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Träume aus Zartbitter.
Bielefeld, 1914: Das Unternehmen der Familie Meister floriert, die Entwicklung des Backpulvers war ein riesiger Erfolg. Julius, der Sohn des Firmengründers, hat in Chemie promoviert und will die Firma übernehmen, doch zuvor heiratet er Lotte, seine große Liebe. Kurz darauf bricht der Erste Weltkrieg aus – Julius wird eingezogen, während Lotte das gemeinsame Kind erwartet. Sie ist voller Sorge, als eine schreckliche Nachricht sie erreicht. Und auf einmal muss sie ihre Ideen einbringen, um das Unternehmen zu retten …
Die mitreißende Saga um die Erfolgsgeschichte einer deutschen Backdynastie – packend und berührend erzählt von Bestsellerautorin Eva-Maria Bast.
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Seitenzahl: 454
Veröffentlichungsjahr: 2023
Als die junge Lotte zusammen mit ihrem Verlobten Julius Meister in Bielefeld ankommt, ist sie aufgeregt. Das Familienunternehmen Meister floriert, die Entwicklung des Backpulvers war ein Meilenstein. Wird man die schüchterne Lotte als Frau an Julius’ Seite akzeptieren? Immerhin soll er die Firma übernehmen. Doch alle Sorgen scheinen unbegründet, bald können die beiden heiraten, und Lotte erwartet ihr erstes Kind. Aber das Glück währt nur kurz, denn was schon lange in der Luft lag, wird grausame Wirklichkeit: Der Erste Weltkrieg bricht aus, und Julius wird eingezogen. Schon kurz darauf erreicht die Familie eine schreckliche Nachricht ...
Eva-Maria Bast ist Journalistin, Leiterin der Bast Medien GmbH und Autorin mehrerer Sachbücher, Krimis und zeitgeschichtlicher Romane. Sie erhielt diverse Auszeichnungen, darunter den Deutschen Lokaljournalistenpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Kategorie Geschichte. Als eine Hälfte des Autorenduos Charlotte Jacobi schrieb sie u. a. den Spiegel-Bestseller „Die Douglas-Schwestern". Die Autorin lebt am Bodensee.
Im Aufbau Taschenbuch ist bisher ihr Roman „Vanilletage – Die Frauen der Backmanufaktur“ erschienen.
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Eva-Maria Bast
Zuckerjahre – Die Frauen der Backmanufaktur
Roman
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Inhaltsverzeichnis
Impressum
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Teil 1 — 1914
1. Kapitel: Bielefeld, Mai 1914
2. Kapitel: Bielefeld, Mai 1914
3. Kapitel: Bielefeld, Mai 1914
4. Kapitel: Bielefeld, Mai 1914
5. Kapitel: Bielefeld, Mai 1914
6. Kapitel: Bielefeld, Mai 1914
7. Kapitel: Bielefeld, Mai 1914
8. Kapitel: Bielefeld, Juni 1914
9. Kapitel: Bielefeld, Juni 1914
10. Kapitel: Berlin, Juni 1914
11. Kapitel: Berlin, Juni 1914
12. Kapitel: Bielefeld, Juli 1914
13. Kapitel: Wien, Juli 1914
14. Kapitel: Baden, Juli 1914
15. Kapitel: Baden, Juli 1914
16. Kapitel: Bielefeld, Juli 1914
17. Kapitel: London, Juli 1914
18. Kapitel: Bielefeld, August 1914
19. Kapitel: Bielefeld, August 1914
20. Kapitel: Bielefeld, August 1914
21. Kapitel: Bielefeld, August 1914
22. Kapitel: Bielefeld, Herbst 1914
Teil 2 — 1916
23. Kapitel: Bielefeld, Januar 1916
24. Kapitel: Bielefeld, Januar 1916
25. Kapitel: Bielefeld, Januar 1916
26. Kapitel: Bielefeld, Januar 1916
27. Kapitel: Verdun, März 1916
28. Kapitel: Bielefeld, März 1916
29. Kapitel: Bielefeld, März 1916
30. Kapitel: Bielefeld, März 1916
31. Kapitel: Bielefeld, März 1916
32. Kapitel: Verdun, April 1916
33. Kapitel: Verdun, April 1916
34. Kapitel: Bielefeld, Mai 1916
35. Kapitel: Verdun, Mai 1916
36. Kapitel: Bielefeld, Mai 1916
37. Kapitel: Bielefeld, Sommer 1916
38. Kapitel: Bielefeld, September 1916
Teil 3 — 1919
39. Kapitel: Bielefeld, Januar 1919
40. Kapitel: Bielefeld, Januar 1919
41. Kapitel: Bielefeld, Januar 1919
42. Kapitel: Bielefeld, Februar 1919
43. Kapitel: Bielefeld, Februar 1919
44. Kapitel: Bielefeld, Juni 1919
45. Kapitel: Bielefeld, August 1919
46. Kapitel: Bielefeld, August 1919
47. Kapitel: Sylt, August 1919
48. Kapitel: Bielefeld, August 1919
49. Kapitel: Oestrich-Winkel im Rheingau, August 1919
50. Kapitel: Bielefeld, September 1919
51. Kapitel: Bielefeld, September 1919
52. Kapitel: Bielefeld, September 1919
53. Kapitel: Bielefeld, September 1919
54. Kapitel: Bielefeld, September 1919
55. Kapitel: Bielefeld, September 1919
Epilog — Bielefeld, Weihnachten 1919
Spuren der Realität
Danksagung und Nachwort
Impressum
Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...
1914
1. Kapitel
Lotte Fischer krampfte ihre Finger ineinander und blickte nervös aus dem Fenster. Für ihren Geschmack flog die Landschaft draußen viel zu schnell vorbei! Sie war ganz und gar nicht erpicht darauf, in Bielefeld anzukommen. Denn dort würde sie ihre künftigen Schwiegereltern kennenlernen. Und diese Vorstellung war alles andere als verlockend. Die zierliche junge Frau mit den braunen Haaren und den strahlend blauen Augen war von Natur aus eher schüchtern, besonders, wenn sie sich in einer fremden Umgebung befand und sich mit Menschen unterhalten musste, die sie nicht kannte. Da ihre künftigen Schwiegereltern erstens noch nichts von der Verlobung wussten und zweitens furchtbar reich waren, war sie dem Nervenzusammenbruch nah.
»Wenn du deine Finger weiter so hin und her biegst, werden sie irgendwann brechen, und das wäre doch ausgesprochen schade«, ließ sich Julius, der ihr im Abteil gegenübersaß, mit liebevollem Spott vernehmen. »Wobei es vielleicht ohnehin klüger wäre, wenn du deinen Verlobungsring abnehmen würdest, bis wir es ihnen gesagt haben.«
»O ja, natürlich. Gut, dass du mich daran erinnerst«, rief Lotte aus, kramte das Schmucketui aus ihrer Handtasche, zerrte hastig den Ring vom Finger, legte ihn in das dunkelblaue Samtbett und verstaute das Etui dann sorgsam in ihrer Tasche. Es war ein schreckliches Gefühl. Obwohl der Ring erst seit einer Woche an ihrem Finger steckte, hatte sie sich bereits an ihn gewöhnt. Ohne ihn fühlte sich ihre Hand ganz leer an und irgendwie schutzlos.
Doch Lotte wusste, dass Julius’ Vorschlag vernünftig war. Dennoch war es ihr ein wenig so, als wolle er sie vor seinen Eltern verstecken. Was natürlich Unsinn war, wie sie sehr wohl wusste, denn dann würde er sie ja nicht nach Bielefeld mitbringen, um sie vorzustellen. Julius Meister reiste nicht aus irgendeinem Grund in die Heimat zurück: Wenige Tage zuvor hatte er seine Promotion abgeschlossen, und sein Vater, der berühmte Fabrikant Carl Meister, der seinen Erfolg vor allem dem von ihm hergestellten Backpulver zu verdanken hatte, wollte dieses Ereignis nun mit einem riesigen Fest begehen. Bei diesem sollte nicht nur die ganze Familie anwesend sein, nein, auch der Bürgermeister und die Stadtverordneten waren geladen, ebenso wie alle dreihundertfünfzig Mitarbeiter der Meister-Werke. Und Julius’ bester Freund Richard.
Anschließend sollte Julius in die Firma einsteigen – was bedeutete, dass er von Berlin nach Bielefeld übersiedeln würde. Und Lotte mit ihm. Sie reiste also an keinen geringeren als jenen Ort, an dem sie vermutlich den Rest ihres Lebens verbringen würde.
»Nun schau nicht so«, sagte ihr Verlobter aufmunternd. »Sie sind mindestens ebenso nett wie ich.«
»Und dir gegenüber war ich anfangs ja auch sehr schüchtern, möchtest du sagen?«, fragte sie.
»Nun ja, zumindest warst du nicht gerade redselig«, sagte er lächelnd. »Ich dachte eine ganze Weile lang, du könntest mich nicht leiden, was ich ganz schrecklich fand, weil ich mich von Anfang an unsterblich in dich verliebt hatte.«
»Und eben weil es mir genauso ging, war ich umso unsicherer«, erklärte sie. »Das ist ja mein Problem. Je unsicherer ich bin, desto unfreundlicher wirke ich. Was, wenn mich deine Familie ganz furchtbar findet?«
»Das wird nicht geschehen«, beteuerte er. »Außerdem bin ich ja bei dir. Und ich stelle dir meine beiden Schwestern zur Seite. Die reden so viel, da fällt es gar nicht auf, wenn du dich zurückhältst.«
»Und du bist dir sicher, dass sie nicht auf mich herabsehen werden, weil ich nicht standesgemäß bin?«, fragte sie wohl zum hundertsten Mal. Und wohl zum hundertsten Mal erwiderte er: »Ganz sicher. Meine Eltern sind zwar schon sehr stolz auf das, was sie erreicht haben, aber sie beurteilen einen Menschen nie nach dessen Stand. Zumal mein Vater ebenfalls nicht standesgemäß war. Meine Mutter ist sogar der Ansicht, dass er es nie so weit gebracht hätte, wenn er standesgemäß gewesen wäre.«
Überrascht sah sie ihn an. »Und warum das?«
»Nun, mein Vater hat durchaus darunter gelitten, dass meine Mutter aus reichem Hause kam und meine Großmutter immer etwas dazugab. Er kam sich vor wie ein Schmarotzer.«
»Und wurde umso ehrgeiziger, weil er zeigen wollte, dass er es auch zu etwas bringen und seiner Frau ein gutes Leben bieten kann?«, vermutete Lotte.
»Ganz genau. Außerdem ist dein Vater ein bekannter Forscher und hat sogar einen Nobelpreis erhalten. Ich denke eher, dass mein Vater voller Ehrfurcht sein wird. Er bewundert kluge Köpfe sehr und hat ja selbst auch schon häufig in seinen Laboren getüftelt.«
Lotte nickte. In der Tat war sie durchaus stolz auf ihren Vater. Ihm hatte sie auch das Kennenlernen mit Julius zu verdanken. Dieser hatte als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei ihm gearbeitet, und über einen ihrer Versuche waren die beiden Männer derart ins Diskutieren gekommen, dass es immer später wurde. Als Julius’ Magen schließlich laut und vernehmlich zu knurren begonnen hatte, lud der Professor den Jüngeren kurz entschlossen zu sich nach Hause ein. Vater und Tochter bewohnten, zusammen mit einer Köchin und einer Haushälterin, eine großzügige Wohnung in der Joachimsthaler Straße – Lottes Mutter war bereits vor zehn Jahren gestorben –, und ihr Vater brachte selten Gäste mit, so dass Lotte perplex war, als er mit dem unerwarteten Besuch vor ihr stand. Zumal sie sich sofort in diesen stattlichen, großen, blonden jungen Mann verliebt hatte. Zu ihrer Erleichterung hatten die beiden Männer so viel gefachsimpelt, dass nicht weiter auffiel, dass sie selbst kaum ein Wort gesagt hatte. Nur kurz hatte sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestanden, als ihr Vater voller Stolz ihr virtuoses Klavierspiel erwähnte.
»Wir sind gleich da, Liebes«, drang Julius’ Stimme nun in ihr Bewusstsein, und im nächsten Moment fuhr der Zug auch schon in den Bielefelder Bahnhof ein. »Ich wette, dass Jacob uns abholt.«
»Jacob?«, fragte Lotte überfordert.
»Unser Kutscher, Jacob Braunwarth. Er stand schon in Diensten meiner Großmutter, ist inzwischen mit der Köchin verheiratet und steinalt. Aber ein Leben ohne Jacob kann sich hier keiner vorstellen. Ebenso wenig wie ein Leben ohne seine Gattin Ursula. Sie backt und kocht, dass es eine Freude ist.«
Julius stieg mit dem Gepäck als Erster aus und half ihr dann galant aus dem Zug.
»Wenn das nicht der junge Herr ist«, rief in diesem Moment eine erfreute Stimme hinter ihnen. Lotte drehte sich um und sah sich einem großen, hageren und sehr freundlich wirkenden Herrn gegenüber, der um die siebzig Jahre alt sein mochte und eine enorme Vitalität ausstrahlte.
»Herr Braunwarth«, rief Julius und umarmte den Bediensteten ganz unkompliziert. »Ich habe gehofft, dass Sie uns abholen.«
»Das würde ich mir doch nicht nehmen lassen«, sagte Jacob und nahm seinen Hut ab, der bei der stürmischen Begrüßung leicht deformiert worden war. »Vor allem dann nicht, wenn der junge Herr seine Herzensdame mitbringt.«
Er deutete eine Verneigung in Richtung Lotte an, die zwar leicht errötete, angesichts der herzlichen Begrüßung ihre Scheu aber beinahe ablegen konnte.
»Meine bessere Hälfte war die ganze letzte Woche außer sich«, teilte Jacob mit, während er einen der Jungen, die am Bahnhof herumstanden und für ein paar Groschen mit dem Gepäck halfen, anwies, die Koffer nach draußen zur Kutsche zu bringen.
»Aber warum das denn?«, fragte Julius besorgt. »Ihr wird doch nichts fehlen?«
Jacob schüttelte lachend den Kopf. »Sie kennen doch meine Ursula«, sagte er. »Krank wird die niemals. Nein, sie macht sich nur so große Gedanken wegen des jungen Fräuleins.«
»Meinetwegen?«, versicherte sich Lotte und wurde sofort wieder nervös.
»Ganz genau«, bekräftigte Jacob. »Sie hat natürlich die ganzen letzten Tage damit zugebracht, alles vorzubereiten, was der junge Herr gern isst. Aber sie hatte ja keine Ahnung, ob Ihnen das nun schmecken wird.«
Julius musste lachen. »Das ist typisch für Frau Braunwarth«, ließ er seine Verlobte wissen. »Keine Sorge«, fuhr er dann, an den Kutscher gewandt, fort. »Lotte wird die Küche Ihrer Frau lieben.«
• • • •
Julius hielt Lottes Hand fest in der seinen, als die Kutsche das große schmiedeeiserne Tor passierte und den langen, sauber geharkten Kiesweg auf die Villa zufuhr, die im Sonnenschein hell und prächtig dalag. Die Hortensien und der Klatschmohn waren bereits erblüht und leuchteten in voller Pracht. Vor dem Eingang plätscherte ein Springbrunnen, und daneben stand ein dunkelgelocktes Mädchen mit einem knielangen, geblümten Sommerkleid, sie mochte etwa zehn Jahre alt sein, und hüpfte ungeduldig von einem Bein auf das andere.
»Wie wunderschön es hier ist«, flüsterte Lotte. »Aber noch viel prachtvoller, als ich es mir vorgestellt habe.«
In diesem Moment hielt die Kutsche vor dem Haus, Jacob sprang vom Bock, öffnete die Tür und reichte Lotte galant den Arm. Deren Füße hatten kaum den Kies berührt, als das Mädchen schon wie ein Blitz auf sie zuschoss. Allerdings flog sie an Lotte vorbei und Julius, der hinter ihr aus der Kutsche gestiegen war, um den Hals.
»Endlich bist du wieder da!«, rief sie begeistert. »Spielst du mit mir Federball?«
Julius hob seine Schwester hoch, wirbelte das vor Begeisterung quietschende Mädchen einmal herum, als wäre diese nicht zehn, sondern drei Jahre alt, und stellte sie dann direkt vor der lächelnden Lotte auf den Boden.
»Nun lass mich doch erst mal ankommen«, sagte er zärtlich. »Und mich dir meine liebe Freundin Lotte vorstellen. Lotte, Maria, Maria, Lotte.«
Dunkle, fast schwarze Augen musterten Lotte aufmerksam aus einem zarten Mädchengesicht mit vor Eifer geröteten Wangen, das angesichts der hüftlangen, schwarzen Lockenmähne umso zarter wirkte.
Was für eine Schönheit, dachte Lotte ergriffen.
»Bist du in meinen Bruder verliebt?«, fragte Maria streng.
»Oh, das …«, stammelte Lotte.
»Maria, das fragt man doch nicht«, sagte in diesem Moment eine Stimme hinter ihnen. Sie gehörte einer etwa zwanzigjährigen jungen Frau, die zwar optisch das genaue Gegenteil der kleinen Maria war, aber, wie Lotte fand, mindestens genauso hübsch. Friederike Meister war von zierlicher Statur, jedoch ähnlich hochgewachsen wie ihr Bruder, und sie hatte auch dessen blonde Haare und blaue Augen. Der schlichte Rock unterstrich ihre schmale Taille, und die veilchenblaue Bluse betonte ihren makellosen Teint.
»Friederike«, sagte Julius herzlich und zog seine Schwester in die Arme. »Du wirst von Mal zu Mal hübscher.«
»Und du bist und bleibst der ewige Charmeur«, sagte seine Schwester, um sodann ihre Aufmerksamkeit auf die verschüchterte Lotte zu richten.
»Willkommen«, sagte Friederike herzlich, fasste die andere bei den Schultern und küsste sie auf beide Wangen. »Hier sind alle schon in heller Aufregung. Mein Bruder hat noch nie ein Mädchen mit nach Hause gebracht.«
»Oh, sicher nicht so aufgeregt wie ich«, rutschte es Lotte heraus.
Friederike sah sie mitfühlend an. »Sie müssen sich furchtbar fühlen«, sagte sie. »Ich würde es jedenfalls, wenn mein Liebster mich mit zu seiner Familie nähme – nicht, dass ich einen hätte«, fügte sie schmunzelnd hinzu und hakte Lotte unter.
»Aber machen Sie sich keine Sorgen. Wir sind alle schrecklich nett. Und nun lassen Sie uns erst einmal hineingehen. Ihr habt sicher furchtbaren Hunger.«
2. Kapitel
Ich zeige ihr ihr Zimmer«, erklärte Friederike, kaum dass sie das Haus betreten hatten.
»Lass mich das doch machen«, erwiderte Julius, doch seine Schwester sandte ihm einen vernichtenden Blick. »Mutter würde das niemals gutheißen«, beschied sie ihn. »Und wir wollen es uns doch nicht mit ihr verderben.«
Julius zuckte die Achseln. »Gegen meine Schwestern war ich schon immer machtlos«, sagte er grinsend. »Ich hoffe, es ist in Ordnung?«
Fragend sah er Lotte an. Die nickte, doch Friederike ließ ihr gar keine Zeit dazu, sich unsicher zu fühlen.
»Hermann, bringen Sie die Koffer hinauf«, wies sie den bereitstehenden Hausdiener an. »Fräulein Fischer möchte sich nach der langen Reise sicher umkleiden.«
»Sehr wohl, gnädiges Fräulein«, erwiderte der Diener, ein pausbäckiger, semmelblonder Junge, er mochte, wie Lotte schätzte, sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein.
»Nun komm«, sagte Friederike. »Ich sage einfach du, ist das in Ordnung?«
»Natürlich«, erwiderte Lotte, erleichtert über die überbordende Herzlichkeit der jungen Frau. Julius hatte recht gehabt. Das Temperament seiner Schwestern spülte ihre eigene Unsicherheit einfach mit sich fort.
»Wir haben dir das blaue Zimmer gegeben«, verkündete Friederike, während sie im linken Flügel der Beletage eine Tür öffnete.
»Es ist wunderschön«, flüsterte Lotte, nachdem sie eingetreten war. »Ich habe noch nie ein schöneres Zimmer gesehen.«
In der Mitte des großzügigen Raumes mit seinen prachtvollen Stuckverzierungen stand ein breites Bett, über dem sich ein zartblauer Himmel erhob, die Wände waren in Blau und Gold gemustert, die reich verzierten Möbel in Creme, Hellblau und Gold gehalten. Unter einem Fenster stand ein zierlicher Schreibtisch, der zu der Frisierkommode auf der anderen Seite des Bettes passte. Das Beste aber war die gläserne Flügeltür mit Sprossenfenstern, die dem Bett gegenüberlag und auf einen großzügigen Balkon führte. Draußen standen ein Liegestuhl und eine gemütlich aussehende Sitzgruppe bereit. »Hier kannst du ein Sonnenbad nehmen«, sagte Friederike und öffnete die Flügeltür. »Und vor allem kannst du mich besuchen. Ich wohne direkt nebenan, der Balkon verbindet unsere Zimmer.«
»Was für ein prachtvoller Ausblick, der Garten ist ja wunderschön«, sagte Lotte und ließ ihren Blick schweifen. In den gepflegten Beeten blühten Blumen in allen Farben, überboten sich beinah in ihrer Pracht. Der zarte Duft stieg ihr in die Nase, der große Garten war gepflegt und ging an seinem hinteren Ende in den Wald über.
»Unser Park ist Mutters ganzer Stolz«, sagte Friederike. »Aber sie hat kaum noch Zeit, sich darum zu kümmern. Sie ist sehr in der Firma eingebunden.«
»Julius hat mir erzählt, dass sie die Werbeabteilung leitet und dass sie es war, die all die bekannten Sprüche erfunden hat«, erzählte Lotte beeindruckt. »Ich habe die Werbeanzeigen oft in der Zeitung gesehen und kannte sie auswendig, lange, bevor ich Julius kennenlernte.«
»Ja, das stimmt«, bestätigte Friederike. »Aber dazu kommt sie in letzter Zeit kaum noch. Seit mein Onkel Emil im letzten Jahr gestorben ist, muss sie auch noch einen großen Teil seiner Aufgaben übernehmen.«
»Das mit eurem Onkel tut mir sehr leid«, murmelte Lotte, und ihre alte Unsicherheit war zurück.
»Ja, es war wirklich sehr hart für uns alle«, seufzte Friederike. »Vor allem für Martha, seine Frau, ist es sehr schwer. Und für deren Töchter, die erst dreizehn und elf Jahre alt sind. Sie wohnen über der Apotheke, in der meine Eltern einst angefangen haben.« Auf einmal fröstelte sie. »Lass uns wieder hineingehen«, sagte sie.
Lotte nickte. »Natürlich.«
Während Friederike der Besucherin nach drinnen folgte, schalt sie sich einen Narren. Warum nur hatte sie gleich zu Beginn von Emils Tod angefangen! Es war doch mehr als deutlich, wie verunsichert die junge Frau war, und sie wollte ihr die Scheu nehmen.
»Dass Mutter dir das blaue Zimmer gegeben hat, ist eine große Ehre«, bemühte sie sich daher um einen leichten Ton. »Sie gibt es nur besonderen Gästen.«
»Hoffentlich enttäusche ich sie nicht«, murmelte Lotte.
»Oh, mach dir doch bitte keine Gedanken«, rief Friederike und nahm spontan Lottes Hände in die ihren. »Du wirst ihr gefallen, sehr sogar. Ich kenne meine Mutter. Und auch wenn meine Eltern furchtbar reich und wichtig sind, so sind sie doch eigentlich einfach nur herzensgut.«
»Das hat Julius auch gesagt«, nickte Lotte.
»Na, siehst du«, sagte Friederike zufrieden. »Und wenn Vater dir zunächst etwas reserviert erscheint, dann bezieh das bloß nicht auf dich. Er ist einfach noch ein wenig traurig wegen Onkel Emil.«
»Was man ja auch verstehen kann«, versicherte Lotte. »Wie geht es denn nun weiter?«
»Nun, du wirst Mutter beim Tee kennenlernen. Frau Braunwarth hat unzählige Kuchen gebacken, und wenn du einen Menschen glücklich machen willst, dann probierst du von allen.«
»Oh«, lachte Lotte. »Dann fürchte ich, dass ich am Ende nicht mehr in meine Kleider passen werde.«
»Darüber wirst du dir keine Gedanken machen müssen«, prophezeite Friederike und ließ ihre Blicke wohlwollend über Lottes schmale Gestalt gleiten. »Wo wir schon davon sprechen: Wir kleiden uns hier mehrmals täglich um. Es gibt das Tageskleid, das Teekleid und Kleider für das Abendessen. Ich hoffe, Julius hat dich darüber unterrichtet, und du hast genug zum Anziehen mitgebracht?«
»O ja«, sagte Lotte und nickte. »Ich hatte, glaube ich, noch nie so viele Kleider, wie ich nun für diesen Besuch anfertigen ließ. Ich kann es kaum erwarten, sie endlich alle zu tragen.«
• • • •
»Sie ist sehr schüchtern. Bitte mach es ihr leicht«, bat Julius Meister seine Mutter Josephine, nachdem sie eine halbe Stunde nach seiner Ankunft im Gartenzimmer aufeinandergetroffen waren und sich auf das Herzlichste begrüßt hatten. Die Familie pflegte den Tee immer im Gartenzimmer oder auf der vorgelagerten Veranda einzunehmen, und Josephine liebte diese spätnachmittägliche Stunde, wenn sich die ganze Familie – oder zumindest der Teil, der in den Werken bereits abkömmlich war – versammelte. Heute, an diesem warmen Maitag, hatte die Dienerschaft auf der Terrasse eingedeckt, und die kleinen Kuchen und Törtchen auf der weißen Tischdecke machten sich vor dem weitläufigen Garten sehr malerisch aus.
»Aber natürlich werde ich es ihr leicht machen, mein Junge«, sagte Josephine lachend. »Ich hoffe, ich habe es noch nie jemandem schwer gemacht.«
»Du hast ja recht«, sagte er. »Entschuldige.«
Prüfend sah sie ihn an. »Sie bedeutet dir wohl sehr viel?«
»Ausgesprochen viel«, bestätigte er und öffnete den Mund, um noch etwas hinzuzufügen, schloss ihn aber gleich darauf wieder, denn in diesem Moment traten Friederike und Lotte durch die Tür.
Josephine folgte seinem Blick. »Sie sieht zauberhaft aus«, raunte sie ihrem Sohn zu. »Wie eine Waldfee.«
Wohlwollend musterte sie die Freundin ihres Sohnes. Lotte trug ein bodenlanges, sommerliches, moosgrünes Kleid und hatte das Haar nach der neuesten Mode im Nacken zurückgesteckt. Das Charmanteste an ihr war jedoch ihr scheues Lächeln. Josephine Meister empfand bei ihrem Anblick etwas, das sie schon zweimal zuvor in ihrem Leben empfunden hatte: das Bedürfnis, dieses Wesen in die Arme zu nehmen und zu schützen. So, wie es ihr seinerzeit mit der kleinen Maria gegangen war, als Carl mit der damals Zweijährigen in den Armen vor ihr gestanden hatte, nach dem schrecklichen Erdbeben in Süditalien, bei dem Marias Familie verschüttet worden war. Carl hatte die Kleine aus den Trümmern gerettet und ihr in der Folge den Vater ersetzt – und Josephine die Mutter. Das Gleiche hatte sie auch für Friederike gefühlt, als … doch nun blieb keine Zeit für die Vergangenheit, rief sich Josephine zur Ordnung. Das hier war die Zukunft. Mit ausgestreckten Armen eilte sie auf ihren Gast zu und küsste die überraschte Lotte rechts und links auf die Wange.
»Meine Liebe!«, sagte sie. »Wie schön, dass Sie uns besuchen. Ich hoffe, die Reise war nicht allzu anstrengend.«
»Nein, es war sehr angenehm«, versicherte Lotte und lächelte zaghaft. »Julius hat mich sehr gut unterhalten.«
»Ja, das kann mein Junge«, bestätigte Josephine und geleitete Lotte hinaus auf den Balkon. »Und ich hoffe, Sie haben mir jede Menge Neuigkeiten aus Berlin mitgebracht. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich meine alte Heimat vermisse.«
»Das kann ich mir gut vorstellen«, sagte Lotte, die sich insgeheim ebenfalls fragte, wie es sich wohl anfühlen würde, hier in Bielefeld zu leben. Es war zwar ohne Frage eine hübsche Stadt – zumindest soviel sie bisher gesehen hatte –, die ihr im Vergleich zu Berlin aber durchaus etwas eng vorkam.
»In Schöneberg ist gerade das dritte Rathaus fertiggeworden«, begann Lotte zu berichten, dankbar dafür, ein Gesprächsthema sozusagen auf dem Silbertablett serviert zu bekommen.
»Am Rudolph-Wilde-Platz, richtig?«, vergewisserte sich die stets gut informierte Josephine.
»Ja«, bestätigte Lotte. »Und die ersten Beamten sind dort auch schon eingezogen.«
»Hmm«, überlegte Josephine, »das alte Rathaus war am Kaiser-Wilhelm-Platz, wenn ich mich nicht täusche.«
»Ganz genau«, erwiderte Lotte. »Aber das neue hat einen über achtzig Meter hohen Turm, der das große Gebäude deutlich überragt.«
Inzwischen war auch Julius zu ihnen getreten. »Wie ich sehe, unterhaltet ihr euch gut«, sagte er erfreut.
»Ja, das kann man wohl sagen«, erklärte Josephine. »Lotte hat mir gerade erzählt, dass das neue Rathaus in Schöneberg fertiggestellt wurde.«
»Berlin ist wirklich eine phantastische Stadt«, bekräftigte Julius. »Und ich kann mitreden, schließlich habe ich schon einiges gesehen vom Kaiserreich.«
»Ich habe nie verstanden, warum du in Hannover und Bonn studiert hast, bevor du nach Berlin gegangen bist«, sagte Josephine.
»Du vergisst, dass ich im Rheinland auch noch bei der Kavallerie war«, erinnerte Julius seine Mutter schmunzelnd.
»Nun, das entspricht immerhin deinem Stand«, erwiderte Josephine lächelnd. Gleich darauf wurde sie jedoch ernst. »Es ist wirklich gut, dass du da bist«, sagte sie. »Ich denke, du wirst die Lücke, die Onkel Emil hinterlassen hat, füllen können. Und damit meine ich nicht nur die fachliche Seite, sondern auch die menschliche.«
An Lotte gewandt fuhr sie fort: »Mein Sohn ist, wie mein Schwager, bei der Belegschaft dafür bekannt und beliebt, dass er sich um ihre Belange kümmert. Emil hatte sich zum Beispiel dafür eingesetzt, dass die jungen Arbeiterinnen einen Mundschutz gegen den Staub bekommen.«
»Wobei man sagen muss, dass Vater Onkel Emil dabei durchaus ein Vorbild war«, fiel Julius seiner Mutter ins Wort. »Das gehört zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen, dass die Arbeiter immer so von Vater geschwärmt haben und betonten, dass er sich sehr um sie sorge. Auch wenn er immer streng war.«
»Das ist richtig, mein Junge. Aber je mehr die Firma wuchs, desto weniger Zeit hatte dein Vater für die Belange der Arbeiter. Es ist wichtig, dass es in der Ebene darunter jemanden gibt, der diese Dinge im Blick behält.«
Julius nickte. »Und ich will es von Herzen gern tun.«
»Wie lange wollt ihr denn hier noch herumstehen und reden?«, wurden sie in diesem Moment von der quirligen Maria unterbrochen. »Ich habe wirklich versucht, mich wie eine Dame zu benehmen und zu warten«, fügte sie mit einem Seitenblick auf ihre Mutter hinzu. »Aber jetzt halte ich es einfach nicht mehr aus. Ich habe Hunger!«
Josephine musste lachen und strich ihrem jüngsten Zögling über die nun gar nicht mehr wirren, sondern zu einer glänzenden Pracht gekämmten Haare. »Du hast ja recht«, sagte sie. »Ich habe auch ganz furchtbaren Hunger. Außerdem: Wenn wir nun nicht endlich anfangen, zu essen, verderben wir es uns noch mit Frau Braunwarth. Und das würde uns allen sehr schlecht bekommen.«
3. Kapitel
Die Promotionsfeier für Dr. Julius Meister fand auf dem Hof der Meister’schen Werke statt, der sich zwischen dem Kontorhaus, den Fertigungshallen und der Werkstatt erstreckte.
Lotte wusste von Friederike, die neben ihr in der ersten Reihe saß, dass hier schon zahlreiche Feste gefeiert worden waren.
»Das ist eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen«, flüsterte Julius’ Schwester ihr ins Ohr und fügte hinzu: »Du siehst übrigens zauberhaft aus.«
»Danke«, wisperte Lotte zurück und musste zugeben, dass sie sich heute Morgen im Spiegel ebenfalls ausnehmend gut gefallen hatte. Sie trug ein helles Sommerkleid aus elfenbeinfarbenem Krepon mit Spitzenausputz, dazu einen passenden, mit Blüten verzierten Hut, dessen Krempe an der Unterseite mit einer großen weißen Schleife besetzt war. »Das Kompliment kann ich nur zurückgeben«, fügte sie hinzu. »Ich frage mich allerdings, wie du in diesem Rock so elegant zu gehen vermagst.«
Julius’ Schwester trug einen modernen Humpelrock, der sich dadurch auszeichnete, dass er um die Hüfte etwas breiter, zum Saum hin aber recht eng geschnitten war. Unterhalb des Knies war der Rock geschlitzt und gab den Blick auf den darunterliegenden Unterrock frei, in Friederikes Fall aus schimmernder hellblauer Seide.
»Gerade wegen des Rocks ist mein Schritt noch eleganter«, erklärte Friederike flüsternd. »Das Kunststück ist, dass man den Fuß nicht in gerader Linie nach vorne setzt, sondern das rechte Bein ein wenig nach links und das linke ein wenig nach rechts. Man läuft also überkreuz, gewissermaßen.«
Lotte lächelte. Sie war froh, dass sich die Beziehung zu Julius’ Schwester so unkompliziert gestaltete. Heute, am zweiten Tag ihres Aufenthalts in Bielefeld, fühlte sie sich wie befreit. Julius hatte nicht zu viel versprochen, als er ihr versichert hatte, seine Familie sei ausgesprochen nett und umgänglich. Sowohl vor seiner Mutter als auch vor seinen Schwestern hatte sie ihre Scheu so gut wie abgelegt, einzig mit seinem Vater war sie noch nicht recht warm geworden. Dr. Carl Meister, den sie am Vortag beim Abendessen kennengelernt hatte, war zwar höflich, aber auch sehr zurückhaltend gewesen oder besser: Er hatte sie kaum beachtet. Lotte hatte aber den Eindruck gewonnen, dass das keine Ablehnung war, sondern vielmehr daran lag, dass sich all seine Aufmerksamkeit auf Julius richtete, den er schon so lange nicht gesehen hatte und auf den er offensichtlich so stolz war, dass er beinahe platzte.
Nun erhob sich der Firmenchef und trat an das kleine Rednerpult, das auf einer niedrigen Empore vor dem Kontorhaus aufgebaut war.
»Meine sehr verehrten Damen und Herren«, setzte er an. »Ich weiß nicht, wann ich glücklicher war: an dem Tag, als Julius geboren wurde, oder heute, wo ich meinen Sohn das erste Mal mit seinem akademischen Titel ansprechen darf. Dr. Julius Meister.«
Der Vater sah seinen Sohn, der in der ersten Reihe direkt neben Lotte saß, so gerührt an, dass es ihr beinahe die Tränen in die Augen trieb. Ein Seitenblick auf ihren Liebsten bestätigte ihr, dass auch er äußerst ergriffen auf die Worte reagierte.
»Was gibt es Schöneres, als zu wissen, wofür man all das hier tut«, sagte Carl Meister und machte eine weit ausholende Handbewegung. »Zu wissen: Wenn ich mich eines fernen Tages in den Ruhestand begebe, dann werden die Meister-Werke durch meinen Stammhalter weitergeführt. Ich bin sehr stolz auf dich, mein Junge. Die Zukunft beginnt heute.«
Applaus brandete auf, Jubel folgte seinen Worten, die Ehrengäste und Arbeiter erhoben sich, um ihrer Begeisterung noch mehr Ausdruck zu verleihen.
Julius ging nach vorne, und die beiden Männer umarmten sich unter kräftigem Schulterklopfen.
Der Applaus währte scheinbar endlos. Irgendwann verstummte die Menge jedoch, ahnend, dass nun auch Julius Meister etwas sagen wollte.
»Mein Vater war mir immer ein Vorbild. Was seinen Beruf angeht und seine Art, das Unternehmen zu leiten und dabei immer im Blick zu behalten, dass wir unseren Erfolg nur Ihnen allen verdanken.«
Wohlwollend ließ er seine Augen über die Menge schweifen, dann sah er Lotte direkt an, als er fortfuhr: »Ein Vorbild war mir mein Vater – und auch meine Mutter – aber auch immer hinsichtlich ihrer starken Verbundenheit zueinander. Einer konnte sich auf den anderen verlassen, egal, was auch kam. So viel haben meine Eltern zusammen geleistet, und ich bin sicher: Ohne einander hätten sie das nicht geschafft.«
Lotte wurde unruhig. Julius würde doch nicht in aller Öffentlichkeit ihre Verlobung verkünden? Sie hatte extra ihren Ring abgezogen, um seinen Eltern die Neuigkeit schonend beizubringen! Sie warf einen nervösen Blick zu Josephine, die auf ihrer anderen Seite saß und ihren Sohn wie gebannt anstarrte.
»Ich habe immer gehofft, dass ich eines Tages einen Menschen finden werde, mit dem ich dieses Glück meiner Eltern ebenfalls teilen kann«, sagte er nun. Und dann fügte er zu Lottes großem Entsetzen hinzu: »Ich habe es in der wunderbaren Lotte Fischer gefunden. Heute feiern wir nicht nur meine Promotion, sondern auch unsere Verlobung. Lotte und ich werden heiraten. Komm zu mir, mein Schatz.«
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In Josephines Kopf überschlugen sich die Gedanken. Am liebsten wäre sie auf die Bühne gestürzt, um ihren Sohn davon abzuhalten, diese Dummheit zu begehen! So feinfühlig er ansonsten auch sein mochte – in diesem Moment wusste er offensichtlich nicht, was er tat. Und vor allem: was für eine Wirkung seine Worte hatten. Carl kam sich, wie sie deutlich sehen konnte, wie ein Idiot vor. Er hätte die Ankündigung machen müssen. Und vor allem hätte es der Anstand geboten, ihn – und auch sie – zunächst einmal über die Heiratsabsichten zu informieren, bevor selbige vor der gesamten Belegschaft und allen Festgästen herausposaunt wurden. Und Lotte … Herrgott, der Junge hatte sie, Josephine, doch gestern bei ihrer Ankunft selbst darauf hingewiesen, wie schüchtern das Mädchen war, und sie gebeten, es ihr leicht zu machen. Konnte er sich denn nicht vorstellen, was es für die junge Frau bedeutete, nun auf die Bühne gezerrt zu werden, während ihr fast vierhundert fremde Menschen zujubelten? Ganz hilflos und verloren stand sie nun dort oben und schaute immer wieder unsicher zu ihrem Schwiegervater in spe, der seinerseits wie erstarrt dastand. Josephine wechselte einen betretenen Blick mit Friederike, die ebenfalls zu bemerken schien, was in Lotte vorging. Nur Julius stand strahlend zwischen seinem Vater und seiner Verlobten und hatte offensichtlich keine Ahnung, was er da angerichtet hatte.
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Als der Applaus geendet hatte und Lotte an Julius’ Hand die Treppenstufe vom Podest herabstieg, hatte sie das Gefühl, die schlimmsten zehn Minuten ihres Lebens hinter sich gebracht zu haben. In ihre Erleichterung, nun nicht mehr allen Blicken ausgesetzt zu sein, mischte sich leiser Ärger, ein Gefühl, das sie eigentlich gar nicht kannte. Wie konnte Julius ihr das nur antun? Er wusste doch, dass es für sie schrecklich war, so im Mittelpunkt zu stehen.
Doch ihr Verlobter nahm strahlend die Glückwünsche entgegen, die, kaum dass sie die Bühne verlassen hatten, regelrecht auf sie einprasselten. Erst gratulierten seine Schwestern denkbar überschwänglich und dann Josephine, etwas zurückhaltender, aber dennoch herzlich. Carl Meister hatte sich allerdings, wie Lotte aus dem Augenwinkel bemerkte, entfernt, ohne zu gratulieren.
Lotte war erleichtert, als ihr Julius nach einer gefühlten Ewigkeit zuraunte, sie möge ihn für einen Moment entschuldigen. Damit würden hoffentlich auch die Gratulanten endlich von ihr ablassen. Glücklicherweise standen ihre beiden künftigen Schwägerinnen neben ihr, und Maria überschüttete sie mit Fragen zu ihrer Hochzeit, die Lotte freilich gar nicht zu beantworten vermochte, um dann abrupt das Thema zu wechseln und zu fragen: »Kannst du den Namen von Julius’ Doktorarbeit aussprechen?«
»Sicher«, sagte Lotte und lächelte, dankbar für die Ablenkung. »Ich habe allerdings auch eine ganze Weile geübt«, gestand sie und sagte dann: »›Über neue Ester einiger Monosaccharide mit Essigsäure, Benzoesäure, Zimtsäure und Kaffeesäure‹.«
Maria und Friederike prusteten los, auch Lotte lachte befreit auf. Im nächsten Moment erstarrte sie jedoch.
»Statt über die Doktorarbeit Ihres künftigen Mannes zu lachen, würden Sie Ihrem künftigen Schwiegervater vielleicht die Ehre dieses Tanzes erweisen?«, zischte eine Stimme hinter ihr.
Lotte fuhr herum. Vor ihr stand Carl Meister, sah sie kalt an und streckte ihr die Hand entgegen. Lotte bemerkte, dass die Empore inzwischen zu einer Tanzfläche umgebaut worden war. Sie saß in der Falle.
4. Kapitel
Die dicht stehende Menge tat sich vor ihnen auf, als Carl Meister, seine künftige Schwiegertochter mehr oder weniger hinter sich her zerrend, auf die Tanzfläche zusteuerte. Fast war es, als stünden die Menschen Spalier, alle sahen sie an, alle wandten ihnen die Köpfe zu, alle Blicke folgten ihnen. Vor der Treppe, die zur Tanzfläche hinaufführte, blieb Carl stehen und bedeutete Lotte mit einer Geste, vor ihm hinaufzugehen.
Mit weichen Knien und einem flauen Gefühl im Magen tat sie, wie ihr geheißen. Was blieb ihr auch anderes übrig! Sekunden später hatte auch Carl Meister die Stufen erklommen und reichte ihr die Hand. »Darf ich bitten?«
»Sehr gern«, piepste Lotte und überlegte fieberhaft, um was für eine Art Tanz es sich wohl handelte. Sie war zwar sehr musikalisch, und normalerweise war es ihr ein Leichtes, einen Tanz anhand seines Taktes zu erkennen, aber in diesem Moment waren all ihr Wissen und auch all ihr musikalisches Talent wie weggeblasen. Sie wurde vollkommen von ihrer Angst regiert. Und wie lange hatte sie nicht mehr getanzt! Ob sie das überhaupt noch konnte? Inzwischen meinte sie zwar, das Stück als eine Rumba identifiziert zu haben – aber das half ihr auch nicht groß weiter. Denn sie hatte keine Ahnung mehr, wie der Tanzschritt ging. Den rechten Fuß zurück? Oder den linken? Oder musste die Dame zuerst nach vorne? Panisch starrte sie auf die anderen Tanzenden, bemüht, ein Muster zu erkennen, doch da sagte Carl Meister an ihrer Seite ungeduldig: »Wollen wir dann?«
»Na… natürlich«, stammelte Lotte und atmete tief durch. Du schaffst das, sprach sie sich selbst Mut zu.
Carl zog sie zu ihrem großen Bedauern nicht in die Mitte der Fläche, wo die anderen Paare sie ein wenig vor den Blicken abgeschirmt hätten, sondern begann an Ort und Stelle, am Rand der Bühne, mit ihr zu tanzen, so dass Lotte nun auch noch Angst haben musste hinunterzustürzen.
Schon beim ersten Schritt prallten sie aufeinander. Sie ging nach vorne, er auch. Zu ihrem Entsetzen landete sie auf Carl Meisters Fuß. Er verzog das Gesicht. »Na, das fängt ja gut an.«
»Bitte entschuldigen Sie, ich …«
»Nun reden Sie nicht. Tanzen«, knurrte er. »Das ist ein Walzer. Da müssen Sie mit dem linken Fuß seitwärts zurück.«
Für ein paar Takte klappte es nun auch ganz gut, wobei Lotte fand, dass Julius’ Vater sie ziemlich grob hin- und herschwenkte. Doch dann sagte er zu ihrem Entsetzen: »Und nun in die andere Richtung.«
Das brachte Lotte so aus der Fassung, dass sie ihm wieder auf den Fuß trat, diesmal heftiger. Da er gerade eine schnelle Bewegung gemacht hatte, strauchelte er und wäre beinahe gestürzt.
»Was für eine Blamage!«, zischte er. »Reißen Sie sich doch zusammen! Alle sehen uns zu! Ich habe ja schon angenommen, dass Sie nicht gut genug für meinen Julius sind. Aber dass Sie nicht einmal tanzen können, das hätte ich dann doch nicht gedacht. Sie können nicht erwarten, dass ich mir diese Peinlichkeit noch weiter zumute.«
Mit diesen Worten ließ er die entsetzte Lotte einfach mitten auf der Tanzfläche stehen und stapfte mit hochrotem Kopf die Treppe hinunter. Lotte wollte im Boden versinken, doch sie hatte gar keine Zeit, sich Gedanken zu machen, denn im nächsten Moment stand ein großer, fast schon hagerer Mann mit braunen Haaren – er mochte Mitte zwanzig sein – vor ihr, deutete eine knappe Verbeugung an und nahm dann ganz selbstverständlich den Tanz mit ihr auf.
»Haben Sie keine Angst«, sagte er. »Ich führe Sie. Ob eine Frau gut tanzt oder nicht, liegt am Mann. Das wissen alle hier.«
Seine Worte waren nur ein schwacher Trost für Lotte. Vermutlich war das sogar noch schlimmer – wenn Carl Meister sich nun vor ihrer aller Augen blamiert hätte, war das nicht viel besser, als wenn sie Schuld an dem missglückten Tanz gehabt hätte. Eher im Gegenteil. Zu ihrer Verwunderung klappte der Tanz mit dem Fremden aber wirklich ganz hervorragend, nicht ein einziges Mal machte sie einen falschen Schritt, geschweige denn, dass sie ihm auf die Füße getreten wäre.
Als das Stück kurz darauf zu Ende war, sagte der Mann: »Was für ein Vergnügen. Dürfte ich auch noch um den nächsten Tanz bitten?«
»Wenn ich ehrlich bin, würde ich mich am liebsten irgendwo verstecken«, gestand Lotte mit leicht schwankender Stimme.
»Da kenne ich einen guten Platz. Ich begleite Sie.«
»Danke«, brachte sie hervor.
»Dann kommen Sie. Schnell.«
Sie folgte ihm von der Tanzfläche hinunter, die er im nächsten Moment umrundete und zwischen zwei Gebäuden hindurchschlüpfte. Plötzlich befanden sie sich in einem kleinen menschenleeren Hof, in dem einige Tische und Stühle bereitstanden.
»Hier verbringen die Arbeiter bei schönem Wetter ihre Mittagspause«, erklärte der Fremde, während er für Lotte einen Stuhl zurückzog. Dankbar ließ sie sich darauf nieder.
Er tat es ihr gleich und sagte dann: »Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle? Richard Kaiser. Ich kenne Julius schon mein ganzes Leben. Und auch wenn ich ebenfalls nichts von seinen Hochzeitsplänen wusste: Dass ich sein Trauzeuge sein werde, steht seit dem Kindergarten fest.«
Er grinste und strich sich eine zu lange Strähne aus der Stirn, die ihm, wie sie fand, ein etwas verwegenes Aussehen verlieh.
Lotte stöhnte innerlich auf. Vor der Begegnung mit diesem für Julius so wichtigen Mann war sie fast so aufgeregt gewesen wie vor dem Zusammentreffen mit seiner Familie. Und nun hatte er sie ausgerechnet im peinlichsten Moment ihres Lebens kennengelernt! Zwar hatte er ihr weismachen wollen, es sei nicht ihre Schuld – aber das war sicherlich nur der Versuch gewesen, sie zu trösten.
»Freut mich«, sagte sie daher lahm. »Auch wenn die Umstände unseres Kennenlernens denkbar unangenehm waren. Danke, dass Sie mich gerettet haben.«
»Es war mir ein Vergnügen«, versicherte Richard. »Und wenn die Sache für jemanden peinlich war, dann für Carl. Aber bestimmt nicht für Sie.«
»Vielleicht sind Sie nun arbeitslos«, murmelte Lotte betrübt.
Verblüfft sah er sie an. »Arbeitslos? Wie meinen Sie das?«
»Nun, ich gehe nicht davon aus, dass die Hochzeit noch stattfindet. Für mich ist jedenfalls klar, dass ich nicht in einem Haus mit einem Mann leben kann, der mich dermaßen hasst. Das ertrage ich nicht.«
»Das verstehe ich«, sagte Richard. »Aber deshalb müssen Sie die Hochzeit doch nicht gleich absagen. Was genau ist denn geschehen? Ich habe nur gesehen, dass er Sie offensichtlich nicht führen konnte und dann wutentbrannt von der Tanzfläche gestürmt ist. Haben Sie sich gestritten?«
»Ach, Herr Kaiser, er hat ganz furchtbare Dinge zu mir gesagt.« Nun konnte Lotte ihre Tränen nicht länger zurückhalten und schluchzte auf.
Hastig kramte Richard in seiner Tasche nach einem Taschentuch und reichte es ihr.
»Also erstens«, sagte er, »nennen Sie mich bitte Richard. Ich finde, wir können uns duzen, auch wenn es an Ihnen wäre, das anzubieten.«
Sie musste unter Tränen lächeln. Dieser Richard hatte wirklich eine sehr tröstende Art an sich.
»Gut«, sagte sie. »Richard.«
Er erwiderte ihr Lächeln. »Und nun, wo wir das geklärt haben, möchtest du mir vielleicht erzählen, was Carl Meister zu dir gesagt hat?«
»Dass er sich schon gedacht hat, dass ich nicht gut genug für Julius sei. Aber dass er nicht vermutet hätte, dass ich so eine Blamage bin.«
»Das hat er gesagt? So ein Rüpel!«, rief Richard zornig. »Mit dieser Aussage hat er nicht dich bloßgestellt, sondern sich selbst. So verhält sich kein Herr gegenüber einer Dame. Und ein Herr zu sein, das ist Dr. Carl Meister ja immer so wichtig.«
Beinahe erstaunt ob seiner Empörung sah Lotte ihn an. Es rührte sie, dass Julius’ bester Freund sich um ihretwillen derart empörte.
»Hör zu«, sagte er dann und beugte sich vor. »Du darfst dir das nicht so sehr zu Herzen nehmen. Da sind zwei Dinge, die du wissen musst, um die Sache richtig einordnen zu können.«
»Und die wären?«
»Nun, zum einen ist Julius für Carl Meister das absolut Wichtigste auf der Welt. Er kommt noch vor seiner Frau und seinen Töchtern – obwohl er sie alle unglaublich liebt. Carl ist regelrecht besessen von seinem Sohn. Und damit sind wir auch schon bei Punkt zwei: Helga.«
»Helga?«, fragte Lotte verständnislos.
»Also«, druckste Richard herum, »eigentlich ist es nicht an mir, dir das zu erzählen, aber wenn du es wirklich noch nicht weißt, ist es wichtig für dich, damit du es verstehst. Helga ist die Tochter eines großen Leinenhändlers, und irgendwann haben die Väter sich in den Kopf gesetzt, dass Julius und sie einmal heiraten müssten und sich damit zwei große Bielefelder Unternehmen verbinden.« Mitleidsvoll sah er sie an.
Lotte saß da wie vom Donner gerührt. Warum hatte Julius ihr nichts von Helga erzählt? Doch sicher, weil sie in seinem Leben einfach keine Rolle spielte? Weil sie so unwichtig war, dass er sie nicht für erwähnenswert hielt. Oder?
»Und Helga und Julius wollten aber nicht?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Nun ja«, murmelte Richard. »Das solltest du ihn vielleicht selbst fragen. Aber es ist auf jeden Fall Vergangenheit. Sonst wäre er ja nicht mit dir nach Bielefeld gekommen.«
Betroffen sah er sie an. »Jetzt habe ich es nur noch schlimmer gemacht«, erkannte er. »Eigentlich wollte ich dich trösten und dir sagen, dass Carl Meisters Ablehnung nichts mit dir zu tun hat. Nun aber ist dein Kummer noch größer.«
Lotte schluckte. »Ist sie hier? Helga?«
Richard nickte. »Ja, ich habe sie gesehen.«
»Würdest du sie mir zeigen?«
Richard zögerte. »Ich habe das Gefühl, dass dieses Gespräch immer mehr in die falsche Richtung geht«, sagte er. »Julius und Helga haben einander seit Jahren nicht gesehen. Nur die Väter haben diesen Traum noch weitergeträumt.«
»Trotzdem«, beharrte Lotte. »Ich möchte sie sehen.«
5. Kapitel
Carl Meister«, zischte Josephine ihrem Gatten zu. »Würdest du mir freundlicherweise erklären, warum du dich so unmöglich benommen hast? Wie konntest du dich so blamieren?«
Während Josephine ihren Gatten dieserart ins Gebet nahm, nickte sie strahlend ihren Gästen zu. Josephine Meister war ein Genie darin, nach außen hin die Fassung zu bewahren. Sie war in Bielefeld lang schon eine echte Institution geworden und stand im Ruf, stets perfekt gekleidet zu sein und sich natürlich immer absolut korrekt zu verhalten. Eigentlich war sie der Ansicht gewesen, dass ihr Mann diese Kunst auch beherrsche.
»Ich habe mich blamiert?«, zischte Carl empört zurück. »Ist es nicht eher so, dass sie mich blamiert hat? Ein reinster Trampel ist das! Ständig ist sie mir auf die Füße getreten.«
»Nun«, beschied seine Frau ihm kalt. »Wie man weiß, ist es die Schuld des Mannes, wenn eine Frau schlecht tanzt. Davon konnten sich alle überzeugen, schließlich hat sie mit Richard ganz wunderbar getanzt, nachdem du sie einfach hast stehen lassen. Das arme Mädchen. Wie konntest du nur! Du wirst dich bei ihr entschuldigen!«
Zu Josephines Ärger gesellten sich in diesem Moment Bürgermeister Dr. Rudolf Stapenhorst und seine Frau zu ihnen. Sie folgte dem Gespräch nur mit halbem Ohr. Sie war entsetzt vom Verhalten ihres Mannes. Dr. Carl Meister war eigentlich ein so besonnener wie souveräner Mann. Aber wenn es um Julius ging, schien er jeden Bezug zur Realität zu verlieren. Das war nicht nur für die Familie peinlich, sondern für die arme Lotte auch ganz entsetzlich. Wo war sie überhaupt? Unauffällig ließ Josephine ihren Blick über die Menge schweifen, konnte ihre künftige Schwiegertochter jedoch nirgendwo ausfindig machen. Stattdessen sah sie Julius: Ihr Sohn stand in einer Ecke, ein Glas Champagner in der Hand, und plauderte angeregt mit einer jungen blonden Frau. Josephine stutzte, sah genauer hin, und dann erkannte sie, um wen es sich handelte. Das war ohne Frage seine Jugendliebe. Helga!
• • • •
Richard zwang sich, ruhig zu atmen, um seinen rasenden Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bringen. Nachdem er mit Lotte zu der Festgesellschaft zurückgekehrt war, um der Verlobten seines besten Freundes Helga zu zeigen, hatte er nicht lang suchen müssen. Sie stand ausgerechnet bei Julius, beide hatten ein Glas Champagner in der Hand, scherzten und lachten, und es war nicht zu übersehen, wie vertraut sie miteinander waren und wie sehr sie die Gegenwart des anderen genossen.
»Ich habe genug gesehen«, hatte Lotte gesagt. »Bitte entschuldige mich.«
»Aber wo willst du denn hin?«, fragte er sie.
»Zur Villa zurück. Und dann nach Berlin«, hatte sie erwidert und sein Angebot, sie zu begleiten, abgelehnt. »Ich danke dir sehr«, sagte sie. »Aber ich wäre nun gerne allein.«
Hoch erhobenen Hauptes war sie fortgegangen, und er hatte ihr nachgesehen und ein merkwürdiges Gefühl des Verlustes in sich verspürt. Die Begegnung mit Lotte hatte ihn bis ins Mark getroffen. Schon der erste Anblick dieser bezaubernden jungen Frau, die da verloren auf der Tanzfläche stand, die er retten musste, hatte eigenartige Gefühle in ihm ausgelöst. Gefühle, die – das war ihm klar – vollkommen unpassend für einen Trauzeugen waren. Wusste Julius eigentlich, was für ein Glück er mit dieser jungen Frau hatte? Ein Glück, das er gerade zu verspielen im Begriff war.
Lass ihn machen, sagte eine leise Stimme in seinem Inneren. Lass ihn genau so weitermachen. Kümmere dich um Lotte, finde heraus, wo sie in Berlin wohnt, mach ihr nach einer angemessenen Zeit den Hof. Und lass Julius mit Helga glücklich werden.
Doch im nächsten Moment schüttelte er, beschämt über sich selbst, den Kopf. Lotte hatte ihm wohl im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf verdreht. Julius war sein Freund, mehr noch, er hatte ihn stets als Bruder empfunden. Und er war sein Trauzeuge. Seine Aufgabe war also vollkommen klar. Er atmete noch einmal tief durch und ging dann mit entschlossenen Schritten auf den Firmenerben zu.
• • • •
»Fräulein Meister, dürfte ich Sie um den nächsten Tanz bitten?«
Friederike wandte sich um und sah sich einem jungen, zierlichen, aber hochgewachsenen Mann gegenüber, der, wie sie wusste, in den Meister-Werken arbeitete und ihr schon mehrfach aufgefallen war.
Sie lächelte und nickte leicht. »Gerne. Es wäre mir eine Freude.«
»Sollten Sie meinen Namen nicht kennen, ich bin Franz Behringer. Ich arbeite in den Werken Ihres Vaters.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Ich kenne Sie.«
Tatsächlich hatte sie den Namen, den ihr Vater oft sehr lobend erwähnt hatte, nicht mit dem jungen Mann in Verbindung gebracht, dem sie einige Male auf den Fluren der Werke in die Arme gelaufen war.
»Mein Vater hält große Stücke auf Sie«, sagte sie zu Franz, während sie neben ihm zur Tanzfläche schritt.
»Oh, wirklich?«, fragte der junge Mann sichtlich erfreut. »Oder sagen Sie das nur, um mir zu schmeicheln?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, es ist wirklich so. Er spricht oft von Ihnen.«
»Das freut mich sehr.«
Inzwischen hatten sie die Tanzfläche erreicht, und er streckte ihr erwartungsfroh die Hand entgegen. Friederike ließ sich von ihm in die Arme ziehen, und als sich ihre Blicke für einen Moment ineinander verfingen, stellte sie verwundert fest, dass seine Augen von einem faszinierenden tiefen Grün waren. Unverwandt starrten sie einander für einen Moment an, dann setzte die Musik ein, und sie begannen, etwas stolpernd zunächst, dann jedoch sehr flüssig zu tanzen. Sie harmonierten wunderbar miteinander, Franz führte Friederike leicht und doch sicher durch den Tanz, der viel zu schnell endete. Sie hoffte, dass er es wagen würde, sie auch um den nächsten Tanz zu bitten – und ihre Hoffnung sollte sich erfüllen.
»Was genau machen Sie eigentlich im Betrieb?«, fragte Friederike. »Ich weiß nur, dass es irgendetwas mit Zahlen ist.«
Er lachte, und seine Augen funkelten. »Nun«, erwiderte er, »momentan kümmere ich mich um die Kosten für den Puddingpulverbau, sorge dafür, dass dort alles seinen geregelten Gang geht, die Arbeiter tatsächlich das machen, wofür sie bezahlt werden – und dass es nicht zu teuer wird.«
»Dann sind Sie eine Art Bauleiter?«
»Eher die Schnittstelle zwischen Bauleiter und den Werken«, präzisierte er.
Friederike nickte. Der Puddingpulverbau war, neben der Promotion ihres Bruders, das Ereignis dieses und des vergangenen Jahres gewesen. Das Werk schloss sich an die Firmengebäude an und sollte, wie der Name schon sagte, ausschließlich der Herstellung und Abfüllung der Puddingpulver vorbehalten sein.
»Und Sie?«, fragte er.
»Oh, ich schließe in diesem Sommer die Handelsschule ab«, sagte sie.
»Und wie geht es danach für Sie weiter? Werden Sie häufiger in der Firma zu tun haben?«
Hoffnungsvoll sah er sie an. Lag es am Tanz, dass ihr Herz so schnell klopfte, fragte sie sich, während sie erwiderte: »In der Tat. Ich werde auf der Handelsschule vor allem auch für die Zusammenarbeit mit den ausländischen Märkten ausgebildet. Mein Vater würde mich zwar lieber zu Hause sehen, aber ich habe nicht jahrelang Vokabeln gelernt, um meine Kenntnisse nun nicht zu nutzen.«
Er nickte. »Beeindruckend«, sagte er. »Welche Sprachen sprechen Sie denn?«
»Englisch, Französisch und Italienisch«, sagte sie.
»Du lieber Himmel«, staunte er und hob den Arm, so dass die überraschte Friederike eine Drehung vollführte.
»Sie müssen furchtbar klug sein«, sagte er, als er sie wieder aufgefangen hatte.
»Sie auch«, gab sie das Kompliment zurück, während sie sich wieder in seinem Blick aus grünen Augen verfing. »Menschen, die mit Zahlen umgehen können, bewundere ich sehr.«
»Und ich Menschen, die mit Sprachen umgehen können.« Sein Blick wurde intensiver, ihr Herzschlag auch.
»Vor allem, wenn sie so wunderschön sind wie Sie. Sie sehen bezaubernd aus, Friederike. Das tun Sie immer, aber heute ganz besonders.«
»Danke.« Sie spürte, dass sie errötete. Seine Nähe war mit einem Mal überwältigend, wieder sahen sie einander in die Augen, und dann musste sie den Blick abwenden, weil das Gefühl, dass er in ihr auslöste, zu intensiv war.
Da sah sie, dass ihre zukünftige Schwägerin das Festgelände verließ – in Hektik, wie es schien. Sie entdeckte Richard, der ihr mit beinah hilfloser Miene nachschaute. Wo war Julius? Da stimmte etwas nicht.
»Bitte entschuldigen Sie mich«, stieß sie hervor und löste sich von Franz. »Ich muss los.«
»Oh«, sagte er und hielt in der Bewegung inne. »Ich hoffe, ich war nicht zu aufdringlich. Falls doch, entschuldige ich mich. Ich wollte nicht …«
In seinem eben noch so zärtlichen Gesicht stand Unsicherheit und Zurückhaltung. Erst jetzt wurde Friederike klar, wie er ihre Worte deuten musste. Er hatte ihr Komplimente gemacht, mit ihr geflirtet, und sie sagte ihm nun mitten im Tanz, dass sie schnell weg musste.
»Nein. Im Gegenteil. Ihre Worte haben mir sehr geschmeichelt und mich glücklich gemacht«, sagte sie und konnte sehen, wie alle Zweifel von seinem Gesicht verschwanden. »Ich muss mich nur um meine künftige Schwägerin kümmern. Sie hat soeben das Festgelände verlassen.«
»Ich verstehe«, erwiderte er und begleitete sie nach unten.
»Es war wunderschön, Franz«, sagte sie lächelnd. »Am liebsten hätte ich den ganzen Tag mit Ihnen getanzt.«
»Und ich mit Ihnen«, murmelte er und sah sie wie verzaubert an.
• • • •
Lotte stand auf dem Balkon, der ihrem Zimmer vorgelagert war, und starrte in den Garten. Hinter ihr auf dem Bett lagen ihre Handtasche und ein halb leerer Koffer. All die prachtvollen Kleider, die sie in Berlin eigens für ihre Reise nach Bielefeld hatte anfertigen lassen, würde sie hierlassen. Was sollte sie auch damit! Sie hatte keine Verwendung dafür. Sie wollte sich gerade an den kleinen Sekretär setzen und ein paar Zeilen an Julius schreiben, in denen sie ihm ihre Abreise erklärte, als es klopfte.
Unwillig drehte sie sich um. Sie wollte niemanden sehen, und das Bedürfnis, allein zu sein, war beinahe übermächtig.
Die Tür schob sich auf, und Friederike kam herein. »Lotte«, sagte sie. »Liebes. Da bist du ja. Ich habe nach dir gesucht.«
Ihr Blick fiel auf den halb gepackten Koffer, der auf dem Bett lag. »Du willst doch nicht etwa abreisen?«
»Doch«, stieß Lotte hervor. »Doch, das will ich. Das war alles ein schrecklicher Irrtum.«
»Du wirst dich doch von Vater nicht vertreiben lassen!«, rief Friederike. »Das kannst du Julius nicht antun.«
»Ich glaube nicht, dass es ihn stören würde«, sagte Lotte traurig. »Schließlich hat er nicht einmal nach mir gesehen, nachdem er mich dazu gezwungen hat, zu ihm auf die Bühne zu kommen. Er hat nicht nach mir gesucht nach dem schrecklichen Tanz mit deinem Vater, stattdessen hat er sich mit seiner Jugendliebe vergnügt.«
»Er hat sich nicht mit ihr vergnügt«, widersprach Friederike. »Ich habe auch mit Helga gesprochen. Sie hat ihm einfach nur gratuliert und ihm von Herzen Glück gewünscht. Und sie hat ihm gesagt, wie entzückend sie dich findet.«
Überrascht sah Lotte auf. »Ist das wahr?«
»Das ist es«, bestätigte Friederike. »Helga ist selbst längst heimlich verlobt, wie sie uns gestanden hat – allerdings mit einem Arbeiter ihrer Fabrik. Ihre Eltern sind viel standesbewusster als unsere. Sie hat furchtbare Angst, ihrem Vater davon zu erzählen, und hofft nun, dass die Nachricht über eure Verlobung auch für sie Erleichterung bringt.«
»Oh«, rief Lotte. »Das gönne ich ihr von ganzem Herzen.«
In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, und ein aufgeregter Julius stürmte herein.
»Bruderherz«, spottete Friederike. »Pass nur auf, dass Mutter dich hier nicht sieht.«
Doch Julius beachtete seine Schwester gar nicht. Er hatte nur Augen für Lotte.
»Liebling, es tut mir so leid«, sagte er. »Ich habe gar nichts von all dem mitbekommen. Von dem Moment an, in dem wir die Bühne verlassen haben, sind die Leute regelrecht Schlange gestanden, um mit mir zu sprechen. Ich habe mich zwar immer wieder suchend nach dir umgesehen, dich aber nicht finden können. Ich hatte keine Chance, zu dir durchzukommen. Es tut mir so unendlich leid.«
Lotte nickte. »Wie hast du denn nun erfahren, was geschehen ist?«