Salzwund - Hans Oberleithner - E-Book
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Hans Oberleithner

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Beschreibung

#1. Natriums Dilemma (um das Jahr 2000) Natrium ist in Professor Wunderlichs fiktiver Gedankenwelt ein Wesen mit zweifelhaftem Charakter. Auf der Jagd nach ihm wird der irrlichternde Forscher selbst zum Gejagten, das tückische Natrium zum Meuchelmörder. #2. Molchsblut (um das Jahr 2033) Im Think-Tank an der amerikanischen Ostküste forscht Wunderlichs Sohn Jan gelangweilt an Molchen. Da entdeckt er durch Zufall Empathol, stoffliche Empathie, und sein Gegengift, banales Salz. Die Entdeckung entgleitet ihm. Die Mächtigen der Welt missbrauchen Empathol als Droge, um die Menschen zu beherrschen. Jan kämpft, flieht und stürzt. #3. Rollentausch (um das Jahr 2084) Nur Frauen gebären Kinder, basta! Dieses Dogma scheint plötzlich aus den Fugen zu geraten. Die Gleichheit von Mann und Frau rückt in greifbare Nähe. Jana, Findelkind mit Wunderlichs Genen, nützt den hedonistischen Zeitgeist und gebiert eine obskure Idee nach der anderen. Sie entdeckt Salz als Jungbrunnen männlicher Potenz. Am Ende gebären sogar die Männer. Doch die anfängliche Begeisterung der Spaßgesellschaft hat ihre Grenzen. #4. Aufstand der KI-Maschinen (um das Jahr 2123) Jano, ein Genprodukt aus Einstein und Trump, lebt im 22. Jahrhundert. Als KI-Maschinen die Herrschaft über die Menschen übernehmen wollen, bricht er mit einem Geniestreich ihre Macht. Alle Maschinen verstummen, die Welt steht am Abgrund. Doch Jano, genetisch mit einem bizarren Mix aus Genialität und Schamlosigkeit ausgestattet, findet eine Lösung.

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Seitenzahl: 529

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Hans Oberleithner

Salzwund

Tetralogie über Manie, Verblendung, Gier und Übermut

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Um das Jahr 2000

Um das Jahr 2033

Um das Jahr 2084

Um das Jahr 2123

Impressum neobooks

Um das Jahr 2000

Salzwund

Tetralogie über

Manie, Verblendung, Gier und Übermut

Natriums Dilemma

Molchsblut

Rollentausch

Aufstand der KI-Maschinen

Natrium ist in Professor Wunderlichs fiktiver Gedankenwelt ein Wesen mit zweifelhaftem Charakter. Auf der Jagd nach ihm wird der irrlichternde Forscher selbst zum Gejagten, das tückische Natrium zum Meuchelmörder.

Wunderlich

Es ist kurz vor neun Uhr morgens, als Wunderlich, Professor für Lebenswissenschaften und berüchtigter Salzhasser, die Eingangstür seines Instituts öffnet. Verbrauchte Laborluft schlägt ihm entgegen, als er die Glastür öffnet. Ein paar Stimmen dringen dünn aus den Katakomben, wie er die im Souterrain gelegenen Labore benennt, und verebben rasch, sobald er den, von Kaffeeflecken geadelten, grauen Filzboden seines Arbeitszimmers betritt. Er entledigt sich der Winterjacke, wirft seinen Rucksack in die Ecke und geht auf die seinem Zimmer gegenüberliegende Toilette, um die Gläser seiner Hornbrille mit einem Streifen Papier vom Wasserdampf zu befreien. Dabei blickt er in den Spiegel über dem Waschbecken. Er mag diese kurzen Momente, wenn er ohne Brille sein Gesicht betrachtet. Es ist dann weichgezeichnet, die groben Falten seiner Stirn und die Muttermale auf seinen Wangen sind dann zu sanften Wellen und dezenten Schatten mutiert, was ihn in gewisser Weise fröhlich stimmt, sodass er seinen morgendlichen Rundgang durchs Institut mit gewöhnlich guter Laune beginnt.

Sein erster Stopp ist gleich nebenan, in der Kommandozentrale, wie das kleine Geschäftsbüro von Insidern gern genannt wird. Frau Immergrün, Seele des Instituts, blickt etwas besorgt durch ihre grün geränderte Brille am Bildschirm vorbei zu ihm hin, während er sich auf eine türkisfarbene Philippe Starck Couch fallen lässt. Es ist das einzige Designermöbel, das ihm die Universität im Zuge seiner Berufung vor mehr als 20 Jahren erlaubt hatte anzuschaffen. Das grüne Licht kam allerdings erst nach seiner schriftlichen Begründung, dass die Farbe Türkis nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen den Stress von Studierenden, die auf dieser Couch ihr Examen erwarteten, erheblich senken würde. Wunderlich erinnert sich jedes Mal mit Schmunzeln, wenn er sich auf diese Couch niederlässt, wie er den entscheidungsbefugten Verwaltungsbeamten letztlich damit gefügig gemacht hatte, indem er einen im Journal of Color Psychology publizierten Artikel seinem Begründungsschreiben hinzufügte. Er hatte die innere Gewissheit, dass der Empfänger von diesem in Fachchinesisch verfassten Artikel gleichsam beeindruckt wie überfordert sein würde.

Uns so war es auch.

Es gebe dicke Luft im Zellkulturlabor, sagt Frau Immergrün mit einem magischen Schwingen in ihrer Stimme, wohl um dieser Botschaft mehr Eindringtiefe in Wunderlichs Hirnrinde zu verschaffen. Irgendetwas Komisches laufe gegenwärtig da unten ab. Sie teile ihm das lieber gleich mit, damit er sich innerlich darauf einstellen könne. Wunderlich hat sich an diese Art von morgendlichen Botschaften gewöhnt, es erzeugt in ihm nicht mehr diese gewisse Enge im Hals, wie er sie früher verspürt hat, als er noch jung und unerfahren war. Inzwischen hat er sich ein reiches Repertoire an Strategien zugelegt, um solchen Situationen zu begegnen. Zum Beispiel, aufmerksames Zuhören, begleitet von nachdenklichem Kopfnicken, um das aufgeworfene Problem still und leise auszutrocknen. Oder, penetrantes Hinterfragen, um das Problem emotional einzudampfen, bis es, entkernt und geschrumpft, seine ursprüngliche Bedeutung verloren hat. Oder auch, mit ein paar lockeren Bemerkungen das Problem weglächeln, sodass es den Nimbus der Ernsthaftigkeit einbüßt. So begibt er sich also gut gewappnet nach unten in die Katakomben.

In fahles Neonlicht getaucht, trifft er auf seine Mitstreiter. Sie haben sich um den Brutschrank gruppiert, dem behaglichen Zuhause von Millionen lebender Zellen aus Organismen, die längst gestorben sind, aber deren einzelne Bausteine bei guter Betreuung in dieser künstlichen Umgebung bis zum Nimmerleinstag weiterleben. Der Anblick erinnert ihn an ein Bild Rembrandts, auf dem ein toter Straßenräuber zu sehen ist, nackt auf dem Seziertisch des Anatomen Dr. Nicolaes Tulp liegend und umgeben von vornübergebeugten Gestalten, die mit ernster Miene den Meister fragend anblicken.

Da steht Penelope, die streitbare Dozentin, die Wangen leicht gerötet und ihr bohrender Blick auf Wunderlich gerichtet. Daneben, in geduckter Haltung und überlangem weißen Labormantel, lugt der kleine Pedro, Jungforscher aus Montevideo, über die Schulter von Victoria, Doktorandin aus Kiew, die ihrerseits ein sicheres Plätzchen in Penelopes Windschatten aufgesucht hat. Nick, der technische Assistent kauert versunken wie Rodins Denker auf einem der schwarzen Laborhocker, den Blick auf den Boden gerichtet, während Susanne, die Ziehmutter der Zellen, angestrengt durch die Glasscheibe ins Innere des Brutschranks starrt. Wunderlich streift mit einem flüchtigen Blick die Gesichter und überlegt kurz, welche seiner Problemlösungsstrategien hier am besten zur Anwendung kommen sollte. Die Luft um ihn herum ist irgendwie elektrisch aufgeladen, es scheint zu knistern. Panik auf der Titanic, mit dieser Feststellung versucht er die Scherzstrategie, was aber die Gesichter wenig aufzuhellen scheint. Penelope zeigt mit spitzem Finger in Richtung Brutschrank. Der Tod geht um, sagt sie etwas manieriert und wirft energisch ihre dunklen Haare in den Nacken. Beim Wort Tod geht ein kurzer Schauer durch Pedros zusammengesunkenen Körper und Victorias Blick wirkt zunehmend gläsern. Während Nicks Kopf unwillig die Denkerpose verlässt und seine Augen ziellos die weiße Decke über ihm mustern, fügt Susanne noch Ursache unbekannt hinzu.

Währenddessen schweifen Wunderlichs Gedanken zurück in die Vergangenheit. Wie oft schon hat er solche Situationen erlebt. Er kennt dieses dumpfe Gefühl von Ratlosigkeit, das sich wie ein hochinfektiöses Virus in den Gehirnen einnisten kann und jeden kreativen Gedanken im Vornherein im Keim erstickt. Immer wieder hat er sich aufgerafft und sich mit seinen Mitarbeitern auf die Jagd nach den Ursachen begeben, Hypothesen geschmiedet, getestet und wieder verworfen. Bis eines Tages, wie aus heiterem Himmel, das Problem von selbst verschwunden ist, ohne erkennbaren Grund. Zurück lässt so eine vorübergehende Gefängnisrevolte, wie Wunderlich das Massensterben von Zellen im Brutschrank einmal genannt hat, zwei Lager. Lager eins ist glücklich, dass alles vorüber ist, während Lager zwei unglücklich ist, dass das Rätsel noch ungelöst ist. Altgediente Forscher wie er unterstützten eher Lager eins, während sie aufkeimende Verschwörungstheorien von Lager zwei wegzulachen versuchten.

Mit solchen Gedanken im Kopf begibt sich Wunderlich mit seinen Leuten in das obere Geschoß des Instituts. Er macht das Schlusslicht dieser kleinen Prozession, die einen kurzen Zwischenstopp in der engen Institutsküche einlegt. Dort staut es sich um die Schweizer Kaffee-maschine, die stampfend und dampfend zu Höchstform aufläuft. Penelope macht sich kunstvoll einen Macchiato, Pedro hält bescheiden sein winziges Tässchen für einen Espresso bereit, andere haben den Wasserkocher für ihren Tee angeworfen. Wunderlichs Finger gleiten über das warme Chrom der Maschine. So zuverlässig wie diese Maschine arbeitet wünschte er sich das Zellleben unten im Brutschrank, ein wohl hoffnungsloser Wunsch. Manchmal beneidet er die Forscher der toten Materie, Physiker zum Beispiel. Kein Problem mit Reproduzierbarkeit, wenn’s einmal klappt, klappt es immer. Eher haben die das Problem der falschen Hypothesen, die sie testen. Wir testen auch Hypothesen, häufig auch falsche, sinniert Wunderlich. Doch unsere Materie lebt und das schafft Raum für Graustufen, erwünschte und unerwünschte.

Während der Kaffee in seine Tasse strömt, ruft er sich in Erinnerung, dass es die Vielzahl der Graustufen ist, die letztlich das Riesenheer der Bioforscher am Leben erhalten. Dieser Gedanke hat etwas Beruhigendes an sich und so schlendert er entspannt in den kleinen Konferenzraum, gleich neben der Küche.

Dort sitzen schon seine Leute und rühren in ihren Tassen. Die helle Frühlingssonne bahnt sich ihren Weg durch eine der Oberlichten und wirft ihren harten Morgenstrahl auf die grüne Tafel am oberen Ende des Raums. Wenn das so weiter geht, können wir einpacken, eröffnet Penelope gereizt die Runde. Dann machen wir eben ein Kaffeehaus auf, versucht Wunderlich scherzhaft gegenzusteuern. Pedros Gesicht hellt sich kurz dankbar auf, während Victoria deutlich geräuschvoller in ihrer Tasse rührt. Die Zellen sterben einfach, sagt Susanne mutlos und streichelt mit ihren Fingerkuppen den Schreibblock vor ihr. Während seine Mitarbeiter ihrem Unmut freien Lauf lassen, wandern Wunderlichs Gedanken weit zurück, ins Jahr 1958, als diese Zellen aus der Niere eines Beagle in die Forschungslabore gelangten. Und jetzt, nach beinahe 60 Jahren spinnen sie, sterben einfach. Patienten enttäuschen Ärzte, wenn sie sterben, Zellen enttäuschen Forscher, wenn sie schlapp machen, sagt sich Wunderlich, eigentlich dasselbe Phänomen.

Die Morgensonne hat sich inzwischen zurückgezogen und den Raum in indifferenten Grautönen zurückgelassen.

Wer hat zuletzt die Zellen gefüttert?“ hört sich Wunderlich fragen und ahnt, dass ihn die Antwort wenig weiterbringen wird.

Das war in letzter Zeit mein Job, sie kriegen alles, was sie brauchen, meldet sich gähnend Nick zu Wort.

Ernährungsfehler sind ausgeschlossen, lässt sich Penelope vernehmen, während sie nervös mit dem Fingernagel einen Kaffeekleks an ihrer Tasse entfernt. Das Zellmedium ist wie der Big Mac bei McDonald’s immer gleich, Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Da kann man einfach nichts falsch machen“ fügt sie noch hinzu.

Wunderlich fragt nachdenklich und kaum hörbar, Salz ist also der einzige Bestandteil, den wir noch hinzufügen?Ja, und dann wird sorgfältig gerührt, um das Salz aufzulösen, ergänzt Susanne eifrig.

Vor seinem geistigen Auge sieht Wunderlich, wie sich die Salzkristalle im bernsteinfarbenen Medium in mäandernde Schlieren auflösen und langsam verdämmern. Er sieht wie sich Natrium und Chlorid mit Wasserhüllen umgeben und voneinander wegdriften.

Eigentlich, denkt Wunderlich, gehören die beiden Elemente der unbelebten Natur an und sind ohne jede Lebenskraft. Sie sind passive Platzhalter für höhere Lebensprozesse, anspruchslose Lückenfüller. Vielleicht aber, kommt es Wunderlich plötzlich in den Sinn, ist Salz nur bei flüchtiger Betrachtung mausetot, bei genauer Betrachtung aber nur scheintot?

In Gedanken sieht er den impulsiven Nick, wie er das Salz mit ausladender Bewegung lawinenartig im Medium versenkt, während Susanne die Salzkristalle mit einem kleinen Löffel langsam und behutsam in den Glaskolben rieseln lässt. Darüber, wie Forscher arbeiten, wird nie in wissenschaftlichen Publikationen berichtet, denkt Wunderlich, und er erinnert sich an die nüchterne Analyse eines namhaften Wissenschaftsjournals, dass von zehn wissenschaftlichen Experimenten nur eines davon in einem anderen Laboratorium reproduzierbar ist. Das weist doch darauf hin, dass beim Experimentieren Dinge eine Rolle spielen, die der Aufmerksamkeit eines Forschers entgehen.

Eine abstruse Vorstellung beginnt Wunderlich zu befallen.

Was nun, wenn Salz in weiterem Sinne gar nicht tot ist? Wenn es nicht nur mit den klassischen Eigenschaften ausgestattet ist, die in jedem Chemieschinken stehen? Wenn es auf seine Weise lebt und mit uns spricht, in einer Sprache, die wir noch nicht verstehen? Eigentlich schämt er sich für diese Gedanken, sie sind ketzerisch und wissenschaftlich geradezu unanständig. Er sieht die Gesichter seiner Leute vor sich, wenn er ihnen dieses Zerrbild eines bislang sprachlosen Moleküls zu vermitteln versuchte, Penelopes ungläubigen Blick, Victorias fassungslose Miene, Nicks spöttisches Grinsen.

Doch auf einmal scheint ihm das egal zu sein.

Land in Sicht, wir sterben nicht, sagt Wunderlich vielsagend und fühlt sich großartig dabei.

Mit diesem Motto beendet er die Diskussion. Seine Leute verlassen etwas betreten den Raum. Wunderlich geht als letzter, beschwingt und erleichtert.

Lebendes Salz! – diese Idee beflügelt ihn.

Penelope

Penelope macht einen Zwischenstopp auf der Toilette, bevor sie zu Ihrem Arbeitsplatz eine Etage tiefer zurückkehrt. Sie blickt zerstreut in den Spiegel, während sie mit klammen Fingern den Handtuchspender bearbeitet. Das düstere Neonlicht lässt ihr Gesicht bleich erscheinen. Sie trocknet ihre Hände und fährt sich mit den Fingern durch ihre dunklen halblangen Haare. Wo bin ich gelandet, denkt sie, ist das noch meine Welt? Ich bin jetzt fünfunddreißig, habe studiert, doktoriert, habilitiert, und verbringe meine Zeit damit, den Zellen beim Sterben zuzusehen. Eine Art von Nekro-Voyeurismus, denkt sie sarkastisch und lächelt bitter in den Spiegel.

Zurückgekehrt in ihr Zimmer, fährt sie ihren Computer hoch. Geduldig wartet sie, bis die Sanduhr verschwindet. Sie sollte eigentlich zum Zelltod in vitro eine Literaturrecherche durchführen. Lustlos bleibt sie an einem pop-up Fenster hängen, kiss-no-frog, flirten, chatten, verlieben. Sie sieht die Männer an, deren freundliche Gesichter, mosaikartig angeordnet, von der linken oberen Ecke ihres Bildschirms auf sie herabblicken. Keiner sieht Max ähnlich, ihrem Exfreund. Sie dreht den Bildschirm vorsichtshalber weg von der halboffenen Tür. Den Max hat sie gegen die Zellen eingetauscht. Entweder ich oder die Zellen, hat Max damals in einer heftigen letzten Auseinandersetzung gebrüllt, worauf Penelope wortlos seine Wohnung verließ. Jetzt bin ich mit meinen Zellen allein, spricht sie sich Mut zu. Die damaligen lustvollen Gedankenspiele, ein Kind haben zu wollen, haben sich beinahe lautlos davongeschlichen. Mittlerweile schließt sie reflexartig ihre Tür, wenn helle Kinderstimmen im Institutsflur hörbar werden, Kinder, die von Zeit zu Zeit die Papis und Mamis in ihrer Wirkungsstätte besuchen.

Sie erblickt den Salzstreuer, den sie zu ihrem Geburtstag von den Institutsleuten bekommen hat, im Zuge der üblichen kleinen Feier in der engen stickigen Küche, als Gag gedacht. Die Löcher in der roten Plastikkappe sind von innen zugeklebt, eine Anspielung auf ihre Antisalz-Haltung. Ja, sie untersuche wie Salz dem Menschen schade, antwortet sie jedes Mal, wenn ihre Tante Karin sie nach ihrer Tätigkeit fragt. Wie oft schon hat sie sich mit ihr über das böse Salz unterhalten, ihr salzarme Lebensmittel aufgezählt, sie vor Herzinfarkt und Schlaganfall gewarnt, wenn sie weiterhin so viel Salz in sich hineinstopfe. Genützt hat es bisher wenig, denkt sie resigniert.

Sie schiebt den Salzstreuer hinter den Fuß ihres Bildschirms und ruft mit ein paar Mausklicks die Medline auf. Als die vertrauten Schriftzüge des Rechercheprogramms erscheinen, strömt wieder Wärme in ihren Körper. Sie hämmert, plötzlich besser gelaunt, ‚cell death in vitro‘ in die Tastatur und beginnt zu arbeiten.

Pedro

Am Weg zu den Katakomben macht Pedro in der Küche halt. Immer wenn etwas schief geht im Labor, denkt er sehnsüchtig an Montevideo.

Vor zwei Jahren hat er seine Heimat verlassen.

Häufig sieht er sich in Gedanken durch die engen Gassen schlendern, vorbei an den bröckelnden Fassaden, um an einem kleinen Tischchen Platz zu nehmen und im Schatten einer Platane Mokka zu trinken. Er spürt wie die Kuppe seines Ringfingers den blauen Tassenrand abfährt, hört die Papageien über sich krächzen, riecht den Kaffeesatz am Tassenboden.

Er denkt an Eva, die wohl jetzt an einer Bushaltestelle wartet, am Weg zur Arbeit. Sie wird das weiße Kleid tragen, mit den dunkelblauen Tupfen und vielleicht an ihn denken. An ihn, der sich nach Europa aufgemacht hat, eine andere Sprache spricht, Gerichte isst, die sie nicht kennt, in einem Bett schläft, dessen Knarren ihr fremd ist.

Pedro kehrt aus seinem Tagtraum zurück, kippt sich drei gehäufte Löffel Zucker in sein winziges Mokkatässchen und überdenkt seine Zukunft. Wenn jetzt die Zellen schlapp machen, droht sein Projekt zu zerfallen. Er stellt sich die Situation beinahe komisch vor, er würde nach drei Jahren des Exils in Montevideo landen, seine Eva an sich drücken und ihr ins Ohr flüstern, nada, absolutamente nada. Warum auch hat er sich eigentlich auf dieses Salzprojekt eingelassen? War es Penelope, die ihn mit ihren magischen Augen dazu verführt hat? Oder Wunderlich, der ihm vorgerechnet hat, wie viele Menschen an den Folgen dieses bösartigen Kristalls stürben?

Er weiß es nicht mehr.

Vielleicht hat ihn das weiße Gold deshalb angezogen, weil es ihm schon in seiner Heimat vertraut war. Das Salz ist mit ihm mitgeflogen und hat sich hier seiner bemächtigt.

Pedro löffelt die Zuckerreste aus seinem Mokkatässchen. Die Sonne hat sich inzwischen einen Weg bis auf den Küchentisch gebahnt. Gedankenverloren verlässt er die Küche und steigt hinab in die Katakomben.

Victoria

Wo soll das hinführen, sinniert Victoria, während sie sich den Labormantel anzieht.

Land in Sicht, wir sterben nicht - Wunderlichs Zweckoptimismus geht ihr gehörig auf den Geist. Als sie sich vor einiger Zeit dem Laboratorium von Professor Wunderlich anschloss, war sie noch voller Zuversicht. Sie hatte sich gegen mehr als dreißig Mitbewerber um diese Dissertationsstelle durchgesetzt. Wie ihr Wunderlich später einmal unter vorgehaltener Hand in der lockeren Atmosphäre einer Geburtstagsfeier verriet, gab ihr energischer Händedruck, damals nach dem Vorstellungs-gespräch, den entscheidenden Ausschlag, ein Geständnis, das sie gleichsam gefreut wie verwirrt hat.

Der Universität in Kiew hatte sie den Rücken gekehrt, hatte die schwere Eingangstür an der dunkelroten Monumentalfassade erleichtert ins Schloss fallen hören und sich leichtfüßig über die Treppen in Richtung Westen davongemacht.

Nun war sie da, Mitglied einer Wohngemeinschaft, mit eigenem Zimmer und Meerschweinchen, einem Fach im Kühlschrank und Fahrradstellplatz.

Heute fühlt sie sich zum ersten Mal einsam und denkt zurück an Kiew. Sie sieht sich auf das weitverzweigte Aderwerk des Dnepr blicken, die goldenen Kuppeln der Klöster und Kirchen im Dunst der Stadt erahnend. Vielleicht hat sie sich zu rasch mit Eckhard, einem Mitbewohner ihrer WG angefreundet. Seine Erzählungen über das Dorf in Unterfranken, aus dem er stammt, hatten sie beeindruckt. Sie hatten ihr in den ersten Wochen Halt gegeben, ein Gefühl von Heimat. Jetzt, kommt ihr vor, scheint das wegzubrechen. Eckhard will Lehrer werden und dann in sein Dorf zurückkehren. Sie aber drängt es in die weite Welt. Ein paar einsilbige Dorfbewohner um mich herum sind mir zu wenig, findet sie, ich will Geistesmenschen um mich haben und ‚mein Ding‘ verfolgen.

Mit spitzen Fingern knüpft sie ihren Mantel zu. Den Zellen werde ich schon noch Mores lehren, hämmert es in ihrem Kopf und sie verschwindet lautlos hinter der Glastür, die ins Zelllabor führt.

Susanne

Susannes Wangen sind immer noch gerötet, als sie vor der sterilen Werkbank ihren Platz einnimmt. Land in Sicht, wir sterben nicht - das ist die von Wunderlich ausgegebene Devise und daran wird sie sich halten. Als sie damals wegen ihrer Nierenbeckenentzündung für Wochen zuhause bleiben musste, hat sie sich tatsächlich Sorgen gemacht, dass Nick in ihrer Abwesenheit nicht sorgfältig genug mit den Zellen umgehe. Es kann ja jedem einmal ein Fehler passieren, das Massensterben im Brutschrank nach Nicks Intermezzo spreche dafür.

Eigentlich ist es ja nur eine einzige banale Handlung, nämlich die Zugabe von neun Gramm Salz in das bereits vorgefertigte Nährmedium. Sie liebt die braune Glasflasche mit dem roten Schraubverschluss, die weißen Kristalle, die mit dem schwarzen Plastiklöffel auf das säuberlich ausgebreitete Papierchen der Feinwaage manövriert werden. Sie genießt den Anblick, wenn sich die Salzladung in das bernsteinfarbene Medium ergießt und sich die Kristalle, Schlieren hinter sich herziehend, langsam von ihr verabschieden und sich in nichts auflösen. Wie oft schon hat sie dieses Drama beobachtet, voller Hingabe. Fast ist es so etwas wie ein intimes Verhältnis zu diesen Kristallen, denkt sie beinahe beschämt, etwas Magisches, das sich zwischen ihr und den Kristallen abspielt.

Sie schaltet die Umluft ein, angelt sich eine Glaspipette aus dem sterilen Alubehälter und beginnt ihre Arbeit.

Nick

Unwillig schlendert Nick zu seinem Arbeitsplatz zurück und startet seinen Rechner. Am Medium kann’s nicht liegen, alles Blödsinn, es wird ja fertig gekauft und nur das läppische Salz kommt noch hinzu. Die neun Gramm kann ja jedes Kind abwiegen, und damit hat sich’s.

Er blickt flüchtig auf die Uhr am unteren Rand seines Bildschirms und ruft das Tagesmenü der Mensa auf. Schweinelachsschnitzel im Backteig mit Tomatensauce, und als Nachspeise Bananen-Vanille-Quark, das geht doch. Vorher will er das Salz ins Medium kippen, und dann schnell weg aus diesem Irrenhaus. Das Theater mit dem Salz geht ihm schon lange auf den Wecker. Es ist ein Dauerthema ist diesem Labor, ein nervtötendes Thema. Eigentlich, so kommt es ihm in den Sinn, hasst er diese weißen Kristalle. Ständig kleben sie an ihm, in der Küche, beim Essen, im Labor. Es macht ihn beinahe zornig, wenn er die Salzklumpen mit dem Wägelöffel zerteilen muss, wenn sie dabei durch die Gegend fliegen und dann beim Drauftreten grausam quietschen. Die mögen mich nicht, denkt Nick jedes Mal, wenn er ihr Kreischen hört, und ich mag sie auch nicht. Fast genießt er es, wenn die Salzklümpchen am Flaschenboden vom Rührfisch zerschlagen werden, bis sie sich widerwillig im Nährmedium auflösen. Das will er jetzt schnell hinter sich bringen und dann in die Mensa eilen.

Vermutung

Wunderlich setzt sich an seinen Schreibtisch und denkt nach. Während er gedankenverloren seine tägliche Ration Karotten verzehrt, die größensortiert auf der vollgekritzelten Schreibunterlage vor ihm aufgereiht sind, gleitet sein Blick ziellos über die Gegenstände, die sich dort im Laufe der Jahre angesammelt haben. Auf der mattgelben Oberfläche tummeln sich Pipetten, Injektionsnadeln, Teebeutel und Unmengen von Schreibmaterial. Die Ecken und Kanten dieses riesigen Tisches, Erbstück eines verstorbenen Architekten, haben ihm in der Vergangenheit schon so manchen blauen Fleck beschert, wenn er, von einer plötzlichen Idee befallen, auf möglichst direktem Weg unter Missachtung physischer Hindernisse sein Zimmer verließ, um im Labor nebenan ein Opfer mit dieser ‚Eingebung‘ zu infizieren.

Hier sitze ich nun, sinniert Wunderlich, in meinem Biotop und grüble über das eigentlich Unmögliche. Hat Salz eine Persönlichkeit, nicht nur eine Chemie? Dieser Gedanke beschleunigt seinen Herzschlag. Ist es denkbar, dass Salz, dem ja doch eine unzweifelhafte und glasklare Molekülstruktur zugrunde liegt, dass dieses Millionen Jahre alte Molekül in gewisser Weise fühlen kann? Dass es Informationen aus der Umgebung aufnimmt und sich dabei verändert? Nicht, was die molekulare Struktur betrifft, sondern was außerhalb dieser liegt. Eine Art wechselnde Aura, die sich auf die Zellen überträgt und deren Leben steuert. Wunderlich war nie ein Anhänger esoterischer Lehren, aber irgendwann ist vielleicht der innere Widerstand aufgebraucht. Mit den Jahren wird der Zensor oben im Kopf mürbe, sinniert Wunderlich halb traurig, halb froh. Seit vielen Jahren zwinge ich mich, jede noch so kleine Entdeckung in Einklang mit dem bestehenden Wissen zu bringen, jede Beobachtung zu benennen, einzuordnen, Zusammenhänge herzustellen, Kausalität zu erkennen. Jetzt will ich die Sache einmal anders angehen, den Bauch sprechen lassen, nicht den Kopf. Dieser Gedanke belebt ihn. Er wird sich auf die Lauer legen, wenn Susanne und Nick das Salz in ihre Medien mischen und sie dabei beobachten. Wenn Salz fühlt, dann ist schon dieser Schritt, die Konfrontation des Mediums mit dem Salz, ein womöglich entscheidender. Er will zu allererst wissen, ob die beiden unwissentlich Salz traktieren oder hofieren und dann weitere Schlüsse ziehen.

Er streicht die Falten seines weißen Labormantels glatt, wählt, wie meistens nach solchen gedanklichen Höhenflügen, den möglichst geraden Weg zur Tür und begibt sich, nach der üblichen Kollision mit der Tischkante, leicht hinkend hinab in die Katakomben.

Durch die kleine Glasscheibe in der Tür zur Zellkultur sieht er gerade Susanne bei der Arbeit. Sie sitzt auf einem kleinen schwarzen Schemel und verrichtet die verschiedenen Handgriffe ruhig und gelassen. Den letzten Schritt, das Hinzufügen des Kochsalzes ins Medium, hat sie schon vorbereitet. In einem kleinen Plastikschälchen liegen die weißen Kristalle, die sie gleich in die bereitgestellte, mit bernsteinfarbenem Medium gefüllte Flasche kippen wird. Doch dann kommt es plötzlich anders. Susanne kippt mit einer sanften Bewegung die Salzkristalle in ihre hohle linke Hand, streicht mit dem rechten Zeigefinger kreisförmig über das Salz. Dabei murmelt sie etwas. Wunderlich presst sein Ohr an die Tür und hält die Luft an. Ein paar Silben kann er wahrnehmen, von a, o und u dominierte Wortfetzen, mehr nicht. Als er wenige Sekunden später wieder durch das Glasfenster späht, sieht er gerade noch, wie die Salzkristalle aus ihrer hohlen Hand in einem dünnen weißen Strom in das bernsteinfarbene Medium rieseln und dabei langsam verdämmern.

Wunderlich verlässt lautlos seinen Posten und begibt sich nach oben in sein Zimmer um nachzudenken. Das ist keine orthodoxe Methode, murmelt er in sich hinein. Sieht ja fast so aus, wie eine Art von Initiationsritus, als ob Susanne dem Salz ihren persönlichen Stempel aufdrücken wollte. Er ist beeindruckt.

Tags darauf beobachtet Wunderlich, wie Nick die Salzklumpen mit dem Wägelöffel traktiert, quetscht und zerdrückt, bevor er sie mit leicht angewidertem Gesichtsausdruck im bernsteinfarbene Medium versenkt und dabei ungeduldig mit den Fingernägeln an die Glaswand schnippt, um das Salz so rasch wie möglich in Lösung zu bringen. Und da, plötzlich und unvermittelt, fixiert sich in seinem Gehirn die Idee, dass dieses Salz, durch würdelose Behandlung traumatisiert und lieblos auf die Reise geschickt, in der belebten Welt sein in ihm schlummerndes Aggressionspotenzial ausleben wird. Kochsalz, ein passiver Kristall mit der langweiligsten Chemie der Welt, fühlt und reagiert, nicht im chemischen, sondern im geistigen Sinne. Wunderlichs naturwissenschaftliches Nervenkostüm revoltiert. Er versucht sich damit zu beruhigen, dass er seinen Rechner anknipst, sich hinter dem Bildschirm verschanzt und nach eventuellen Hinweisen in der Weltliteratur sucht.

Verdacht

Wunderlichs rechte Hand ruht auf der Maus, sein Blick ist auf den Bildschirm gerichtet. Nur manchmal hört man das Klicken der Maustaste. Frau Immergrün hat ihm eine Schale Nüsse neben den Bildschirm gestellt, Nervennahrung wie sie sagt. Sie sind ungesalzen, entsprechend der Ideologie des Instituts.

Wunderlich sucht nach den versteckten Eigenschaften von Kochsalz. Obwohl ihm Chemie in der Schule nie lag und er sich damals strikt jeglicher chemischen Formel verweigerte, war ihm das Kochsalzmolekül hartnäckig gefolgt. Als er dann im ersten Jahr seines Medizinstudiums wieder mit dem Nazl konfrontiert wurde, wie die untere Kaste der Labormenschen dieses Allerweltssalz despektierlich bezeichnet, gab er seinen inneren Widerstand auf. So gliederte er das Natriumchlorid bzw. NaCl, der Königsbegriff der oberen Kaste von Labormenschen, in sein Repertoire unvermeidbarer medizinischer Begriffe ein. Dass ihn nun dieses Salz seit mehr als dreißig Jahren verfolgt, hat er sich weder gewünscht noch ausgesucht. NaCl kam ihm stets wie das langweiligste Molekül der Welt vor, ein bleiches Ehepaar, das lautlos in den Körperflüssigkeiten sein eintöniges Leben fristet. Als er sich dann im Laufe der Jahre immer tiefer in die Medizin vergrub, flackerte manchmal etwas Farbe auf. Er erkannte, dass die beiden, Natrium und Chlorid, in enger Umarmung das Leben der Menschen, Tiere und Pflanzen erst möglich machten. Schleichend wurde in seinem Kopf das Natrium zum männlichen Partner in dieser einsamen Ehe, Chlorid zum weiblichen Pendant. Mehr und mehr entpuppte sich Natrium zum aggressiven Macher, während Chlorid zwar an seiner Seite blieb, aber ein Schattendasein führte.

Wunderlich erinnert sich fast wehmütig, wie Chlorid in den siebziger Jahren in der Welt der Medizin ein paar Emanzipationsversuche unternahm, dann aber rasch vom dominanten Natrium in die Ecke gedrängt wurde und schließlich in der Bedeutungslosigkeit verschwand.

Schon die äußere Erscheinung lässt Natrium aggressiv aussehen, findet Wunderlich. Positiv geladen steht es da, von einem dicken Wassermantel eingehüllt. Wo es auch hinkommt, in das Labyrinth der Nierenkanälchen, in die tiefen Spalten der Leber, in die lichtdurchfluteten Linsen der Augen oder in die engen Korridore des Gehirns, immer beansprucht es Raum. Ganz schlimm wird es, wenn ihm manche Zelle ahnungslos die Tür in ihr Inneres öffnet. Ohne seinen Wassermantel abzustreifen, stürmt Natrium in so eine Behausung, setzt sich großspurig an den gedeckten Tisch, reißt das Gespräch an sich und drängt die anderen Bewohner rücksichtslos zur Seite. Ja, das Natrium ist ein Wolf im Schafspelz, urteilt Wunderlich, es fristet ein scheinbar recht unauffälliges Leben, nur um dann mit besonderer Niedertracht zuzuschlagen.

Wunderlich denkt zurück an das Schlüsselerlebnis vor etlichen Jahren. Er saß damals vor der Apparatur, dem technischen Herzstück seines Experimentallabors. Es war bereits später Abend und draußen regnete es. Er scheute sich bei diesem Wetter aufs Rad zu steigen und entschied, den gerade niedergehenden Regenschauer noch abzuwarten. Er hatte noch ein paar lebende Zellen in der Apparatur und wusste nicht so recht, wie er die Zeit bis zur nächsten Regenunterbrechung totschlagen könnte. Gedankenlos nahm er damals ein Salzkrümel, das sich von seinem Laugenbrötchen gelöst hatte, mit seiner angefeuchteten Fingerspitze auf und schnippte es in hohem Bogen in das Medium, das seine Zellen umgab. Wunderlich erinnert sich immer wieder mit leichtem Gruseln an das Folgende. Sekunden später, es war absolut still im Raum, vernahm er aus den Tiefen der Apparatur ein leises Knarren. Als er gleichsam überrascht wie erschreckt sich über die Apparatur beugte, verstummte das Knarren. Erst Jahre später schien ihm die Bedeutung dieses Geräusches allmählich zu dämmern. Natrium, dieser dunkle Geselle mit dem Chlorid im Schlepptau, hatte sich aus dem Salzkrümel gelöst, war in die Zelle eingedrungen und hatte ihr delikates Räderwerk stillgelegt. Das Knarren erschien ihm, so träumt Wunderlich jetzt verzückt vor sich hin, wie das Öffnen einer Tür, die Natrium bei seinem Eindringen in die Zelle aufstieß. Das Wunderbare daran war, dass die riesige Apparatur diesen winzigen Schritt wiedergab und er, Wunderlich, das Knarren letztlich dem Natrium hatte zuordnen können.

Eigentlich war es gar nicht er, der die Bedeutung dieses Knarrens erkannte. Es war am nächsten Tag in der Küche, als er diese kleine Geschichte erzählt, während die Kaffeemaschine dampft und stampft. Wahrscheinlich war es das Geräusch dieses Schweizer Markenprodukts, das ihn an das Knarren vom Vortag erinnert hat. Wie in einem Film sieht er die damalige Szene vor sich, das Vergangene ist in diesem Moment für ihn gegenwärtig.

... Komisch, sagt Nick, der hinter ihm an der Kaffeemaschine wartet, um seine Tasse zu füllen, komisch, er habe ein ähnliches Geräusch gehört, unlängst, als er das Medium für die Zellen ansetzte. Als er das Salz in die bernsteinfarbene Flüssigkeit kippte, die seine Zellen umgab, habe er ein leises Knarren, eher einem Ächzen ähnlich, vernommen. Pedro, der unauffällig in der Ecke steht und bedächtig an seiner Mokkatasse nippt, kündigt mit hörbarem Luftholen an, das er auch was sagen will. Er habe letzte Woche, so berichtet er zögernd, kurz vor dem Verlassen des Instituts das Medium der Zellen aufgefrischt und dabei Salz dazu gekippt. Gerade als er dabei war, den Brutschrank zu schließen, habe er ein leises Knarren vernommen, als ob jemand, in eine enge Lederjacke gehüllt, einen tiefen Atemzug getan hätte. Er erinnert sich deshalb daran, weil dieses Knarren irgendwie anders war als das gewohnte technische Rauschen um ihn herum, es sei eher ein Wimmern gewesen. Er sei sogar einen Augenblick mit angehaltenem Atem stehengeblieben, sagt Pedro, weil er dachte, es könnte noch ein Mensch in seiner Nähe sein, obwohl es schon gegen Mitternacht war und er eigentlich davon ausging, dass er im Institut allein war. Penelope und Victoria, die sich gerade mit ihren Frühstücksbroten beschäftigen, schütteln beide beinahe im Gleichtakt ungläubig ihre Köpfe und verdrehen dabei in stillem Einverständnis die Augen. Victoria sagt, so ein Erlebnis hätte sie noch nie gehabt, wobei sie das Wort ‚Erlebnis‘ genießerisch in die Länge zieht, und Penelope ergänzt etwas süffisant, dass Männer vielleicht zu Halluzinationen neigten, wenn sie des Nachts einsam und allein im Labor arbeiten.

Ob nun echt oder eingebildet, dieses Knarren, Ächzen und Wimmern hat damals seine Gedanken in eine neue Bahn gelenkt, und er, Wunderlich, ist abgebogen von seinem ausgetretenen Pfad und querfeldein in unbekanntes Terrain vorgestoßen. Und meine Leute sind mir gefolgt, stellt Wunderlich fest, anfangs zwar etwas zögerlich und skeptisch abwartend, später aber bedingungslos.

Mörderelement

Penelope scrollt durch das weite Feld der Lebenswissenschaften. Ein Südafrikaner von der Witwatersrand-Universität in Johannesburg berichtet, wie Salz die Magenschleimhaut zerstört und bei immunschwachen Mäusen Krebs auslöst. Eine Neuseeländerin von der Victoria Universität in Wellington berichtet, wie Salz Nervenzellen im Gehirn traktiert und in Beutelratten Alzheimer auslöst. Ein Japaner der Tokyo-Universität zeigt, dass Salz in Stresssituationen Blut dickflüssig macht und in Makaken zu totbringenden Blutgerinnseln führt.

Dann stößt Penelope eher zufällig auf ihre eigene Literatur. Fast verschämt überfliegt sie die Kurzfassung ihrer ersten Publikation zum Thema Salz. Etwa fünf Jahre ist es her, der Tag, an dem sie vom Salzvirus infiziert wurde. Zufällig geriet sie in ein Vorweihnachtsessen, das traditionell Wunderlichs Arbeitsteam beim Griechen um die Ecke einzunehmen pflegt. Sie war damals gleich einer streunenden Katze, die hungrig durch die Gassen streicht. Ihr Hunger war ein geistiger, erinnert sie sich. Leer war ihr Kopf, auf Ideen wartend, die nicht kommen wollten.

Ein Schauer erfasst ihren Körper, wenn sie an die Zeit denkt, die sie bis dahin nutzlos abgesessen hat. Wie viele Stunden hat sie wohl zugebracht, inmitten sogenannter High-End Instrumente, die auf einen Einsatzbefehl geradezu lauerten und den sie nicht geben konnte, weil ihr einfach nichts einfiel. Mir fiel nichts ein, weil alles um mich herum und in mir erstarrt war, denkt sie jetzt. Die Menschen, die sie damals umgaben, oft liebe Menschen, waren in gewisser Weise scheintot. Ihre Zunge beginnt am Gaumen zu kleben, wenn sie sich an diese Zeit erinnert. Forschungs-maschinen bleiben stumm, wenn Scheintote sie bedienen. Das Kleine diskutieren, das Große ignorieren, diesen Ehrencodex befolgte sie damals, voll stiller Verzweiflung.

Dann traf sie auf Wunderlich, der sie durch die großen Scheiben des Griechen an der Ecke vorbeistreunen sah und sie freundlich hereinwinkte. Sie kannten einander flüchtig aus Seminaren, wenn auch ihre Institute nichts miteinander zu tun hatten. Retsina löste ihr die Zunge, sie schilderte anfangs zögernd, dann zunehmend empathisch ihr Leben unter den Scheintoten und ihre unbefriedigte Neugier, die zu verkümmern drohe. Sie erinnert sich, wie Wunderlich durch sie hindurchzusehen schien, wie er aber plötzlich, als sie gerade resigniert ihr herausgestülptes Innere rasch wieder in sich hineinstopfen wollte, fragte, ob sie denn Salz liebe. Ohne ihre Antwort abzuwarten, folgte ein langer Exkurs in für sie fremde Gefilde der Wissenschaft, der damit endete, dass er sie am Ende sichtlich erschöpft fragte, ob sie da mitmachen wolle. Der Bauernsalat auf ihrem Teller war inzwischen welk und das Weinglas leer.

Das war ihr Einstieg in die Welt des Salzes, erinnert sie sich wehmütig und lässt gedankenverloren den Mauszeiger am Bildschirm kreisen. Fünf Jahre sind inzwischen vergangen, ihr Freund Max war in dieser Zeit am Horizont aufgetaucht, wie der Morgenstern, leuchtete kurz auf, bis ihn der helle Strahl des weißen Goldes traf und er daraufhin unterging. Sie hat Max gegen Salz eingetauscht, ja, das hat sie. Sie erinnert sich an so manchen lauen Sommerabend, an ihrem Schreibtisch vor dem Bildschirm sitzend, wenn ihr Fenster offenstand und heitere Stimmen aus der Dunkelheit an ihre Ohren drangen, von Menschen, die zusammen aßen und tranken. An so einem Abend hat sie die Aggressivität des Natriums erkannt und jenen Tunnel entdeckt, durch welchen dieses ‚Mörderelement‘ – ein später stehender Ausdruck im Labor – in die Zellen gelangt und sie erstarren lässt. Sie weiß noch, als ob es gestern gewesen wäre, wie sie in den folgenden Monaten und Jahren eine Armada williger Doktoranden hinter sich versammelt hat, um ihr Bauchgefühl in Datenzu verwandeln. Vor ihrem geistigen Auge erscheinen schemenhaft ihre Messsklaven, wie sich der eine oder andere Doktorand selbst tituliert hat, dicke und dünne, blasse und braune, schüchterne und laute. Sie erinnert sich, wie sie jeden einzelnen indoktriniert hat, wie sie Natrium als DEN Bösewicht hingestellt hat, den es zu jagen galt, dessen Verstecke man ausfindig machen sollte, dem man anklagen sollte, in aller Öffentlichkeit. Sie findet, dass ihr das ganz gut gelungen ist. Ein Verbrechen nach dem andern hat sie dem Natrium nachgewiesen und diese Schandtaten erbarmungs-los veröffentlicht. Bislang kam Natriums Partnerin, Chlorid, ohne Blessuren davon, so grübelt sie. Sie kritzelt das NaCl mit einem Bleistift auf ein Blatt Papier. Das Natrium war ihr schon immer suspekt, stellt sie fest. Das Na hat etwas Hartes, Viriles, Militantes an sich. Allein schon das Rauf und Runter des Buchstaben N irritiert sie. Ganz im Gegensatz dazu das Cl, welches dem Na folgt. Das feminine C mit dem finalen l, eine Labsal.

Penelopes Gedanken kehren zurück in die Gegenwart. Mit dem Mauszeiger geht sie nun auf Natrium-Jagd. Sie weiß, wo sich dieses Mörderelement in der Außenwelt aufhält, wie es in den Körper gelangt, die Tür zur Zelle aufstößt und alles erstarren lässt. Sie begibt sich auf Spurensuche, Spuren, die das Natrium auf dem Weg durch die Forschungslaboratorien der Welt hinterlassen hat, fein säuberlich in unzähligen Journalen dokumentiert und auf Mausklick abrufbar. Um die Spreu vom Weizen zu trennen, schränkt sie die Spurensuche ein und verengt ihr Suchgebiet auf viriles Natrium. Mehrere Dutzend Literaturstellen tauchen auf ihrem Bildschirm auf. Sie ruft per Mausklick die entsprechenden Kurzfassungen dieser Artikel auf und merkt enttäuscht, dass sie vom System missverstanden wurde. Ich suche nach dem Männlichen im Salz, murmelt sie in sich hinein, und nicht nach der Salzwirkung auf die Virilität.

Während sie desillusioniert nach unten scrollt, taucht der Titel einer Arbeit auf, der ihr die aufkommende Müdigkeit wieder aus den Augen treibt: Erbarmungsloses Natrium, ein psycho-analytischer Ansatz zur Klärung seiner Aggressivität. Der Artikel ist 1960 in einem russischen Journal publiziert worden und liegt dank der automatischen Übersetzung ihres Computerprogramms bereits in Deutsch vor. Sie schickt den Artikel zu ihrem Drucker und steckt dann das Schriftstück in ihren Rucksack. Dann knipst sie den Rechner aus und verlässt das Institut in Richtung botanischen Garten. Dort sucht sie das menschenleere Tropenhaus auf, setzt sich unter eine Bananenpalme und beginnt zu lesen.

Zweifel

Plötzlich war das Knarren wieder in seinem Kopf. Wenn nichts mehr klappt, dann hält man sich auch an einem Strohhalm fest, überkommt es Pedro. Das Knarren damals, als er das Salz den Zellen zufügte, damals, knapp vor Mitternacht, den Rucksack schon zum Gehen umgehängt und die Lichter des Instituts bis auf das mattblaue Licht in der Zellkultur schon gelöscht, es war so unerwartet tierisch, dass ihn jetzt noch ein Schauer erfasst, wenn er daran denkt. Er weiß, dass er zur Schreckhaftigkeit neigt, vielleicht eine Folge seiner Entwurzelung. Sein Montevideo, seine Eva, die in irgendeinem Bett jener Stadt gerade schlief, das notorische Zirpen der Zikaden, das durch sein offenes Zimmerfenster zu dringen pflegte, alles weit weg und gleichsam auch ganz nahe. Salz rieselt, denkt er, aber es knarrt nicht. Das Knarren, so erinnert er sich jetzt mit wissenschaftlicher Akribie, trat auch nicht während des Rieselns auf, sondern einige Sekunden danach. So als ob es vom Boden der Kulturschale käme, denkt er verwirrt, dort wo die Zellen, eng aneinandergeschmiegt, einem geknüpften Teppich gleich, in totaler Finsternis ihr eintöniges Leben fristen.

Penelope hat ihm schon vor einiger Zeit den Floh ins Ohr gesetzt, dass das Mörderelement gewaltsam in Zellen eintritt und sie erstarren lässt. Ja, sie hat damals den Ausdruck ‚gewaltsam‘ gebraucht und ihn dabei vielsagend angeblickt. Tatsächlich hat er dann, wohl ihres hypnotischen Blickes wegen, dieses Thema aufgegriffen und entdeckt, dass sich Zellen schockartig zusammenziehen, sobald Natrium sie ins Visier nehmen. Er hat dieses Phänomen in monatelanger Lauerstellung, gekrümmt vor der Apparatur kauernd, dokumentiert und einer komplexen statistischen Analyse unterworfen. Er ging damals sogar soweit, Mathematiker an diese Daten heranzulassen, deren Methoden er zwar nicht folgen konnte, die ihm aber suggerierten, er habe da etwas ungemein Wichtiges entdeckt. Es war dann noch schwer genug, einen Editor zu finden, der bereit war, einen Artikel über die Salzstarre lebender Zellen in seinem Wissenschaftsjournal unterzubringen. Nächtelang saß er damals mit Wunderlich in dessen Arbeitszimmer und feilte an Begriffen. Er erinnert sich, wie ihn damals das fahle Licht des Computerbildschirms in einen fast tranceartigen Zustand versetzt hat. War es die andauernde Aufmerksamkeit auf die immer wiederkehrenden Formulierungsversuche Wunderlichs, das Eindringen des Mörderelements in das gallertige Innere der Zelle in wissenschaftlicher Verknappung zu beschreiben oder war es der grüne Tee, den er dabei literweise getrunken hat? Er grinst, wenn er an diese Nächte denkt, wenn Wunderlich zum x-ten Male inmitten mentaler Vertiefung plötzlich aufgesprungen und auf die nahe Toilette gerannt ist, um den Tee loszuwerden und wie er wieder zurückgekommen ist, noch an seinem Gürtel hantierend und vor sich hin murmelnd, nur um nicht den roten Faden ihrer gemeinsamen Denkprozesse zu verlieren. So wurde mit fortschreitender Stunde aus dem nüchternen Kochsalzbestandteil Natrium ein hinterlistiges Mörderelement, das Zellen arglistig tötet. Dieses Bild hat sich damals in seinem Kopf festgesetzt, befeuert von Wunderlichs drastischen Kommentaren. Wie trocken haben sich dann die Formulierungen angefühlt, auf die sie sich schließlich für ihre gemeinsame Publikation einigten, … Natrium migriert in Zellen und versteift sie … oder … Natrium löst komplexe Änderungen in der Zellmechanik aus …, nur um die potenziellen Leser dieses Artikels, allesamt ehrenwerte Kollegen mit wertkonservativen Vorstellungen, nicht zu sehr zu provozieren. Viel lieber hätte sie damals Sätze formuliert wie … Natrium tötet aus dem Hinterhalt … oder ... Natrium tötet sanft und lautlos ….

In den Naturwissenschaften haben Begriffe des täglichen Lebens keinen Platz, resümiert Pedro fast wehmütig und denkt dabei unwillkürlich an das Knarren, das er damals vernahm. Eine Zelle hat kein Gemüt, also kann sie das Eindringen von Natrium nicht emotional verarbeiten. Eher war es ein Knarren im rein physikalischen Sinn, überlegt Pedro und kehrt damit auf das sichere Terrain der Naturwissenschaft zurück. Da sitzen Millionen von Zellen, eng ineinander verhakt, am Boden einer Plastikschale und werden plötzlich vom Natrium angegriffen. Wenn nun alle gleichzeitig erstarrten, könnte das etwa das Knarren erklären? Tritt man auf eine Schneeflocke, so wird man auch nichts hören, sind es aber viele, dann knirscht es. Pedro fühlt sich plötzlich erleichtert. Das werde ich testen und zieht mit einem energischen Ruck die Glasscheibe der sterilen Werkbank herunter.

Entschluss

Während Victoria mit kontrollierten Bewegungen das bernsteinfarbene Medium aus der Pipette geräuschlos in die Kulturschale laufen lässt, fällt ihr nochmals die Bemerkung Pedros ein, als er damals ein komisches Knarren zu hören meinte, als er die Zellen mit Salz fütterte. Ein Knarren, das aus der Tiefe des Brutschranks drang, so drückte er sich damals aus, und sie erinnert sich, dass seine Stimme dabei zitterte. Pedro ist ein Sensibelchen, das war ihr von Anfang an klar, als sie ihn zum ersten Mal traf, am Weg in die Katakomben. Sein Weißer Labormantel schlapperte über den Knien und sein Händedruck bei ihrer Begrüßung war kaum spürbar. Respekt hat er ihr eingeflößt, als sie bei einer ihrer ersten Laborbesprechungen sein geistiges Potenzial erkannte, wie er aus der hintersten Ecke des Raumes seine Meinung gegen die Wunderlichs stellte, mit unruhigen Augen, aber fester Stimme. Ja, sie ist überzeugt, er hat was am Kasten, aber das Knarren, das entspringt seiner Phantasie. Sie selbst will keine Zeit mit solchen Gedanken verschwenden, ihr Ziel will sie eisern festhalten und mit den Füßen am Boden bleiben. Natürlich fühlt sie sich auch bedroht von dem gegenwärtigen Stillstand im Labor. Jeder Tag ist verloren, wenn die Zellen bereits vor dem Experiment sterben. Danach können sie ruhig ex gehen und im Labormüll verenden.

Verärgert wirft sie die leere Pipette wie einen Wurfpfeil in den Plastikeimer neben ihr. Gegenwärtig stauen sich ihre Ideen im Kopf und warten. Victoria fürchtet, dass sie unwiederbringlich zerfallen, wenn sie keine Verwendung finden.

Unwillkürlich denkt sie an den Stau auf der Autobahn, letztes Wochenende, als sie neben Eckhard im Wagen saß, auf dem Weg nach Berlin. Es war totaler Stillstand, sogar der Motor war ausgeschaltet. Erst Stunden später konnten sie im Schritttempo die Autobahn verlassen und mussten in einem Dorf irgendwo im Osten Quartier nehmen. Sie erinnert sich an das drängende Gefühl, einfach die Wagentür aufzumachen und davonzulaufen, in Richtung Berlin. Wie wenig hat sie es damals genossen, mit Eckhard spätabends noch in der Dorfkneipe zu sitzen, an einem schweren Holztisch, mit einem Glas Bier vor sich, umgeben vom dumpfen Gemurmel einiger Dorfbewohner am Stammtisch nebenan, während die Idee Berlin in Staub zerfiel. Ihr Deutsch war bei weitem nicht gut genug, irgendetwas zu verstehen, aber das war ihr damals auch egal. Mit Unlust erinnert sie sich an die anfangs gute Laune Eckhards, der diese Landidylle sichtlich genoss. In ihr aber stieg zunehmend Groll auf, sie sah sich in der Rolle der Landfrau, an Eckhards Seite, dem Dorfschullehrer, wie er sich fröhlich unter die Leute mischt, während sie lautlos in der Bedeutungslosigkeit verschwindet.

Mit einer kurzen Bewegung wischt sich Victoria eine Haarsträhne aus dem Gesicht, so als ob sie damit diese düsteren Gedanken abschütteln wollte. Vergeblich versucht sie, aus der Vergangenheit aufzutauchen. Sie sieht Wunderlich vor sich wie er ihr damals ihr Forschungsthema skizzierte, mit Natrium, dem Mörderelement im Zentrum. Sie solle nach jenen Strukturen in der Zelle suchen, die vom Natrium attackiert würden. Sie solle sich auf Molekülketten konzentrieren, die lose gespannt wie Seile die Zelle durchzögen. Offenbar heftet sich Natrium an diese Seile, das hat Penelope unlängst in einer Laborbesprechung erwähnt. Diese Bemerkung fällt ihr jetzt wieder ein. Vielleicht erstarren dann diese Seile, ähnlich wie Schiffsseile, die im Meerwasser liegen. Pedros Knarren fällt ihr wieder ein. Sie hat zwar bisher nichts dergleichen bemerkt, aber Pedro ist nun einmal der Sensiblere und bemerkt Schwingungen, die ihr möglicherweise verborgen sind. Wenn ich rausfinde, dass das Knarren von den Seilen stammt, die unter dem Joch der Mörderelemente ächzen, wenn ich dieses Phänomen beweisen könnte und es mir gelänge, die Scientific Community davon zu überzeugen, dann stünden mir alle Tore offen und die triste Vorstellung, in einem Dorf unter dumpfen Menschen zu leben, würde platzen wie eine Seifenblase.

Inspiriert von dieser Vorstellung, beendet Victoria rasch ihre Arbeit in den Katakomben. Dankbar denkt sie an Pedro, dessen siebenter Sinn sie auf diese Spur gebracht hat. Sie hängt ihren Labormantel an den Haken und eilt mit leichtem Herzen in die obere Etage.

Stimme aus dem Off

Wir finden hier eine ganz alltägliche Situation vor. Eine Situation, wie sie sich in jeder Universität, in jeder akademischen Forschungseinrichtung einstellen kann. Der gemeinsame Nenner unserer sechs Figuren ist die Suche nach dem Mörderelement Natrium. Trotzdem hat jede dieser Figuren andere Gründe, an dieser Jagd teilzunehmen.

Wunderlich jagt aus purer Neugier. Er ist langjähriges Mitglied einer Jagdgesellschaft. Meistens schießt er Hasen, selten einen Hirsch. Hasen sind eine leichte Beute. Seine Jagdkollegen schmunzeln manchmal, wenn er einen erlegten Hasen an den Löffeln aus dem Dickicht hervorzieht, keine Meisterleistung, fürwahr. Wunderlich ahnt, wie seine Kollegen über ihn denken. Nämlich, dass sein Gewehr stets auf kleine Ziele gerichtet sein wird. Das beruhigt sie insgeheim, denn auch den meisten unter ihnen ist das große Ziel im Laufe der Zeit abhandengekommen. Jetzt steht Wunderlich an einem Wendepunkt. Lang genug hat er die Mittelmäßigkeit geduldig ertragen. Er wittert seine Chance.

Penelope jagt aus Angst. Manchmal wird sie eingeladen, an einer Treibjagd teilzunehmen. Sie schießt dann auf alles, was ihr vor die Flinte kommt, vom Eichhörnchen bis zum Fasan. Bei größerem Wild verlässt sie der Mut. Penelope möchte die Angst abstreifen, wird aber immer wieder von ihr eingeholt.

Pedro ist der Indianer unter den Jägern. Er verbindet Scharfsinn mit Intuition. Sein Wesen ist schüchtern und kühn zugleich. Zögernd stellt er die Phantasie über die Vernunft. Er verbrüdert sich dadurch mit Wunderlich, seinem Mentor.

Victorias Ziel ist Großwild. Hasen interessieren sie nicht, obwohl sie unter Hasen aufgewachsen ist. Eine tragende Rolle in der Jagdgesellschaft blieb ihr bisher verwehrt. Das ist ihr aber egal. Sie wird einen Weg finden und mit einem Blattschuss versuchen, die Weichen für ihre Zukunft stellen.

Susanne nimmt eher aus Pflichtgefühl an der Jagd teil. Ihr kommt eine dienende Rolle zu. Sie hat ein mitfühlendes Herz und glaubt an das Gute.

Nick ist der Treiber der Jagdgesellschaft. Von Unruhe getrieben, hält er sich ungern an Reviergrenzen und betrachtet Jagen als Spiel, das ihn zuweilen langweilt. Hedonismus diktiert sein Handeln.

Erwachen

Der russische Artikel über die Aggressivität von Natrium öffnet Penelope die Augen. Geduldig versucht sie, die Botschaft der Moskauer Forscher zu entschlüsseln. Vom Salz, meint sie, versteht sie etwas. Zumindest von seiner Chemie. Dass Psychologen sich damit auseinandersetzen, irritiert sie. Sie selbst hat wenig Ahnung von psychoanalytischen Methoden und kämpft sich tapfer, Zeile für Zeile, durch das ihr fremde Vokabular. Langsam taucht vor ihrem geistigen Auge ein Bild auf, flackernd und unscharf.

Sie sieht Natrium, ihr Mörderelement, auf einer Couch liegen und stockend vor sich hin reden. Sie selbst sitzt hinter ihm und hört mit einer Haltung gleichschwebender Aufmerksamkeit zu. Dann und wann deutet sie seine Aussagen.

Unbekümmert spricht Natrium über alles, was es bewegt.

… Es habe sich immer schwer getan, mit seiner massiven elektrischen Ladung zu leben. Besonders das Leben in den menschlichen Körpern habe ihm vom Anfang an große Schwierigkeiten bereitet. Kaum im Blut angekommen, werde es gewaltsam in das dichte Maschenwerk an der inneren Oberfläche der Blutgefäße hineingezogen und erst Stunden später eher widerwillig aus dieser Schutzhaft entlassen. Das hätte seine in ihm schlummernde Aggressivität zur Entfaltung gebracht. Es hätte begonnen, bei der kleinsten Berührung wild um sich zu schlagen, um das ihm so verhasste Maschenwerk, das wie ein Schutzzaun um die Zellen liege, so stark wie nur möglich zu beschädigen. Dieses aggressive Verhalten hätte ihm schließlich den Weg freigemacht, bis zur glatten Oberfläche der Zellen vorzudringen, wo es ein Türchen gab, durch welches es hindurchschlüpfen konnte. Verängstigt hätte es sich im Zellinnern an die von der Zimmerdecke hängenden Seile festgehalten. Dabei habe es festgestellt, dass die zuvor munter herabbaumelnden Seile zunehmend erstarrten, sobald es diese berühre. Es habe daraufhin erschreckt die Seile losgelassen und fluchtartig den Raum auf der gegenüberliegenden Seite verlassen. Geholfen habe ihm dabei ein mächtiges Schaufelrad, welches es aufnahm und in einem engen Spalt außerhalb der Zellen absetzte. Auch dort ereile es ein ähnliches Schicksal wie im Zellraum zuvor. Es würde in Schutzhaft genommen und nur zögerlich wieder freigegeben. Auch hier hätte es die Methode des wild-um-sich-Schlagens gewählt, um freizukommen und sich den Weg zurück ins Blut gebahnt. Dieser Vorgang wiederhole sich ständig, solange, bis es erschöpft in einem mehr oder weniger gelben See lande. Dort müsse es dann geduldig auf seine Entlassung warten. Wieder den menschlichen Körpern entflohen, käme es oft erst nach wochenlangem Herumirren unter der Erde wieder ans Tageslicht, nur um dann wieder von den Menschen vereinnahmt zu werden. Dieses ewige Nomadentum, diese Heimatlosigkeit, ständig Gast zu sein und nirgends dazu zu gehören, hätte es mit der Zeit zunehmend aggressiv gemacht und seine Zerstörungswut in den Körpern der Menschen entfacht.

Penelope blickt erstaunt auf. Sie hat völlig vergessen, wo sie sich befindet. Sie spürt ihre Bluse am Rücken kleben und merkt, dass das Papier des russischen Artikels wellig geworden ist. Ihr Mörderelement hat offenbar eine Art Bewusstsein, stellt sie erschreckt fest. Und es reagiert auf Einflüsse von außen. Die Psychologen haben das Innenleben des Natriums offengelegt, jetzt ist sie an der Reihe. Penelope formt den russischen Artikel zu einer Rolle und verlässt hastig das Tropenhaus.

Schrecken

Die Sommernacht bricht herein und im Institut ist es still. Nur dann und wann kann man von irgendwoher ein Zirpen wahrnehmen. Das Zellkulturlabor, tief unten in den Katakomben, ist zwecks prophylaktischer Desinfektion in bläuliches UV-Licht getaucht. Pedro kauert auf einem Drehstuhl, sein weißer Mantel streift am Boden. Er hat gewartet, bis niemand mehr im Institut ist. Er will dieses Mal ganz allein sein, wenn er experimentiert. Für das geplante Experiment geniert er sich. Er will nämlich nachforschen, ob Zellen so etwas wie ein Knarren erzeugen, wenn sie mit einer Ladung Salz konfrontiert werden. Ihm ist bewusst, dass diese Vorstellung ziemlich abstrus ist. Noch abwegiger ist es vermutlich, diese Hypothese mit einem Experiment zu testen, das auf konventionellen Methoden beruht. Nach einigem Ringen mit sich selbst hat er aber einen für ihn gangbaren Weg gefunden.

Knarren kann einfach eine Wahrnehmung sein, hat Pedro nach langem Grübeln festgestellt, die rein physikalischer Natur ist. Salz dringt in Zellen ein, strafft die in seinem Inneren aufgespannten Seile, die Zelle knarrt. Ein Knarren, ähnlich dem, wie er es zuletzt vernommen hat, als er mit Eva im Mündungsdelta des Rio de la Plata gesegelt war, die Silhouette von Montevideo im Hintergrund. Das Knarren war einem Seufzen ähnlich, erinnert er sich, und es kam von den gespannten Seilen, welche den Mast hielten. Er selbst war damals von tiefer Traurigkeit erfüllt, die Abreise stand bevor. Eva, vorn am Bug des Bootes kauernd, blickte an ihm vorbei in die Ferne. Rein physikalisch, murmelt Pedro und verscheucht mit einer Wischbewegung die bitteren Gedanken.

Pedro erhebt sich von seinem Stuhl, öffnet den Brutschrank und holt die Plastikschale mit den Zellen heraus. Er stellt sie vorsichtig hinter der Glasscheibe auf der sterilen Werkbank ab und lüftet den Deckel. Am Boden der Schale sitzen die Zellen, ein feingewebter lebender Teppich, umgeben von bernsteinfarbenem Medium. Pedro weiß, dass die Zellen für nur wenige Minuten außerhalb des Brutschrankes überleben können, deshalb folgen nun rasche roboterhafte Einzelschritte, minimalistisch in der Bewegung, präzise im Ablauf. Geschickt zermalmt er die Salzklümpchen zu einem staubähnlichen weißen Häuflein, das er dann mit einer ruckartigen Bewegung in die bernsteinfarbene Nährlösung kippt. Während die Salzschlieren langsam auf den Zellteppich sinken, schließt er die Schale und verfrachtet sie in den Brutschrank. Dann legt er sein linkes Ohr, einem Trichter gleich, direkt an die Brutschranktür und verharrt regungslos in dieser Stellung. Nichts stört die Stille. Er schließt die Augen, atmet lautlos und konzentriert sich. Da meint er ein Wimmern wahrzunehmen, aus der Tiefe des Brutschranks, zögerlich, in kurze Episoden zerhackt. Sekunden später erwacht einer der Kühlschränke zum Leben und reißt die akustische Atmosphäre des Raumes an sich. Das Wimmern verebbt. Pedro zieht mit einem Ruck den Stecker des Kühlschranks aus der Steckdose und horcht in die plötzliche Stille hinein. Alles ist ruhig. Er öffnet den Brutschrank und blickt hinein. Einsam steht das Schälchen mit den Zellen auf einer der Metallplatten. Das bernsteinfarbene Medium spiegelt sich sanft im Chrom der Brutschranktür wider. Das war kein Knarren, eher ein Wimmern, überlegt Pedro. Seine physikalische Erklärung schwankt. Knarren ist ein physikalisch erklärbar, denkt er, aber Wimmern? Der Mensch wimmert, wenn er leidet, die Zelle wimmert, wenn …. Pedro mag nicht weiterdenken. Ich bin Zellphysiologe, versichert er sich, und kein Zellpsychologe.

Es reicht ihm. Er hängt verstört den Labormantel an den Haken, macht alles dicht und verlässt hastig das Institut. So als ob er dem Erlebnis entrinnen wollte, dessen einsamer Zeuge er eben geworden ist.

Paranoia

Es ist wieder Mittwoch, langsam füllt sich der kleine Konferenzraum des Instituts für die gemeinsame Laborbesprechung, so wie alle zwei Wochen. Der Innere Zirkel trifft sich zum obligaten Gedankenaustausch. Die Sonne wirft ihre Morgenstrahlen fröhlich auf die grüne Tafel an der Stirnseite des langen Tisches. Susanne entfernt mit eifrigen Wischbewegungen die letzten Kreidespuren von der Tafel, während Penelope und Victoria, ihre Kaffeetassen jonglierend, am Tisch Platz nehmen. Polternd lässt sich Nick auf einen der Stühle fallen, sein Blick ist in die Ferne gerichtet.

Wunderlich sitzt schon da und betrachtet die Szene. Erste Worte fallen, kurze kaum vollendete Sätze über die wenigen Neuigkeiten dieses noch jungen Tages. Keiner möchte so richtig beginnen, bis Wunderlich durch ein Räuspern ankündigt, dass es nun Zeit wird zu starten. Zögerlich nähert man sich dem zentralen Thema, dem Wohl und Wehe der Zellen im Brutschrank, unten in den Katakomben. Susanne sagt, es stürben bereits weit weniger Zellen. Bald könne man wieder ans Experimentieren denken. Nick kann dieser Behauptung nichts abgewinnen. Er habe Zellen in Obhut, die einfach krank wirkten. Todkrank, betont er und lässt dabei den Unterkiefer fallen.

Nicks hingeworfene Worte treffen Penelopes Nerv. Sie sieht das Mörderelement vor sich auf seiner unseligen Reise durch die Zellen.

Ob er denn Natrium ins Medium gekippt habe, fragt sie scheinbar belanglos. Ja, was denn sonst, kontert Nick unwirsch, und deutet mit brachialer Gestik an, wie er das macht. Ich versorge Zellen natürlich auch mit Natrium, meldet sich Susanne. Aber ich mache das in vielen kleinen Schritten. Ich lasse die Salzklümpchen wie im Gänsemarsch, eins nach dem andern, ins Medium kollern, ergänzt sie und verdeutlicht das mit zwei Fingern, die sie auf dem Tisch auf und ab marschieren lässt. Nick richtet sich kerzengerade auf und zischt verächtlich … Weiberkram … in sich hinein.

Victoria beobachtet die Szene aus dem Hintergrund. Ihr Herz pocht. Pedros Knarren ist ihr in den Kopf geschossen. Sie sieht, wie sich Natrium an die Seile im Innern der Zellen anklammert. Wie die Seile steif werden und die Zellen krampfen. Diese Gedanken möchte sie für sich konservieren. Niemand soll davon erfahren, bis sie das entscheidende Experiment dazu gemacht hat. Wo ist eigentlich Pedro, hört sie sich fragen. Die Blicke richten sich auf das untere Ende des Tisches. Dort sitzt er normalerweise, in seinem viel zu großen Labormantel, vor sich das Mokkatässchen. Der Stuhl ist leer. Hat ihn jemand heute schon gesehen, fragt Wunderlich in die Runde und merkt, dass seine Stimme etwas hohl klingt. Trotz vieler Jahre in der Wissenschaft hat er es nicht geschafft, Unpünktlichkeit gelassen hinzunehmen. Eigentlich ärgert er sich mehr über sich selbst, über seine eigene Kleinkariertheit. Pünktlichkeit und kreatives Denken sind Feinde, diesen Satz kann er theoretisch mittragen, praktisch nicht. Weder gestern noch vorgestern habe ich ihn gesehen, meldet sich nachdenklich Penelope zu Wort. Letzte Woche, am Freitag, habe sie ihn zum letzten Mal gesehen. Da erschien er ihr blass und irgendwie traurig. Das sagt sie in die Runde, während Fetzen eines Gesprächs in ihrem Bewusstsein auftauchen. Er ist damals etwas verstört in der Küche gesessen und hat auf die Regentropfen gestarrt, die mit kaum hörbarem Pochen am Fenster aufschlugen. Penelope hat sich zu ihm gesellt, an diesem tristen Freitag, um nicht allein zu sein, allein in einer grausamen Forscherwelt. Grausam, weil ihr kurz davor per Email vom Chief Editor eines respektablen Wissenschaftsjournals mitgeteilt wurde, dass ihr Manuskript über die ‚Mechanik von Zellen‘ nicht zur Veröffentlichung angenommen werden könne. Besonders deprimierend empfand sie die Begründung, nämlich dass die Arbeit nichts Neues zeige und auch nicht von Common Interest sei, eine höfliche Formulierung, die zwei Jahre Arbeit im Neonlicht eines Zelllabors und im fahlen Licht eines Computerbildschirms für null und nichtig erklärt. In diesem verletzten Zustand hat sie sich neben Pedro niedergelassen und beinahe dankbar die Sorgen vernommen, die Pedro offensichtlich bedrückten. Stockend hat er ihr von den Eindrücken jener Nacht erzählt, als ein Wimmern aus den Tiefen des Brutschranks kam. Wohl wegen ihres Zustands innerer Verletztheit und ihrer immer wiederkehrenden Gedanken an das Mörderelement sind Pedros Worte tief in sie eingedrungen. Nicht ein einziges Mal hat sie ihn unterbrochen. Im Stillen hat sie damals seine beiden Hände gemustert, deren Blässe sich kaum vom Weiß seines Labormantels abhob. Nur dann und wann hat sie einen scheuen Blick auf seine nahezu bewegungslosen Lippen geworfen, zwischen denen Sätze mit verstörendem Inhalt hervorkamen. Als er in seiner Erzählung zu der Stelle mit dem Wimmern kam, hat sie ein Zittern seiner Stimme zu erkennen geglaubt. Sie hat ihn daraufhin gebeten, das Wimmern nachzuahmen. Da hat er aber nur ratlos die Schultern gezuckt. Es sei ein Geräusch gewesen, welches er nicht einordnen könne. Es habe weder menschlich noch technisch geklungen. Dieses verstörende Erlebnis hat sie an ihr Problem mit Natrium erinnert, dieses kaum fassbare Element auf seiner rastlosen Reise. Sie dachte an die russischen Psychologen, die dem Natrium eine Psyche verpassten, ihm eine Art Persönlichkeit gaben. Vorstellungen, die naturwissenschaftlich gesehen untragbar sind. Pedros Angst übertrug sich damals auf sie. Unauffällig hat sie sich dann aus der Küche gestohlen, ohne jeglichen Kommentar.

Während Penelope ihren Gedanken nachhängt, geht der Diskurs über das Sterben der Zellen weiter. Wunderlich versucht seiner Rolle als Institutsleiter gerecht zu werden und verweist auf die Dringlichkeit einer Lösung, das Sterben zu stoppen. Solange die Zellen stürben wie die Fliegen, sei an Experimente nicht zu denken. Er scheue sich auch, nur einer Person die Pflege der Zellen anzuvertrauen, denn was passiere, wenn diese Person erkranke? Wunderlich blickt dabei wie zufällig in Richtung Susanne, die seinem Blick ausweicht. Deshalb wolle er dieses Problem nicht auf zwei, sondern auf vier Beine stellen, und Susanne und Nick bitten, die Pflege der Zellen gemeinsam weiterzuführen. Es würde ein langer Atem gebraucht, dieses Problem zu lösen, und darum bitte er sie alle.

Mit diesem Satz schließt Wunderlich den Diskurs und entlässt die Runde. Er selbst bleibt sitzen, zurückgelehnt in seinem Stuhl, seinen Blick ins Leere gerichtet. Ich habe Zeit gekauft, grübelt er, aber jetzt muss bald etwas passieren, sonst bricht der Laden auseinander. Salz ist nicht Salz, hämmert es in seinem Kopf. Aggressives Natrium greift Zellen an. Es dringt durch enge Kanäle in sie ein und lässt alles ringsum erstarren. Und mehr noch. Natrium reagiert offensichtlich auf Menschen. Es wird zunehmend aggressiv, wenn es rüde behandelt wird. Es lässt sich aber auch zähmen, wenn mit ihm respektvoll umgegangen wird. Er denkt an Nick, der grob mit den Kristallbrocken umgeht. Im Gegensatz zu Susanne, die Salzkristalle achtet wie ein kleine Wesen.

Die Vorstellung, dass Natrium nicht gleich Natrium ist, dass es von einer variablen Aura umgeben ist, die mit der Umgebung kommuniziert, diese Vorstellung erhellt Wunderlich. Deshalb widersprächen sich so häufig Artikel, die dasselbe untersuchten, aber zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen kämen. Das erkläre die Kämpfe, die auf Fachtagungen unerbittlich ausgetragen werden, von im Salzthema gealterten Wissenschaftlern, die sich zynisch beäugten und von angriffslustigen Jungforschern, die übereinander herfielen. Wie vertrauenswürdig ist ein Experiment, wenn solche Phänomene auftreten, sinniert er. Alles zusammen ein undurchdringbarer Haufen Schrott. Am besten sollte man alle Artikel einstampfen und nochmals ganz von vorne anfangen, seufzt Wunderlich resigniert. Natrium ist überall präsent, steht in allen Chemikalienschränken der Erde, wird da respektvoll, dort despektierlich behandelt, schon bevor das eigentliche Experiment beginnt.

Der Salzstreuer kommt ihm in den Sinn. Er erinnert sich an den Unmut seines Vaters, der den ewig verstopften Salzstreuer mit zornigen Bewegungen solange schüttelte, bis sich auf seinem Tellerrand endlich Salzkristalle abzeichneten. Im Gegensatz zu seiner Mutter, die geduldig ein paar Salzkörner in ihre hohle Hand rieseln ließ und diese dann fast fürsorglich auf ihrem Teller verteilte. Er starb noch vor seiner Pensionierung an einem kaputten Herzen, während sie immer noch lebt, hochbetagt. Sein Natrium war voller Aggression, ihres besänftigt. Warum musste er, Wunderlich, denn erst so alt werden, um diesen Zusammenhang zu erkennen? Lag die Erklärung nicht schon längst für alle und jeden sichtbar auf der Hand?

Wunderlichs Gehirn kann diese Denkschleife nicht mehr verlassen. Seine Gedanken kreisen, finden keinen Weg mehr aus seinem Kopf, hinterlassen tiefe Spuren. Mit einer heftigen Wischbewegung versucht er, diese Gedanken zu vertreiben. Schließlich verlagert er sie ins Hinterstübchen seines Gehirns und verlässt mit einem tiefen Seufzer das Konferenzzimmer.

Flucht