Zum Fliegen geboren - Roland Greis - E-Book

Zum Fliegen geboren E-Book

Roland Greis

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Beschreibung

Ein selbstbestimmtes Wachstum setzt voraus, dass man die Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten der eigenen Entwicklung begreift, damit Erziehung und Selbsterziehung dem in jedem Menschen ruhenden Potenzial zur Entfaltung verhelfen können. Was braucht ein Kind, um sich gesund zu entwickeln? Wie kann der Erwachsene sein eigenes geistiges Wachstum in die Hand nehmen? Wie kann der Einzelne zum Förderer gesellschaftlichen Fortschritts werden? In 19 Kapiteln, die jeweils durch kurze Erzähltexte eingeleitet werden, entwickelt der Autor grundlegende Prinzipien einer am geistigen Wesen des Menschen orientierten (Selbst-) Erziehung, die durch zahlreiche praktische Anregungen ergänzt werden.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 199

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Roland Greis

Zum Fliegen geboren

Erziehung und selbstbestimmtes Wachstum

© 2021 Roland Greis

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-24292-0

Hardcover:

978-3-347-24293-7

e-Book:

978-3-347-24294-4

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Für Katrin, Robin, Kian und Jan,

von denen ich viel gelernt habe

INHALT

Vorbemerkung

1. Das Streben nach Vervollkommnung

2. Wertschätzung und Ermutigung fördern Wachstum

3. Entscheidungsfreiheit oder Die Bedeutung der selbständigen Suche nach Wahrheit

4. Das Erkennen geistiger Gesetze: Das Tor zur Freiheit

5. Die Einheit von Körper, Seele und Geist

6. Das Prinzip der Kreativität

7. Selbsterkenntnis und Selbstvertrauen

8. Der Mensch als Gestalter seines Schicksals

9. Dankbarkeit, Bescheidenheit und Demut

Ich hatte einen Traum

10. Das Lebensprinzip der Gerechtigkeit

11. Polarität und Steigerung: Die Bedeutung des Gegensatzes für die Entwicklung

12. Das Prinzip der Beratung

13. Entwicklung beginnt bei mir selbst

14. Loslösung von materiellen Bindungen: Entwicklung der Geistigkeit

15. Das Prinzip des Dienens: Selbstüberwindung und Selbstentwicklung

16. Standhaftigkeit und Geduld in Prüfungen

17. Die Fähigkeit bedingungslos zu lieben

18. Es ist genug für alle da

19. Die Vision von der Einheit der Menschheit

Literaturhinweise

VORBEMERKUNG

Dieses Buch ist ein Versuch, einige der Prinzipien und Entwicklungsgesetze zu beschreiben, nach denen sich menschliches, das heißt vor allem geistiges Wachstum vollzieht. Wer diese Zusammenhänge versteht, kann zum bewussteren Gestalter der eigenen Entwicklung werden und auch die anderer Menschen positiv beeinflussen.

Die ersten Kapitel sollen vor allem Eltern helfen, das Wunder der Entwicklung ihres Kindes mit Verständnis zu begleiten und zu unterstützen. Was am Beispiel kindlicher Reifung erläutert wird, ist aber auch anwendbar auf die Situation des Erwachsenen, denn die gleichen Gesetzmäßigkeiten gelten für ihn.

Der enge Zusammenhang zwischen Erziehung und Selbsterziehung wird dadurch begründet. Nur wenn und in dem Maße wie wir als Erzieher unser eigenes Verhalten durchschauen und steuern können, werden wir die Entwicklung der nachwachsenden Generation positiv beeinflussen.

Die einzelnen Kapitel bauen aufeinander auf. Da die Entwicklung menschlicher Fähigkeiten ein organischer Prozess ist, der sich mit dem Begriff der Vernetzung erfassen lässt, werden in den einzelnen Kapiteln auch immer wieder Bezüge zu anderen Abschnitten hergestellt, um Wechselwirkungen aufzuzeigen. Dadurch ist es möglich, Teile des Buches auch unabhängig voneinander als Orientierungshilfe zu verwenden.

Die 19 Kapitel werden jeweils durch einen Text eingeführt, der auf einer bildhaft-symbolischen Ebene einen ganzheitlichen Zugang zum Verständnis eröffnen soll.

Dieses Buch versucht nicht Rezepte zu liefern, nach denen sich geistiges Wachstum automatisch ereignet. Dies würde dem Wesen seines Gegenstandes widersprechen. Ein besseres Verstehen der Lebensgesetze ist die Voraussetzung für ihre Verwirklichung im aktiven Handeln, bei der Erziehung und Selbsterziehung. Wieweit dies gelingt, wird vom bewussten und ausdauernden Bemühen des Einzelnen, von seiner Kreativität und Willenskraft abhängen.

Ich habe versucht einen Weg zu beschreiben und einige Wegweiser anzubringen und hoffe, damit Türen zu öffnen und Mut zu machen, dass es sich lohnt, sich auf den Weg eines selbstbestimmten Lebens zu begeben.

Roland Greis

 

O Sohn des Geistes!

Edel erschuf Ich dich, du aber hast dich selbst erniedrigt. So erhebe dich zu dem, wozu du erschaffen wurdest.

Baha´ ´ u´lláh

Verborgene Worte, arabisch 22

 

Er ist dreieinhalb Jahre alt. Ein Tag im Sommer. Aus dem Vorgarten dringen merkwürdige Geräusche.

Es klingt wie Anfeuerungsrufe, unterbrochen von Lauten der Enttäuschung. Ich gehe nachsehen. Er springt immer wieder hoch, schlägt bei jedem Satz mit den Armen. Er ist nackt. In seinem Po steckt eine Truthahnfeder. Bei jedem Sprung wippt sie auf und ab. „Warum machst du das?“ „ Weil ich fliegen will!“

1

DAS STREBEN NACH VERVOLLKOMMNUNG

Wer die Entwicklung eines Kleinkindes beobachten konnte, ist fasziniert von der ungeheuren Energie, mit der neugeborene Menschen den Prozess ihrer Entwicklung ergreifen. Sie können fast nichts, wenn sie auf die Welt kommen. Außer dem Greif- und dem Saugreflex und der Fähigkeit, Mangelgefühle durch Schreien auszudrücken haben sie eine Fähigkeit, die aus dem hilflosesten aller Geschöpfe das werden lässt, was die einzigartige Stufe des Menschen ausmacht: Den Drang zu lernen und sich selbst zu vervollkommnen.

So stark ist dieser Trieb, dass Kinder, die man hindert, ihm zu folgen, verkümmern und sterben, selbst wenn sie mit physischer Nahrung ausreichend versorgt werden. Dies kann man nur verstehen, wenn man den Menschen als geistiges Wesen erkennt. Seine Geistigkeit drückt sich in der Sehnsucht nach Weiterentwicklung aus, einer Entwicklung, die ihn schrittweise über die Stufe des Tieres hinaushebt. Das Ziel dieses Dranges ist ihm nicht bewusst, aber dennoch läuft die Entwicklung immer nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten ab.

Zunächst werden motorische Fähigkeiten geübt, das Greifen, Sichdrehen, Robben, Sitzen, Sichaufrichten und schließlich das Gehen. Erst wenn durch unermüdliches Wiederholen dies beherrscht wird, beginnt das Kind sich die Sprache zu erobern. Das körperliche Begreifen geht dem geistigen voraus.

Aufgabe der Erzieher ist es, diesen Gesetzmäßigkeiten Rechnung zu tragen und das Kind bei der Absolvierung seines Lernprogrammes zu unterstützen. Zwei Dinge braucht ein Kind: Feste Bezugspersonen, die ihm das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen geben und eine Umgebung, die seinem Lerndrang entspricht. Vor allem braucht es Raum für seine nur von Schlafpausen unterbrochenen Aktivitäten. Wer Kinder, statt sie ihre Welt selbst erobern zu lassen, frühzeitig vor den Fernseher setzt und damit zu passivem Konsum verurteilt, lähmt damit ihre Entwicklungsenergie. Das Ergebnis sind unzufriedene, häufig aggressive Kinder, die es immer mehr verlernen, selbständig aktiv zu werden und Befriedigung von außen statt von innen herzustellen suchen. Planloses Konsumverhalten und eine größere Empfänglichkeit für Suchtmittel werden so eingeübt.

Man kann das Streben nach Vervollkommnung als eine zielgerichtete Kraft verstehen, die sich nicht ungestraft behindern und eindämmen lässt. So wie ein Fluss dem Meere zustrebt und Hindernisse beiseite räumt oder sich einen neuen Lauf bahnt, so sucht sich auch die Entwicklungsenergie eines Menschen andere Wege, wenn man sie hindert in der ihr gemäßen Weise tätig zu sein. Wird die geistige Natur eines Menschen missachtet, so verwandelt sie sich oft in ein destruktives oder selbstzerstörerisches Potential.

Die geeignete Erziehung gibt dem Kind die geistige Nahrung, die seine sich entfaltende Seele braucht, um sich im Einklang mit den Gesetzen der Schöpfung zu entwickeln. Fehlt diese Nahrung, so gerät das geistige Streben leicht auf Irrwege, es verkümmert und richtet sich auf andere Gegenstände, meist auf materielle Dinge. Machtgier und Habsucht, blinder Egoismus sind die späten Früchte solch fehlgeleiteter Entwicklung. Das Streben nach Höherentwicklung versandet im Wunsch nach mehr.

Der Wunsch zu verstehen erwacht bei Kindern, sobald sie in der Sprache eine Möglichkeit gefunden haben, ihre Wahrnehmungen begrifflich zu fassen. Das Verstehenwollen ist dabei eng verknüpft mit dem Drang zur Tat, aus dem sich ja das Begreifen im Doppelsinne entwickelte. Unermüdlich können Kinder mit neuen Gegenständen arbeiten, bis sie ihre Gesetzmäßigkeiten erfasst haben und damit umgehen können. Eine kindgerechte Erziehung trägt dem Drang zum Experimentieren Rechnung. Sie gibt dem Kind Spielsachen, eigentlich Arbeitsmaterial, das in seiner Funktion begreifbar ist.

Am ungeeignetsten sind Gegenstände, die auf Knopfdruck ein Programm abspulen und das Kind zur Passivität verurteilen. Aktivität ist das Geheimnis jeder Weiterentwicklung, passiver Konsum der Anfang aller Abhängigkeit. Das beste Spielzeug ist daher einfach aber vielseitig verwendbar. Es fordert die Phantasie und fördert das Entdecken immer neuer Verwendungsmöglichkeiten.

Die zweite Hauptquelle geistigen Wachstums ist das Verhalten der Erzieher. Sie müssen vor allem glaubwürdig sein, das heißt ihre Worte und Taten dürfen nicht im Widerspruch stehen. Kleine Kinder lernen vor allem durch Nachahmung. Was die Erzieher tun, hat daher eine weit größere Wirkung als das, was sie sagen. Erziehung setzt beim Erzieher Selbsterziehung voraus. Denn die Erzieher können sicher sein, dass alle ihre Schwächen genauso auf ihre Kinder wirken wie ihre positiven Eigenschaften.

Vertrauen entsteht, wenn das Kind den Erwachsenen auch in seinem Ringen um Selbsterziehung erlebt. Dies fordert vom Erwachsenen vor allem die Fähigkeit, Fehler zugeben zu können und beheben zu wollen. Die Angst Fehler zu machen und die Angst Fehler zuzugeben sind zwei Haupthindernisse jeder Entwicklung. Versuch und Irrtum, Einsicht und neuer Versuch sind die Schritte, in denen Entwicklung sich vollzieht. Nachhaltiges Lernen findet da statt, wo das Kind, aber auch der Erwachsene die Möglichkeit hat, aus eigener Praxis Schlüsse zu ziehen. Der Versuch einem Kind Erfahrungen vorzuenthalten und es stattdessen mit Erklärungen abzuspeisen, die sein Begriffsvermögen übersteigen, ist immer kontraproduktiv.

Geistiges Wachstum lebt von Herausforderungen. Weise Erzieher geben Aufgaben, die schwieriger sind als das bisher Beherrschte aber nicht so kompliziert, dass sie das Durchhaltevermögen überfordern. Vor allem aber nehmen sie eine Haltung dem Kind gegenüber ein, die dieses in seinen Bemühungen bestätigt.

Kindern ist oft nicht bewusst, warum sie etwas tun. Sie folgen einem unsichtbaren Entwicklungsplan und gehen dabei instinktiv pädagogisch vor, indem sie sich schrittweise Fertigkeiten aneignen. Dabei brauchen sie nur Anregungen, aber kein festgelegtes Schulungsprogramm, das sie einengt. Sie müssen selbst wählen können, welche Schritte sie in welcher Reihenfolge angehen. So bleibt die Lust am Tun erhalten.

Das gleiche Prinzip ist auch auf die Selbsterziehung Erwachsener übertragbar. Schwächen in Stärken zu verwandeln fällt leicht, wenn man sich Pläne macht, in welchen Einzelschritten man ein Ziel erreichen will. Wer die einzelnen Etappen vor Augen hat, wird leichter den Mut aufbringen, sich auf den Weg zu machen. Wer immer auf die Gesamtentfernung starrt, die vom Ziel trennt, wird schnell mutlos. Auch hier sollten die Einzelaufgaben so begrenzt sein, dass sie in einem dem augenblicklichen Durchhaltevermögen angepassten Zeitraum erfüllt werden können. Wer ein Brot essen will, wird nicht versuchen, es als Ganzes hinunter zu schlingen, sondern Bissen für Bissen in Angriff nehmen und dadurch genießen können.

Freude an der Bewältigung von Aufgaben ist in jedem Alter das wichtigste Mittel zur Selbstmotivation. Geht sie verloren, was im Alltag nicht selten geschieht, so bedarf es großer Willensanstrengungen. Willenskraft aber kann man planmäßig stärken. Durch regelmäßiges tägliches Üben wird es immer leichter, sich zu überwinden. Regelmäßigkeit ersetzt Anstrengung. In diesem Satz steckt das Geheimnis der Willensbildung und damit der Schlüssel zum Erfolg. Wer etwas in regelmäßigem Rhythmus tut, wird schnell erfahren, dass es ihm immer leichter fällt. Nichts stärkt den Willen mehr als tägliches, möglichst lustvolles Bemühen um erreichbare Teilziele. Dadurch lernt schon das Kind eine der Quellen der Zufriedenheit kennen: Es erfährt den Zusammenhang zwischen Bemühung und ihren Früchten.

Besonders beim Erlernen eines Musikinstrumentes oder anderer künstlerisch-kreativer Tätigkeit wird dieser Zusammenhang vom Kind erlebt: Die Erkenntnis, dass regelmäßiges Üben erstaunliche Früchte trägt. Es überrascht daher nicht, dass künstlerisch tätige Kinder und Jugendliche meist auch bessere Schulleistungen erbringen. Sie haben gelernt, dass Fähigkeiten in Kleinarbeit erworben werden müssen und dass dem Lohn die Arbeit vorausgeht.

 

Betrachte den Menschen als ein Bergwerk, reich an Edelsteinen von unschätzbarem Wert. Nur die Erziehung kann bewirken, dass es seine Schätze enthüllt und die Menschheit daraus Nutzen zu ziehen vermag.

Baha´ ´u ´lláh

Ährenlese, S. 227

Der Mensch ist sowohl menschlich als auch göttlich. Das Göttliche in ihm ist ewigwährend und von unendlichem Wert. Das Menschliche ist vergänglich, das Göttliche unvergänglich. Das Gute in ihm kommt von

Gott.

Taoismus

Gott schuf den Menschen, auf dass dieser Ihn auf Erden vertrete. Der Mensch ist Gottes Stellvertreter auf Erden.

Islam

 

Er war nie ein guter Schüler gewesen. Seine Deutscharbeiten waren immer so, dass es langer Überlegung bedurfte, sie noch ausreichend zu nennen. Manchmal half auch das längste Nachdenken über ihre möglichen Vorzüge nicht. Ich konnte seine Enttäuschung körperlich spüren, wenn er so eine Arbeit zurückbekam. Dann wurde die letzte Arbeit vor den Zeugnissen geschrieben, die Arbeit, von der seine Versetzung abhing.

In der Stunde davor hatte ich plötzlich eine Idee. Vor der Klasse sprach ich ihn an: „Ich wette, dass du die nächste Arbeit gut schreiben wirst.“ Er schaute mich an, als habe er sich verhört. Ich wiederholte den Satz und sah ihm in die Augen. Er lächelte ein wenig verlegen, aber er sah mich an. Die Arbeit, die er am nächsten Tag schrieb, hatte nur an einem Punkt eine Schwäche in der Argumentation. Ich verglich sie lange mit den anderen, um nicht meiner eigenen Prophezeiung auf den Leim zu gehen. Aber sie war eindeutig eine der besten, eine wirklich gute Arbeit.

2

WERTSCHÄTZUNG UND ERMUTIGUNG FÖRDERN WACHSTUM

In allen Hochreligionen wird der Mensch als Ebenbild Gottes gesehen. Das bedeutet eine ungeheure Ermutigung, aber auch eine Verpflichtung. Wenn ich erkenne, dass jeder Mensch unbegrenzte Möglichkeiten der Weiterentwicklung hat, fällt es leichter ihm gegenüber eine Haltung der Wertschätzung einzunehmen. Gleichzeitig wird es schwerer, die eigenen Unzulänglichkeiten als Rechtfertigung anzusehen, nichts daran zu ändern. Selbsterziehung wird zur Verpflichtung und dringenden Aufgabe. Erziehung kann als Beitrag verstanden werden, ein menschliches Wesen nicht nur auf das Leben in der Gesellschaft vorzubereiten, sondern auch ihm die Möglichkeit zu geben, sein in ihm liegendes Potential zu entfalten.

Alle Hochreligionen betonen die Unsterblichkeit der Seele. Dieser Gedanke ist eng verknüpft mit dem der Weiterentwicklung. Eine Entwicklung, die an ihrem Höhepunkt mit ihrer Auslöschung im Tod endete, wäre absurd. Eine solche Vorstellung, wie sie atheistischen Denkmodellen zugrunde liegt, kann das menschliche Leben nur als sinn- und zwecklos ansehen. Jede Bemühung um Entwicklung wäre unter dieser Voraussetzung nutzlos. Ist die Seele aber unsterblich, so macht Entwicklung Sinn. Selbst wenn ich nur egoistische Motive habe, folgt daraus, dass ich mich um Fortschritt bemühe, denn dieser kommt mir selber zugute. Und zwar nicht erst im Jenseits. Denn in der menschlichen Entwicklung ist Bemühen die Wurzel am Baum des Lebens, der die Früchte des Glücks und der Zufriedenheit trägt. Ich muss etwas tun, damit das Gesetz des Wachstums Früchte hervorbringen kann. Und der Mensch, der sich im Diesseits bemüht, Gott ähnlicher zu werden, trägt dazu bei, bereits diese Welt in einen Ort zu verwandeln, in dem der Geist der Verbundenheit spürbar wird.

Betrachtet man die Art und Weise, wie sich Entwicklung vollzieht, so wird erkennbar, dass sie Gesetzmäßigkeiten folgt. Wachstum bleibt oft lange Zeit unsichtbar, bis es sich in einem qualitativen Sprung bemerkbar macht. Ein Topf mit Wasser muss lange Zeit erhitzt werden, bis das Wasser plötzlich zu sprudeln beginnt und sich in Dampf verwandelt. Im Bereich geistigen Wachstums, bei der Entwicklung menschlicher Fähigkeiten, wird durch wiederholtes Üben die Grundlage für den Sprung auf eine höhere Stufe gelegt. Wer dieses Gesetz nicht kennt, verliert oft zu früh die Geduld und gibt auf. Lange Zeit scheint das Üben keine sichtbaren Fortschritte zu bringen und man beginnt am Sinn der Übung zu zweifeln. Dann plötzlich und unerwartet ist die mühsam erworbene Fähigkeit verfügbar.

Wenn ein Kind gehen lernt, kann man das Glücksgefühl, das eine neue Fähigkeit auslöst, sichtbar erleben. Es gibt keine stärkere Motivation für die Arbeit an sich selbst als dieses Gefühl im doppelten Sinne gewachsen zu sein. Ermutigung verstärkt dieses Gefühl und gibt in der Phase übender Bemühung den Mut durchzuhalten, bis das Ziel erreicht ist. Ermutigung vermittelt das Vertrauen in die Fähigkeit, sich selbst zu entwickeln und zu vervollkommnen. Ein Kind dieses Vertrauen gewinnen zu lassen ist das größte Geschenk, das Eltern geben können. Dieses Selbstvertrauen ist ein wesentlicher Bestandteil der Menschenwürde.

Sogenannte Versager sind nicht Menschen mit geringeren Fähigkeiten, sondern meist solche, die häufig Entmutigung erfahren haben, bis sie daran zu glauben begannen, dass sie nichts fertig bringen. Versager werden erzogen und zwar durch Eltern, die ihre Kinder vor jedem möglichen Schaden und Irrtum zu bewahren versuchen und ihren Kindern nichts zutrauen. Sie werden erzogen von Eltern, die ihr Kind gering schätzen, es für ein unfähiges, hilfloses Wesen minderer Qualität halten. Der Gedanke, dass Kinder erst zu Menschen gemacht werden müssen, hat ganze Generationen an der Entfaltung ihres Potentials gehindert und hierarchischen Strukturen den Schein des Natürlichen, des Lebensnotwendigen gegeben. Blinder Gehorsam, Unselbständigkeit, Unterordnung, Selbstverachtung und Aggressivität sind die zweifelhaften Tugenden, die solches Denken hervorbringt.

Erkennt man den Menschen als „ein Bergwerk reich an Edelsteinen“, als eine „Schatzkammer“ göttlicher Eigenschaften, so ist man gezwungen, die alten Vorstellungen von Erwachsensein und Kindsein in Frage zu stellen. Junge und alte Menschen werden wahrnehmbar als Wesen, die auf unterschiedlichen Gebieten und in verschiedenem Maße Fähigkeiten entwickelt haben, als Wesen, die Achtung und Wertschätzung verdienen und brauchen, um sich optimal entwickeln zu können. Und plötzlich können beide Seiten, Jung und Alt, von dieser veränderten Sicht profitieren. Eine Jugend, die sich anerkannt und ernst genommen fühlt, hat es nicht mehr nötig, sich gegen ein Alter aufzulehnen, das als Quelle der Ermutigung erfahren wird. Der Generationenkonflikt, das Produkt eines hierarchischen Denkens, wird lösbar.

Welche Bereicherung für alle Beteiligten, wenn man sich gegenseitig nicht mehr als Problem, sondern als Impulsgeber sehen kann! Jugend kann vom Alter eine tiefere Einsicht in die Gesetze des Lebens erfahren, die Älteren können von der Jugend wieder lernen, die Welt mit neuen Augen zu betrachten und mit kreativer Unbekümmertheit an Probleme heranzugehen und eingefahrene Denkmuster zu überwinden.

Gegenseitige Ermutigung und Wertschätzung sind die Früchte eines Menschenbildes, das den Menschen als Ebenbild Gottes sieht, als ein Wesen, ausgestattet mit einer unsterblichen Seele, die in alle Ewigkeit unterwegs ist auf dem Pfade der Selbstvervollkommnung und die ihre Zeit nutzt, um Fähigkeiten zu entwickeln, die ihr auch nach diesem irdischen Aufenthalt von Nutzen sein werden.

So wie der Embryo bereits im Mutterleib Gliedmaßen und Sinnesorgane ausbildet, die erst nach seiner Geburt zur vollen Entfaltung kommen und ihren Sinn erhalten, so können wir dieses Leben als eine Phase betrachten, in der wir geistige Eigenschaften entwickeln, die bereits hier und jetzt unser Dasein reicher machen, deren wahrer Sinn aber erst erfahrbar sein wird, wenn wir die Schwelle zu geistigen Welt überschritten haben.

 

Wache über dich selbst und folge nicht den Fußstapfen dieser Leute! Denke sorgfältig nach über die Sache deines Herrn. Strebe danach, Ihn durch Sein eigenes Selbst und nicht durch andere zu erkennen.

Baha´ ´u ´lláh

Ährenlese 76:9

 

Er ist neun Jahre alt. Morgens war er nur kurz in der Küche, um sich etwas zu essen zu holen. Als er zur Mittagszeit noch immer nicht aus seinem Zimmer kommt, gehe ich hinunter. Der Boden ist bedeckt mit elektronischen Einzelteilen, von denen ich nichts verstehe. Dazwischen eine Laubsäge, Sperrholzteile und Solarzellen. „Was machst du da eigentlich?“ „Ich baue eine solargetriebene Hebevorrichtung.“ „Und du meinst, dass du das hinkriegst?“ Er nickt ohne aufzuschauen. „Also, ich kann mir nicht vorstellen, wie das funktionieren soll.“ „Wart´s ab.“ Mein gut gemeinter Rat, der ihn vor Enttäuschung bewahren sollte, wird ignoriert. Glücklicherweise.

Irgendwann am Nachmittag holt er sich das inzwischen kalte Mittagessen. Gegen zehn Uhr abends, es sind Ferien, das erste Lebenszeichen. „Ihr könnt jetzt runterkommen!“ Gespannt betreten wir das Zimmer. In der rechten Hand hält er eine merkwürdige Konstruktion. Mit der Linken richtet er das Licht der Nachttischlampe auf die Solarzellen. Der Elektromotor macht ein leises Geräusch, der vordere Hebelarm bewegt sich im Gelenk abwärts. Er setzt die Lampe ab, hängt ein Gewicht in den Haken am Ende des Holzarms, hält das Licht wieder über die Solarzelle und der Arm hebt das Gewicht in die Höhe.

„Und was sagt ihr jetzt?“ Wir sind sprachlos. Er hat seit acht Uhr morgens vierzehn Stunden fast ohne Unterbrechung an seiner Erfindung gearbeitet. Auf dem Teller sind noch Reste des Mittagessens. Dafür war noch keine Zeit. Am Boden liegen mehrere zerbrochene Holzstücke und Gelenkteile aus Draht, Zeugen fehlgeschlagener Versuche.

3

ENTSCHEIDUNGSFREIHEIT ODER DIE BEDEUTUNG DER SELBSTÄNDIGEN SUCHE NACH WAHRHEIT

Jeder Mensch ist einzigartig. Deshalb kann Erziehung kein schematischer Prozess sein, in dem mit gleichen Maßstäben gemessen und nach immer den selben Rezepten verfahren wird. Erziehung erfordert Flexibilität und Einfühlungsvermögen, die Fähigkeit auf unerwartete Situationen angemessen zu reagieren.

Dennoch gibt es einige psychologische Grundgesetze, deren Kenntnis schwere Fehler vermeiden hilft.

Eines davon besagt, dass die menschliche Einzigartigkeit zu ihrer Entfaltung Entscheidungsfreiheit benötigt. Erzieher, die das sich entfalten wollende Kind in ein Korsett elterlicher Vorstellungen und Wünsche zu pressen versuchen, werden gerade das Potential der Einzigartigkeit zunichte machen und die Menschheit einer unwiederbringlichen Chance der Bereicherung berauben. Aus diesem Grund haben Zeitalter, in denen feste Vorstellungen herrschten, wie jeder Mensch zu sein habe und Erziehung als dogmatische Zwangsvollstreckung stattfand, sich als so außerordentlich unfruchtbar in Hinblick auf neue Ideen gezeigt.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Das Kind braucht einen festen Rahmen, Grenzen, die es hindern, sich selbst oder anderen Schaden zuzufügen. Aber diese Grenzen dürfen nicht so eng gezogen werden, dass sie eine Entfaltung seiner einzigartigen Kräfte und Fähigkeiten unmöglich machen. Der Rahmen der Regeln gibt dem Kind den Schutzraum, in dem es selbständig experimentieren, Zusammenhänge erkennen, das Erkannte anwenden und so seine Fähigkeiten erweitern kann.

Die Einzigartigkeit jedes menschlichen Wesens erfordert zwingend, dass ihm Freiräume der Selbständigkeit gegeben werden, denn nur so kann die Entwicklung eines in seinen Eigenschaften und Qualitäten unwiederholbaren Geschöpfes stattfinden. Dies erfordert vom Erzieher die Fähigkeit über seinen eigenen Horizont hinauszuschauen. Vor allem die eigenen Ängste machen oft den Vorsatz, das Kind loszulassen, zunichte. Hier ist Selbsterziehung angesagt. Dem Kind gerecht zu werden bedeutet auch sich von der Vorstellung frei zu machen, dass das, was man als Kind selber gerne tat oder was man gerne getan hätte unbedingt für das eigene Kind erstrebenswert sein muss. Oft versuchen gerade von ihrem eigenen Lebensweg enttäuschte Eltern ihre Kinder zu Erfüllungsgehilfen ihrer eigenen Träume zu machen und tun damit der Entwicklung ihrer Kinder Gewalt an. Erzieher müssen ein Gespür dafür entwickeln, was sich im Kind entfalten will. Dafür brauchen sie Offenheit, auch die Fähigkeit, die eigenen Vorurteile zu erkennen und zu überwinden.

Dies heißt aber nicht, dass man alles unterstützen und begrüßen soll, was sich im Kinde manifestiert. Diesen scheinbar bequemen Weg hat eine moderne Erziehungsvariante beschritten und damit Schiffbruch erlitten. Indem sie Kinder ihren eigenen Wünschen und Trieben folgen ließ, in der Hoffnung, diese wüssten, was gut für sie ist, hat die Laissez-faire-Methode desorientierte, unzufriedene, häufig asoziale Egoisten hervorgebracht. Es war dies gewissermaßen ein Versuch, Erziehung ganz sein zu lassen. Es verwundert nicht, dass Kinder davon hoffnungslos überfordert wurden. Wenn man bedenkt, wie viele Irrwege ein einzelner Mensch gehen müsste, um nur ein einziges Lebensgesetz selbständig zu erkennen, wird klar, was Kindern hier zugemutet wurde. Wozu die Menschheit Jahrtausende benötigte und was heute noch zahllose Erwachsene trotz der von den großen Religionen gegebenen Impulse nicht begreifen können, das erwartete man von der Selbstreflexion unfähigen Kindern. Geht es doch in der Frühphase der Erziehung bereits um die Grundaufgabe jedes Individuums, nämlich darum die eigenen egoistischen Bedürfnisse mit den Bedürfnissen der Gemeinschaft ins Gleichgewicht zu bringen.

Die Schwierigkeit für den Erzieher besteht gerade darin, die Grenzen zwischen gesunder Eigenart und asozialem Egoismus zu erkennen und das Kind mit den Regeln und Gesetzen vertraut zu machen, deren Einhaltung seine und die Entfaltungsmöglichkeiten Anderer garantiert. Dabei ist es wichtig, das Kind soweit es geht erfahren zu lassen, wozu die Gemeinschaftsregeln da sind, welche Folgen ihre Verletzung nach sich zieht. In den ersten Jahren, in denen sich Kinder am elterlichen Vorbild orientieren, besteht die Hauptaufgabe darin, sich selbst an die Regeln zu halten und bei günstiger Gelegenheit zu zeigen, warum diese für alle gelten müssen.

Im Laufe der Jahre wird dadurch beim Kind der Eindruck entstehen, in eine sinnvolle Ordnung hineinzuwachsen, die allen Beteiligten Sicherheit und damit die Möglichkeit zur optimalen Selbstverwirklichung bietet. Damit dieser Eindruck auch nach dem Erwachen des selbständigen Denkens erhalten bleibt, müssen die Regeln klar und einleuchtend und unentbehrlich sein.

Auf Zwang und Druck zu verzichten, wird in dem Maße leicht fallen, in dem die dem Kind vermittelten Regeln als natürliche Gesetze erkennbar werden. Natürliche Gesetze sind solche, deren Verletzung automatisch Folgen nach sich zieht, so wie das Berühren des heißen Ofens Schmerzen verursacht, wodurch die Funktion der strafenden Autorität vom Erzieher auf die Situation selbst übergeht. Erfährt das Kind nicht den Erzieher, sondern die natürlichen Folgen seiner Tat als Autorität, kann es die Regel bzw. das Gesetz widerstandslos akzeptieren.

Dagegen wird es auf persönlichen Druck mit Gegendruck reagieren und die Situation gerät zum Machtkampf, der für alle Beteiligten lernbehindernd wirkt, weil es nicht mehr um das Erkennen eines Sachverhalts, sondern um Sieg oder Niederlage geht.

Die Gültigkeit von Regeln wird ein Kind nur akzeptieren, wenn auch die Erwachsenen sich daran halten und wenn sie konsequent vermittelt wird. Handeln die erziehenden Personen nicht einmütig und geben dem Kind das Gefühl, Regeln könnten von bestimmten Personen verletzt oder widerrufen werden, so handeln sie sich endlose Machtkämpfe ein und erziehen Menschen, die ihren Willen keiner Werteordnung unterwerfen und nicht über den Horizont ihrer egoistischen Wünsche hinausblicken können.