Zukunft denken - David Christian - E-Book
SONDERANGEBOT

Zukunft denken E-Book

David Christian

0,0
18,99 €
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

What’s next? Eine Geschichte von übermorgen.

Woher sollen wir wissen, was in den nächsten hundert, tausend oder sogar einer Milliarde Jahre geschieht? So paradox es klingt: aus einem Geschichtsbuch. David Christian, der Begründer der Big History, die Erkenntnisse von Geologie, Astronomie und Biologie synthetisiert, hat es geschrieben. Es ist ein Leitfaden dafür, wie wir uns die Welt des fortgeschrittenen Anthropozäns vorzustellen haben, aber auch das Ende von allem. Eine Bedienungsanleitung für die Zukunft und ein historischer Rahmen, mit dessen Hilfe wir klarer sehen – bei der Suche nach Lösungen für die Herausforderungen, vor denen wir als Spezies stehen: Klimawandel und Artensterben.

»David Christian bereitet uns auf die großen Herausforderungen vor, vor denen wir als Menschheit stehen.« Bill Gates.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 505

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

»Heute ist sorgfältiges Zukunftsdenken besonders wichtig, weil die Geschichte des Planeten Erde vor einem Wendepunkt steht. Im letzten Jahrhundert haben wir Menschen plötzlich so viel Macht erworben, dass wir die Zukunft der Erde und ihre vulnerable Lebensfracht in unseren unsicheren Händen halten. Was wir in den nächsten fünfzig Jahren tun, wird über die Zukunft der Biosphäre in den nächsten Tausenden oder vielleicht Millionen Jahren entscheiden. Was wir tun, wird davon abhängen, wie wir uns unsere Zukünfte vorstellen und welche wir zu realisieren wünschen. Wenn klarer ist, was wir unter Zukunft verstehen, wie wir uns auf sie vorbereiten können und welche Zukünfte am wahrscheinlichsten sind, sind diese Erkenntnisse nicht nur für Experten von großer Bedeutung, sondern auch für jeden denkenden Bürger der heutigen Welt.«

»Ein Parforceritt durch Raum und Zeit: atemberaubend und faszinierend.« Dagmar Röhrlich, Deutschlandfunk über »Big History«

Über David Christian

David Christian, geboren 1946, ist Gründer und wichtigster Vertreter der Big History, die zeigen will, dass Geschichte und Naturgeschichte zusammengehören. Christian betreibt das von Bill Gates finanzierte Big History Project, das in den USA und Australien College-Studenten gesamtgesellschaftliches Bewusstsein lehrt. Sein letztes Buch »Big History« erschien 2018 und stand an der Spitze der Sachbuchbestenlisten. »Zukunft denken« erscheint in vierzehn Ländern.

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlage.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

David Christian

Zukunft denken

Die nächsten 100, 1000 und 1 Milliarde Jahre

Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Einleitung

Ein alltägliches Geheimnis

Eine Big-History-Perspektive

Die Ursprungsgeschichte von Zukunft denken

Struktur und Inhalt

Teil I — Über Zukunft nachdenken

Kapitel 1: Was ist die Zukunft? — Zeit als Fluss und Zeit als Landkarte

Zwei Betrachtungsweisen der Zeit

Zeit als Fluss: Die Zukunft in der A‑Reihe

Zeit als Landkarte: Die Zukunft in der B‑Reihe

Determinismus, Kausalität und Zeitpfeil

Kapitel 2: Praktisches Zukunftsdenken — Zeit als Relation

Relativitätstheorie und die Zukunft

Die Zukunft aus der Sicht lebender Organismen

Antizipation und Management der Zukunft: Allgemeine Prinzipien

Die Geografie der vorgestellten Zukünfte: Zukunftskegel

Teil II — Zukünfte managen

Kapitel 3: Wie Zellen die Zukunft managen

Die mikrobielle Welt

Wie bewältigt E. coli. ungewisse Zukünfte?

Kapitel 4: Wie Pflanzen und Tiere die Zukunft managen

Wie die Mehrzelligkeit das Zukunftsdenken verändert

Wie gelingt es mikrobiellen Zellen, so gut zusammenzuarbeiten?

Wie Pflanzen ihre Zukunft organisieren

Wie Tiere ihre Zukünfte mithilfe von Nervensystemen und Gehirnen managen

Die Evolution von Nervensystemen

Wie arbeiten Nervensysteme?

Wie helfen Nervensysteme Tieren beim Zukunftsdenken?

Teil III — Vorbereitung auf Zukünfte

Kapitel 5: Was ist neu am menschlichen Zukunftsdenken?

Die biologischen Unterschiede

Soziale und kulturelle Unterschiede: Sprache und kollektives Lernen

Archäologie und Anthropologie der Zeit: Warum sich Zeiterfahrungen unterscheiden

Die Anthropologie der Zeit

Natürliche, psychologische und soziale Zeit

Ein spekulatives Modell des Zukunftsdenkens in der Gründerzeit

Vorstellungen über Zeit und Zukunft in der Gründerzeit

Kapitel 6: Zukunftsdenken im Agrarzeitalter

Das Agrarzeitalter der menschlichen Geschichte

Zukunftsdenken in Eliten und im Volk

Konflikte zwischen elitärem und volkstümlichem Zukunftsdenken

Elitäres Zukunftsdenken im Agrarzeitalter

Zukunftsdenken in der griechischen und römischen Antike

Zukunftsdenken in den bürokratischen Reichen von Mesopotamien und China

Mesopotamische Traditionen

Chinesische Traditionen

Kurze Einblicke in das volkstümliche Zukunftsdenken

Wahrsagen in der Praxis: Die Orakel von Astrampsychos

Kapitel 7: Modernes Zukunftsdenken

Die Neuzeit der menschlichen Geschichte

Neue Technologie, expandierende Netze und beschleunigte Veränderung

Neue Sichtweisen der Wirklichkeit: Wissenschaft und Entzauberung

Zukunftsdenken in einem mechanischen Universum

Kausalität

Wahrscheinlichkeit

Datensammlung und Statistik

Informationstechnologie und Computing

Die Leistungsfähigkeit und die Grenzen des modernen Zukunftsdenkens: Wetter und Wirtschaft

Zukunftsdenken in der modernen Welt

Teil IV — Zukünfte imaginieren

Kapitel 8: Nahe Zukünfte — Die nächsten hundert Jahre

Charakteristische Merkmale der Hundert-Jahr-Skala

Schritt eins: Welche Zukünfte wünschen wir?

Überlappende Vorstellungen von einer guten Zukunft

Condorcet

Moderne globale Utopien: Gleichgewicht von Wachstum und Grenzen

Schritt zwei: Welche Zukünfte sehen am wahrscheinlichsten aus?

Trends, die auf wahrscheinliche Zukünfte schließen lassen

Wachstumstrends und die Zukunft

Planetare Grenzen und stabilisierende Trends

Unbekannte: Die Politik der Zukunft

Imagination möglicher Zukunftsszenarien

Vier allgemeine Szenarien für die nahe Zukunft

Schritt drei: Was ist zu tun?

Kapitel 9: Mittlere Zukünfte — Die menschliche Evolutionslinie

Charakteristische Merkmale der mittleren Zukünfte

Die nächsten tausend Jahre

Management eines Planeten

Neue Energietechnologien

Nanotechnologie: Winzige Maschinen

Künstliche Intelligenz

Transhumanismus: Menschen modifizieren

Reisen jenseits der Erde

Szenarien

Die menschliche Entwicklungslinie in ferner Zukunft

Kapitel 10: Ferne Zukünfte — Der Rest der Zeit

Charakteristische Merkmale ferner Zukünfte

Planetarische und galaktische Zukünfte

Die Zukunft von Erde, Sonne und Sonnensystem

Galaktische Zukünfte

Kosmologische Zukünfte und das Ende der Zeit

Moderne wissenschaftliche Darstellungen vom Ende der Zeit

Danksagung

Glossar

Anmerkungen

Einleitung

Kapitel 1: Was ist die Zukunft?

Kapitel 2: Praktisches Zukunftsdenken

Kapitel 3: Wie Zellen die Zukunft managen

Kapitel 4: Wie Pflanzen und Tiere die Zukunft managen

Kapitel 5: Was ist neu am menschlichen Zukunftsdenken?

Kapitel 6: Zukunftsdenken im Agrarzeitalter

Kapitel 7: Modern Future Thinking

Kapitel 8: Nahe Zukünfte

Kapitel 9: Mittlere Zukünfte

Kapitel 10: Ferne Zukünfte

Literaturverzeichnis

Impressum

Ich widme dieses Buch meinen Enkelkindern

Daniel, Evie Rose und Sophia.

Sie sind die Zukunft. Möge die Zukunft es gut mit ihnen meinen.

Einleitung

Wenn ihr durchschauen könnt die Saat der Zeit

Und sagen: dies Korn sproßt und jenes nicht, –

So sprecht zu mir …

Banquo zu den drei Hexen, Macbeth1

Öffnen Sie eine knarzende Tür in einem verwunschenen Haus, und Ihnen werden kalte Schauer den Rücken hinunterlaufen. Alles Mögliche könnte erscheinen. In jedem Augenblick unseres Lebens öffnen wir Türen in die Zukunft. Was verbirgt sich hinter ihnen? Wie können wir uns auf das Unbekannte vorbereiten? Schon der Apostel Paulus schrieb: »Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild.«2 In diesem Buch geht es um das verborgene Gesicht der Zeit, um die Teile, die im Dunkeln zu liegen scheinen, weil wir sie noch nicht gesehen haben. Es geht um das, was an dem seltsamen Ort auf uns lauert, den wir »die Zukunft« nennen – und darum, wie wir versuchen, es uns vorzustellen, uns darauf vorzubereiten und es zu bewältigen.

Das Bemühen, die Zukunft zu verstehen, kann einem das Gefühl geben, ins Leere zu fassen. Doch so ungreifbar sie auch erscheint, die Zukunft hat nachhaltigen Einfluss auf unser Denken, Fühlen und Tun. Wie viel Sorge und Mühe, Hoffnung und Kreativität widmen wir der Zukunft! Es könnte sogar sein, dass sich der größte Teil unseres Denkens mit möglichen Zukünften befasst. Meist reagieren wir automatisch auf sie. Das ist unser alltägliches Zukunftsdenken. Es ist vertraut und trivial. Gesteuert wird es von biologischen Prozessen, neurologischen Vorgängen und Algorithmen, die uns intuitiv vorkommen, weil sie meist unterhalb der Bewusstseinsschwelle stattfinden. Hier handelt es sich um das Zukunftsdenken, das wir praktizieren, wenn wir eine Straße überqueren und überlegen, ob uns der heranbrausende Sattelschlepper wohl erwischt. Dem Geheimnis der Zukunft begegnen wir erst dann wirklich, wenn wir neue Richtungen einschlagen, wenn ein Kind geboren wird, wenn wir uns einer plötzlichen Krise gegenübersehen, wenn wir in ein anderes Land ziehen oder wenn wir versuchen, uns die Zukunft des Planeten Erde vorzustellen. Das ist bewusstes Zukunftsdenken. Sobald wir aufmerksam und eingehend über die Zukunft nachdenken, wird uns rasch klar, wie sonderbar sie ist.

Im vorliegenden Buch werden wir uns damit beschäftigen, wie Philosophen, Wissenschaftler und Theologen über die Zukunft gedacht haben. Wir werden uns anschauen, wie sich andere Lebewesen – von Bakterien über Biber bis zu Baobabs – mit dem gleichen tiefen Geheimnis auseinandersetzen, indem sie eine ungeheuer komplexe biochemische und neurologische Maschinerie benutzen. Und wir werden uns mit der Frage beschäftigen, was unsere eigene Spezies von anderen unterscheidet, wenn sie kollektiv und bewusst über die Zukunft nachdenkt und versucht, auf sie einzuwirken. Zum Schluss geht es um einige der heute denkbaren Zukünfte in den nächsten Jahrzehnten, Jahrtausenden und Jahrmilliarden. Zum Schluss stellen wir einige Vermutungen über das Ende der Zeit an.

Ein alltägliches Geheimnis

In jedem Augenblick unseres Lebens sehen wir uns mit dem eigenartigen, existenziellen Geheimnis der Zukunft konfrontiert. Es scheint viele mögliche Zukünfte zu geben. Blitzartig sind dann alle diese Zukünfte bis auf eine verschwunden, und wir haben es nur noch mit einer einzigen Gegenwart zu tun. Wir müssen diese Gegenwart schnell bewältigen, weil sie gleich darauf schockgefroren im Gedächtnis und in der Geschichte landet – mit so viel Bewegungsfreiheit wie ein Mammut in Eiszeitgletschern. Auf der anderen Seite jeder knarzenden Tür wartet eine endlose, ungeduldige Menge anderer möglicher Zukünfte, einige alltäglich, einige trivial, einige geheimnisvoll und einige, die tiefgreifende Veränderung bringen. Und wir wissen nicht, mit welcher wir es zu tun bekommen werden.

Die Geheimnisse, in die die Zukunft gehüllt ist, sind verlockend und erschreckend zugleich; sie haben großen Anteil an der Fülle, Schönheit, Freude und Bedeutung des Lebens. Seinem Zauber! Wollen wir wirklich wissen, was hinter jeder Tür liegt? Vor 2000 Jahren fragte Cicero: Und Cäsar – hätte er »durch Weissagung die Versicherung erhalten (…), [er werde] (…) von Bürgern ersten Ranges, die zum Teil ihm Alles zu verdanken hatten (…) ermordet werden, und so da liegen, daß nicht nur keiner seiner Freunde, sondern nicht einmal Einer seiner Sklaven zu seinem Leichnam hinträte – in welcher Seelenqual, sage ich, würde er sein Leben hingebracht haben?!«3 Cicero kannte Cäsar und hatte vielleicht sogar mit eigenen Augen gesehen, wie dieser in den Iden des Märzes (am 15. März) 44 v. Chr. erdolcht wurde. Als Cäsar starb, schrieb Cicero gerade an seinem bedeutenden Werk über Weissagung. Daher war das Beispiel für ihn so lebhaft und eindringlich. Türen zur Zukunft verbergen Dinge, die wir vielleicht lieber nicht kennen würden. Unsere Ahnungslosigkeit bezüglich der Zukunft trägt wesentlich zur Dramatik und zum Reiz des Lebens bei. Sie gibt uns die Freiheit, uns zu entscheiden, und nimmt uns in die moralische Pflicht, sorgfältig zu entscheiden.

Gleichwohl möchten wir oft unbedingt einen Blick auf das erhaschen, was uns erwartet. Welche Hinweise haben wir? Wenn wir in ein anderes Land reisen, können wir mit Leuten sprechen, die schon dort gewesen sind, oder wir richten uns nach Lonely-Planet-Reiseführern, so wie die Europäer im 19. Jahrhundert mit ihrem Baedeker reisten. Als gelernter Historiker habe ich die Vergangenheit in meiner Vorstellung bereist, indem ich die Aufzeichnungen und Erinnerungen der Menschen, die einst lebten, als Baedeker benutzte. Ich bin nicht blind gereist. Wenn wir aber die Zukunft betreten, haben wir keine Reiseführer, weil noch keine Menschenseele dort war. Zu Recht hat uns der Historiker und Philosoph R. G. Collingwood darauf hingewiesen, dass uns die Zukunft keine Dokumente hinterlasse.4

Dieses Nichtwissen ist beängstigend, weil die Zukunft wirklich – wirklich! – von großer Bedeutung ist. »Schließlich«, so der Zukunftsforscher Nicholas Rescher, »werden wir dort alle den Rest unseres Lebens zubringen.«5 Daher suchen wir alle nach Orientierungshilfen. Unser Verstand hält ständig nach Mustern, Trends und Zeichen Ausschau und stellt sich gute und schlechte Zukünfte vor; wir versuchen Botschaften von Träumen oder Sternen ebenso zu deuten wie die Warnungen oder Verheißungen von Wahrsagern oder Finanzberatern. Wir fragen Eltern, Ärzte oder Lehrer. Moderne Regierungen fragen Wirtschaftswissenschaftler und Statistiker (und entlohnen sie gelegentlich fürstlich). All das tun wir, denn mag die Zukunft auch keine Dokumente hinterlassen, so verfügen wir doch über einige Hinweise auf das, was da kommen könnte. Und manchmal können wir Vorhersagen auf der Basis von, wie Leibniz sagte, »moralischer [d. h. annähernder] Gewissheit« abgeben. Die Sonne wird morgen aufgehen; ich werde eines Tages sterben; der Staat wird darauf bestehen, dass ich Steuern zahle. Ich kann diese Dinge nicht mit »absoluter Gewissheit« behaupten. Aber doch mit annähernder. Ich kann die Zukunft nicht im Detail vorhersagen, abgesehen von seltenen Fällen, wie zum Beispiel Sonnenfinsternissen. Anders als die mit Einzelheiten gespickte Vergangenheit ist die Zukunft eine diffuse Welt unscharfer Formen, die sich im Zwielicht bewegen.

Am seltsamsten ist aber, dass unsere einzigen Hinweise auf die Zukunft in der Vergangenheit liegen. Daher fühlt sich Leben manchmal an, als lenke man einen Rennwagen, während man in den Rückspiegel blickt. Kein Wunder, dass wir hin und wieder Unfälle bauen. Wie die Wahrsager in Dantes Inferno, denen man zur Strafe die Gesichter nach hinten drehte, schauen wir zurück, während wir die Zukunft betreten. Daher ist es paradox, dass Historiker, die ihre Zeit damit verbringen, die Vergangenheit zu studieren, so selten an die Zukunft denken. Dieses Buch verfolgt unter anderem das Anliegen, für die Verknüpfung des Vergangenheitsdenkens (der »Geschichte«) mit dem Zukunftsdenken zu werben, damit wir die Vergangenheit besser nutzen, um mögliche Zukünfte auszuleuchten.

Heute ist sorgfältiges Zukunftsdenken besonders wichtig, weil die Geschichte des Planeten Erde vor einem Wendepunkt steht. Im letzten Jahrhundert haben wir Menschen plötzlich so viel Macht erworben, dass wir die Zukunft der Erde und ihre vulnerable Lebensfracht in unseren unsicheren Händen halten. Was wir in den nächsten fünfzig Jahren tun, wird über die Zukunft der Biosphäre in den nächsten Tausenden oder vielleicht Millionen Jahren entscheiden. Was wir tun, wird seinerseits davon abhängen, wie wir uns unsere Zukünfte vorstellen und welche wir zu realisieren versuchen. Wenn klarer ist, was wir unter Zukunft verstehen, wie wir uns auf sie vorbereiten können und welche Zukünfte am wahrscheinlichsten sind, sind diese Erkenntnisse nicht nur für Experten von großer Bedeutung, sondern auch für jeden denkenden Bürger der heutigen Welt.

Und doch: Trotz des eigenartigen Charakters der Zukunft, der Aufmerksamkeit, die wir möglichen Zukünften schenken, und der elementaren Bedeutung sorgfältigen Zukunftsdenkens, sind die allgemeinen Fertigkeiten des Zukunftsdenkens nichts, was an unseren Schulen oder Universitäten gelehrt würde. Zwar werden Spezialisten bestimmte Fertigkeiten des Zukunftsdenkens wie Computermodellierung vermittelt, aber die meisten von uns müssen improvisieren. Wir verlassen uns auf unsere Instinkte und Intuitionen, um der geheimnisvollen Welt zu begegnen, die vor uns liegt und ihren Schatten auf so viele unserer Gedanken und Handlungen wirft. Einer der Gründe, dieses Buch zu schreiben, war die Erkenntnis, dass ich kaum eine Ahnung hatte, was genau wir unter »Zukunft« verstehen oder wie viel Einfühlungsvermögen man benötigt, um über wahrscheinliche Zukünfte nachzudenken. Und allgemein verständliche Einführungen in den Themenbereich der Zukunft und des Zukunftsdenkens konnte ich nirgends finden.6 Ich vermute, dass ich nicht der Einzige bin, der mehr über die seltsame Welt hinter der knarzenden Tür erfahren möchte. Darum habe ich versucht, das Buch zu schreiben, nach dem ich gesucht habe. Ich sehe es als eine Art Bedienungsanleitung für die Zukunft. Obwohl ich kein Zukunftsforscher im engeren Sinn bin, habe ich versucht, zu begreifen, was wir meinen, wenn wir von »Zukunft« sprechen, besser zu erkennen, wie wir über wahrscheinliche Zukünfte nachdenken sollten, und mir mithilfe dieser Erkenntnisse Zukünfte für uns, unseren Planeten und das Universum als Ganzes vorzustellen.

Eine Big-History-Perspektive

Wenn ich analysiere, wie wir über mögliche Zukünfte nachdenken, verwende ich die Mehrfachlinsen von »Big History«, einem relativ neuen interdisziplinären Forschungsfeld, über das ich seit dreißig Jahren lehre und schreibe.7 Big History betrachtet die Vergangenheit auf allen erdenklichen Größenskalen und aus vielen verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven in der Hoffnung, dass eine Art Triangulation zu einem vielseitigeren und gründlicheren Verständnis der Geschichte führt. David Hume sagte oft, es mache ihm Freude, ein Problem »ziemlich gründlich« anzugehen.8 Genau das kann, so hoffe ich, eine Big-History-Perspektive für die Idee der Zukunft leisten. Stellen Sie sich vor, Sie blicken in einen Kristall, der die Zukunft wiedergibt. In den folgenden Kapiteln werden wir den Kristall viele Male drehen und die Zukunft durch verschiedene Facetten, in unterschiedlichem Licht und durch die Augen von Experten vieler Fachrichtungen betrachten. Jedes Mal, wenn wir den Kristall drehen, werden sich Form, Farbe und Bedeutung ein wenig verändern, und wir können neue Erkenntnisse gewinnen.

Der Blick auf ein Problem aus verschiedenen Perspektiven kann uns entscheidend voranbringen. Ein faszinierender Ansatz in der Netzwerktheorie, die »Kleine-Welt«-These, erklärt, warum. Sie zeigt, dass in einem Netzwerk, in dem die meisten Punkte Nachbarn sind, ein oder zwei Fernverbindungen das ganze Netzwerk verändern können, indem sie den Austausch von Ideen, Informationen und Waren beschleunigen. Der größte Teil der Menschheitsgeschichte ist von Netzwerken dörflicher Ausmaße geprägt worden, die sich aus Nachbarn mit ähnlichen Perspektiven zusammensetzten. Doch wenn nur einer der Nachbarn regelmäßig in ein anderes Dorf oder in die nächste Stadt fährt, kann er ein lokales Netzwerk völlig umkrempeln, da er ihm einen viel breiteren Informationsfluss und ganz andere Perspektiven zugänglich macht. Das erklärt, weshalb eine relativ kleine Zahl von Menschen, die sich zwischen den Welten bewegte – Vagabunden, Kaufleute mit ihren Karawanen, Hausierer, Wanderpropheten und Soldaten – eine ausgesprochen revolutionäre Rolle in der menschlichen Geschichte gespielt haben. Die antiken Seidenstraßen veränderten die Geschichte Eurasiens, indem sie von Korea bis zum Mittelmeer Tauschnetze spannten – nicht nur für Waren, sondern auch für Information und Kultur.9 Sich entsprechend zwischen wissenschaftlichen Disziplinen zu bewegen, kann die gleiche Wirkung erzielen. Disziplinäre Grenzgänger entwickelten die fundamentalen Paradigmen der modernen Wissenschaft, etwa die Urknallkosmologie, die die Physik der sehr großen und der sehr kleinen Dinge miteinander verknüpft, oder die moderne Genetik, die gleichermaßen auf Chemie, Biologie und Physik fußt. Wie die Seidenstraßen verknüpft eine Big-History-Perspektive Stränge verschiedener Forschungsfelder zu Wissensnetzen, die neue Erkenntnisse und Denkweisen hervorbringen können. Neue Verbindungen herzustellen kann auf einem Feld, das so schwierig und zusammengestückelt ist wie das Zukunftsdenken, besonders wichtig sein. Wendell Bell, ein Pionier der modernen »Zukunftsforschung«, schreibt daher: »In einer Welt von Spezialisten und spezialisierten Wissensfeldern fällt demjenigen, der das große Bild sieht, der die Wechselbeziehung zwischen verschiedenen Dingen sieht, der das Ganze sieht und nicht nur die Teile, eine wichtige – und gegenwärtig vernachlässigte – Rolle zu.«10

Natürlich ist das Überschreiten von disziplinären Grenzen riskant, so gefährlich wie das Bereisen der Seidenstraßen. Es kommt zu einem Kompromiss zwischen lokalem Wissen und dem großen Bild. Ich hoffe, dass die Einsichten, die durch Perspektivenvielfalt gewonnen werden, den Verlust an Tiefenschärfe, Nuancen oder Genauigkeit aufwiegen werden. Der Quantenphysiker Erwin Schrödinger bringt dieses Dilemma in seinem Vorwort zu dem interdisziplinären Buch Was ist Leben?, das Francis Crick und James Watson zu ihrer epochalen Entdeckung der DNA-Struktur anregte, wunderbar zum Ausdruck. Sich sehr wohl bewusst, dass er kein Biologe war, aber davon überzeugt, dass die Physik der Biologie einiges zu bieten habe, schrieb Schrödinger:

Wenn wir unser wahres Ziel nicht für immer aufgeben wollen, dann dürfte es nur den einen Ausweg aus dem Dilemma [der Schwierigkeit, Erkenntnisse aus verschiedenen Disziplinen miteinander zu verknüpfen; DGC] geben: daß einige von uns sich an die Zusammenschau von Tatsachen und Theorien wagen, auch wenn ihr Wissen teilweise aus zweiter Hand stammt und unvollständig ist – und sie Gefahr laufen, sich lächerlich zu machen.11

Im vorliegenden Buch versuche ich, die Zukunft in einem ganz ähnlichen Geist zu erklären. Dabei bin ich bemüht, unser Zukunftsverständnis im Hume’schen Sinne »ziemlich gründlich« zu durchleuchten. Das geschieht aber paradoxerweise dadurch, dass ich erheblich in die Breite gehe und mich der Zukunft aus vielen verschiedenen Richtungen annähere. So frage ich, wie wir die Zukunft zu verstehen versuchen, wie wir und andere Organismen versuchen, verschiedene Zukünfte zu managen, wie wir Menschen versuchen, uns auf die wahrscheinlichsten Zukünfte vorzubereiten, und schließlich, wie wir Menschen uns die Zukünfte unserer eigenen Art, unseres Planeten und sogar unseres Universums vorstellen.

Die Ursprungsgeschichte von Zukunft denken

Warum schreibt ein Historiker über die Zukunft? Die meisten Geschichtswissenschaftler halten sich an die Vergangenheit, und das völlig zu Recht, wenn es nach R. G. Collingwood ginge. »Aufgabe des Historikers ist es«, wetterte er, »die Vergangenheit zu erkennen, nicht die Zukunft; und immer wenn Historiker sich anheischig machen, die Geschehnisse der Zukunft im Voraus bestimmen zu können, dürfen wir sicher sein, dass sie nicht ganz die richtige Auffassung vom Wesen der Wissenschaft haben.« Die meisten Historiker stimmen ihm zu. Tatsächlich ist Collingwoods Argument aber nicht haltbar, denn das Studium der Vergangenheit ist der Schlüssel zu den meisten Formen des Zukunftsdenkens. Aus diesem Grund stimmen ihm nicht alle zu. Zwar meint auch der Historiker E. H. Carr, Geschichtswissenschaftler seien nicht in der Lage, spezifische Ereignisse vorherzusagen, wohl aber, übergreifende geschichtliche Muster und Tendenzen zu erkennen, das heißt, »allgemeine Richtlinien für künftiges Handeln, die (…) gültig und nützlich sind«. Konfuzius hätte ihm zugestimmt. »Erzähle mir die Vergangenheit«, schrieb er, »und ich werde die Zukunft erkennen.«12 Ich hoffe, einige Leser davon überzeugen zu können, dass Historiker erheblich zum Zukunftsdenken beitragen können.

Auf die Idee, ernsthafter über die Zukunft nachzudenken, brachte mich Big History. Anfang der 1990er-Jahre hatten meine Kollegen und ich an der Macquarie University gerade mit dem radikalen Experiment begonnen, einen Geschichtskurs zu geben, der die gesamte Vergangenheit abdeckte, angefangen mit dem unvorstellbaren Augenblick vor 13,8 Milliarden Jahren, als unser Universum im Urknall geboren wurde. Einen solche Kurs zu halten, war lächerlich ehrgeizig, weil er sehr viele traditionelle disziplinäre Grenzen überschritt. Darum kamen wir nie auf die Idee, auch noch die Zukunft in unsere Überlegungen einzubeziehen! Unsere letzte Vorlesung betraf die heutige Welt. Nach einer solchen Vorlesung sprach mich eine unserer besten Studentinnen an und sagte, ihr gefalle die atemberaubende Perspektive von Big History. »Aber«, ich erwartete es förmlich, »Sie können nicht in der Gegenwart aufhören. Nachdem Sie vierzehn Milliarden Jahre betrachtet haben, können Sie unmöglich die nächsten rund hundert Jahre außer Acht lassen. Wie können Sie uns mit einem solchen Cliffhanger entlassen? Sie müssen auch über die Zukunft sprechen.« Ich hätte mir am liebsten mit der flachen Hand vor die Stirn geschlagen. Natürlich hatte sie recht! Die Zukunft ist der Rest der Zeit. Sollte sich da ein Historiker nicht ein wenig Zeit für sie nehmen?

Im folgenden Jahr nahmen David Briscoe, ein Kollege, der wundervolle Biologievorlesungen zu dem Kurs beigesteuert hatte, und ich eine abschließende Vorlesung über die Zukunft mit auf. Wir wussten natürlich nicht, was wir taten. Welche Zukunft? Die nächsten zehn Jahre? Die nächsten Millionen? Keine Ahnung. Aber David machte einen brillanten Vorschlag, der zumindest dafür sorgen sollte, dass die Vorlesung Spaß machte. Er sagte: Übertreiben wir es nicht mit der Vorbereitung. Schließlich wissen wir wirklich nicht, was geschehen wird! Lass uns vor den Studenten eine Münze werfen, die festlegt, wer von uns der Optimist und wer der Pessimist ist. Dann beschreiben wir abwechselnd gute Zukünfte und schlechte Zukünfte. Und genau das taten wir. Wir entschieden uns, nur mit einem Mikrofon zu arbeiten, so dass wir darum kämpfen mussten, wenn wir glaubten, der andere verzapfe Unsinn.

Diese Vorlesungen hielten wir über mehrere Jahre. Was immer sie brachten, auf jeden Fall brachten sie Spaß. Und sie trugen dem instinktiven Gefühl unserer Studierenden Rechnung, dass man bei dem Versuch, über die Vergangenheit nachzudenken, die Zukunft nicht ausschließen kann. Gewiss, wir erleben Vergangenheit und Zukunft unterschiedlich, und doch sind sie unzertrennlich wie siamesische Zwillinge. Die Beschäftigung mit der Zukunft brachte mich mit einer vielfältigen und manchmal seltsamen Literatur von Theologen, Philosophen, Naturwissenschaftlern, Statistikern, Science-Fiction-Autoren und Vertretern der ganz neuen wissenschaftlichen Disziplin der Zukunftsforschung in Verbindung.

Als ich schließlich daranging, meine Geschichte der vollständigen Vergangenheit zu verfassen, beherzigte ich den Rat meiner Studentin. Das letzte Kapitel behandelte die Zukunft.13 Und nun arbeite ich dieses Schlusskapitel zu einem ganzen Buch aus. Doch es geht viel weiter, weil ich sehr viel mehr über die Zukunft gelernt habe und weil ich erkannt habe, wie viele unserer Gedanken sich mit möglichen Zukünften beschäftigen

Von jetzt an werde ich mit dem Ausdruck »Zukunftsdenken« alle Gedanken an die Zukunft bezeichnen, auch wenn sie sich unterhalb der Bewusstseinsschwelle befinden. Es gibt viele andere Namen dafür, von H. G. Wells’ »Voraussicht« über Bezeichnungen wie »Zukunftsforschung«, »Prognostik« (dem im Ostblock favorisierten Begriff) und »Planung« bis zu dem französischen Wort prospective. Mit dem Ausdruck »Zukunftsmanagement« möchte ich alle Versuche beschreiben, die bewusst oder unbewusst das Ziel verfolgen, die Zukunft in bevorzugte Richtungen zu lenken.

Struktur und Inhalt

Dieses Buch ist in vier Hauptteile gegliedert und um vier Grundfragen organisiert.

Im ersten Teil lautet die Frage: »Was ist Zukunft?« Dort betrachten wir, was Philosophen, Naturwissenschaftler und Theologen über die Zukunft zu sagen haben und mit welchen praktischen Herausforderungen sich alle Lebewesen konfrontiert sehen, wenn sie versuchen, mit möglichen Zukünften umzugehen. Im zweiten Teil geht es um die Frage: »Wie bewältigen Lebewesen die Zukunft?« Dort betrachten wir, welche ausgefeilten biochemischen und neurologischen Mechanismen Lebewesen zu Hilfe nehmen, um sich ungewissen Zukünften zu stellen. Das ist die Grundlage allen Zukunftsdenkens. Von den intelligenteren Lebewesen abgesehen, arbeiten diese Mechanismen bei allen Organismen unterhalb der Bewusstseinsebene. Größtenteils findet Zukunftsdenken also unter Deck statt. Der dritte Teil beschäftigt sich mit dem bewussten Zukunftsdenken unserer eigenen Art. Dort stellt sich die Frage: »Wie versuchen Menschen die Zukunft in den Blick zu bekommen, zu verstehen und sich auf sie vorzubereiten?« Im Unterschied zum Zukunftsdenken anderer Arten hat sich das des Menschen radikal verändert, seit unsere Art erstmals in Erscheinung trat. Daher werden wir im dritten Teil menschliches Zukunftsdenken in drei unterschiedlichen Abschnitten der Menschheitsgeschichte beschreiben: in der Gründerzeit bis vor rund 10 000 Jahren, im Agrarzeitalter bis 200 Jahre vor der Gegenwart und schließlich in der Neuzeit. Im vierten Teil geht es um die Frage: »Welche Art von Zukünften können wir uns (glaubhaft) für die Menschheit, den Planeten Erde und das Universum als Ganzes vorstellen?« Wie sollen wir uns ausmalen, was in den nächsten hundert oder den nächsten Millionen Jahren geschehen könnte – und können wir uns glaubhaft das Ende der Zeit vorstellen?

Teil I

Über Zukunft nachdenken

Wie Philosophen, Wissenschaftler und Lebewesen es anstellen

Kapitel 1

Was ist die Zukunft?

Zeit als Fluss und Zeit als Landkarte

Wir sind in diese Welt gesetzt in ein großes Theater, wo uns die wahren Quellen und Ursachen jedes Ereignisses vollkommen verborgen bleiben. Wir sind weder weise genug, die Übel, die uns ständig belästigen, vorherzusehen, noch haben wir genügend Macht, ihnen vorzubeugen. In steter Ungewissheit schweben wir zwischen Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit, Überfluss und Mangel; Zustände, die durch geheime und unbekannte Ursachen unter der menschlichen Gattung verbreitet sind und deren Wirkung oft unerwartet, immer jedoch unerklärlich ist.

– David Hume, Die Naturgeschichte der Religion1

Was ist die Zukunft? Die Antwort sollte einfach sein. Schließlich leben wir in der Zeit. Ist die Zukunft dann nicht der Teil der Zeit, der noch nicht eingetreten ist?

Leider wird das Problem sehr rasch kompliziert, sobald man anfängt, genauer über diese Fragen nachzudenken. In der modernen Zukunftsforschung herrscht noch nicht einmal Einigkeit in der Frage, wie die Zukunft zu definieren sei. Dazu schreibt Jim Dator: »›Zeit‹ und ›die Zukunft‹ scheinen doch zwei der zentralsten Begriffe der Zukunftsforschung zu sein, tatsächlich aber wurde ›Zeit‹ kaum von den Begründern der Zukunftsforschung diskutiert und später selten problematisiert.«2

Kein Wunder! Über die Zukunft nachzudenken, kann mühsam und quälend sein. Die Philosophie der Zeit führt uns in einen gelehrten Dschungel voller schöner Ideen, metaphysischer Dickichte und philosophischen Krabbelgetiers. Ich werde versuchen, nicht allzu sehr in die Tiefe zu gehen. Aber wir müssen uns weit genug hineinwagen, um zu erkennen, dass sich die Probleme wie Lianen um die Begriffe von Zeit und Zukunft schlingen.

Um die Zukunft zu verstehen, müssen wir die Zeit verstehen. Aber gibt es die Zeit überhaupt? Oder ist das Wort nur ein Name für eine Art Begriffsgespenst? Einige Vertreter der Geisteswissenschaften bevorzugen verschwommenere Wörter, wie etwa »Temporalitäten« (temporalities), was man wohl als »Erfahrungen zeitlicher Veränderung« übersetzen könnte.3 Selbst die moderne Wissenschaft liefert keine endgültigen Antworten. Es ist, als ob niemand lange genug lebte, um wirklich zu begreifen, was es mit der Zeit auf sich hat. Hector Berlioz soll gesagt haben: »Die Zeit ist eine großartige Lehrerin, doch leider tötet sie all ihre Schüler.«4 Wer sich zu tief auf die Frage einlässt, dem ergeht es leicht wie dem persischen Astronomen und Dichter Omar Khayyám. Er kommt sich vor wie ein Sufi-Tänzer, der sich im Kreis dreht.

Als ich jung war, lief ich eifrig zu Ärzten und Frommen

Vernahm großartige Ausführungen zu diesem und jenem:

Ging aber immerfort zur nämlichen Tür hinaus, durch die ich gekommen.5

In Miltons Das verlorene Paradies sind selbst die Jünger des Satans nicht in der Lage, sich einen Reim auf die Zeit zu machen.

(…) [Sie] saßen seitwärts

Auf einer Höh in süßerem Gespräch

(…)

Verhandeln dort, vertieft in hohes Sinnen,

Von Vorsehung, Voraussicht, Willen, Schicksal,

Verhängnis, freiem Willen, unbedingtem

Voraussehen, endlos sich im Gang verwirrend.6

Tief dachte Augustinus über die Zeit nach, als er Gottes Plan zu ergründen suchte. In dem wunderbaren Buch 11 seiner Bekenntnisse, einem grundlegenden Text zum Problem der Zeit, fragt Augustinus: »Denn was ist die Zeit? Wer vermöchte dies leicht und in Kürze auseinanderzusetzen?« Obwohl er ein gründlicher und scharfsinniger Denker war, schien sich das Problem immer seinem Zugriff zu entziehen. »Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht.« In seiner Verzweiflung bittet Augustinus Gott um Hilfe: »Meine Seele brennt vor Verlangen, diesen rätselhaften Knoten zu lösen. Verschließe nicht, o mein Gott und Herr, gütiger Vater, ich flehe dich an im Namen Jesu Christi, verschließe meinem Verlangen nicht dieses Alltägliche und doch so Geheimnisvolle.« Dazu der Philosoph Jenann Ismael: »So etwas wie zu viel Nachdenken gibt es nicht.«7

Zwei Betrachtungsweisen der Zeit

Das Problem der Zeit hat sie alle beschäftigt – Philosophen, Weise, Bauern, Schamanen, Theologen, Logiker, Anthropologen, Biologen, Mathematiker, Physiker, Glücksspieler, Propheten, Wissenschaftler, Statistiker, Dichter, Wahrsager und natürlich alle Menschen, die sich um die eigene Zukunft und die ihrer Liebsten sorgten. Moderne Philosophen unterscheiden zwischen zwei Betrachtungsweisen, die sich sehr unterschiedlich auf unser Verständnis der Zukunft auswirken.8 Beide zeichnen sich bereits in der antiken Philosophie ab. Heraklit (ca. 520 bis ca. 460 v. Chr.) meinte, die Welt befinde sich im ewigen Wandel. Daraus folge, dass sich die Zukunft von der Vergangenheit unterscheide. Dagegen dachte Parmenides, fast sein Zeitgenosse, Veränderung sei eine Illusion, mithin seien Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft weitgehend gleich. In vielen philosophischen und theologischen Lehren hat man sich mit der Beziehung zwischen Dauer und Veränderung auseinandergesetzt. Nach der alten indischen Textsammlung der Upanischaden gibt es »einen inneren Kern der Seele (Atman), unwandelbar und gleichbleibend inmitten eines äußeren Bereichs der Unbeständigkeit und des Wandels«. In vielen buddhistischen Überlieferungen heißt es jedoch: »Es gibt in den Dingen keinen inneren und unwandelbaren Kern; alles ist im Fluss.«9

Die Erste unserer beiden Metaphern folgt Heraklit. Für ihn ist die Zeit eine Art Fluss, der uns durch eine endlose Folge von Veränderungen trägt. Nach dieser Auffassung wird die Zukunft anders als die Vergangenheit sein und sich nur schwer vorhersehen lassen. Genauso erleben wir die Zeit üblicherweise in unserem Alltag. Daher empfinden die meisten von uns dieses Bild als vollkommen natürlich. Die Zeit ist also eine turbulente Abfolge von Hochs und Tiefs, Freude und Kummer, Geburt und Tod – eine Welt, die in einigen indischen Lehren als Samsara bezeichnet wird.

Von den Anhängern der Gegenseite wird behauptet, unser Empfinden von Fluss und Veränderung sei eine verführerische Illusion. Die »reale Zeit«, so der verstorbene Zeitforscher D. H. Mellor, fließe nicht.10 Sie ähnele eher einer Landkarte als einem Fluss. Diese Betrachtungsweise gleicht der göttlichen Perspektive, einem Blick von oben. Folglich sieht Veränderung nicht mehr wie etwas aus, das geschieht, sondern wie die Entfernung zwischen zwei Punkten auf einer Karte, so wie sie von einer zwischen ihnen krabbelnden Ameise erlebt wird. Unser Gefühl, die Zukunft unterscheide sich von der Vergangenheit, erwächst nach dieser Vorstellung aus unserer eigenen Bewegung und nicht aus dem vermeintlichen Fluss der Zeit. So gesehen, gibt es kaum einen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft, und in einem gewissen Sinne müsste die Zukunft vorhersehbar sein, weil sie bereits in der Karte verzeichnet ist. Die Idee, dass sich unter den oberflächlichen Veränderungen des Alltags eine Dauer verbirgt, könnte, wie ich in Kapitel 5 darlegen werde, einst das Denken der meisten Menschen bestimmt haben. Doch auch in unserer höchst veränderlichen Welt wird sie von Philosophen und Wissenschaftlern sehr ernst genommen, weil die Auffassung von der Zeit als Fluss logische Probleme aufwirft, mit denen wir uns an späterer Stelle in diesem Kapitel beschäftigen werden.

Die eine Metapher legt den Schluss nahe, wir seien in die Zeit eingebettet, die andere, wir könnten möglicherweise über der Zeit stehen. Eine kürzliche Übersicht über die Zeitforschung hat diese beiden Auffassungen als »dynamisch« und »statisch« bezeichnet. Doch in der Philosophie spricht man in Anlehnung an einen sehr bekannten Artikel des britischen Philosophen J. Ellis McTaggart häufig von A‑Reihe und B‑Reihe der Zeit.11 Das ist Fachjargon, aber dieser Jargon ist bei Zeitphilosophen so verbreitet, dass wir uns vielleicht an ihn gewöhnen sollten.

In der Praxis gibt es weitgehende Überschneidungen zwischen den beiden Metaphern. Selbst McTaggart, der die Zeit als Illusion begriff, räumte ein: »Wir beobachten die Zeit nur dann, wenn sie beide Reihen bildet.«12 Eine Mischung dieser Metaphern finden wir in der sehr bekannten Zeitdefinition Sir Isaac Newtons. In Principia Mathematica, einem Hauptwerk der wissenschaftlichen Revolution, schreibt Newton: »Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig, ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand. Sie wird auch mit dem Namen: Dauer belegt.«13 Newtons Zeit »fließt« wie ein Fluss, aber sie ist auch absolut, und sie besitzt Ausdehnung oder »Dauer« wie eine Linie auf einer Karte.

Zeit als Fluss: Die Zukunft in der A‑Reihe

Um der Metapher, die die Zeit als Fluss darstellt, ein wenig ihre Abstraktheit zu nehmen, wollen wir Mark Twains jungen Helden Huckleberry Finn und seinen Freund Jim begleiten, während sie auf ihrem Floß den Mississippi hinabfahren:

In dieser zweiten Nacht trieben wir 7 oder 8 Stunden lang mit einer Strömung, die ’ne Geschwindigkeit von 4 bis 5 Meilen die Stunde hatte. Wir fingen Fische und schwatzten, und hin und wieder schwammen wir ’n bisschen, um nicht schläfrig zu werden. Uns wurde ganz feierlich zumute, wie wir so den großen, stillen Fluss runtertrieben, auf dem Rücken lagen und zu den Sternen raufsahen; wir mochten gar nicht laut sprechen und lachten auch nicht oft. Wir kicherten höchstens leise ’n bisschen. Wir hatten im Allgemeinen gutes Wetter, und weder in dieser Nacht noch während der nächsten oder der übernächsten passierte uns irgendwas.

Jede Nacht kamen wir an Städten vorbei; von denen manche weit drüben auf den schwarzen Hügeln lagen – nur ein funkelndes Beet von Lichtern, nicht ein Haus war zu erkennen. in der fünften Nacht kamen wir an St. Louis vorbei, und es schien, als wäre die ganze Welt erleuchtet. (…)

Ich schlich mich jetzt jede Nacht gegen 10:00 Uhr bei irgend ’nem kleinen Ort an Land und kaufte für zehn oder fünfzehn Cent Maismehl oder Speck oder irgendwas anderes zu essen, Und manchmal lupfte ich ’n Huhn, das auf der Stange nicht bequem saß, und nahm’s mit. (…) Morgens, bevor der Tag anbrach, schlich ich mich immer auf die Maisfelder und borgte mir ’ne Zuckermelone, ’nen Kürbis, ein bisschen jungen Mais oder irgendwas Ähnliches.14

Der Zeitfluss der A‑Reihe ist majestätisch wie der Mississippi. Das Treibgut eines ganzen Universums – jeden Stern und jede Galaxie, jedes Atom und jeden Käfer – trägt er in die Zukunft, so wie der Mississippi Flöße, Fischerboote, Kanus, Raddampfer und Treibholz mit sich führt. Unser Leben ist ein Teil dieses Flusses.

Huckleberry Finn und Jim leben in einer dynamischen, heraklitischen Welt, die sich ständig verändert, während ihr Floß sie in die Zukunft trägt. Zwar scheinen sich die Dinge zu ähneln, wie die Ortschaften, die sie bei Nacht passieren, doch die Einzelheiten verändern sich ständig. In der Philosophie verwendet man den Fachbegriff Passage, um das Gefühl der immerwährenden Veränderung zu beschreiben. In der Rubaiyat des Omar Chayyam aus dem 19. Jahrhundert ist dieses Gefühl der Passage sehr schön eingefangen:

O folgt dem alten Chayyam und überlasst das Reden den Weisen;

denn der Tod ist gewiss, magst du das Leben noch so preisen.

Nur das steht fest, der Rest wird sich als Lüg’ erweisen:

Der Blume, sobald sie verblüht, wird der Tod seine Macht beweisen.15

Als Zweites lehrt uns die Metapher vom Zeitfluss, dass die Zukunft sich in eine bestimmte Richtung bewegt. Von dem Ausgangspunkt in St. Petersburg, Missouri (Mark Twain dachte wahrscheinlich an seinen Heimatort Hannibal) trägt das Floß seine Passagiere flussabwärts. Die Zukunft liegt flussabwärts oder vor uns; oder unter uns, wenn Sie sich, wie viele Sprecher des Mandarin, die Vergangenheit als oben und die Zukunft als unten vorstellen; oder hinter uns, wie es einige Aborigines-Gemeinschaften in Australien oder Sprecher des Hawaiianischen sehen.16 Wo immer die Zukunft sein mag, sie liegt in einer anderen Richtung als die Vergangenheit.

Als Drittes lernen wir, dass die Zukunft verborgen ist. Bestenfalls erblicken wir eine Art Nebel, ohne die konkreten Einzelheiten, die Gerüche und Farben, die der Vergangenheit und der Gegenwart ihren unverwechselbaren Charakter verleihen. Huckleberry Finn kann sich an die Vergangenheit erinnern: wie er eine Zuckermelone »borgte« oder ein Huhn »lupfte«, »das auf der Stange nicht bequem saß«. Die Gegenwart ist flüchtig wie das gelegentliche »leise Kichern« in der Nacht. Doch während sie da ist, ist sie realer als alles andere. Nur jetzt können wir die Dinge empfinden – den Wind auf unseren Wangen, das Strömen eines großen Flusses, das Gewicht einer »geborgten« Melone oder den Geruch eines Holzfeuers. Wir erleben die Gegenwart so intensiv, dass einige Philosophen (»Präsentisten«) die Auffassung vertreten, sie sei die einzige Realität. Ich weiß noch, wie einmal der englische buddhistische Mönch Ariyasilo uns Zuhörern erklärt hat: »Die Vergangenheit ist vorbei, die Zukunft noch nicht da. Lauscht den Vögeln!«

In der A‑Reihe unterscheiden sich Vergangenheit und Zukunft grundlegend. Das folgende Diagramm lässt einige der Unterschiede erkennen. Im Jahr 2013 hat die Bank von England es erstellt, um Inflationsvorhersagen zu veranschaulichen. Abschnitte vor 2013 beschreiben die Vergangenheit. Sie basieren auf gesicherten Daten und bilden eine einzige Linie. Nach 2013 verschwinden die Einzelheiten, und die Datenpunkte fächern sich zu einem Möglichkeits- oder Wahrscheinlichkeitskegel auf, der rasch zu weit auseinanderklafft, um noch nützliche Informationen zu liefern. Nur drei Jahre in die Zukunft, und die Bank von England war nur noch zu der wenig hilfreichen Vorhersage fähig, dass 90 Prozent der wahrscheinlichen Ergebnisse in einem Bereich zwischen 0,5 Prozent Preisrückgang und einem Anstieg von fast 4,5 Prozent lagen. Obwohl nur durch den hauchdünnen Schleier des Jetzt getrennt, weisen Vergangenheit und Zukunft in der A‑Reihe große Unterschiede auf.

Abbildung 1.1: Durch die Bank von England erstelltes Fächerdiagramm der erwarteten Inflation, Mai 2013.

Der unschattierte Teil zeigt die Inflationsraten vor 2013. Sie sind bekannt. Rechts sehen wir einhundert wahrscheinliche Inflationswerte, ausgehend von der Annahme, es würden Bedingungen herrschen, die mit denen zur Zeit der Erstellung des Diagramms »identisch« seien. Die dunkleren Bereiche enthalten die nach Auffassung der Autoren wahrscheinlichsten Ergebnisse. Der Fächer zeigt, wie rasch die Vorhersagen zu weit auseinanderfallen, um noch brauchbare Vorhersagen zu liefern.

(Aus Kay und King, Radical Uncertainty, loc. 1625 Kindle.)

Besonders geheimnisvoll ist der Augenblick, in dem Vergangenheit und Zukunft aufeinandertreffen. Während wir auf unserem Floß flussabwärts fahren, haben wir den Eindruck, einer unabsehbaren gespenstischen Flotte von möglichen Zukünften entgegenzutreiben. Doch je näher sie kommen, desto mehr von ihnen lösen sich in nichts auf, und in dem Augenblick, da wir sie erreichen, verflüchtigt sich der Nebel, und nur noch eine einzige bleibt übrig. Die überlebende Zukunft wird zur überwältigenden Gegenwart, bevor sie in die Vergangenheit entweicht.

Das ähnelt ein wenig dem seltsamen Prozess, den man in der Quantenphysik als Kollaps der Wellenfunktion bezeichnet. Die vielen möglichen Positionen und Bewegungen von Millionen subatomarer Teilchen lassen sich mathematisch durch eine probabilistische Wellenfunktion beschreiben, die ein wenig wie die Inflationsvorhersagen der Bank von England aussehen. Doch misst man das System, brechen alle Möglichkeiten zu einer einzigen zusammen, ähnlich den Beschreibungen, die die Bank für vergangene Inflationsraten liefert. Genauso scheinen in der A‑Reihe mögliche Zukünfte zu einer einzigen zusammenzufallen, wenn sie uns erreichen. Wo aber sind jene anderen Zukünfte abgeblieben? Haben sie jemals wirklich existiert?

Abbildung 1.2: A‑Reihe: Das Cocktailglas

Die Hauptmerkmale der A‑Reihe lassen sich in einem Diagramm zusammenfassen, auf das wir im vorliegenden Buch noch mehrfach zurückkommen werden – den Zukunftskegel.17 Eine allgemeine Vorstellung von der Form der Zukunftskegel können wir gewinnen, wenn wir noch einmal zur Abbildung 1.1 zurückkehren, die die Vorhersagen künftiger Inflationsraten durch die Bank von England zeigt. Wir begradigen die Form, drehen sie um 90 Grad gegen den Uhrzeigersinn und erhalten ein Diagramm, das die Vergangenheit und die Zukunft enthält. Das Ergebnis ähnelt einem Cocktailglas, weil all unsere Informationen darauf schließen lassen, dass es nur eine Vergangenheit gibt, weshalb die Vergangenheit als eine einzelne Linie abgebildet ist, während die Zukunft sich in einen Kegel mit vielen Möglichkeiten auffächert.

Zeit als Landkarte: Die Zukunft in der B‑Reihe

Die Zukunft aus Sicht der A‑Reihe zu betrachten, fühlt sich in der heutigen Welt für die meisten Menschen richtig an. Aber es war nicht immer so. Zeitphilosophen und Anhänger traditioneller Religionen kennen eine zweite Zeit, die mehr einer Landkarte gleicht als einem Fluss. Das ist die Art, wie Götter die Zeit sehen. McTaggart nennt sie die B‑Reihe der Zeit.

Die B‑Reihe ist einfacher und geradliniger als die A‑Reihe. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind nicht so verschieden voneinander; sie sind nur Regionen auf einer Karte. »Jetzt« ist dort, wo Sie sich zufällig in diesem Augenblick befinden, während die Zukunft auf der einen Seite Ihres gegenwärtigen Aufenthaltsortes liegt. Ein anderer Beobachter wird Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft anders bestimmen, so wie sich ein Beobachter in New York den Westen anders vorstellt als ein Beobachter in Moskau. Es folgt ein Diagramm, das einige Merkmale der B‑Reihe darstellt. Als Erstes werden Sie vielleicht feststellen, dass es keinen Kegel gibt! Dieses Diagramm hat mehr Ähnlichkeit mit einem Wurm als mit einem Cocktailglas.

Betrachten Sie einen Terminkalender oder einen Stundenplan, und Sie haben das zeitliche Äquivalent einer Karte vor sich. Zahnarzt 9:45, Meeting 11:30, Abendessen mit Freunden 18:30. Der Terminkalender beschreibt eine Landschaft, in der Zukunft und Vergangenheit nur verschiedene Orte sind. Zudem suggeriert die Landkarten-Metapher natürlich, man könne die Zukunft kennen: Um 18:30 Uhr werde ich mich mit meinen Freunden treffen.

Abbildung 1.3: B‑Reihe

In der B‑Reihe wählt man den Blickwinkel des Nowhen, wie Huw Price es nennt, des Nirgendwann, in dem alle Zeitpunkte gleich sind.18 Das ist der Blick von oben auf die Karte. Stellen wir uns vor, wir flögen hoch über dem Mississippi und erblickten Huckleberry Finn und Jim auf ihrem Floß. Im Gegensatz zu den beiden empfänden wir zwar nicht den Schub der Strömung, aber wir könnten sehen, woher sie gekommen sind und wohin sie fahren. Für uns lägen die verschiedenen Teile ihrer Reise in einem einzigen Raum. Flögen wir hoch genug, könnten wir uns sogar eine Karte vorstellen, die alles enthielte, was es jemals im Universum gab oder jemals geben wird. Die Koordinaten dieser universellen Karte erfassten den gesamten Raum und die gesamte Zeit, von der tiefsten Vergangenheit bis zur fernsten Zukunft. Schließlich sähen wir einen riesigen, gefrorenen Klumpen, der aus allen Ereignissen, Geschehnissen, Leben und Todesfällen bestünde – das seltsame vierdimensionale Gebilde, das William James als »Blockuniversum« bezeichnete. Später nannte Einstein es »Raumzeitkontinuum«. Das Blockuniversum ist voller Objekte und Ereignisse. Dort ist der gegenwärtige Augenblick keine Besonderheit, weil jedes Ereignis, wie William James sagt, »unabhängig von der Frage, wann es stattfindet, uneingeschränkt und gleichermaßen real ist, genauso wie Ereignisse, die an anderen räumlichen Orten passieren, uneingeschränkt und gleichermaßen real sind«.19 Zwar drückte sich Augustinus nicht im modernen Fachjargon aus, doch scheint er die Überzeugung gehabt zu haben, Gott erblicke ein Blockuniversum. Denn er meinte, »daß (…) in der Ewigkeit nichts vorübergehe, sondern in ihr alles stets gegenwärtig sei«. Der Philosoph Simon Blackburn schreibt: »Alle Ereignisse – in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – existieren wie Fliegen im Bernstein und sind durch größere oder kleinere Entfernungen getrennt.«20

Daher sollten wir im Blockuniversum nicht um die Toten trauern oder uns um die Zukunft sorgen. Diesen Gedanken brachte Albert Einstein in einem Kondolenzbrief an die Familie seines alten Freundes Michele Besso zum Ausdruck: »Nun ist er mir auch mit dem Abschied von dieser sonderbaren Welt ein wenig vorangegangen. Dies bedeutet nichts. Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer, wenn auch hartnäckigen, Illusion.«21 Die außerirdischen Tralfamadorianer aus Kurt Vonneguts Schlachthaus 5 hätten diese Haltung gebilligt. Sie leben in vier Dimensionen, nach ihrer Auffassung kann niemand sterben, weil »alle Zeitpunkte, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft seit jeher existieren und immer existieren werden«. Ähnliche Auffassungen finden sich in vielen philosophischen und religiösen Lehren. Im 13. Jahrhundert schreibt der japanische Zen-Mönch Dogen: »Leben ist ein Ort in der Zeit. Tod ist ein Ort in der Zeit. Sie sind wie Winter und Frühling, und im Buddhismus sind wir nicht der Ansicht, dass Winter zum Frühling wird oder dass Frühling zum Winter wird.«22

Die B‑Reihe hat noch weitere seltsame Merkmale. Ohne ein festgelegtes »Jetzt«, in dem wir unsere Bilder von der Realität verankern können, sind wir auf die Vorstellung angewiesen, dass alles Ausdehnung in der Zeit wie im Raum besitzt, und daher nehmen wir die Idee von der Zeit als vierter Dimension ganz ernst. Wenn ich also auf Huck Finn und Jim hinabblicke, erscheinen sie mir möglicherweise nicht als bewegte Punkte, sondern als wurmartige Linien, die den Fluss Mississippi hinunterlaufen. Kurt Vonneguts Tralfamadorianer erblicken Menschen als riesige Tausendfüßler, »mit Baby-Beinen am einen Ende und Alte-Leute-Beinen am anderen«. Die Landkarten-Metapher stellt auch unser Gefühl infrage, wonach sich Veränderung nur in einer Richtung ereignen kann – von der Vergangenheit zur Zukunft. Auf einer Karte kann man sich in alle Richtungen bewegen, also warum nicht auch rückwärts oder vorwärts in der Zeit?

Trotzdem sind viele Philosophen und Wissenschaftler bereit, sich mit den Merkwürdigkeiten der B‑Reihe abzufinden, weil die A‑Reihe offenbar noch mehr philosophische und logische Rätsel aufgibt. Nehmen wir den Begriff des Jetzt, den Augenblick, der die Vergangenheit von der Zukunft scheidet. In der B‑Reihe ist er keine Besonderheit. Er ist einfach der Punkt, wo/wann Sie zufällig sind. In der A‑Reihe hingegen ist »jetzt« ein spezieller Ort, der sich von Vergangenheit und Zukunft wirklich unterscheidet. Sollten wir dann nicht in der Lage sein, ihn mit einer Linie zu umgeben? Wie lange dauert »jetzt«? Augustinus vertritt die Auffassung, »für die Gegenwart bliebe kein Raum«.23 Dieser Gedanke führt zu Paradoxa, die den griechischen Philosophen wohlbekannt waren. Wie kann etwas geschehen, wenn keine Zeit vorhanden ist, innerhalb deren es geschehen kann? Der Philosoph Zenon (495–425 v. Chr.) forderte seine Zuhörer auf, sich einen fliegenden Pfeil vorzustellen. In einem unendlich kleinen Augenblick kann er keine Entfernung zurücklegen. Folglich muss er in Ruhe sein. Gleiches gilt für den nächsten Augenblick und den Augenblick davor. Daher kann der Pfeil sich nicht bewegen. Die Idee von einem unendlich kleinen Abstand scheint weder philosophisch noch intuitiv zu funktionieren.

Was aber, wenn das Jetzt nicht unendlich klein ist? Vielleicht besteht die Zeit wie Materie und Energie aus Teilchen. Befreit uns das aus unserer misslichen Lage? Vielleicht gibt es kleinste Zeitteilchen, Chrononen, Zeitquanten. Dann entspräche ein Chronon der Zeit, die das Licht braucht, um die kleinstmögliche Länge im Raum zu durchqueren, rund 10–35 Meter. Natürlich kann unsere innere Erfahrung des Jetzt nicht so winzige Einheiten wahrnehmen. William James nannte das psychologische Jetzt »die trügerische Gegenwart«. Vermutlich dauert sie zwei oder drei Sekunden, die Zeit, die unser Geist braucht, um die vielfältigen Sinneswahrnehmungen zu einem einzigen Bild des Jetzt zusammenzufügen, denn unsere Wahrnehmungen hängen von neurologischen Prozessen ab, die Informationen von vielen Sensoren und Prozessoren verarbeiten und verknüpfen, fehlende Daten ergänzen und dies mit der nötigen Umsicht und Gründlichkeit tun.24 Wir erleben die Grenze zwischen Gegenwart und Zukunft als ein verschwommenes Gemisch aus Eindrücken, Bildern, Gedanken und Geräuschen. Doch wenn die Gegenwart nicht unendlich klein ist, dann müssen Teile von ihr wie flüchtige Cocktailspieße in die Zukunft und in die Vergangenheit hineinreichen. Lässt das die Vorstellung, Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit unterschieden sich voneinander, nicht unsinnig erscheinen? Die B‑Reihe der Zeit bewahrt uns vor diesen Paradoxa, weil sie das Jetzt nicht als Sonderfall behandelt.

Auf ein anderes Problem der A‑Reihe verweist Augustinus. Wo sind Vergangenheit und Zukunft, wenn wir in der Gegenwart sind, was in der A‑Reihe stets der Fall ist? »Oder sind auch diese und tritt etwa jene nur aus der Verborgenheit hervor, wenn aus der Zukunft die Gegenwart wird, und tritt diese etwa nur in die Verborgenheit zurück, wenn aus der Gegenwart die Vergangenheit wird?«25 Wir erleben nie alternative Zukünfte, sondern immer nur eine einzige Zukunft, die sich, sobald sie uns erreicht, schon in Gegenwart verwandelt hat. In welchem Sinne existieren dann alternative Zukünfte, bevor wir nur mit einem Mitglied ihrer Delegation zusammentreffen? Hat die Delegation überhaupt existiert? In der B‑Reihe sind Zukünfte nur Orte auf einer Karte, daher stellen sich diese Probleme nicht.

Das führt uns zu einem weiteren, sehr komplexen Problem. Wenn die Zeit fließt, stellt sich die Frage, wie rasch sie fließt. Huckleberry Finn maß die Strömung des Mississippi relativ zu den Ufern, an denen sie vorbeifloss, mit vier Meilen (6,4 Kilometern) pro Stunde. Können wir die Zeit messen? Nur wenn wir wissen, woran sie vorbeifließt. Newton erkannte, wie schwierig es war, die absolute Zeit, die er für das fundamentale Bezugssystem hielt – in unserem Beispiel die Ufer des Mississippi – von relativer Zeit zu unterscheiden. Newton erklärte den Begriff der absoluten Zeit, indem er sich der Theologie zuwandte, einem Gegenstand, über den er genauso lange und so gründlich nachdachte wie über die Physik. Seine Lösung lautete: Gottes Allgegenwart liefere den letztgültigen Rahmen für Raum und Zeit. Zwar distanzierte er sich später von dieser Idee, beschrieb aber zuvor das Universum als »unkörperliches, lebendes, intelligentes, allgegenwärtiges Wesen, das im unendlichen Raum wie in seinem Sensorium die Dinge selbst ganz unmittelbar schaut«.26

In der säkularen Welt der modernen Naturwissenschaft haben theologische Lösungen keine Gültigkeit mehr. Die Forscher des 19. Jahrhunderts versuchten, Newtons These von Gott als absolutem Bezugssystem der Wirklichkeit durch das Konzept des »Äthers« zu ersetzen, ein hauchdünnes Medium, das alle Energie und Materie umgebe und daher ein Maß für ihre Geschwindigkeit liefern könne. Vergeblich versuchte man den Äther nachzuweisen. Der bekannteste Versuch war das Michelson-Morley-Experiment aus dem Jahr 1887. Dabei ging man von der Annahme aus, dass die Lichtgeschwindigkeit gegen den Äther oder quer zu ihm langsamer sein müsste. Die Forscher erwarteten also, dass die Geschwindigkeiten zweier Lichtstrahlen, die sich im rechten Winkel zueinander bewegten, unterschiedlich sein müssten. Doch es ließ sich kein Unterschied feststellen. Damit hatten die Verfechter der A‑Reihe zwar einen Zeitfluss von der Vergangenheit in die Zukunft, aber nichts, an dem sie die Geschwindigkeit dieses Flusses messen konnten. In Kapitel 2 werden wir betrachten, auf welch revolutionäre Weise Einstein dieses Rätsel löste.

Determinismus, Kausalität und Zeitpfeil

Die B‑Reihe der Zeit vermeidet zwar die Paradoxa der A‑Reihe, wirft aber selbst zwei schwerwiegende Probleme des Zukunftsdenkens auf. Erstens, das Konzept des Blockuniversums legt den Gedanken nahe, dass die Zukunft vollkommen festgelegt sei und daher keine Entscheidungen mehr offenlasse. Das wäre das Ende von Willensfreiheit, Ethik und Moral. Zweitens, in der B‑Reihe scheinen Veränderungen keine eindeutige Richtung mehr zu haben. Das ist ein großes Problem für das Zukunftsdenken, denn es nimmt uns eines unserer mächtigsten Instrumente, die Zukunft vorherzusagen: die Überzeugung, dass wir, wenn A B verursacht, B in naher Zukunft voraussagen können, falls A eintritt. Treten Sie jetzt gegen einen Ball, und ich sage voraus, dass er sich in naher Zukunft bewegen wird. Diese Fragen zu Determinismus und Kausalität untergraben grundlegende Annahmen über unsere Strategien der Zukunftsbewältigung. Das ist ein hoher Preis für die Einfachheit der B‑Reihe.

Glücklicherweise gibt es auf diese Fragen gute Antworten, die uns unser intuitives Empfinden bewahren, dass wir (1) die Zukunft beeinflussen können, weil sie nicht vollkommen durch die Vergangenheit vorherbestimmt ist, und dass sie (2) keine verfrühten Wirkungen verursacht, weil sich viele Formen der Veränderungen nur in eine Richtung vollziehen: von der Vergangenheit in die Zukunft.

Einige der Argumente sind alt, aber ihre moderne Form verdanken sie einem grundlegenden Wandel des wissenschaftlichen Denkens, der sich Ende des 19. Jahrhunderts ergab, einem Wandel, der zu einer neuen wissenschaftlichen und philosophischen Wahrnehmung von Wirklichkeit und Zukunft führte. Vom 17. Jahrhundert bis Anfang des 20. Jahrhunderts erschien das Konzept des Determinismus den Wissenschaftlern und Philosophen so logisch wie verheißungsvoll. Sie hofften, man werde immer weitere mechanische Gesetze entdecken, die bessere Vorhersagen der Zukunft ermöglichen würden. Sie gingen davon aus, dass alle Ereignisse in einem mechanischen Universum, vom Tod der Sonne bis zu der Extratasse Kaffee, die ich heute Morgen trinke, seit dem Moment der Schöpfung vorherbestimmt waren / sind / sein werden. Diesen Determinismus hat Omar Chayyám poetisch verarbeitet:

Als unsern Lehm einst rührte Gottes Spaten,

Wusst’ er im Voraus alle unsre Taten.

Drum sünd’gen wir nicht, ohne dass er’s will,

Und dafür soll’n wir in der Hölle braten?.27

Wenn Omar Chayyám recht hat, ist alles Planen von möglichen Zukünften unsinnig. Die Würfel sind gefallen. Bedeutet also die B‑Reihe das Aus für die Idee des freien Willens, nebst allen unseren Vorstellungen über Verantwortung, Ethik und Moral? Die Antwort lautet … nicht unbedingt.

Die klassische neuzeitliche Definition des Determinismus stammt von dem bedeutenden französischen Naturwissenschaftler Pierre-Simon de Laplace. Laplace war ein brillanter Mathematiker, der in einem Zeitalter lebte, das von einem glühenden Glauben an die Macht der Wissenschaft beseelt war. Im Jahr 1814 legte er in der Schrift Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeit die Grundzüge des post-Newton’schen Determinismus dar.

Die gegenwärtigen Ereignisse stehen mit den vergangenen in einer Verbindung, die sich auf das evidente Prinzip gründet, dass ein Ding nicht anfangen kann zu sein ohne Ursache, die es hervorbringt (…). Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines früheren Zustandes und andererseits als die Ursache dessen, der folgen wird, betrachten. Eine Intelligenz, welche für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte, von denen die Natur belebt ist, sowie die gegenseitige Lage der Wesen, die sie zusammensetzen, kennen würde, und überdies umfassend genug wäre, um diese gegebenen Größen einer Analyse zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper wie die des leichtesten Atoms ausdrücken: nichts würde für sie ungewiss sein und Zukunft wie Vergangenheit ihr offen vor Augen liegen.

Allerdings räumte Laplace ein, dass der menschliche Verstand in der Praxis immer »unendlich weit« von dem Verstand eines solchen allwissenden Wesens geschieden sein werde.28 Unsere Unwissenheit werde die Illusion des freien Willens aufrechterhalten. Aber der freie Wille sei eine Illusion.

Das Argument ist alt. Zweitausend Jahre zuvor legte Cicero es seinem Bruder Quintus in seinem sokratischen Dialog über das Weissagen in den Mund. Quintus vertritt die stoische Annahme, dass »alles durch das Schicksal geschieht«, weil es eine »Verkettung aller Ursachen« gebe, wobei Ursache mit Ursache verknüpft sei und jede Ursache eine Wirkung hervorbringe. Daraus schließt Quintus wie Laplace, dass man die Zukunft vorhersagen könne. Was »künftig ist, tritt nicht plötzlich in die Wirklichkeit, sondern wie man ein Schiffstau abhaspelt, so entwickeln sich die Ereignisse im Verlaufe der Zeit, die nichts Neues hervorbringt und immer nur das ursprünglich Wahre, das von jeher Notwendige, zur Entfaltung bringt«.29

Extremer Determinismus bereitet Theologen und Philosophen seit jeher viel Kopfzerbrechen, weil er Menschen keine freie Wahl lässt; man kann sie für das, was sie tun, nicht zur Verantwortung ziehen, und das ist das Ende von Ethik und Moral. Für Theologen der abrahamitischen Religionen liegt das Problem in der Frage, wie sich die Idee menschlicher Willens- und Wahlfreiheit mit der Idee eines allmächtigen und allwissenden Gottes in Einklang bringen lässt. Wissenschaftler wissen dagegen nicht, ob die naturwissenschaftlichen Gesetze der individuellen Entscheidung oder dem Zufall irgendeinen Spielraum lassen.

Schon immer sind starke Argumente gegen den extremen Determinismus vorgebracht worden. In einer kritischen Auseinandersetzung mit Cicero vertritt Augustinus die Ansicht, Gott lasse uns trotz seiner Allmacht und Allwissenheit sehr wohl die freie Wahl. Er gebe uns diese begrenzte Freiheit, wisse aber aufgrund seines unendlichen »Vorherwissens« und der Fähigkeit, außerhalb der Zeit zu sein, schon vorher, wie wir von unserem freien Willen Gebrauch machen würden!30 Moderne Zeitphilosophen bringen ganz ähnliche Argumente vor. Das Blockuniversum sei real, sagen sie, aber es beruhe auf mechanischen Ursachen, auf generell vorhersagbaren Prinzipien und auf Ereignissen, die in dem Augenblick, da sie stattfänden, nicht vorhersagbar seien, wie es etwa bei Quantenereignissen oder Entscheidungen zweckbestimmter Wesen der Fall sei. Das Blockuniversum könne nur von Entitäten »gesehen« werden, die sich außerhalb des Zeitflusses befänden, beruhe aber in Teilen auf Entitäten, die in diesen Fluss eingebettet seien. Heute bezeichnet man die Theorie, wonach freier Wille und Determinismus miteinander vereinbar – kompatibel – seien, etwas fantasielos als Kompatibilismus.

Seit Laplaces Zeiten hat der extreme Determinismus selbst bei den Vertretern der exakten Naturwissenschaften, wie den Physikern, an Boden verloren. Der Wissenschaftsphilosoph Harry Laudan schreibt, Ende des 19. Jahrhunderts hätten die meisten Naturwissenschaftler die Hoffnung auf absolute Gewissheit aufgegeben. Stattdessen hätten sie sich »einem mehr oder minder bescheidenen Programm verschrieben: Theorien zu entwickeln, die plausibel, wahrscheinlich oder gründlich überprüft waren. Nach Ansicht von Pierce und Dewey stellt dieser Wechsel einen der großen Umbrüche in der Geschichte der Wissenschaftstheorie dar: den Verzicht auf die Suche nach Gewissheit.«31

Es gab mehrere Gründe für diesen tiefgreifenden Wandel der wissenschaftlichen Theorien über Erkenntnis, Wirklichkeit und Zukunft.

Philosophen zeigten, dass kein logisches System Sicherheit garantieren kann. Ein Beispiel lieferte Bertrand Russell mit dem scheinbar einfachen Satz: »Diese Aussage ist falsch.« Wenn sie falsch ist, kann sie nicht wahr sein. Wenn sie wahr ist, muss sie falsch sein. In den 1930erJahren belegte Kurt Gödel mit seinem »Unvollständigkeitssatz« die Auffassung, es müsse in allen logischen Systemen Aussagen geben, die sich weder beweisen noch widerlegen lassen. Laut Alan Turing lässt sich in der Informatik das Verhalten von Computerprogrammen unmöglich vorhersagen.32 In neuerer Zeit hat der Schweizer Mathematiker Nicolas Gisin gezeigt, dass sich womöglich selbst in der Welt der Zahlen keine absolute Genauigkeit erzielen lässt.33

Anfang des 20. Jahrhunderts untergrub die Quantenmechanik den Determinismus in der Physik, indem sie nachwies, dass viele Ereignisse subatomarer Größenordnung prinzipiell unvorhersagbar sind. Richten Sie einen Lichtstrahl auf eine Platte mit zwei Löchern und versuchen Sie vorherzusagen, welches Loch ein gegebenes Photon durchqueren wird. Es wird Ihnen nicht gelingen. Daraus folgt, so der Physiker Richard Feynman: »Die Zukunft lässt sich nicht vorhersagen.«34 Wirklich und wahrhaftig! Es liegt also nicht bloß an unserer Unwissenheit. Heute wird die Physik in ihrer Gesamtheit von diesen Ungewissheiten heimgesucht. Der Umstand, dass unser Universum aus nicht vorhersagbaren subatomaren Teilchen besteht, die zu unzähligen unterschiedlichen Gebilden organisiert sind, ist ein schwerwiegender Einwand gegen Laplaces extremen Determinismus. Zweifellos gibt es allgemeine Gesetze und Trends, doch sie können die Zukunft nicht im Detail bestimmen, so dass sie perfekte Vorhersagen grundsätzlich ausschließen.

Auch die Chaostheorie ist ein Anlass, die Hoffnung auf vollkommene Vorhersage abzuschreiben. Anfang der 1960er-Jahre entdeckte der Meteorologe Edward Lorenz, dass unscheinbare Unterschiede in den Ausgangsbedingungen komplexer Systeme wie dem des Wetters Prozesse auslösen können, die zu vollkommen verschiedenen Ergebnissen führen. Scheinbar winzige Unterschiede können durch positive Rückkopplungsschleifen um ein Vielfaches vergrößert werden. Das ist der sogenannte Schmetterlingseffekt, benannt nach der Lorenz’schen Metapher, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings irgendwo auf der Erde sich zu einem Hurrikan anderswo auswachsen könne. Die COVID‑19‑Pandemie zeigt, dass durch die Veränderungen am Genom eines einzelnen Virus, so klein, dass es nur unter einem Mikroskop zu erkennen ist, ein Geschehen ausgelöst wurde, das die Welt veränderte.

Eines der stärksten Argumente gegen den strengen Determinismus liefert die Evolutionsbiologie. Wenn die Zukunft so exakt vorherbestimmt wäre, warum produzieren die Evolutionsprozesse dann so viele Geschöpfe (einschließlich unserer selbst), die offenbar versuchen, in die Ereignisse einzugreifen? Warum wird so viel evolutionäre Energie in die Entwicklung von Entscheidungsmechanismen investiert, wenn es doch gar keine Entscheidungen zu treffen gilt? (Mit einigen dieser Entscheidungsmechanismen werden wir uns in späteren Kapiteln beschäftigen.) Auch dieses Argument hat weit zurückreichende Ursprünge. In Boethius’ Schrift Trost der Philosophie, die vor 1500 Jahren entstand, als ihr Autor im Gefängnis saß, fragt die Dame Philosophie, ob der Ausgang eines Wagenrennens vorherbestimmt sein könnte. »Keineswegs«, antwortet Boethius, »umsonst wäre nämlich die Wirkung der Kunst.«35 Genau. Warum sollte Gott den Menschen die Fähigkeit geben, kluge Entscheidungen zu treffen, wenn er den Verlauf des Rennens längst festgelegt hätte?