten die beiden ein massives Auf und Ab des weiteren, gemeinsamen Lebens, was sich auch in ihrer Gewohnheit, miteinander zu schlafen, niederschlug.

Die Begegnungen waren ohne Zweifel erfüllend und voll Glücksgefühl, aber Pausen von mehreren Wochen waren nicht unüblich und schließlich ging zeitweise gar nichts mehr, obwohl beide sehr darunter litten.

In dieser Zeit gingen sie zwar sehr zärtlich miteinander um, manchmal sogar ein bisschen Sex, der dann intensive Gefühle freisetzte, aber es blieb selten und nur dann, wenn sie es wollte. Hannes hatte inzwischen gelernt, auch ohne Druck und Forderung zu warten.

Die Angst aber, sie irgendwann doch zu verlieren, blieb.

Dann tatsächliche Umorientierung von Selma, neue Betätigungsfelder. Sie wirkte zwar frisch und kraftvoll nach außen, aber sie zog sich oft zurück, verweigerte sich seinen Annäherungen oder weinte ohne ersichtlichen Grund. Und oft saß Hannes neben ihr und tröstete sie, nahm ihr die Ängste, gab ihr Halt und Sicherheit und konnte sie meist auch beruhigen.

Sie liebte ihn, das wusste sie, weil er inzwischen auch Freund geworden war, und sie konnte mit fast allem zu ihm kommen.

Und Hannes liebte sie, das musste einfach so sein, denn kein anderer Mann hätte sich so uneigennützig für eine andere Person eingesetzt und fast bis zum Limit aufgebraucht.

Hannes saß in seinen Erinnerungen auf dem Balkon, blickte über das weite Rund des in Sonnenlicht getauchten Städtchens, rauchte und trank den zweiten Cognac. Die Leichtigkeit seines Körpers begann in den Unterschenkeln und machte sich auf, ihn Stück für Stück zu erobern.

Sein Gehirn lief auf Hochtouren, ließ das gemeinsame Leben mit Selma in Schlaglichtern vorbeiziehen, füllte Zwischenräume aus, entwickelte sich langsam zum Kino im Kopf.

Selma war seine große Liebe, seit er ihr vor vielen Jahren zum ersten Mal begegnet war. Damals waren sie fast noch Kinder, immer eine witzige Story in feiernder Umgebung.

Und er erinnerte sich der Bemühungen umeinander, die ins Leere liefen, weil das Umfeld von ihnen verlangte, dass sie ihre liebevolle Gemeinsamkeit aufgeben müssten. Er erinnerte sich an das ständige Ringen um Koordination der täglichen Abläufe und die viel zu oft ins Chaos abdriftende Planung, weil die Gesellschaft andere Dinge erwartete. Er erinnerte sich an das Schweigen, wenn Wichtiges anstand, was ihre Beziehung betraf, weil banale Vorfälle und Forderungen von außen die Zeit blockierten, sich endlich mal über ihre Liebe zu unterhalten.

Aber er erinnerte sich auch an ihre Nähe, wenn sie endlich einen Moment Zeit gestohlen hatten, an die unendliche Liebe ihrer Küsse und Zärtlichkeit und an die grenzenlose Lust und Aufgabe aller Vorgaben, wenn sie miteinander schliefen.

Und er dachte an die Möglichkeiten, die sie sich gegeben hatten, sich in eigenen Vorstellungen zu verwirklichen, Freiheit zu genießen für Entscheidungen und das Vorhaben, zu reden, wenn es notwendig war.

Selma hatte lange geschwiegen, was ihr gemeinsames Leben betraf, dann irgendwann Hannes vorgeworfen, dass er zu feige gewesen sei, in wichtigen Momenten zu reden. Hannes hatte geantwortet, dass er sie über alle Maßen geliebt hatte, irgendwo auch gedacht hatte, es müsse dazu gehören, den Partner in allen Dingen zu akzeptieren, wenn man ihn liebte.

Fataler Fehlschluss, aber nicht korrigierbar.

Selma hatte vielleicht erwartet, dass sich ihr Leben ändern würde, aber dabei vergessen, dass sie allein es ändern konnte. Und sie hatte Hannes für sich als Fels in der Brandung erkannt, aber gleichzeitig damit ihre Beweglichkeit eingeschränkt. Sie setzte sich damit massiv unter Druck, anstatt umzusetzen, was sie sich vorgenommen hatte, nämlich zu reden, wenn es Zeit wurde.

Hannes nahm Rücksicht, liebte ohne Einschränkung und gab sich fast auf.

Die Angst, sie würde letztendlich doch gehen, blieb wie ein Damoklesschwert über ihm.

Und die Sexualität, die dann oft einfach auf der Strecke blieb?

Auch Hannes fürchtete irgendwann das Altern. Er spürte zum ersten Mal Probleme, wenn er mit Selma schlafen wollte, weil ihn panische Angst überfiel, er könnte das gar nicht mehr richtig machen. Auch er wurde älter, unsicherer, vorsichtiger, und dann war alles falsch, nicht so, wie sie es erwartet hatte.

Hannes war verunsichert, hatte Angst vor dem, was nie hätte passieren dürfen, aber darauf hatte er keinen Einfluss mehr.

3. Selma

Selma ließ die Stadt hinter sich und genoss die herrlich wärmenden Sonnenstrahlen des Frühlingswetters. Sie fühlte sich frei wie ein Vogel und unbeschwert in der Vorfreude auf ein Wochenende mit neuen Gesichtern. Sie empfand das aufgeregte Kribbeln in der Bauchgegend als sehr angenehm und sah es als völlig normal an angesichts der auf sie zukommenden Situation.

Sie spürte Lust, ausgerechnet jetzt. Auf dem Weg zur Bildungsstätte, weit weg von Hannes, spürte sie das Aufsteigen der Sehnsucht nach Sex und Körperberührung, nach Liebkosung und Luststeigerung.

„Reichlich unpassend“, murmelte sie vor sich hin. Ihr Atem ging schneller.

„Warum nicht gestern Abend“, dachte sie. Sie hatte Hannes Lust neben sich gefühlt, sein Verlangen, aber es ging nicht, obwohl sie gern gewollt hätte. Es fiel ihr auch kein Grund ein, den sie hätte anführen können, und es hätte sicherlich auch enorm Spaß gemacht, aber irgendetwas saß es ihr wie ein Kloß im Hals und verhinderte den ersten Schritt.

Sie hatte sich umgedreht, traurig und erregt, aber sie konnte Hannes in diesem Moment nicht einmal anfassen. Sie hatte wieder ein schlechtes Gewissen gespürt, das sie nicht haben wollte, kämpfte dagegen, aber es fiel ihr keine Lösung ein

Hannes lag friedlich neben ihr, drängte nicht, war weder ärgerlich noch böse und las einfach weiter. Er hatte inzwischen „gelernt“, mit ihrem „Nein“ zu leben, aber es hatte ihn sicherlich traurig gemacht, zumal sie am nächsten Tag weg wollte.

Es tat ihr leid, dass Hannes so oft Ziel ihrer Ablehnung wurde, obwohl sie ihn innig liebte. Und es tat ihr leid, dass sie ihn damit immer wieder so verletzt hatte. Aber sie konnte trotz allen Wissens um Geschehenes und den Versuch des Neuanfangs ihre Reaktion auch für sich nicht erklären.

Hannes hatte nicht bemerkt, wie sie sich langsam in den Schlaf geweint hatte, aber wieder einmal kamen Tränen, die sie einsam machte, weil sie sie verbarg, anstatt sie zu zeigen und dann vielleicht darüber zu sprechen.

Sie wollte es anders, denn der einzige Mensch, den sie so intensiv und allumfassend liebte, würde am Ende nicht „überleben“ können. Und die naheliegende Lösung, ihn einfach an sich zu ziehen und in ihrem Schoß aufzunehmen, der bereit gewesen wäre, ließ sie nur weiter im Kreis denken und letztendlich einschlafen.

Sie fuhr an den Straßenrand, musste anhalten, sich beruhigen.

Sie zog heftig an der Zigarette, saß neben dem Wagen auf einem Stein und klärte Gedanken. Dann dachte sie an die Rückkehr und wieder einmal nahm sie sich vor, dass einiges anders werden würde. Dafür würde sie dann sorgen. Denn sie war sich sicher, dass sie Hannes über alles liebte und ihn nie mehr verlassen würde.

Als sie sich zum Wagen umdrehte, waren auch die letzten Gedanken an all die Zwiespälte und Altlasten vergessen und sie lächelte ein wenig über die gerade noch vorhandenen Ängste, Hannes könnte vielleicht irgendwann gehen.

Vielleicht würde die Zeit die Veränderungen von ganz alleine bringen, aber dafür war sie, wie immer, nicht geduldig genug und voller Tatendrang.

Und wieder nahm das Gefühl von Freiheit von ihr Besitz. Sie hob mit einem tiefen Atemzug ihre Brust, spürte die fast zum Bersten nahe Spannung ihres BHs, strich sich über ihren runden Hintern und setzte sich in den Wagen, um mit dem Starten des Motors alle Gedanken hinter sich zu lassen und dem Unbekannten entgegenzufiebern.

4. Ankunft

Wenig später bog sie den Hinweisschildern folgend von der Hauptstraße ab und bewegte sich nun auf einem schmalen, von einzelnen Bäumen und Sträuchern gesäumten Weg, der leicht bergauf führte und im näherkommenden Wald zu verschwinden schien. Kurz vor dem Waldrand zog sich eine lange Kurve, die den Blick auf ein etwas höher gelegenes Gebäude freigab, das fast wie eine Burg über dem Tal zu thronen schien und sich an die Bewaldung anschloss.

Der Weg führte weiterhin bergan, wobei er nicht frontal auf die Bildungsstätte zuführte, sondern sich um das Gebäude herumschlang und in einem großzügigen Hinterhof endete, der als Parkplatz diente.

Selmas Herz klopfte heftig, als sie ihre Tasche nahm und den Wagen abschloss. Dann lenkte sie ihre Schritte zur Eingangstüre in der Mitte des u-förmig angelegten Hauses. Es mochte wohl etwa 40 – 50 Leuten Platz bieten, dachte sie, und sie versuchte sich die Lage der Versammlungsräume und Zimmer vorzustellen, um sich abzulenken.

Als sie eintrat, eröffnete sich ihr eine geräumige Vorhalle, die durch einen Tresen abgeteilt war. In einzelnen Gruppen hatten sich schon Teilnehmer versammelt. Sie erkannte dies an den herumstehenden Taschen und den auffälligen Schildern an den Blusen und Pullovern.

Wie es ihr schien, wurde sie von den überwiegend männlichen Teilnehmern neugierig betrachtet, die sich dann sofort in Tuscheln und Bemerkungen zurückzogen.

Selma war eine äußerst attraktive Frau, die leicht auf dreißig geschätzt wurde, obwohl sie schon die magische 40 überschritten hatte, und die sehr wohl um ihre Wirkung wusste. Eigentlich hasste sie das typisch männliche Abtaxieren, aber es gab ihr auch das Gefühl, begehrt betrachtet zu werden.

Sie trug eine schwarze Lederhose, die ihr in den letzten Monaten fast zur zweiten Haut, einer Art Schutzhaut geworden war. Hannes fand dies sehr schade, da er in ihre Beine, vor allem wenn sie bestrumpft waren, völlig vernarrt war.

Und sie hatte herrlich geformte Beine, die in entsprechenden Schuhen und unter kurzem Rock schon manch einem „Glotzer“ die Augen aus dem Kopf hatten fallen lassen.

Die Hose gab ihr aber momentan eine äußere Sicherheit und schützte damit ihr noch immer labiles Inneres.

Natürlich hatte sie sich für das Seminar auch einen Rock eingepackt, ohne eigentlich zu wissen, warum sie gerade in dieser Runde Gebrauch davon hätte machen sollen.

Es war irgendwie aus einem Gefühl des bevorstehenden „freien“ Wochenendes fast automatisch geschehen, so als ob es zur normal getragenen Ausstattung einer Frau gehörte.

Sie erinnerte sich an viele Momente, in denen sie Hannes und auch sich mit unter dem Rock versteckten Dessous verrückt gemacht hatte. Aber die Zeiten lagen lange zurück.

Es schoss ihr durch den Kopf, dass sie dies eigentlich zu Hause mal wiederholen könnte.

„Jetzt, wo Hannes weit weg ist und ich hier mitten in der Eingangshalle vor lauter fremden Augen stehe, fällt mir das ein“, sie lächelte bei dem Gedanken, als sie freundlich unterbrochen wurde.

„Sie sind auch Teilnehmerin des Wochenendseminars? Dann bräuchte ich mal ihren Namen, bitte.“

Selma nannte Namen und Adresse, trug sich in die vorliegende Liste ein und nahm ihren Zimmerschlüssel in Empfang. Ein Einzelzimmer nach hinten mit Blick auf das ganze Tal

Sie würde die Tage genießen.

Eine seltsame Erregung stieg in ihr auf, ein Gefühl, als ob das Wochenende noch Überraschungen für sie bereithalte.

„Vielleicht ist es der Beginn eines neuen Zeitabschnittes“, dachte sie, dann ging sie auf die ihr am nächsten stehende Gruppe zu.

„Ich bin Selma“, sie lachte, strahlte mit ihren Augen, war damit schon in die Siegerstraße eingebogen. Viele Hände wurden geschüttelt, Namen schwirrten durch den Raum. Andere traten herzu, waren froh, dass der Bann des vorsichtigen Beobachtens gebrochen war, lachten.

Selma fiel auf, dass kaum Frauen unter den bisher anwesenden Teilnehmern waren und, wie sie erfuhr, wohl auch nur noch wenige hinzukommen würden.

Als die Umstehenden erfuhren, dass sie die drei Tage dableiben würde, erhellten sich die vor allem männlichen Gesichter und machten einer leichten Spannung aufkommenden Jagdfiebers Platz. Selma war dieses Verhalten nicht unbekannt, aber sie würde schon damit umgehen können, auch wenn sie angesichts der geringen Zahl der anwesenden Frauen mit größerem Ansturm rechnen musste.

Martin, ein Enddreißiger, der sich wohl auch gern als Platzhirsch darstellte, rückte sofort näher und bot ihr seine Hilfe an. Er überschüttete sie mit Informationen, die Selma teilweise völlig uninteressant erschienen. Er versuchte wohl damit vor den anderen eine Vorrangstellung einzunehmen. Aber Selma kannte diese Sorte immer wieder auftretender, sich unwiderstehlich fühlender Wichtigtuer und konterte mit witzigen oder bissigen Bemerkungen, was zu allgemeinem Gelächter führte. Dann verließ sie die Runde, um ihr Zimmer aufzusuchen, nicht ohne umfassende Informationen über den Beginn und den Ort der kommenden Einführungsveranstaltung von Martin bekommen zu haben.

„Ein richtiger Gockel“, dachte sie sich, „herausgeputzt und aufgedreht wie auf dem Hühnerhof und so blind, dass er nicht merkt, dass gerade er keine Schnitte bei mir bekommt.“

Sie lachte in sich hinein, als sie die Treppen nach oben ging, dann öffnete sie ihre Zimmertüre. Die Nachmittagssonne durchflutete den Raum, verbreitete wohlige Wärme. Eine kleine Toilette mit Dusche schloss sich an den Hauptraum an. Ein Bett, ein Stuhl, ein Schreibtisch an der Wand befestigt direkt vor dem Fenster. Und wahrlich, ein Ausblick über das ganze Tal, der zum Träumen einlud.

Selma öffnete das Fenster und sog begierig die frische Luft ein. Dann streckte sie sich dem Abend entgegen. Ein kleiner Balkon gab ihr den Platz, genüsslich eine Zigarette zu rauchen.

Eigentlich war es schade, dass Hannes nicht mitgekommen war, aber sie hatte es ausdrücklich so gewollt. Jetzt genoss sie das Gefühl aus Wohlbefinden und Freiheit in vollen Zügen.

Ohne Hast räumte sie ihren Schrank ein und drapierte die Waschutensilien im kleinen Bad.

Ein erhebendes Gefühl, einmal alles nur für sich zu haben, keine fremden Benutzer ihrer Cremes, keine fremden Haarreste in der Bürste, kein ständig verschmutztes Waschbecken.

„Allein zu leben, hätte auch Vorteile“, fiel ihr ein, aber sie verwarf den Gedanken gleich wieder.

Dann streckte sie sich auf dem Bett aus. Die Matratze war angenehm und versprach guten Schlaf.

Sie hatte noch eine halbe Stunde Zeit, bis die erste Veranstaltung beginnen würde, eine Einführung in die Regeln des Hauses, dann Abendessen.

Eine leichte Schläfrigkeit machte sich breit.

Sie dachte an die Teilnehmer, ließ sie vor ihrem Auge passieren. Keiner, der ihr gefiel oder besonders zugesagt hätte.

Sie dachte an Hannes, an keinen anderen Mann, begann sich zu berühren.

Dann Stille, ihr Körper hatte etwas Ruhe bekommen, sie, wünschte sich Hannes, der jetzt neben ihr läge und sie liebkosen würde, spürte Sehnsucht nach ihm.

So viele Tage hatte sie ihn abgewiesen, jetzt, wo er nicht da war, verging sie fast vor Sehnsucht.

„Ist das nicht eine verkehrte Welt in mir“, dachte sie, dann stand sie seufzend auf.

Sie würde die Lederhose anlassen. Es war der erste Abend mit den fremden Menschen. Noch fühlte sie sich unsicher.

Dann richtete sie ihre Schritte nach unten, schlug den Weg zum Sitzungsraum ein. Die Tür stand offen. Gedämpftes Gemurmel drang nach außen, dazwischen manchmal ein kurzes Lachen, das aber sofort erschreckt zu ersticken schien.

Sie blieb einen Moment stehen, dann überwand sie ihre Aufregung und trat ein.

5. Einführung

Sie fühlte sich beobachtet, als sie etwas unschlüssig wirkend den Raum betrat. Martin hatte neben sich einen Platz freigehalten, winkte ihr demonstrativ, sich dort niederzulassen. Sie war ihm in diesem Moment sogar dankbar dafür, dass er in dem unbekannten Rund etwas Vertrautes darstellte. Sie steuerte auf ihn zu, konnte damit ein Ziel fixieren.

Er triumphierte, lächelte fachmännisch in die Runde der hinter ihm sitzenden Männer, aber sie bemerkte dies sofort.

„Bilde dir nur ja nichts ein, das bedeutet rein gar nichts“, rief sie ihm entgegen, sodass es alle hören konnten, erschrak aber über die Lautstärke ihrer Stimme.

Ein Lachen ging durch die Versammlung, während Martin mit aufkommender Gesichtsröte zu kämpfen hatte.

Selma legte ihre Schreibutensilien vor sich auf den Tisch und drückte den Kuli, als ob sie testen wollte, ob er noch funktionierte. Dann nutzte sie die momentane Sprachlosigkeit von Martin, um sich im Rund einmal umzusehen.

So mancher Blick, den sie dabei traf, senkte sich erschrocken zu Boden, als ob man kleine Jungs beim Rauchen erwischt hätte. Manch einer ließ es sich nicht nehmen, den von sich überzeugten Mann zu demonstrieren, indem er besonders standhaft ihrem Blick begegnete. Einige hatten sie wohl noch nicht bemerkt oder gar nicht registriert. Die Männer etwa alle zwischen 25 und 50, die wenigen Frauen um die 30 und sichtbar vom Stress oder unglücklichen Leben gezeichnet, sie musste als die mit Abstand jüngste Teilnehmerin erscheinen.

Sie spürte Stolz, hätte ihr jugendliches Aussehen jetzt gerne noch mal durch einen Blick in den Spiegel bestätigt, aber sie sah auch so das Ergebnis.

Die Spannung vor dem anstehenden Beginn legte sich immer stärker auf die Teilnehmer. Langsam erstarben alle Gespräche, obwohl noch kein Referent in Sichtweite war. Es wurde still im Raum.

Ein älterer Herr trat ein. Er schien durch den Flur geschwebt zu sein, denn man hatte nichts gehört. Er schritt an den in U-Form sitzenden vorbei. Er baute sich hinter dem Rednerpult auf, das ihn an Größe noch hätte überragen können, wenn er sich nicht fast übernatürlich gestreckt hätte. Einige amüsierten sich bereits über die Seminarleitung, erste verächtliche Blicke wurden ausgetauscht. Gemurmel entstand.

In das Raunen hinein dann die Stimme des „Gurus“, wobei er schier über das Rednerpult zu springen schien.

„Meine Damen und Herren! Ich begrüße sie recht herzlich in unserer Bildungsstätte, aber bitte beachten sie einige Regeln. Zum ordentlichen Ablauf, der schließlich ihnen und auch uns angenehme drei Tage bescheren soll, muss ich sie um Folgendes bitten.“

„Die übliche Litanei“, dachte Selma, „nicht lärmen auf den Zimmern, möglichst nicht rauchen, nicht schmutzen, vor dem Bettgehen Zähne putzen“. Sie hatte sich immer über diese Einführungen amüsiert, Gängelei von Kleinkindern, Selbstverständliches aufgearbeitet für Erwachsene in einer Besserungsanstalt, Essenszeiten und so weiter.

„Fehlt noch kein Damenbesuch auf den Zimmern!“, rief einer der Männer hinein, allgemeines Gelächter folgte, dann Gemurmel und Unruhe.

Es gab Selma Gelegenheit, die Runde noch einmal genauer unter Augenschein zu nehmen. Der erste Durchgang hatte keine Highlights gebracht.

Dicke, Dünne, Unrasierte, Verkleidete, sie nannte alle so, die Schlips und Jackett trugen. Alte, vielleicht Weise, daneben junge Zappelige. Eine Teilnehmerin mit unverschämt kurzem Rock, sie passte sofort in eine Schublade. Einen kurzen Moment lächelte Selma, sie würde kaum Anstrengung brauchen, um auch diese Beine in den Schatten zu stellen, dann bewegte sich ihr Blick weiter.

Plötzlich große, traurig wirkende Augen eines sehr jungen Gesichts, die auf ihr ruhten, ihren wandernden Blick für einen Moment fesselten. Es überlief sie heiß und kalt.

Dann riss sie sich los, bemühte sich dem Geschehenen keine Beachtung beizumessen, wanderte weiter.

„Und wenn sie bei uns Essen bestellt haben, so gelten folgende Zeiten“, von weit weg hörte sie die einschläfernde Stimme des Redners für die eigene Sache.

Sie beobachtete weiter, versuchte es zumindest, die Augen des jungen Mannes blieben im Gedächtnis wie eingebrannt. Sie registrierte nicht mehr, sah nur Hüllen, gewahrte Farben, Brillen, Leibesfülle, musste zurückkehren.

Sie traf die Augen nach vorne gerichtet, ein melancholischer Schatten lag über seinem Antlitz. Er war wohl kaum 25 und schon Abbild eines bewegten Lebens.

Er bemerkte ihren Blick.

Als er sie registrierte, nahm er kurz ihre auf ihm ruhenden Augen in sich auf, dann blickte er verstört zu Boden. Die Erwiderung einer solch erotischen und reifen Frau hatte er nicht erwartet.

„Wenn sie sonst Fragen haben, wenden sie sich vertrauensvoll an uns“, klang es von vorne. Das Ende einer Belanglosigkeit. Aber immer wieder wichtig für die, die sonst wenig zu sagen hatten und sich den Intellektuellen einer Bildungsstätte regelmäßig haushochunterlegen fühlten. Man konnte dann außerhalb der Gruppe nach Banalem fragen und das Ganze in hochwissenschaftliche Phrasen kleiden.

Inzwischen hatte sich der Seminarleiter postiert, ein dynamischer 30er mit klaren Augen und bestimmendem Lächeln stellte sich vor. Er ließ einen Blick zu auf den Seminarverlauf, regte den Beginn an und gab Anweisungen.

Selma hatte zu wenig mitbekommen. Um sich bei dem einsetzenden Durcheinander zurechtzufinden, musste sie nachfragen. Martin war natürlich gerne bereit, ihr ausführlich zu erklären, dass nun ein „Ken- nenlernspiel“ folgen sollte. Jeder sollte sich im Raum anordnen und seine momentan erlebte Position darstellen.

Selma hatte vorher Bedenken gegen jede Form von gruppendynamischen Spielen gehabt, musste sich aber jetzt der Gesamtheit unterordnen, da sie den rechten Moment des Ausstiegs verpasst hatte.

Sie folgte unsicheren Schrittes den anderen und orientierte sich an ihm, dem Jungen mit dem melancholischen Blick. Sie war sich sicher, dass er sie leiten würde, obwohl sie nicht wusste, warum er ihr so nahe war. Er gab Kraft, lenkte ab, machte ihre Bewegungen zum Wolkenflug in eine andere Welt.

Sie schüttelte heftig den Kopf, riss sich heraus aus ihrem Tagtraum. Dann fragte sie Martin noch einmal, was jetzt genau laufen sollte und setzte sich daraufhin mit dem Rücken zur Wand im Schneidersitz in meditativer Haltung auf einen Tisch. Vielleicht hätte sie sich noch vor zehn Minuten darunter verkrochen, um ihre momentane Gefühlslage auszudrücken. Jetzt thronte sie, hatte das Gefühl, das Seminar völlig im Griff zu haben.

6. Gedanken

Die beiden Großen waren bei Freunden für das Wochenende untergetaucht und würden erst am Wochenende zurückkommen.

Hannes war allein mit der Kleinen, die eine Reihe von Ansprüchen für die Abendgestaltung formuliert hatte.

Er suchte nach einer Beschäftigung für sie, die ihm die Möglichkeit des Nachdenkens gab, ohne dass sie ihn ständig unterbrechen würde. Schließlich genehmigte er gegen seine Überzeugung einen Film aus dem Videorepertoire mit ihrem Versprechen gekoppelt, danach ohne Verzögerung ins Bett zu gehen.

„Darf ich bei dir schlafen?“ Er konnte ihren drängenden Augen nichts entgegen setzen.

„Aber nur, wenn du dann auch gleich schläfst“, sie war erleichtert. Sie vermisste ihre geliebte Mama, und Hannes vermisste sie auch.

Dann fütterte sie die Anlage, setzte sich bequem mit den angerichteten Broten im Sessel zurecht und wartete gespannt auf den Beginn des Films. Wenigstens konnte sie für diesen Moment die Abwesenheit von Selma vergessen.

Was würde Selma jetzt machen, ob sie sich wohlfühlte? Vielleicht würde sie an ihn denken, gar Sehnsucht haben. Hannes malte sich aus, was gerade geschah. Langweiliger Vortrag, Vorfreude auf den Anruf, den sie gegen Acht nach Abendessen und Spätveranstaltung versprochen hatte. Ein Glas Rotwein würde seine Unruhe eindämmen können.

Selma stand momentan in einer völligen Neuorientierung ihres beruflichen Werdegangs, ohne dort schon greifbare Perspektiven erarbeitet zu haben. Sie konnte inzwischen formulieren, was sie nicht wollte, aber auch, was sie wünschte. Lange Jahre hatte sie dies aus Liebe zu Hannes nicht getan, hatte oft zugestimmt, um seine berufliche Laufbahn zu unterstützen, und ihre Träume hinten angestellt.

Im persönlichen Bereich war sie aber immer noch recht anfällig für Stimmungsschwankungen. Sie hatte gelernt, sich auf Ratschläge fremder Menschen einzulassen und sich zu öffnen, aber sie wusste auch, dass letztendlich die Lösungen ihres weiteren Lebens aus ihr heraus kommen mussten. Hannes war dabei Berater und Zuhörer, Freund und manchmal sogar Hilfesteller geworden. Und manchmal fühlte er sich als Abladeplatz für Weltschmerz und Wut gegen alles. Aber er war in den letzten Jahren immer zuverlässig da, wenn sie ihn brauchte.