Zum Sterben geboren - Bettina Schiller - E-Book

Zum Sterben geboren E-Book

Bettina Schiller

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Beschreibung

Ich habe es nicht mehr für möglich gehalten, ich bin doch noch einmal schwanger. Einerseits ein Grund zur Freude, andererseits ist es eine Risikoschwangerschaft, ein Umzug steht bevor und mein Vater liegt im Sterben. Gerade zwei Tage im neuen Heim folgen viele Wochen im Krankenhaus. Eine Entbindungsstation kämpft mit mir und meiner Familie um unser Ungeborenes. Kaum einer hat es wohl für möglich gehalten, dass wir es bis zur 29. Schwangerschaftswoche schaffen. Dann eine schnelle Verlegung in ein Klinikum mit Frühgeborenenstation - zum Wohl unseres Kindes. Ein Fehler? Binnen weniger Stunden wird dort alles zerstört, wofür wir gekämpft haben. Tragische Stunden und Wochen folgen, unbegreiflich für uns alle. Was war ge-schehen? Wer trägt die Schuld? Fragen über Fragen, die auf ihre Beantwortung warten. Es folgt ein Kampf um Gerechtigkeit - und ein langer Weg des Trauerns.

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Bettina Schiller (Lisa)

Zum Sterben geboren

Impressum

Überarbeitete Auflage 2019

(ohne Kopien der Krankenhausunterlagen und der medizinischen Gutachter)

ISBN auf der Rückseite des Buches

Herstellung und Verlag: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin; www.epubli.de

Cover Gestaltung: Bettina Schiller, www.trauerreich.de

Cover Foto: Thomas Schiller

Text: © Copyright by Bettina Schiller

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form

(Druck, Fotokopie oder ein anderes Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung der Autorin

reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de

abrufbar.

Vorwort

Meine Geschichte, die Sie in diesem Buch lesen werden, beruht auf wahren Begebenheiten. Nichts ist erfunden, auch wenn vieles unglaublich klingen mag. Lediglich die Namen der Personen und Orte wurden geändert. Gern würde ich auch diese nennen, aber aus rechtlichen Gründen bleibt es mir untersagt. Meine Geschichte beschreibt das Erlebte einer Familie irgendwo in Deutschland. Es ist meine Geschichte, meine Vergangenheit, die mir immer in Erinnerung bleiben wird, verbunden mit Trauer, Wut und Verzweiflung.

Dieses Buch widme ich meiner kleinen Tochter, der die Chance, das Licht der Welt zu erblicken, genommen wurde. Fast am Ziel, musste sie sterben, weil Ärzte und Hebammen Fehler machten.

Ich danke allen, die mir bei der Erstellung des Buches geholfen haben. Einen besonderen Dank richte ich an meinen Mann und meinen Sohn, die mir immer wieder Mut machten, dieses Buch zu schreiben und zu veröffentlichen.

Bettina Schiller (Lisa)

Im Gedenkenan unsere kleine TochterKatja

Tod

Ein kahler Baum

auf einem Hügel,

von Nebelschwaden umgeben -

oder von weißen Wölkchen;

ich weiß es nicht.

Das leise Weinen eines Kindes

in der Unbeweglichkeit der Luft -

oder ein Lachen;

ich weiß es nicht.

Ein schmaler Weg,

der an den Wurzeln des Baumes endet;

ich weiß es nicht.

Vielleicht

werde ich es nie wissen.

Susanne Kermani

HOFFNUNG

Der Himmel hat den Menschen als Gegengewicht

zu den vielen Mühseligkeiten des Lebens

drei Dinge gegeben:

die Hoffnung, den Schlaf und das Lachen.

Immanuel Kant

November 1996

Soeben habe ich von meinem Mann erfahren, dass er zum ersten April nächsten Jahres versetzt wird. Für uns wird das heißen – umziehen. Eine neue Gegend, eine neue Wohnung, neue Menschen, neue Ärzte, für unseren Sohn eine neue Schule, neue Lehrer und Freunde. Die alten Freunde zurücklassen. Das alles rauscht in wenigen Sekunden durch meinen Kopf. Das Los einer Bundeswehrfamilie. Ich weiß nicht, ob ich mich freuen oder heulen soll. Ein Trostpflaster, nach so vielen Jahren werden wir wieder in der Nähe der Eltern wohnen. Wir werden sie öfter als bisher besuchen können und aus den vier bis fünf Autostunden werden maximal zwei Stunden. Immerhin etwas.

Aber da ist noch etwas. Eine Ahnung. Ein Gefühl. Ich fühle mich seit einigen Tagen anders als sonst und bin mir sicher, dieses Gefühl zu kennen. Ein Test bringt mir die Bestätigung. Ich bin schwanger. In meinem Inneren entsteht ein Chaos. Eigentlich sollte ich mich freuen. Schließlich wünschen wir uns schon seit vielen Jahren ein zweites Kind. Nach Aussagen der Ärzte hatte ich kaum eine Chance, noch einmal schwanger zu werden. Und nun bin ich es.

Aber ausgerechnet jetzt? Es wird wieder eine Risikoschwangerschaft sein. Was, wenn es wieder zu einer Fehlgeburt kommt? Dann der Umzug! Ich möchte mich so gern freuen, aber es gelingt mir einfach nicht.

In der Hand halte ich noch das Teststäbchen. Statt nur einem blauen Streifen zeigt es dieses Mal zwei an. Eine Bestätigung dafür, dass sich in meinem Unterleib ein kleines Wesen entwickelt.

Noch am gleichen Tag beglückwünscht mich mein Frauenarzt: „Hat es doch noch einmal geklappt. Ich freue mich für sie.“

Wie schön hatte ich es mir vorgestellt, meinen beiden Männern mitzuteilen, dass Nachwuchs unterwegs ist. Kleine Babyschuhchen wollte ich kaufen. Beide extra in hübsches Papier wickeln und sie stolz überreichen. Jeder würde einen zum Auspacken bekommen und sofort wüssten sie Bescheid und könnten sich mit mir freuen.

Doch irgendetwas hindert mich daran. Eine heimliche Angst. Ein Nichtglaubenwollen, dass es doch noch einmal geklappt hat. Stattdessen erzähle ich meinem Mann nach dem Abendessen eher vorsichtig von der Neuigkeit. Auch er ist überrascht. Auf der einen Seite Freude, auf der anderen Nachdenklichkeit. Mir ist zum Heulen. Jahrelang habe ich mich innerlich mit Schwangerschaft und Kinderkriegen beschäftigt, konnte manchmal an nichts anderes denken, war schon ganz krank, weil es nicht klappte. Es hat sehr lange gedauert, bis ich soweit war, zu sagen, dann eben nicht. Wir werden auch mit nur einem Kind glücklich sein. Und dann, zum ungünstigsten Zeitpunkt, klappt es doch noch einmal. Wenn ich wüsste, meine Schwangerschaft würde normal verlaufen, mir würde es neun Monate gut gehen, ein Umzug wäre kein Hindernis und ich würde mit Leichtigkeit mein Kind zur Welt bringen. Ja dann! Aber es wird nicht so sein. Ich muss mit einem längeren Krankenhausaufenthalt rechnen. Und nicht umziehen, hier wohnen bleiben? Das geht überhaupt nicht. Mein Mann wäre weit weg, wenn ich ihn dringend brauchte, unser Sohn wäre allein. Die Eltern wohnen ebenfalls zu weit entfernt. Dann lieber doch umziehen. Ich werde mit meinem Arzt darüber sprechen.

Wieder sitze ich beim Arzt. Freudig wird mir der Mutterpass überreicht. Nun habe ich es schwarz auf weiß. In mir wächst ein kleines Menschenkind heran. Als ich auf dem Ultraschallbild auch noch den kleinen schwarzen Fleck sehe, kann ich nicht anders. Ich freue mich! Und nicht nur mein Herz schlägt schneller und lauter. Erst seit etwa vier Wochen bin ich schwanger und nun kann ich fast unscheinbar ein winziges Herzlein pochen sehen. Von einem Kind ist noch nichts zu erkennen, aber das Herz schlägt. Meine Blut- und Urinwerte sind in Ordnung. Aber mein Arzt stellt eine Zervixinsuffizienz fest. Mein Muttermund ist nicht wie üblich mit einem Schleimpfropf versiegelt. So besteht die Gefahr, dass das Kind (noch heißt es Fetus) nicht sicher im Uterus, der Gebärmutter, verbleibt, weil Bakterien eindringen könnten und eine Fehlgeburt oder später eine Frühgeburt auslösen. Er schlägt mir eine Cerclage vor. Das ist das Verschließen des Muttermundes mit einer Naht. An diesem Tag ist mir völlig egal, was mit mir gemacht werden soll. Die Hauptsache ist, ich behalte das Kind, unser Kind. Unser Sohn soll ein Schwesterchen oder Brüderchen bekommen. Es muss diesmal einfach klappen!

Ich erzähle meinem Arzt von der Versetzung. Auch er ist eher für einen Umzug, allerdings zeitig genug und vorher sollte im Krankenhaus noch die Cerclage durchgeführt werden.

Nach der Untersuchung und dem Gespräch werde ich von der Schwester mit einem Stoß Literatur zur Schwangerschaft ausgestattet. Da ich ab sofort krankgeschrieben bin – eine Vorsichtsmaßnahme - werde ich so keine Langeweile haben.

Zu Hause angekommen, greife ich zu einem dicken Buch, das ich etliche Monate nicht mehr angerührt habe: „Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt“, von einer Frau Dr. Miriam Stoppard. Dieses Buch soll ab heute mein ständiger Begleiter während der gesamten Schwangerschaft sein. Darin finde ich es bestätigt. Gegen Ende der dritten Woche ist das Herz ausgebildet und beginnt zu schlagen.

Mein Arzt gab mir außerdem noch ein Bild mit, das erste Foto, wie er so schön sagte. Ein kleines Ultraschallbild mit einem schwarzen Punkt. Am Abend zeige ich es freudig meinen beiden Männern. Nun weiß auch unser Sohn die Neuigkeit. Beide freuen sich, unser Sohn möchte vor Freude einen Luftsprung machen. Seit Jahren wünscht er sich ein Geschwisterkind und hat uns oft genug zu verstehen gegeben, wie traurig er ist, dass er allein sein muss. Als er noch im Kindergartenalter war, sagte ich ihm einmal, dass ich eine Überraschung für ihn hätte. Darauf strahlte er übers ganze Gesicht und fragte mich, ob ich ein Kind bekäme! Ich war einfach baff. Mein Sohn dachte nicht an Spielzeug oder Süßigkeiten, sondern an ein Geschwisterchen.

Am liebsten wollte er immer einen großen Bruder. Doch das geht natürlich nicht. Einer seiner Freunde aus der Zeit in Sonnenstadt hatte vier Geschwister. Darauf war er furchtbar neidisch. Damit er auf Fahrten nicht allein war, nahmen wir diesen Jungen oft mit. Seine Mutter fühlte sich jedes Mal veranlasst, unseren Sohn dann auch einzuladen. Als ich ihr erklärte, dass sie das nicht müsse, denn wir freuen uns, wenn unser Sohn nicht allein ist, erwiderte sie: „Dann schaffen sie sich doch noch ein paar Kinder an!“ Das sagte eine Frau, die klein und zierlich war und man sich schon gar nicht vorstellen konnte, dass sie ohne Schwierigkeiten fünf Kinder auf die Welt gebracht hatte. Ich glaube, wäre nicht die Wendezeit dazwischen gekommen, es wäre nicht bei fünf Kindern geblieben. Was wusste diese Frau schon von meinen Problemen und dass ich froh war, wenigstens dieses eine Kind zu haben.

Aber unser Sohn ist mit seinen 12 Jahren auch alt genug zu wissen, dass es auch schief gehen kann, dass es Gründe gibt, weshalb so ein kleines Wesen nicht immer im Bauch der Mutter bleibt.

Vor einem Jahr, am 1. November, hatte ich meine zweite Fehlgeburt. Ich weiß das Datum so genau, weil ich an diesem Tag auf einer neuen Arbeitsstelle als Buchhalterin beginnen sollte. Ein halbes Jahr nach meiner Sterilitätsbehandlung war ich schwanger geworden. Damals stand auch keine Versetzung vor der Tür. Wir alle drei haben uns sehr darüber gefreut. Aber schon bei der ersten Untersuchung fand mein Gynäkologe ein dünnes Blutfädchen. Er schrieb mich sofort krank. Bettruhe! Als schon am nächsten Tag Unterleibs- und Rückenschmerzen hinzukamen, wusste ich Bescheid. Diese Schmerzen kannte ich von meiner ersten Fehlgeburt im Jahr 1983. Zwei Tage lag ich mit immer stärker werdenden Schmerzen im Bett. Wie automatisch steckte ich meinen Bademantel in die Waschmaschine und packte meine Reisetasche für einen Krankenhausaufenthalt. Meine beiden Männer hofften mit mir, dass doch noch alles gut gehen wird. Um mir eine Freude zu machen, kaufte mir mein Sohn eine CD von Händel und schob seinen Recorder zu mir ans Bett. Am dritten Tag wurden die Schmerzen unerträglich. Dazu kamen wahnsinnige Migränekopfschmerzen. Die, die ich immer bekam, wenn meine Regel einsetzte. Auf der Toilette verlor ich dann die noch kleine Frucht. Komisch, ganz ruhig griff ich zum Telefon und rief bei meinem Gynäkologen an, danach ein Taxi. Ich verlor eine Menge Blut, aber auch das kannte ich von meiner ersten Fehlgeburt.

Beim Arzt angekommen, bat man mich im Warteraum Platz zu nehmen. Ich weiß nicht, wie lange ich dort sitzen musste. Ich weiß nur, dass immer wieder andere Frauen aufgerufen wurden, dass mir schwindlig war, meine Arme und Beine sich wie Gummi anfühlten und ich immer wieder Blut verlor.

Endlich, mein Name wurde genannt. Ich ließ die Untersuchung über mich ergehen. Mein Arzt schrieb eine Überweisung für das Krankenhaus aus. Ich sollte zur Ausschabung der Gebärmutter, weil die Fehlgeburt nicht vollständig erfolgt war. Aber ich wollte erst nach Hause, meine Sachen holen und mit meinem Sohn, der bald aus der Schule kommen musste und mit meinem Mann sprechen. Also wieder in ein Taxi und zurück. Als ich mit meinem Mann telefonierte, war ich so ziemlich am Ende und ich ließ meinen Tränen freien Lauf. Kurz darauf kam mein Sohn. Ich erzählte ihm, warum ich ins Krankenhaus sollte. Ich hätte es ihm ohnehin nicht verschweigen können. Er war darüber traurig.

Kurz nach dem Mittag kam ich im Krankenhaus an. Das Schlimmste war die Voruntersuchung. Man sitzt auf dem Stuhl und ist den Ärzten ausgeliefert. Es war ein Arzt, der auf mich einen sehr unsympathischen, überheblichen Eindruck machte. Ich kam mir vor wie ein Eindringling. Als die Schwester fragte, ob ich heute noch in den OP sollte, war die Antwort: „Na klar, so wie die blutet.“ Zum Schluss wischte er selbst das Blut, das auf den Fußboden gelaufen war, mit einem Stück Zellstoff weg. Mir war alles furchtbar peinlich. Nett waren wenigstens die Ärzte und Schwestern im Operationssaal. Am nächsten Morgen durfte ich das Krankenhaus zum Glück verlassen.

Körperlich war wieder alles in Ordnung, aber meine Seele hatte eine Wunde. Nach so vielen Jahren vergeblicher Mühe war ich schwanger geworden und alles ging schief. Warum nur? Was hatte ich getan? Warum können andere Babys bekommen und ich nicht. Um mich abzulenken, griff ich wenige Tage später zu Blatt und Stift und begann zu schreiben. Daraus wurde eine niedliche Kindergeschichte. Ich war nicht geheilt, aber mir ging es besser und ich schöpfte wieder Mut.

Nun, dieses Mal gab es bisher keine Anzeichen auf eine bevorstehende Fehlgeburt.

Dezember 1996

Wir schmieden unsere ersten Umzugspläne. Im Januar werde ich ins Krankenhaus gehen, um die Cerclage legen zu lassen. Dann können wir im Februar umziehen.

Mir geht es nicht besonders gut. Vor allem diese Übelkeit. Aber nicht nur morgens, sondern den ganzen Tag. Als ich mit meinem Sohn schwanger war kannte ich dies überhaupt nicht – Übelkeit! Aber das Verrückte daran ist mein Appetit. Der bezieht sich nicht auf saure Gurken, sondern auf Quarksahnetorte, gläserweise Schattenmorellen und Erbsensuppe aus der Büchse. Und mein Magen scheint diese Speisen auch zu lieben, denn dagegen rebelliert er nicht.

Laufend habe ich Rückenschmerzen. Aber es sind andere, als bei den Fehlgeburten. Es fällt mir nicht schwer, die Anordnung des Arztes, viel liegen, zu befolgen. Außerdem bin ich sowieso ständig müde.

Ich rufe meine Chefin im Büro an, um ihr von der Versetzung und meiner Schwangerschaft zu berichten. Man ist über die Krankschreibung nicht begeistert, aber das ist nun, wo wir auch umziehen werden, sowieso egal. Und von einer jederzeit möglichen Versetzung hat man gewusst und sich damit zufrieden gegeben. Außerdem muss ich zugeben, dass ich dieser Arbeitsstelle bestimmt nicht nachtrauern werde.

Wenn es mir zwischendurch besser geht, setze ich mich an mein Keyboard und spiele alle Kinderlieder, die mir noch einfallen. Dabei komme ich jedes Mal ins Träumen. Neben mir sehe ich ein Laufgitter. Darin liegt froh jauchzend unser zweites Kind und freut sich über meine Lieder. Ach, wenn es doch nur schon soweit wäre.

Voller Ungeduld schaue ich wieder in mein dickes Schwangerenbuch. Bei der letzten Untersuchung war auf dem Ultraschall schon ein kleiner Embryo zu erkennen. Das Herz schlug nun kräftiger. Ich hatte meinen Mann überredet, mitzukommen und auch er spähte ganz verzückt auf den Monitor. Das also ist unser kleiner Sohn, oder unsere kleine Tochter? Etwa ganze zwei Zentimeter groß. Unfassbar auch, dass die inneren Organe schon vorhanden sind. Und wieder gab es für die werdenden Eltern ein Foto.

Bei mir hat sich inzwischen eine Menge anderer Lektüre über Schwangerschaft und Babys angesammelt. Teils vom Arzt, teils selbst gekauft, manches wurde mir zugeschickt, weil ich Postkarten von Werbefirmen, die fast in jeder Zeitschrift liegen, weggeschickt habe. Ich kann nicht genug bekommen. Wie eine Wahnsinnige fresse ich mich durch alles Lesbare zum Thema Schwangerschaft, Geburt und Neugeborene. Überall lese ich, dass eine Cerclage bei einer Zervixinsuffizienz eine gute Vorsorge ist, das Kind zu halten. Na also, warum soll es dann bei mir nicht auch klappen. Ich schöpfe immer mehr Mut.

Ich muss daran denken als ich mit meinem Sohn schwanger war und ein Lächeln gleitet über mein Gesicht. Ich freue mich, dass ich jetzt ganz anders betreut werde. Mein Frauenarzt bleibt mein Arzt während der gesamten Schwangerschaft, mal abgesehen von meinem bevorstehenden Umzug, wo doch ein Wechsel stattfinden wird. Vor der Wende hatten die werdenden Mütter nicht diese Möglichkeit. Es gab Schwangerenberatungsstellen, nach Wohnvierteln zugeteilt. Dort war es ständig überfüllt. Die Ärzte wechselten, außerdem kannte man sie nicht. Einfach alles war unpersönlich und ähnelte einem fließbandähnlichen Ablauf. Ich war nicht gerade erfreut, wenn ich wieder einen Termin zur Schwangerenvorsorge hatte. Ultraschall wurde im Normalfall nur einmal gemacht. Das Gerät stand im Krankenhaus und man musste sich lange vorher anmelden. Mir wurde nichts auf dem Bildschirm erklärt und obwohl ich lange im Warteraum gesessen hatte, war ich umso schneller wieder aus dem Untersuchungsraum. Literatur über Schwangerschaft war rar und bald durchgelesen. Aber ich muss auch zugeben, dass ich mir damals keine großen Gedanken gemacht habe, wie groß wohl mein Kind im Bauch gerade sein wird, welchen Entwicklungsstand es hatte oder welche Gefahren, außer einer Fehlgeburt, die ich erlebt hatte, bestehen würden. Lag es an der unpersönlichen Vorsorge, an der mangelhaften Literatur oder einfach daran, dass ich meinen Körper nicht bewusst genug wahrnahm? Oder weil ich noch sehr jung war?

Lassen sie mich etwas erläutern, damit ich nicht falsch verstanden werde. Es ist modern geworden, den nicht immer rosigen DDR-Alltag in grau und schwarz darzustellen. Dafür gibt es für mich keinen Grund. Fachlich versierte Ärzte und gut ausgebildetes, fürsorgliches Pflegepersonal im Klinikum Sonnenstadt sorgten 1984 dafür, dass ich heute einen gesunden Jungen habe. Ich stelle Fakten so dar, wie ich sie erlebte.

Sich weniger Gedanken machen, wäre für mich gewiss ratsamer, aber ich finde es sehr schön zu wissen, was wann in meinem Körper vor sich geht. Es ist auf eine ganz besondere Art ein eigenes schönes Erleben, das ich nicht missen möchte.

Eines jedoch bekomme ich einfach nicht fertig. In den Büchern und Zeitschriften schlägt man den werdenden Müttern vor, ein Schwangerentagebuch anzulegen. Dort kann man alle Erlebnisse und Gefühle festhalten und die Bilder vom Ultraschall - die ersten Fotos des Kindes - hineinkleben. Irgendetwas hält mich ab davon. Ist es die Angst, dass doch etwas schief gehen könnte?

Es ist Adventszeit. Mit meinem Sohn schmücke ich die Zimmer weihnachtlich. Für die Weihnachtstage hat sich die Familie meiner Schwester angesagt. Davor habe ich ein bisschen Bammel. Mir ist immer noch übel und auch die Rückenschmerzen gehen nicht weg. Am besten fühle ich mich, wenn ich liege. Mein Sohn legt sich manchmal zu mir und wir spielen Karten. Außerdem liegt mein großer Kartäuserkater oft bei mir. Es scheint ihm zu gefallen, dass ich jetzt jeden Tag zu Hause bin.

Es ist schade, dass in diesem Jahr das Plätzchenbacken ausfällt. Mir ist absolut nicht danach und mein Mann hat keine Zeit. Er hat einen langen Weg zur Arbeit, muss morgens zeitig aus dem Haus und kommt abends sehr spät heim. Nach den letzten zwei Versetzungen waren wir nicht umgezogen, weil beide Standorte im Umkreis von etwa sechzig Kilometern lagen.

Vor dieser Schwangerschaft habe ich ihm jeden Morgen das Früh-stück angerichtet, nun macht er es sich allein. Es tut mir ein wenig leid. Doch ich schaffe es nicht. Obwohl ich erst im zweiten Monat bin, fühle ich mich wie eine alte Frau. Warum nur verläuft diese Schwangerschaft so ganz anders? Ob wirklich alles stimmt?

Noch vor Weihnachten fährt mein Mann nach Fallerhausen, seinem künftigen Arbeitsort. Er will sich nach einer neuen Wohnung umsehen. Von Freunden hat er sich eine Videokamera ausgeliehen. Eine Chance für mich, mir die Wohnungen anzusehen, wo ich doch nicht mitfahren kann und darf. Wie gern würde ich ihn begleiten.

Nach zwei Tagen kommt er nachts zurück. Er möchte erzählen. Er möchte, dass ich zuhöre. Aber mir ist wahnsinnig übel. Es kommt sogar zu einem kleinen Streit, ob mich das alles nichts anginge? Und dann hätte er ja nicht fahren brauchen! Usw. Ich ziehe mich eingeschnappt zurück. Am nächsten Morgen geht es mir etwas besser. Nun erfahre ich auch, warum mein Mann so reagierte. Die Wohnungssuche war für ihn eine einzige große Enttäuschung. Der Mitarbeiter der Wohnungsfürsorge der Bundeswehr zeigte keine große Anteilnahme an seiner Versetzung. Bundesdarlehenswohnungen waren keine frei. Die Wohnungen auf dem freien Wohnungsmarkt überteuert. Die Miete für ein Haus, mit unserem jetzigen vergleichbar, unbezahlbar.

Ich schaue mir die Videos an. Mein Mann erklärt mir alles. Was ihm gefällt, gefällt mir nicht oder würde für eine Familie mit Baby nicht praktisch sein. Was mir gefällt, das lehnt er ab. So geht es hin und her. Mehrere Tage diskutieren wir stundenlang, was wir denn nun machen werden. Wir entscheiden uns für eine 5-Zimmer-Wohnung in einem Vierfamilienhaus unweit der Kaserne, in der mein Mann dann arbeiten wird. So müsste er nicht immer fahren und würde mehr Stunden für uns Zeit haben. Aber ich merke, dass er nicht zufrieden ist. Ich weiß schon jetzt, dass er nur ungern aus diesem Haus ausziehen und in die neue Wohnung einziehen wird. Ein wenig Groll kommt in mir auf. Schließlich kann ich nichts dafür, dass wir umziehen müssen. Es ist seine Versetzung. Ich versuche nur das Beste daraus zu machen, auch wenn es mir schwerfällt. Die neue Wohnung wird noch einen Vorteil haben. Ein paar Häuser weiter wohnt eine befreundete Familie. Der Mann wurde ebenfalls vor kurzem nach Fallerhausen versetzt. Welch ein Zufall. Und nun ziehen wir hinterher. Als sie damals ungern die Stadt Grünlingen verlassen mussten, habe ich noch aus Scherz gesagt: „Seid nicht traurig, wir kommen doch bald nach!“ Und so wird es nun auch wirklich sein.

Weihnachten steht vor der Tür. Unser Besuch kommt. Die Kinder meiner Schwester, zwei Jungs und auch unser Sohn freuen sich, dass sie für ein paar Tage zusammen sein können. Es wird ein ruhiges Weihnachtsfest. Am Nachmittag besuchen wir in der Kirche ein Krippenspiel. Der jüngere Sohn meiner Schwester, der erst nicht mitkommen wollte - In die Kirche! – ist ganz begeistert. Danach trinken wir Kaffee und die Bescherung beginnt. Den Weihnachtsbaum, eine gut gewachsene Blautanne, haben unsere drei Kinder allein geschmückt, worauf sie sehr stolz sind. Davor liegen eine Menge Geschenke. Auch unser Kater schnüffelt wie jedes Weihnachtsfest wie ein Hund, findet seine Gaben und macht sich sofort ans auspacken. Jedes Jahr lächeln wir darüber. Wer das noch nicht gesehen hat, glaubt es gar nicht. Auch unser Besuch ist verblüfft. Unsere Kinder begutachten voller Freude ihre Geschenke und jeder von ihnen spielt ein paar Lieder auf dem Keyboard. Ich liege auf der Couch und schaue dem Treiben zu. Zum Glück hat die Übelkeit etwas nachgelassen.

An den nächsten Tagen wage ich mit meiner Schwester zusammen sogar kleine Spaziergänge. Es tut gut. Es ist zwar kein Schnee gefallen, aber die Luft ist klar und kalt. Wie gern würde ich jetzt am Ostseestrand entlang spazieren, mir die kalte Luft um die Ohren wehen lassen und dem Rauschen der Wellen lauschen. Eine Wehmut überkommt mich. Hier sollen wir weg. Weg von der See, weg aus dieser schönen reizvollen Stadt. Wer weiß, was uns erwartet. Aber dann streiche ich über meinen Bauch und freue mich auch über die neue Zeit, die da kommen wird.

Es ist der 31. Dezember, Silvester. Meine Schwester ist mit ihrer Familie wieder abgereist. In ein paar Stunden liegt das alte Jahr hinter mir und ein neues wird beginnen. Was wird dieses bringen? Als das Jahr 1996 begann, hätte ich mir nie im Leben vorstellen können, dass ich am Ende des Jahres schwanger sein werde.

Der Abend verläuft ruhig. Aufgrund meines Zustandes verbringen wir ihn vor dem Fernseher, ich liegend auf der Couch. Mir geht es wieder schlechter. Waren die Weihnachtstage für mich doch zu anstrengend gewesen? Mir ist zum Heulen, ich bin wütend auf mich. So viele Frauen sind schwanger und denen geht es gut. Und ich liege hier mit Übelkeit und Schmerzen. Und ich könnte schlafen, als hätte ich mehrere Tage keinen Schlaf gehabt. Was ist das nur? Wenn ich es dem Arzt erzähle, dann höre ich immer nur, dass gehöre zur Schwangerschaft, das ist normal. Nein, das glaube ich nicht. Warum gehen dann die anderen trotz ihrer Schwangerschaft Silvester aus, tanzen, essen und amüsieren sich? Eine Schwangerschaft soll ein Zustand und keine Krankheit sein. Aber ich fühle mich krank, sehr krank.

Januar 1997

Das neue Jahr hat erst begonnen und ich bin total gestresst. Wir sind dabei, die neue Kücheneinrichtung für die Wohnung in Fallerhausen zusammenzustellen. Unsere jetzige Küche war beim Einzug komplett eingerichtet. Sogar unsere fast neue Waschmaschine mussten wir damals verkaufen, weil eine dazu gehörte. Und nun brauchen wir alles neu: Küchenschränke, Herd, Kühlschrank, Tiefkühlschrank, Geschirrspüler und Waschmaschine. Diese Planung ist nicht so einfach, weil die Maße der neuen Küche 2x3 m betragen. Auf der einen Seite befindet sich ein großes Fenster, auf der anderen Seite die Tür, die wir sicherlich herausnehmen müssen, um uns überhaupt darin bewegen zu können. Wir sitzen zu zweit da, mit Stift, Blatt und Rechner. Der Bauherr muss geschlafen haben. Wie wir auch alles stellen wollen, die Küche ist und bleibt zu klein. Einen kleineren Herd und einen kleineren Geschirrspüler nehmen? Auch Quatsch, wenn wir dann wieder umziehen müssen, haben wir vielleicht eine größere Küche und ärgern uns über die viel zu kleinen Geräte. Also werden wir auf Schränke verzichten müssen. Das Geschirr werde ich schon irgendwie weggestellt bekommen. Am schwersten fallen mir die Besuche der Elektrowarengeschäfte, um uns die Geräte anzuschauen. Schließlich möchten wir nicht irgendetwas kaufen. Und ich möchte alles mit aussuchen. In jedem Geschäft suche ich schon nach kurzer Zeit eine Sitzmöglichkeit, um mich auszuruhen. Wenn doch der ganze Umzug nur schon vorbei wäre!

Ich muss wieder zu meinem Gynäkologen. Er meldet mich für die Cerclage im Krankenhaus an. In ein paar Tagen wird es soweit sein. Er erklärt mir noch einmal alles, spricht ruhig auf mich ein, dass ich bloß keine Angst haben soll, nach zwei, drei Tagen bin ich wieder draußen. Und vom Eingriff bekomme ich nichts mit, weil ich eine Vollnarkose bekomme. Ich bin froh, dass keine Periduralanästhesie gemacht wird. Diese hatte ich einmal beim Eileiterröntgen erhalten und fand sie furchtbar.

Ich bin im Krankenhaus. Die Voruntersuchung für die Cerclage beginnt. Wie beim letzten Mal, als ich wegen der Fehlgeburt hier saß, sitzt auch heute ein Arzt vor mir, der auf mich einen hochnäsigen Eindruck macht. Der Untersuchungsstuhl wird auch immer älter und unmoderner. Als könnte ich von ihm herunterfallen, halte ich mich ängstlich mit beiden Händen an den Seiten fest. Erst das Bild auf dem Monitor bringt mich in eine bessere Stimmung. Mein Herz schlägt schneller und gewiss auch lauter. Das Bild zeigt ein komplettes kleines Menschenkind. Kopf, Rumpf, Arme, Beine – alles ist zu sehen. Und es strampelt. Es bewegt wie wild die kleinen Ärmchen und Beinchen im schützenden Fruchtwasser. Der Arzt sucht mehrere Einstellungen, lässt vom Gerät vermessen und rechnen. Alles ist in bester Ordnung. Mein Kind hat die richtige Größe, liegt in genügend Fruchtwasser, das Herz schlägt normal. Ich könnte vor Freude laut aufjauchzen.

Ausführlich klärt der neben mir sitzende Mediziner mich über die Risiken der Vollnarkose und Cerclage auf. Die Fruchtblase könnte dabei verletzt werden, dann könne man das Kind nicht retten. Mir wird ganz mulmig. Soeben habe ich mein kleines Baby strampelnd auf dem Monitor gesehen und nun soll ich daran denken, dass es vielleicht schief gehen könnte? Nein, das darf nicht sein. Mir kommen Zweifel. Sollte ich den Eingriff lieber lassen? Aber dann verliere ich mein Kind vielleicht erst recht, weil ich es nicht halten kann. So viele Frauen haben das schon mit sich machen lassen und ein paar Monate später ihr gesundes Baby entbunden. Warum also sollte es ausgerechnet bei mir nicht klappen?

Der Arzt gibt mir aber auch zu verstehen, dass eine Cerclage eigentlich erst zu einem späteren Zeitpunkt der Schwangerschaft vorgenommen wird. Nun kläre ich ihn auf, dass ich in Kürze umziehen werde und diese Naht deshalb jetzt schon zur Sicherheit gemacht werden soll.

Über Nacht darf ich noch einmal nach Hause. Nachts quälen mich erneute Zweifel. Ist das, was ich tue, wirklich alles richtig?

Am nächsten Morgen bin ich pünktlich auf der Station und pünktlich versinke ich in meinen Narkoseschlaf.

Langsam wache ich auf. Mir ist wahnsinnig übel, mein Herz muss zehnmal schneller schlagen als sonst. Eine Schwester erscheint und klärt mich auf, dass dies Nebenwirkungen von dem wehenhemmenden Mittel sind, die ich durch die Kanüle erhalte. In meinem Inneren entsteht ein Durcheinander. Wieso solche Mittel? Habe ich Wehen bekommen und besteht die Gefahr, mein Kind zu verlieren? Die Schwester beruhigt mich, das werde vorsorglich immer so gemacht. Für ein paar Tage gibt es Partusisten, erst durch Infusion, dann Tabletten und dann hört man damit auf. Wenn ich dann keine Wehen bekomme, kann ich wieder nach Hause. Mir geht es nicht nur schlecht, nun bin ich auch so richtig aufgebracht. Von wegen nur zwei bis drei Tage Krankenhaus und von wegen nur solche Mittel, wenn es zu Wehen kommt! Sollte ich nicht lieber glücklich sein, dass alles geklappt hat? Es kommt deswegen keine Freude auf. Auch als mein Mann mich am Abend besucht, fühle ich mich mies, verärgert und zum Heulen.

In der Nacht liege ich schlaflos in meinem Krankenhausbett. Ich muss daran zurückdenken, wie oft ich schon auf dieser Station gelegen habe. Und alles, um ein zweites Kind zu bekommen.

Beim ersten Mal war es das Eileiterröntgen, eine Prozedur, die ich nicht wieder mit mir machen lassen würde. Da musste ich nur einen Tag hierbleiben. Dann lag ich eine Woche hier. Eine Bauchspiegelung wurde gemacht. Es hatte sich bestätigt, dass ich gar nicht schwanger werden konnte. Der linke Eileiter war nicht mehr durchgängig, der rechte lag total verdreht im Bauch, der Eierstock war nach oben hin angewachsen und außerdem hatten sich seit meinem letzten Kaiserschnitt viele Verwachsungen gebildet. Für den linken Eileiter konnte man nichts mehr tun, aber der rechte funktionierte wieder, die Verwachsungen entfernte man. Eine Chance, schwanger zu werden, bestand wieder. Doch man könnte nicht sagen wie lange. Es würde wieder zu Verwachsungen kommen. Der dritte Aufenthalt hier auf der Station war nach meiner Fehlgeburt.

Nun liege ich das vierte Mal hier. Ich habe es wirklich geschafft. Ich bin schwanger. Wenn beim Ultraschall nicht immer zu sehen wäre, dass es wahr ist, ich würde es gar nicht glauben. So viele Jahre haben wir gewartet, immer wieder umsonst und nun soll doch noch alles klappen. Es ist für mich wie ein Traum.

Mein Körper hat sich schnell an das Partusisten gewöhnt. Dazu erhalte ich noch ein anderes Mittel gegen die Nebenwirkungen des Wehenhemmers. Jeden Tag werde ich an das CTG angeschlossen. Es erscheint eine gerade Linie – also keine Wehen. Beim Essen bin ich auf Schonkost gesetzt. Wieso eigentlich, wenn ich lieber das andere Essen haben möchte? Die Antwort der Schwester: Werdende Mütter müssen eiweißhaltiges Essen zu sich nehmen.

Mein Sohn ist traurig, dass ich nun doch länger im Krankenhaus liege. Auch ich vermisse ihn und würde ihm gern helfen. So sind wir alle drei froh, dass ich nach einer Woche wieder zu Hause bin. Beim Abschlussgespräch warnte mich der Arzt vor jeglicher Art von Überanstrengung. Das größte Problem wäre in seinen Augen der Umzug. Auf keinen Fall dürfte ich mithelfen.

Februar 1997

Die Zeit bis zum Umzug vergeht wie im Fluge. Ich mache wie beim letzten Mal Listen, was alles zu tun ist und beginne mit den ersten Abmeldungen. Zum Glück kann ich das alles vom Telefon aus oder schriftlich erledigen und muss dazu nicht außer Haus.

Unser Sohn hat sein Zeugnis bekommen. Das erste Halbjahr der fünften Klasse in der Realschule hat er geschafft. Und sogar außerordentlich gut. Die Lehrer raten uns, mit dem Umzug gleich auf das Gymnasium zu wechseln.

Meine beiden Männer fahren vor dem Umzug ein letztes Mal nach Fallerhausen, unserer zukünftigen Heimatstadt. Sie müssen noch einige Wohnungsangelegenheiten regeln und sich um den Schulwechsel kümmern. Es ist nicht so einfach, unseren Sohn für das Gymnasium anzumelden. Als Beweis für seine Noten muss er sein Halbjahreszeugnis und die Empfehlung seiner alten Schule mitbringen.

Wie habe ich in der Nacht nur gelegen? Ausgerechnet jetzt, wo meine Männer nicht da sind, wache ich mit einem steifen Hals auf. Er schmerzt und ich kann ihn kaum bewegen. Noch dazu ist Samstag. Ich werde bis zum Montag warten müssen, um meinen Orthopäden aufzusuchen.

Weil ich keine Medikamente nehmen kann, habe ich Massagen verschrieben bekommen. So fahre ich jeden Tag mit dem Taxi zur Praxis meiner Physiotherapeutin. Die Physiotherapie tut gut und lenkt ein wenig ab vom Umzugsstress. Nach ein paar Tagen ist die Verrenkung wieder behoben.

Wir entschließen uns, mein kleines Auto zu verkaufen. Es fällt mir schwer, diesen, meinen schwarzen Micra herzugeben. Ich bin gern damit gefahren, nur eben die letzten Wochen meiner Schwangerschaft nicht mehr. In Fallerhausen werden wir ihn nicht brauchen. Wie oft hat mich mein kleines Auto zur Ostsee gebracht. Dann habe ich stundenlang am Strand gesessen oder habe Steine gesucht. Wehmütig sehe ich zu, wie der Micra mit einem neuen Besitzer davonfährt. Das Geld werden wir für unsere Kücheneinrichtung verwenden, für die wir uns nun endlich entschieden haben. Allerdings wird es keine Einbauküche sein, dafür sind die Lieferzeiten zu lang und wir brauchen die Küche bald. Aber einfache Küchenschränke aus dem Baumarkt werden auch ihren Zweck erfüllen.

An den Wochenenden haben wir nun immer Besuche. Es sind Freunde, die sich von uns verabschieden möchten. Ganz herzlich verläuft die Verabschiedung von unseren Vermietern. Unser Sohn tollt noch einmal nach Herzenslust mit ihrem Dackel herum. Werden wir je solch nette Hauswirte wiederfinden? Immer mehr Wehmut kommt auf.

Ganz bestimmt werden wir uns noch oft an das schöne Wohnen hier zurückerinnern. Wir werden Ost- und Nordsee vermissen und auch die Menschen, von denen man oft fälschlicherweise behauptet, sie wären stur. Ich habe mich vor dreizehn Jahren schnell im Norden eingelebt. Wie lange wird es nun dauern?

Der Umzug ist auf cirka vier Tage verteilt geplant. Mich will man zu den Eltern bringen. Unser Sohn und die Tiere werden mich begleiten. Mein Mann wird bei den Umzugsleuten sein. Ich habe ein komisches Gefühl. Erstens, weil ich bei den letzten Umzügen alles regelte, bei den Speditionsleuten war und zweitens, weil ich die neue Wohnung vorher noch nicht gesehen habe, außer auf einem Video. Außerdem habe ich furchtbare Angst, dass der Umzug sich negativ auf meine Schwangerschaft auswirken könnte. Die Medikamente, die ich nach der Cerclage bekam, soll ich auch während der Fahrt mit dem Auto nehmen.

Wenn es kommt, dann ganz dick. Mein lieber Kater, habe ich nicht schon genug um die Ohren und genug Sorgen? In der Nacht musste er Erbrechen und inmitten des Erbrochenen schlängelt sich ein etwa zehn Zentimeter langer Spulwurm. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Er hat doch regelmäßig Entwurmungstabletten bekommen. In meinem Inneren entsteht wieder Panik. Ich schmuse oft und gern mit meinem plüschigen und verschmusten Kater. Und ich habe gelesen, dass Spulwürmer auch auf Menschen übertragen werden können und eine Gefahr für ein Ungeborenes darstellen. Aufgeregt rufe ich meinen Hausarzt an. Er beruhigt mich und schlägt mir vor, Stuhlproben zur Untersuchung abzugeben. Mein Sohn muss die Röhrchen holen und bringt sie auch nach drei Tagen wieder hin. Wegen der Ergebnisse werde ich von meinen Eltern aus anrufen, denn bis sie da sind, wohne ich nicht mehr in Grünlingen.

Ich rufe wieder ein Taxi und lasse mich zum Tierarzt fahren. Etwas panisch erzähle ich, was vorgefallen ist. Die Tierärztin ist selbst hochschwanger und kann meine Angst verstehen. Aber sie glaubt nicht, dass ich mir ebenfalls Würmer geholt habe und gibt mir ein Radikalmittel für meinen Kater mit.

Noch ein Problem. Meine Hosen werden zu eng. Mein Bäuchlein ist also gewachsen. In ganz Grünlingen ist keine Umstandsbekleidung zu bekommen. Wir müssten ein Stückchen fahren. Das packe ich nicht mehr und mein Mann kommt eh jeden Abend spät von der Arbeit. Ich greife zu einem Katalog und gebe eine Bestellung auf. Zum Glück kommen meine Sachen pünktlich nach zwei Tagen. In der neuen Hose und einer sportlich blau weiß karierten Bluse fühle ich mich gleich wohler. Ich halte noch eine hübsche weiße Bluse in der Hand. Nach längerem Überlegen landet sie wieder im Karton und wird zurückgeschickt. Warum habe ich sie nicht genommen? Irgendetwas in meinem Inneren sagt mir, dass ich nie eine Gelegenheit haben werde, sie zu tragen.

Mein letzter Arztbesuch steht an. Bei der Untersuchung stellt mein Gynäkologe fest, dass die Cerclage nicht so gemacht wurde, wie er das wollte. Er macht mir Skizzen. Der Muttermund sollte vollkommen verschlossen werden, wie ein Sack zugeschnürt und zusammengezogen. Dafür wurde eine normal übliche einfache Cerclage nach Mac Donald vorgenommen, der Muttermund durch eine einfache Kreisnaht verschlossen. Darüber ist er verärgert und ruft im Krankenhaus an. Ich soll am nächsten Tag noch einmal dort erscheinen. Einen Tag vor dem Umzug. Aber was soll’s. Ich werde auch das tun. Dann gibt er mir noch einmal genaue Anweisungen für den Umzug und wünscht mir viel Glück. Vor allem was unser zweites Kind betrifft. Er bittet mich, ihm zu schreiben, auch wenn es schlecht ausgehen sollte. Ich habe das Gefühl, dass er mich nur ungern gehen lässt oder bilde ich mir das nur ein? Glaubt er an ein gutes Ende? In seinen Augen sehe ich eher Zweifel.

Ich verabschiede mich ebenfalls von meinem Hausarzt, der drei Jahre lang für meinen Sohn und mich ein guter und einfühlsamer Arzt war. Ob ich solch einen wiederfinde?

Telefonisch vereinbare ich einen Termin mit meiner zukünftigen Gynäkologin in Fallerhausen. Ich hatte die Wahl zwischen zwei Ärztinnen für Gynäkologie und Geburtshilfe. Die eine heißt so ähnlich wie eine meiner früheren Frauenärztinnen, die ich überhaupt nicht gemocht habe. Also habe ich mich für die andere entschieden. Ich kenne beide nicht und werde auf jeden Fall nach meiner Ankunft in Fallerhausen sofort einen Arzt benötigen. Telefonisch erfahre ich auch, dass diese Stadt über ein Krankenhaus mit einer Geburtenstation verfügt. Das beruhigt mich etwas. Dann müsste ich nicht weit weg, sollte ich doch einmal ins Krankenhaus müssen. Und dann ist da noch das Klinikum in Rohstedt mit einer Frühgeburtenstation, unweit meiner neuen Heimatstadt.

Ein Taxi bringt mich noch einmal zum Krankenhaus von Grünlingen, wo ich mich wegen meiner Cerclage vorstellen soll. Ich warte eine Ewigkeit, die ich in einem kleinen Besucherraum zubringe. Laufend schaue ich auf meine Uhr und sehe die Zeit davonlaufen. In ein paar Stunden wird mein Bruder kommen, um bei den letzten Umzugsvorbereitungen zu helfen. Und ich sitze hier, als hätte ich nichts anderes zu tun.

Endlich werde ich zum Arzt geholt. Es ist der Gleiche, der mich während meines letzten Krankenhausaufenthaltes behandelte und der auch dieses Mal keinen sympathischen Eindruck auf mich macht. Wieder geht es auf den alten Gynäkologenstuhl, an dem ich mich ängstlich festhalte. Als ich nach der Untersuchung neben ihm am Schreibtisch sitze, fragt er mich doch allen Ernstes was ich hier eigentlich noch wolle. Die Cerclage ist schließlich gemacht und mehr könne man für mich nicht tun. Ich kann es nicht fassen. Hat er mich soeben wirklich gefragt, was ich hier eigentlich will? Ich bin am Ausrasten und koche im Inneren. Ich gebe ihm zu verstehen, dass ich ganz gewiss nicht aus Spaß hier sitze und mich um eine erneute Untersuchung reiße, sondern weil ich herbestellt worden bin. Einen Tag vor meinem Umzug hätte ich gewiss andere Sorgen, als hier zu sitzen. Mein Brustkorb bebt noch vor Erregung, als ich nach einem Taxi rufe, das mich wieder nach Hause bringen soll.

Es ist soweit. Mein Bruder ist zu Hilfe gekommen. Er wird unseren Sohn und ein wenig Gepäck zu den Eltern bringen. Mit uns wird unser Kater fahren, der keine Autofahrten verträgt, das Meerschweinchen Hannibal und die Zebrafinken Polly und Dasy.

Am nächsten Morgen trete ich ein letztes Mal vor das Haus, in dem wir dreieinhalbe Jahre gewohnt und uns wohl gefühlt haben. Hier hatten wir einen Garten mit vielen Blumen und Sträuchern. Als wir hierherzogen, war gerade alles angepflanzt und nun, wo das Grün im Sommer zu einer undurchsichtigen Mauer wird, müssen wir weg.

Unser Sohn fängt an zu Weinen und kann sich kaum beruhigen. Er lässt viele Freunde hier, besonders die Mädchen haben ihn gemocht, weil er eine liebe, ruhige Art an sich hat.

Aber kaum sitze ich im Auto, fange auch ich an zu Heulen. Verflixt, diese Umzieherei!

Die Autofahrt wird für mich zu einer Tortour. Ich habe Angst und Schmerzen. Sind es Wehenschmerzen? Diesmal bin ich mir nicht sicher. Ich nehme meine Medikamente wie vom Arzt verschrieben im Zweistundenrhythmus. Die Nebenwirkungen machen alles noch viel schlimmer. Unser Kater maunzt Stunde um Stunde kläglich sein Jammerlied. Bestimmt ist ihm ebenfalls schlecht oder er muss sein Pfützchen machen. Obwohl mein Mann es mir auf dem Vordersitz so bequem wie möglich gemacht hat, fühle ich mich beengt.

Während der Fahrt schaue ich plötzlich aufgeregt zu meinem Mann. Es hat sich bewegt! Ja, unser Kind hat sich bewegt! Das waren ganz gewiss keine Darmbewegungen. Immerhin, ich bin im vierten Monat und bestimmt ist unser Baby ebenfalls aufgeregt und strampelt furchtbar.

Die Autofahrt, die mit kurzen Pausen ungefähr fünf Stunden dauert, kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Ich bin kaputt, als ich das Haus meiner Eltern betrete. Mir ist schwindlig und ich bin müde. Mein Mann fängt an, unseren Sohn auszuschimpfen, weil er wohl irgendetwas Wichtiges in Grünlingen vergessen hat. Dafür könnte ich meinen Mann anfahren. Ist nicht alles schon schwer genug, auch für unseren Sohn oder gerade für ihn?

So richtig ansprechbar bin ich erst am nächsten Tag. Aber Grund zur Freude gibt es auch nicht. Mein Vater ist sehr krank und liegt im Krankenhaus. Er hat Leberzirrhose und war deswegen schon mehrere Male in stationärer Behandlung. Das letzte Mal habe ich ihn im Oktober letzten Jahres besucht, bevor feststand, dass ich schwanger bin. Ich muss unbedingt versuchen, ihn in dieser Woche des Umzugs zu sehen, auch wenn es mir selbst nicht besonders gut geht und meine Rückenschmerzen wieder zugenommen haben. Das Krankenhaus liegt in einem Ort, cirka 15 Kilometer entfernt. Eigentlich kein Problem mit dem Auto. Aber für mich sind schon die holprigen Straßen dorthin ein negativer Umstand.

Trotzdem versuchen wir es. Mein Bruder fährt mich hin. Auch er möchte so wie ich Genaueres zum Gesundheitszustand des Vaters wissen. Wir möchten mit dem Arzt reden. Als ich das Krankenzimmer betrete bin ich erschrocken. Was ist mit meinem Vater passiert? Aus einem lebenslustigen kräftigen Mann ist ein gebrechlicher Kranker geworden, das Gesicht schmal, trotz Freude über unseren Besuch von Traurigkeit gezeichnet, die Wangen eingefallen. Plötzlich habe ich furchtbare Angst um meinen Vater und fange an zu zittern. Ich hoffe, dass er nichts von meiner Angst spürt, als ich seine Hand in meine nehme. Meine Mutter sitzt ebenfalls bei ihm, streichelt ihn und hält seine andere Hand fest in der ihren. Der Stationsarzt, den wir um ein Gespräch baten, lässt auf sich warten. Als es mir zu lange dauert und meine Schmerzen sich verschlimmern, stelle ich mich frech vor die Tür des Schwesternzimmers, wo der Stationsarzt ein belangloses Gespräch mit den Schwestern führt, um auf mich aufmerksam zu machen.

Na also. Warum nicht gleich so? Der Arzt führt uns nicht gerade freundlich in sein Zimmer. Man merkt ihm an, dass er im Moment keine große Lust zu einem Gespräch hat. Er fragt uns etwas gequält, was wir eigentlich wissen wollen. Ich kläre ihn auf, dass ich aufgrund einer Risikoschwangerschaft meinen Vater einige Monate nicht sehen werde und mir große Sorgen um seinen Gesundheitszustand mache. Während des Gesprächs wird er freundlicher. Er erklärt uns, dass unser Vater Leberzirrhose hat. Die Krankheit sei bei ihm schon zu weit fortgeschritten, fast alle Leberzellen zerstört. Man könne ihm nicht mehr helfen, nur seine Schmerzen mildern. Er wird sterben. Wann, das könne er auch nicht sagen. In ein paar Wochen? In ein paar Monaten? Es kann sich hinziehen, aber auch sehr schnell gehen. Es kann passieren, dass er in ein Koma fällt, wenn alle Leberfunktionen zusammenbrechen, aus dem er nicht mehr aufwacht. Außerdem hat er einen beidseitigen Leistenbruch, was ihm viel Schmerzen bereitet. Dann ist noch die Bauchwassersucht, eine Begleitkrankheit der Leberzirrhose.

Die Worte des Arztes prasseln wie schwere Felsbrocken auf uns nieder. Ich bin froh, dass mir der Arzt die Wahrheit gesagt hat, aber ich kann das alles nicht glauben. Mein Vater soll mit seinen nur einundsechzig Jahren sterben? Mein Vater, der nie Jemandem etwas Böses getan hat? Mein Vater, den wir doch alle brauchen, meine Mutter, wir Kinder und die Enkelkinder! Wird er vielleicht nicht einmal sein neugeborenes Enkelkind sehen und in die Arme nehmen können? Auf keinen Fall wird er es aufwachsen sehen, wie seine drei anderen Enkelsöhne, auf die er immer sehr stolz war. Wie gelähmt verlasse ich das Arztzimmer. Mein Bruder und ich schweigen, wir können jetzt nicht reden.

Als ich mich von meinem Vater herzlich verabschiede, frage ich mich, weiß er um seinen Zustand? Weiß er selbst, dass er sterben wird?

Am Abend versuche ich mit meiner Mutter darüber zu reden. Ich muss es tun, weil ich auch sie längere Zeit nicht sehen werde. Sie wird sich um ihren Mann kümmern müssen, nicht um mich. Ich versuche sie zu trösten, von der Zukunft, die bevorsteht, zu reden. Dabei brauchte ich selbst gerade jetzt eine seelische Stütze.

Meine Rückenschmerzen werden immer schlimmer. Die Schmerzen ziehen bis in die Beine und in den Bauch hinein. Nicht einmal nachts habe ich Ruhe. Unruhig wälze ich mich im Bett umher. Mein Herz klopft vor Angst wie wild geworden. Laufend muss ich Tränen hinunterschlucken, die kommen wollen. Im Moment habe ich nicht einmal ein richtiges Zuhause, wo ich mich zurückziehen und alle meine Sorgen vergessen könnte. Das alte Zuhause ist leergeräumt, das neue noch nicht fertig eingeräumt. Viel zu oft muss ich an meinen kranken Vater denken. Ich wünsche mir so sehr, dass das alles nur ein böser Traum ist. Dass ich am nächsten Morgen aufwache und mein Vater steht gesund vor mir. War es wirklich richtig, dass ich die ganze Wahrheit wissen wollte?

Immer wieder mahne ich mich zur Ruhe. Du musst jetzt nur an dein Kind denken, das du im Bauch trägst. Das ist jetzt das Wichtigste für dich und nichts ist wichtiger, auch wenn du nicht weißt, ob dein Vater sein Enkelkind jemals sehen wird.

Zwischendurch gibt es eine freudige Überraschung. Mein Bruder stellt uns seine Freundin vor. Als sie nach dem Abendessen von meinem Bruder nach Hause gebracht wird, weiß ich, dass die beiden gut zusammenpassen.

Ich rufe bei meinem ehemaligen Hausarzt von Grünlingen an. Meine Stuhlproben waren in Ordnung. Ich habe mich nicht mit den Spulwürmern infiziert. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Sogleich bekommt mein Kater ein extra dickes Küsschen.

Meine Mutter kommt freudig zu mir. Mein Vater soll aus dem Krankenhaus entlassen werden. Wir sind verwundert. Davon hatte uns der Stationsarzt bei unserem Gespräch vor zwei Tagen nichts gesagt. Wenige Stunden später steht er vor meinem Bett. Ich komme mir furchtbar schäbig vor. Ich liege im Bett und mein kranker gebrechlicher Vater steht vor mir und begrüßt mich erfreut. Eigentlich müsste er hier liegen und nicht ich.

Es soll losgehen. Mein Mann ist da und will uns abholen, uns zum neuen Zuhause bringen. Der Umzug ist nicht so gelaufen, wie es geplant war. Nicht alles hat so in die neue Wohnung gepasst, wie es sollte. Mein Mann entschuldigt sich, dass noch vieles einfach so herumsteht und auch noch vieles ausgepackt werden muss.

Ich habe ein schlechtes Gewissen. Meine Tabletten von Grünlingen reichen nicht. Mein Mann hatte mich ein paar Tage vor dem Umzug darum gebeten, mir genügend verschreiben zu lassen. Aber ich hatte doch geglaubt, dass sie reichen würden und nicht damit gerechnet, dass ich mehr nehmen muss. Ich erzähle ihm auch, dass es mir sehr schlecht geht, ich Schmerzen habe und grässliche Angst. Also geht es auch noch zum Arzt, bevor wir unsere alte Heimatstadt verlassen. Es passt meinem Mann nicht so recht und er gibt mir das auch zu verstehen. Es ist schon spät und wir wissen nicht, ob wir die Medikamente heute überhaupt noch bekommen. Ich ärgere mich sehr über ihn und natürlich über mich. Macht er denn immer das Richtige? Ich weiß im Moment überhaupt nicht, was das Richtige ist. Ich hätte hier auch den Gynäkologen aufsuchen sollen, aber ich habe keine Lust hier noch im Krankenhaus zu landen. Ich will endlich nach Fallerhausen, meiner neuen Heimat und in Ruhe gelassen werden. Ich weiß, dass mein Mann furchtbar gestresst ist, aber kann er mich auch nur ein klein wenig verstehen?

Der Hausarzt meiner Eltern verschreibt mir zum Glück die Medikamente. Er macht es nicht gern, aber er sieht mir auch an, wie verzweifelt ich bin. Nach mir wird mein Vater zum Arzt gerufen, der sich noch am selben Tag nach der Entlassung aus dem Krankenhaus seinem Arzt vorstellen soll. Wir treffen uns auf dem Flur. Meine Mutter hält ihn am Arm. Ich freue mich, dass ich ihn noch einmal sehe, will mich nochmals herzlich von ihm verabschieden. Als ich ihn anspreche, durchfährt ein Schreck meinen gesamten Körper. Ich fühle mich wie gelähmt. Mein Vater erkennt mich nicht. Er steht vor mir und schaut mich an, mit einem völlig leeren Blick. Auch als meine Mutter ihn anspricht, dass ich doch vor ihm stehe, nimmt er das nicht wahr. Noch vor ein paar Stunden hat er mich freudig begrüßt und nun? Traurig steige ich ins Auto, Tränen fließen hemmungslos meine Wangen herab. Ja, nun ist es mir zur Gewissheit geworden. Ich habe meinen Vater verloren und ich weiß nicht, ob ich ihn noch einmal in meine Arme schließen werde.

Meine Medikamente sind in der Apotheke nicht vorrätig. So hoffen wir, dass wir sie in Fallerhausen noch bekommen.

Wir erreichen unsere neue Heimatstadt im Dunkeln. Es ist kurz vor 18.00 Uhr. Aus zwei verschiedenen Apotheken bekomme ich meine Medikamente zusammen. Ich bin froh darüber. So müsste ich über das bevorstehende Wochenende kommen und am Montag habe ich sowieso einen Termin bei meiner neuen Gynäkologin.

Die nächsten Stunden verfliegen, ohne dass ich richtig weiß, was geschieht. Die Wohnung gefällt mir auf den ersten Blick, auch wenn es darin noch chaotisch aussieht. Ich bin froh, wieder in meinem Bett schlafen zu dürfen. Am Tag liege ich auf der Couch und helfe von dort aus zumindest theoretisch die Möbel mit umzuräumen. Und ich bin dankbar, dass mein Bruder mitgekommen ist und hilft.

Es ist Montag. Der Termin bei meiner neuen Gynäkologin steht an. Zum Glück macht sie einen netten Eindruck. Sie untersucht mich und spricht lange mit mir. Am liebsten würde sie mich sofort ins Krankenhaus stecken. Ich wehre ab. Mein Sohn braucht mich und ich bin doch gerade mal zwei Tage in meiner neuen Wohnung. Der Wehenmesser zeigt eine Wehe an. Also, weiterhin mein wehenhemmendes Mittel nehmen. Außerdem erhalte ich Faustan zur Beruhigung verschrieben. Es ist ganz wichtig, dass ich endlich zur inneren Ruhe komme. Außerdem soll es noch zu einem Allgemeinmediziner gehen, den wir uns erst suchen müssen. Ein EKG muss unbedingt gemacht werden. Die Frauenärztin schlägt einen Herrn Wiese vor, zu dem wir dann auch fahren. Ich kenne hier sowieso keine Ärzte, also ist es egal, welchen wir nehmen. Meine Hände zittern furchtbar, als ich die Praxis betrete und mich anmelde. Zum Glück muss ich nicht lange warten. Das EKG ist in Ordnung.