Zuckers Dilemma - Hans Oberleithner - E-Book
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Zuckers Dilemma E-Book

Hans Oberleithner

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Beschreibung

Professor Schrulling und sein Team stehen vor einem Rätsel. Ihr Forschungsobjekt, Zellen aus der Hundeniere, sterben dahin wie die Fliegen. Der Verdacht fällt auf das süße Gold, Zucker. In den Köpfen der Forscher entpuppt sich Zucker allmählich als aggressives Wesen, das zum Mörderkristall mutiert. Schrulling und seine Leute geraten durch diese Entdeckung zunehmend in eine beklemmende Parallelwelt. Zucker, ihr hinterlistiger Feind, besiegt sie alle, ... beinahe.

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Seitenzahl: 168

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Hans Oberleithner

Zuckers Dilemma

Ein bittersüßer Thriller aus der Welt der Wissenschaft

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

In eigener Sache

Schrulling

Agatha

Pablo

Sophia

Fanni

Tim

Vermutung

Verdacht

Mörderkristall

Zweifel

Entschluss

Erwachen

Schrecken

Paranoia

Flucht

Nachspiel

Reflexionen

Albtraum

Monolog

Hypothese

Experiment

Brainstorming

Analyse

Rio de Janeiro

Kyoto

Moskau

Cambridge

Traumwelt

Erfüllung

Zwillingsbrüder

Leere

Flut

Kampf

Leid

Selbstfindung

Heimchen

Impressum neobooks

In eigener Sache

Salz ist Zuckers Zwillingsbruder.

Als unverbesserlicher Experimentator habe ich den Versuch gewagt, „mein Erstlingswerk“ Natriums Dilemma in Zuckers Dilemma umzuschreiben. Um gleich im Vorfeld Prügel von mir abzuwenden, möchte ich dieses Eigenplagiat mit drei grundlegenden Eigenschaften rechtfertigen, die Zucker & Salz (Natrium) gemeinsam haben:

Ohne Zucker & Salz ist Leben nicht möglich

Etwas Zucker & Salz macht das Leben schön

Viel Zucker & Salz verkürzt das Leben

So kam mir in den Sinn, einfach Salz gegen Zucker auszutauschen, den Verlauf der Geschichte aber so werktreu wie möglich zu belassen. Mein wissenschaftliches Gewissen hat mich dann doch gezwungen, da und dort physiologische Anpassungen vorzunehmen, um Zucker & Salz noch ein gewisses Eigenleben zu ermöglichen.

Die Namen der Protagonisten habe ich verändert um zu signalisieren, dass nicht nur Moleküle austauschbar sind sondern auch ganze Menschen (zumindest in der Fiktion).

Trotzdem bleibt die Story scheinbar dieselbe. Scheinbar, denn Salz löst in uns andere Gedankengänge aus als Zucker.

Und auf einmal befindet man sich in unterschiedlichen Welten, trotz aller anfänglichen Gemeinsamkeiten ...

Der Autor

Alle vorkommenden Personen, Ereignisse und Handlungen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist unbeabsichtigt

Schrulling

Labormief schlägt ihm entgegen als Schrulling, Professor für Lebenswissenschaften und berüchtigter Zuckerhasser, an einem nebligen Montagmorgen im Jahr 2000 sein Institut betritt. Ein paar Stimmen dringen dünn aus den Katakomben, wie er die im Souterrain gelegenen Labore benennt, und verebben rasch, sobald er den, von Kaffeeflecken geadelten grauen Filzboden seines Arbeitszimmers betritt. Er entledigt sich der Winterjacke, wirft seinen Rucksack in die Ecke und geht auf die seinem Zimmer gegenüberliegende Toilette, um die Gläser seiner Hornbrille mit einem Streifen Papier vom Wasserdampf zu befreien. Dabei blickt er in den Spiegel über dem Waschbecken. Er mag diese kurzen Momente, wenn er ohne Brille sein Gesicht betrachtet. Es ist dann weichgezeichnet, die groben Falten seiner Stirn und die Muttermale auf seinen Wangen sind dann zu sanften Wellen und dezenten Schatten mutiert, was ihn in gewisser Weise fröhlich stimmt, sodass er seinen morgendlichen Rundgang durchs Institut mit gewöhnlich guter Laune beginnt.

Sein erster Stopp ist gleich nebenan, in der Kommandozentrale, wie das kleine Geschäftsbüro von Insidern gern genannt wird. Frau Herrlich, Seele des Instituts, blickt etwas besorgt durch ihre grün geränderte Brille am Bildschirm vorbei zu ihm hin, während er sich auf eine türkisfarbene Philippe Starck Couch fallen lässt. Es ist das einzige Designermöbel, das ihm die Universität im Zuge seiner Berufung vor mehr als 20 Jahren erlaubt hatte anzuschaffen. Das grüne Licht kam allerdings erst nach seiner schriftlichen Begründung, dass die Farbe Türkis nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen den Stress von Studierenden, die auf dieser Couch ihr Examen erwarteten, erheblich senken würde. Schrulling erinnert sich jedes Mal mit Schmunzeln, wenn er sich auf diese Couch niederlässt, wie er den entscheidungsbefugten Verwaltungsbeamten letztlich damit gefügig gemacht hatte, indem er einen im Journal of Color Psychology publizierten Artikel seinem Begründungsschreiben hinzufügte. Er hatte die innere Gewissheit, dass der Empfänger von diesem in Fachchinesisch verfassten Artikel gleichsam beeindruckt wie überfordert sein würde. Uns so war es auch.

Es gebe dicke Luft im Zellkulturlabor, sagt Frau Herrlich mit einem magischen Schwingen in ihrer Stimme, wohl um dieser Botschaft mehr Eindringtiefe in Schrullings Hirnrinde zu verschaffen. Irgendetwas Komisches laufe gegenwärtig da unten ab. Sie teile ihm das lieber gleich mit, damit er sich innerlich darauf einstellen könne. Schrulling hat sich an diese Art von morgendlichen Botschaften gewöhnt, es erzeugt in ihm nicht mehr diese gewisse Enge im Hals, wie er sie früher verspürt hat, als er noch jung und unerfahren war. Inzwischen hat er sich ein reiches Repertoire an Strategien zugelegt, um solchen Situationen zu begegnen. Zum Beispiel, aufmerksames Zuhören, begleitet von nachdenklichem Kopfnicken, um das aufgeworfene Problem still und leise auszutrocknen. Oder, penetrantes Hinterfragen, um das Problem emotional einzudampfen, bis es, entkernt und geschrumpft, seine ursprüngliche Bedeutung verloren hat. Oder auch, mit ein paar lockeren Bemerkungen das Problem weglächeln, so, dass es den Nimbus der Ernsthaftigkeit einbüßt. So begibt er sich also gut gewappnet nach unten in die Katakomben.

In fahles Neonlicht getaucht, trifft er auf seine Mitstreiter. Sie haben sich um den Brutschrank gruppiert, dem behaglichen Zuhause von Millionen lebender Zellen aus Organismen, die längst gestorben sind, aber deren einzelne Bausteine bei guter Betreuung in dieser künstlichen Umgebung bis zum Nimmerleinstag weiterleben. Der Anblick erinnert ihn an ein Bild Rembrandts, auf dem ein toter Straßenräuber zu sehen ist, nackt auf dem Seziertisch des Anatomen Dr. Nicolaes Tulp liegend und umgeben von vornübergebeugten Gestalten, die mit ernster Miene den Meister fragend anblicken.

Da steht Agatha, die streitbare Dozentin, die Wangen leicht gerötet und ihr bohrender Blick auf Schrulling gerichtet. Daneben, in geduckter Haltung und überlangem weißen Labormantel, lugt der kleine Pablo, Jungforscher aus Montevideo, über die Schulter von Sophia, Doktorandin aus Kiew, die ihrerseits ein sicheres Plätzchen in Agathas Windschatten aufgesucht hat. Tim, der technische Assistent kauert versunken wie Rodins Denker auf einem der schwarzen Laborhocker, den Blick auf den Boden gerichtet, während Fanni, die Ziehmutter der Zellen, angestrengt durch die Glasscheibe ins Innere des Brutschranks starrt. Schrulling streift mit einem flüchtigen Blick die Gesichter und überlegt kurz, welche seiner Problemlösungsstrategien hier am besten zur Anwendung kommen sollte. Die Luft um ihn herum ist irgendwie elektrisch aufgeladen, es scheint zu knistern. Panik auf der Titanic, mit dieser Feststellung versucht er die Scherzstrategie, was aber die Gesichter wenig aufzuhellen scheint. Agatha zeigt mit spitzem Finger in Richtung Brutschrank. Der Tod geht um, sagt sie etwas manieriert und wirft energisch ihre dunklen Haare in den Nacken. Beim Wort Tod geht ein kurzer Schauer durch Pablos zusammengesunkenen Körper und Sophias Blick wirkt zunehmend gläsern. Während Tims Kopf unwillig die Denkerpose verlässt und seine Augen ziellos die weiße Decke über ihm mustern, fügt Fanni noch Ursache unbekannt hinzu.

Währenddessen schweifen Schrullings Gedanken zurück in die Vergangenheit. Wie oft schon hat er solche Situationen erlebt. Er kennt dieses dumpfe Gefühl von Ratlosigkeit, das sich wie ein hochinfektiöses Virus in den Gehirnen einnisten kann und jeden kreativen Gedanken im Vornherein im Keim erstickt. Immer wieder hat er sich aufgerafft und sich mit seinen Mitarbeitern auf die Jagd nach den Ursachen begeben, Hypothesen geschmiedet, getestet und wieder verworfen. Bis eines Tages, wie aus heiterem Himmel, das Problem von selbst verschwunden ist, ohne erkennbaren Grund. Zurück lässt so eine vorübergehende Gefängnisrevolte, wie Schrulling das Massensterben von Zellen im Brutschrank einmal genannt hat, zwei Lager. Lager eins ist glücklich, dass alles vorüber ist, während Lager zwei unglücklich ist, dass das Rätsel noch ungelöst ist. Altgediente Forscher wie er unterstützten eher Lager eins, während sie aufkeimende Verschwörungstheorien von Lager zwei wegzulachen versuchten.

Mit solchen Gedanken im Kopf begibt sich Schrulling mit seinen Leuten in das obere Geschoß des Instituts. Er macht das Schlusslicht dieser kleinen Prozession, die einen kurzen Zwischenstopp in der engen Institutsküche einlegt. Dort staut es sich um die Schweizer Kaffeemaschine, die stampfend und dampfend zu Höchstform aufläuft. Agatha macht sich kunstvoll einen Macchiato, Pablo hält bescheiden sein winziges Tässchen für einen Espresso bereit, andere haben den Wasserkocher für ihren Tee angeworfen. Schrullings Finger gleiten über das warme Chrom der Maschine. So zuverlässig wie diese Maschine arbeitet wünschte er sich das Zellleben unten im Brutschrank, ein wohl hoffnungsloser Wunsch. Manchmal beneidet er die Forscher der toten Materie, Physiker zum Beispiel. Kein Problem mit Reproduzierbarkeit, wenn’s einmal klappt, klappt es immer. Eher haben sie das Problem der falschen Hypothesen, die sie testen. Wir testen auch Hypothesen, häufig auch falsche, sinniert Schrulling. Doch unsere Materie lebt und das schafft Raum für Graustufen, erwünschte und unerwünschte. Während der Kaffee in seine Tasse strömt, ruft er sich in Erinnerung, dass es die Vielzahl der Graustufen ist, die letztlich das Riesenheer der Bioforscher am Leben erhalten. Dieser Gedanke hat etwas Beruhigendes an sich und so schlendert er entspannt in den kleinen Konferenzraum, gleich neben der Küche.

Dort sitzen schon seine Leute und rühren in ihren Tassen. Die helle Frühlingssonne bahnt sich ihren Weg durch eine der Oberlichten und wirft ihren harten Morgenstrahl auf die grüne Tafel am oberen Ende des Raums. Wenn das so weiter geht, können wir einpacken, eröffnet Agatha gereizt die Runde. Dann machen wir eben ein Kaffeehaus auf, versucht Schrulling scherzhaft gegenzusteuern. Pablos Gesicht hellt sich kurz dankbar auf, während Sophia deutlich geräuschvoller in ihrer Tasse rührt. Die Zellen sterben einfach, sagt Fanni mutlos und streichelt mit ihren Fingerkuppen den Schreibblock vor ihr. Während seine Mitarbeiter ihrem Unmut freien Lauf lassen, wandern Schrullings Gedanken weit zurück, ins Jahr 1958, als diese Zellen aus der Niere eines Beagle in die Forschungslabore gelangten. Und jetzt, nach beinahe 60 Jahren spinnen sie, sterben einfach. Patienten enttäuschen Ärzte, wenn sie sterben, Zellen enttäuschen Forscher, wenn sie schlapp machen, sagt sich Schrulling, eigentlich dasselbe Phänomen.

Die Morgensonne hat sich inzwischen zurückgezogen und den Raum in indifferenten Grautönen zurückgelassen. Wer hat zuletzt die Zellen gefüttert? hört sich Schrulling fragen und ahnt, dass ihn die Antwort wenig weiterbringen wird. Das war in letzter Zeit mein Job, sie kriegen alles, was sie brauchen, meldet sich gähnend Tim zu Wort. Ernährungsfehler sind ausgeschlossen, lässt sich Agatha vernehmen, während sie nervös mit dem Fingernagel einen Kaffeekleks an ihrer Tasse entfernt, das Zellmedium ist wie der Big Mac bei McDonald’s immer gleich, Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Da kann man einfach nichts falsch machen“ fügt sie noch hinzu. Schrulling fragt nachdenklich und kaum hörbar, Zucker ist also der einzige Bestandteil, den wir noch hinzufügen?Ja, und dann wird sorgfältig gerührt, um den Zucker aufzulösen, ergänzt Fanni eifrig.

Vor seinem geistigen Auge sieht Schrulling, wie sich die Zuckerkristalle im bernsteinfarbenen Medium in mäandernde Schlieren auflösen und langsam verdämmern. Toter Zucker, sinniert Schrulling, totes Zellfutter. Vielleicht aber, kommt es Schrulling plötzlich in den Sinn, ist Zucker nur bei flüchtiger Betrachtung tot? In Gedanken sieht er den impulsiven Tim, wie er den Zucker mit ausladender Bewegung lawinenartig im Medium versenkt, während Fanni die Zuckerkristalle mit einem kleinen Löffel langsam und behutsam in den Glaskolben rieseln lässt. Darüber, wie Forscher arbeiten, wird nie in wissenschaftlichen Publikationen berichtet, denkt Schrulling, und er erinnert sich an die nüchterne Analyse eines namhaften Wissenschaftsjournals, dass von zehn wissenschaftlichen Experimenten nur eines davon in einem anderen Laboratorium reproduzierbar ist. Das weist doch darauf hin, dass beim Experimentieren Dinge eine Rolle spielen, die der Aufmerksamkeit eines Forschers entgehen. Eine abstruse Vorstellung beginnt Schrulling zu befallen. Was nun, wenn Zucker in weiterem Sinne gar nicht tot ist? Wenn es nicht nur mit den klassischen Eigenschaften ausgestattet ist, die in jedem Chemieschinken stehen? Wenn es auf seine Weise lebt und mit uns spricht, in einer Sprache, die wir noch nicht verstehen? Eigentlich schämt er sich für diese Gedanken, sie sind ketzerisch und wissenschaftlich geradezu unanständig. Er sieht die Gesichter seiner Leute vor sich, wenn er ihnen dieses Zerrbild eines bislang sprachlosen Moleküls zu vermitteln versuchte, Agathas ungläubigen Blick, Sophias fassungslose Miene, Tims spöttisches Grinsen. Doch auf einmal scheint ihm das egal zu sein. Land in Sicht, wir sterben nicht, sagt Schrulling vielsagend und fühlt sich großartig dabei. Mit diesem Motto beendet er die Diskussion. Seine Leute verlassen etwas betreten den Raum. Schrulling geht als letzter, beschwingt und erleichtert.

Lebender Zucker – diese geradezu makabre Idee beflügelt ihn.

Agatha

Agatha macht einen Zwischenstopp auf der Toilette, bevor sie zu Ihrem Arbeitsplatz eine Etage tiefer zurückkehrt. Sie blickt zerstreut in den Spiegel, während sie mit klammen Fingern den Handtuchspender bearbeitet. Das düstere Neonlicht lässt ihr Gesicht bleich erscheinen. Sie trocknet ihre Hände und fährt sich mit den Fingern durch ihre dunklen halblangen Haare. Wo bin ich gelandet, denkt sie, ist das noch meine Welt? Ich bin jetzt fünfunddreißig, habe studiert, doktoriert, habilitiert, und verbringe meine Zeit damit, den Zellen beim Sterben zuzusehen. Eine Art von Nekro-Voyeurismus, denkt sie sarkastisch und lächelt bitter in den Spiegel.

Zurückgekehrt in ihr Zimmer, fährt sie ihren Computer hoch. Geduldig wartet sie, bis die Sanduhr verschwindet. Sie sollte eigentlich zum Zelltod in vitro eine Literaturrecherche durchführen. Lustlos bleibt sie an einem pop-up Fenster hängen, kiss-no-frog, flirten, chatten, verlieben. Sie sieht die Männer an, deren freundliche Gesichter, mosaikartig angeordnet, von der linken oberen Ecke ihres Bildschirms auf sie herabblicken. Keiner sieht Moritz ähnlich, ihrem Exfreund. Sie dreht den Bildschirm vorsichtshalber weg von der halboffenen Tür. Den Moritz hat sie gegen die Zellen eingetauscht. Entweder ich oder die Zellen, hat Moritz damals in einer heftigen letzten Auseinandersetzung gebrüllt, worauf Agatha wortlos seine Wohnung verließ. Jetzt bin ich mit meinen Zellen allein, spricht sie sich Mut zu. Die damaligen lustvollen Gedankenspiele, ein Kind haben zu wollen, haben sich lautlos davongeschlichen. Mittlerweile schließt sie reflexartig ihre Tür, wenn helle Kinderstimmen im Institutsflur hörbar werden, Kinder, die von Zeit zu Zeit die Papis und Mamis in ihrer Wirkungsstätte besuchen. Sie erblickt den Zuckerstreuer, den sie zu ihrem Geburtstag von den Institutsleuten bekommen hat, im Zuge der üblichen kleinen Feier in der engen stickigen Küche, als Gag gedacht. Das Metallrohr, einem Elephantenrüssel gleich dessen eines Ende im Zucker steckt, ist zugeklebt, eine Anspielung auf Agathas Zuckermobbing. Ja, sie untersuche wie Zucker dem Menschen schade, antwortet sie jedes Mal, wenn ihre Tante Hilde sie nach ihrer Tätigkeit fragt. Wie oft schon hat sie sich mit ihr über den bösen Zucker unterhalten, zuckerarme Lebensmittel aufgezählt, sie vor der Zuckerkrankheit mit allen ihren Folgen gewarnt, wenn sie weiterhin so viel Zucker in sich hineinstopfe. Genützt hat es bisher wenig, denkt sie resigniert, hundert Kilo bei ein Meter fünfundsechzig – das sagt wohl alles! Sie schiebt den Zuckerstreuer hinter den Fuß ihres Bildschirms und ruft mit ein paar Mausklicks die Medline auf. Als die vertrauten Schriftzüge des Recherche-programms erscheinen, strömt wieder Wärme in ihren Körper. Sie hämmert, plötzlich besser gelaunt, cell death in vitro in die Tastatur und beginnt zu arbeiten.

Pablo

Am Weg zu den Katakomben macht Pablo in der Küche halt. Immer wenn etwas schief geht im Labor, denkt er sehnsüchtig an Montevideo. Vor zwei Jahren hat er seine Heimat verlassen. Häufig sieht er sich in Gedanken durch die engen Gassen schlendern, vorbei an den bröckelnden Fassaden, um an einem kleinen Tischchen Platz zu nehmen und im Schatten einer Platane Mokka zu trinken. Er spürt wie die Kuppe seines Ringfingers den blauen Tassenrand abfährt, hört die Papageien über sich krächzen, riecht den Kaffeesatz am Tassenboden. Er denkt an Lily, die wohl jetzt an einer Bushaltestelle wartet, am Weg zur Arbeit. Sie wird das weiße Kleid tragen, mit den dunkelblauen Tupfen und vielleicht an ihn denken. An ihn, der sich nach Europa aufgemacht hat, eine andere Sprache spricht, Gerichte isst, die sie nicht kennt, in einem Bett schläft, dessen Knarren ihr fremd ist. Pablo kehrt aus seinem Tagtraum zurück, lässt sich sein winziges Mokkatässchen von der ratternden Kaffeemaschine bis zum Rand füllen und überdenkt seine Zukunft. Wenn jetzt die Zellen schlapp machen, droht sein Projekt zu zerfallen. Er stellt sich die Situation beinahe komisch vor, er würde nach drei Jahren des Exils in Montevideo landen, seine Lily an sich drücken und ihr ins Ohr flüstern, nada, absolutamente nada. Warum auch hat er sich eigentlich auf dieses Zuckerprojekt eingelassen? War es Agatha, die ihn mit ihren magischen Augen dazu verführt hat? Oder Schrulling, der ihm vorgerechnet hat, wie viele Menschen an den Folgen dieses bösartigen Kristalls stürben? Er weiß es nicht mehr. Vielleicht hat ihn das süße Gold deshalb angezogen, weil es ihm schon in seiner Heimat vertraut war. Zucker ist mit ihm mitgeflogen und hat sich hier seiner bemächtigt. Pablo löffelt den Bodensatz aus seinem Mokkatässchen. Die Sonne hat sich inzwischen einen Weg bis auf den Küchentisch gebahnt. Gedankenverloren verlässt er die Küche und steigt hinab in die Katakomben.

Sophia

Wo soll das hinführen, sinniert Sophia, während sie sich den Labormantel anzieht. Land in Sicht, wir sterben nicht - Schrullings Zweckoptimismus geht ihr gehörig auf den Geist. Als sie sich vor einiger Zeit dem Laboratorium von Professor Schrulling anschloss, war sie noch voller Zuversicht. Sie hatte sich gegen mehr als dreißig Mitbewerber um diese Dissertationsstelle durchgesetzt. Wie ihr Schrulling später einmal unter vorgehaltener Hand in der lockeren Atmosphäre einer Geburtstagsfeier verriet, gab ihr energischer Händedruck, damals nach dem Vorstellungsgespräch, den entscheidenden Ausschlag, ein Geständnis, das sie gleichsam gefreut wie verwirrt hat.

Der Universität in Kiew hatte sie den Rücken gekehrt, hatte die schwere Eingangstür an der dunkelroten Monumentalfassade erleichtert ins Schloss fallen hören und sich leichtfüßig über die Treppen in Richtung Westen davongemacht. Nun war sie da, Mitglied einer Wohngemeinschaft, mit eigenem Zimmer und Meerschweinchen, einem Fach im Kühlschrank und Fahrradstellplatz. Heute fühlt sie sich zum ersten Mal einsam und denkt zurück an Kiew. Sie sieht sich auf das weitverzweigte Aderwerk des Dnepr blicken, die goldenen Kuppeln der Klöster und Kirchen im Dunst der Stadt erahnend. Vielleicht hat sie sich zu rasch mit Walter, einem Mitbewohner ihrer WG angefreundet. Seine Erzählungen über das Dorf in Unterfranken, aus dem er stammt, hatten sie beeindruckt. Sie hatten ihr in den ersten Wochen Halt gegeben, ein Gefühl von Heimat. Jetzt, kommt ihr vor, scheint das wegzubrechen. Walter will Lehrer werden und dann in sein Dorf zurückkehren. Sie aber drängt es in die weite Welt. Ein paar einsilbige Dorfbewohner um mich herum sind mir zu wenig, findet sie, ich will Geistesmenschen um mich haben und ‚mein Ding‘ verfolgen. Mit spitzen Fingern knüpft sie ihren Mantel zu. Den Zellen werde ich schon noch Mores lehren, hämmert es in ihrem Kopf und verschwindet lautlos hinter der Glastür, die ins Zelllabor führt.

Fanni

Fannis Wangen sind immer noch gerötet, als sie vor der sterilen Werkbank ihren Platz einnimmt. Land in Sicht, wir sterben nicht - das ist die von Schrulling ausgegebene Devise und daran wird sie sich halten. Als sie damals wegen ihrer Nierenbeckenentzündung für Wochen zuhause bleiben musste, hat sie sich tatsächlich Sorgen gemacht, dass Tim in ihrer Abwesenheit nicht sorgfältig genug mit den Zellen umgehe. Es kann ja jedem einmal ein Fehler passieren, das Massensterben im Brutschrank nach Tims Intermezzo spreche dafür.

Eigentlich ist es ja nur eine einzige banale Handlung, nämlich die Zugabe von Zucker in das bereits vorgefertigte Nährmedium. Sie liebt die braune Glasflasche mit dem roten Schraubverschluss, die weißen Kristalle, die mit dem schwarzen Plastiklöffel auf das säuberlich ausgebreitete Papierchen der Feinwaage manövriert werden. Sie genießt den Anblick, wenn sich die Zuckerladung in das bernsteinfarbene Medium ergießt und sich die Kristalle, Schlieren hinter sich herziehend, langsam von ihr verabschieden und sich in nichts auflösen. Wie oft schon hat sie dieses Drama beobachtet, voller Hingabe. Fast ist es so etwas wie ein intimes Verhältnis zu diesen Kristallen, denkt sie beinahe beschämt, etwas Magisches, das sich zwischen ihr und den Kristallen abspielt.

Sie schaltet die Umluft ein, angelt sich eine Glaspipette aus dem sterilen Alubehälter und beginnt ihre Arbeit.

Tim

Unwillig schlendert Tim zu seinem Arbeitsplatz zurück und startet seinen Rechner. Am Medium kann’s nicht liegen, alles Blödsinn, es wird ja fertig gekauft und nur der läppische Zucker kommt noch hinzu. Ein Gramm kann ja jedes Kind abwiegen, und damit hat sich’s. Er blickt flüchtig auf die Uhr am unteren Rand seines Bildschirms und ruft das Tagesmenü der Mensa auf. Schweinelachsschnitzel im Backteig mit Tomatensauce, und als Nachspeise Bananen-Vanille-Quark, das geht doch. Vorher will er den Zucker ins Medium kippen, und dann schnell weg aus diesem Irrenhaus. Das Theater mit dem Zucker geht ihm schon lange auf den Wecker. Es ist ein Dauerthema ist diesem Labor, ein nervtötendes Thema. Eigentlich, so kommt es ihm in den Sinn, hasst er diese weißen Kristalle. Ständig kleben sie an ihm, in der Küche, beim Essen, im Labor. Es macht ihn beinahe zornig, wenn er die Zucker