Zur Zeit - Eileen Myles - E-Book

Zur Zeit E-Book

Eileen Myles

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Beschreibung

Schreiben, so Eileen Myles, ist eine Art des Kopierens, des Aufzeichnens, des Festhaltens der unnachgiebig voranpreschenden Zeit, deren gnadenloser Strom sich mit Händen nicht greifen lässt – und so hält Myles sie in einem rabiaten Klammergriff des Blicks: schaut zurück auf ein Leben, das sich wild und kompromisslos der Vergängnis hingibt. Doch als eines Tages eine ganze Kiste voller unersetzbarer Aufzeichnungen verschwindet, tost ein Tornado radikaler Überlegungen los, der alles durcheinanderwirbelt, alle vermeintlichen Gewissheiten über das Wesen der Vergangenheit sowie Sinn und Unsinn, ihr nachzustellen, über den Haufen wirft. Und so führt die Suche nach der verlorenen Zeit, die immer neue Exzesse des Hinschauens und Festhaltens hervorbringt, Eileen Myles am Ende zurück zu sich selbst, in die Gegenwart. Die absolute Anwesenheit des Geistes, ob im zähen Kampf gegen den Mietenwahnsinn in New York, bei einem unerwarteten Ankommen in Marfa, Texas, oder während zahlloser Gespräche mit Liebhaber:innen und anderen Wegbegleiter:innen, prägt, wie Zur Zeit eindringlich erfahrbar werden lässt, ein Leben, das vollständig im Schreiben aufgeht – und umgekehrt.

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Eileen Myles

Zur Zeit

Aus dem amerikanischen Englisch von Milena Adam

Für Erin

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

DANKSAGUNG

Ich meine voriges Jahr hab ich diese schönen gebundenen Ausgaben bekommen die Yale von Patti Smiths und Knausgårds Reden rausgebracht hat, und ich saß zu Hause im Sessel und schmökerte und auf den ersten Seiten klangen beide ganz wie sie selbst und da dachte ich das werde ich ja wohl hinkriegen.

Als ich gebeten wurde diese Rede zu halten, ich glaube das war vorletzten Sommer oder Frühling, hat man mir ein Datum und ein Honorar genannt und das habe ich dann so im Hinterkopf behalten als etwas Schönes das nächsten September oder Oktober passiert, und im August meldete ich mich dann bei Michael weil ich nichts weiter gehört hatte, und wie sich herausstellte hatte ich mich im Jahr vertan. Das ist wahrscheinlich ein guter Ausgangspunkt.

Ich komme auch ab und zu drauf zurück. 2018 wäre die Rede anders ausgefallen und 2019 war ein chaotisches und außergewöhnlich schönes Jahr, vollgestopft mit Ereignissen (fürchterlich) und die Zeit selbst hatte eine Art optische Qualität (überall waren tolle und schreckliche Sachen zu sehen und das Jahr war damit beschäftigt abgebildet zu werden – und deshalb unvergesslich) und das sind die Dinge die ich in mein Vorhaben einfließen lasse nämlich zu schreiben und vielleicht, um das gleich hinter mich zu bringen, weil ich ein Alibi brauche.

Ich habe ein sehr bestimmtes Gefühl dass ich einfach lebe, und wie würde das gehen wenn man noch irgendwelche Ambitionen hätte und immer weniger konkrete Pläne während man sich aus der Kindheit löst und sie ablegen will.

Ein Alibi impliziert natürlich ein »anderswo« und in vielen Sprachen heißt es übersetzt genauso Alibi, na was heißt denn Alibi auf Tschechisch. Alibi nämlich.

Ich habe mich jahrelang mit Philosophien gerüstet die meine Ansicht stützen dass es darum geht hier zu sein, anwesend zu sein, was meiner Meinung nach der wirklich schwierige Part ist, trotzdem lande ich immer wieder dort das ist unbestreitbar, und wie sich herausstellt ist das Schreiben der leichteste Weg dieses Gefühl zu kopieren. Ich mache das schon seit Jahren.

Ich möchte hier sein, ich glaube ich bin hier, und je mehr ich schreibe und je mehr ihr das lest desto mehr wird es schlicht zur Tatsache.

Das wäre also mehr oder weniger erledigt und jetzt lebe ich hier.

Was die Einladung zu dieser Rede angeht muss ich außerdem erwähnen dass ich seit zweiundvierzig Jahren in einer Wohnung in New York lebe, ein Großteil meines Lebens hat also da stattgefunden. Mein Leben, mein Denken, mein Kopieren. Es ist eine der mietengedeckelten Wohnungen im East Village, und das Haus wurde 2017 gerade zum zigsten Mal verkauft und zwar ziemlich direkt nachdem mein Mietvertrag ausgelaufen war, so im Juni, und die neue Vermieterin hat sich mit meinem neuen Vertrag und tatsächlich auch den Verträgen der anderen Mietparteien extra viel Zeit gelassen was natürlich für Unmut sorgte, und schließlich schrieb sie, meine Vermieterin Elaine Moosey, mir eine E-Mail in der stand dass sie uns alle persönlich treffen wolle um uns die Mietverträge zu überreichen, das fand ich ganz süß, und ein paar Wochen später steht sie also hier in meiner Wohnung. Sie ist eine konservativ wirkende Frau, bestimmt zehn Jahre jünger als ich, und direkt nachdem sie reinkommt, Apartment 3C, meint sie so ich gebe Ihnen 75 000 wenn Sie ausziehen. Sie war wohlgemerkt zu Gast. Ich lachte leise und lehnte ihr Angebot ab und dann meinte sie noch sie wisse dass ich obwohl ich hier in dieser kleinen sehr günstigen Wohnung wohne auch noch ein Haus in Marfa Texas habe. Was nicht verboten aber eine Tatsache sei. Und dass sie Elaine Moosey das wisse.

Ich werde beobachtet. Das war das Gefühl das mich überkam. Dann fragte sie was ich beruflich mache und ich sagte ich bin Schriftsteller in. Ich habe nicht Lyriker in gesagt was interessant war denn normalerweise sage ich das weil es viel perverser ist die Leute wissen für gewöhnlich nicht was man als Lyriker in macht aber in diesem Moment mit meiner Vermieterin holte ich noch einen fetten Gedichtband aus einer braunen Kiste gleich neben der Wanne und hielt ihn hoch und dachte sogar es wäre vielleicht nett ihr den zu schenken (und überlegte ob da irgendwas Verfängliches vorkam) und sie sah direkt durch uns beide hindurch, mein Buch und mich, und dann sagte sie lächelnd würden Sie nicht lieber in Texas schreiben.

Es ist immer völlig unvorhersehbar wo im Leben einem Beratung zuteilwird. Es gibt eine Lebensanschauung die davon ausgeht dass alles ein Geschenk ist. Wenn alles Kaffee wäre könnte das stimmen. Die Folgerung daraus wäre dass Elaine Moosey meine Vermieterin ein Geschenk ist. Dass mein Durcheinanderbringen der Jahre ein Geschenk war. Und mit Sicherheit auch dass ich heute vor euch spreche, den Lyriker innen und Schriftsteller innen die gleich einen hübschen Scheck kriegen. Niemand weiß was Donald und Sandy mit diesem Geschenk bei euch eigentlich anrichten. Natürlich wisst ihr das sofort doch in manch anderer Hinsicht werdet ihr es erst Jahre später erfahren.

Jedes Geschenk ist mysteriös. Ich habe Donald Windham in den späten Siebzigern frühen Achtzigern im Ear Inn kennengelernt. Er las für Tim Dlugos. Kanntet ihr Tim. Er war so einer der seine Augen fest zudrückte und meinte Eileen du musst Donald Windham aus seinen Memoiren lesen hören. Dann machte er die Augen zu und zwinkerte. Er ist toll. Und war toll.

Aber eigentlich bin ich gedanklich noch bei dem heillos banalen Buddhismus meiner Vermieterin mit den guten Ratschlägen und es ist echt schade dass wir uns nicht richtig darüber unterhalten konnten da ich ehrlich gesagt wirklich lieber in Texas schreibe und darum habe ich ja das Haus, aber meine Wohnung in der E. 3rd Street werde ich niemals aufgeben weil sie mein geliebtes Zuhause ist, ich liebe die wunderbare Abgenutztheit meiner Wohnung, antiker Ofen, uralte Waschbecken. Waren die Leute früher kleiner und mussten die Vermieter sie so behandeln. Ich habe diese ganzen albernen Schränkchen in der Küche und darunter praktisch das Tenement Museum. Ich muss immer an Russland denken denn so war das da. Russland in den 90ern war zutiefst abgenutzt. Die Abgenutztheit war quasi eine Farbe. 1995 war ich mit meiner Freundin mal bei Lenfilm in Petersburg und schon die Stufe zum Eingang des historischen Gebäudes war die vermenschlichteste Stufe die ich je gesehen habe. So weich und rundgeschliffen. Und so ist auch mein Haus, mein Häuserblock, die davon ausgehende Aufregung, der unerbittliche Dreck der Stadt, die U-Bahn und die ganze Umgebung der 2nd Ave., die Linie F, ewig ewig lang, und die veränderlichen Menschenmengen und alle historischen und gegenwärtigen Machenschaften der Stadt New York, die ganze Maschinerie und diese seltsame Garantie, diese eingebaute Sicherheit, diese unglaubliche Tatsache des Mietendeckels, der mich gesehen hat, im allgemeinsten Sinne des Sehens, der mich kennt und meine Miete über so viele Jahre niedrig gehalten hat, und meine Miete ist wirklich niedrig, so niedrig dass es fast schon pornografisch ist man stelle sich das mal vor. Ich kann euch ein Gedicht zeigen das so geht: »die Stadt / namens New / York hat mir eine [lebenslang] gedeckelte Miete / bewilligt,« ich habe diese Zeile tatsächlich benutzt – es ist wie ein Treuhandfonds, ein Fonds für die Unter- und Arbeiterklassen, und es gibt hier in New York eine Menge Wohlstand der rettungslos auf die Armen prallt aber die Stadt hat mir fast alles beigebracht was ich weiß über Sprache und Existenz und die Schriftstellerei, die Dichte der Eindrücke usw. usf. über die Formen und Identitäten und Beschaffenheiten die mich, die ich hier lebe, überfallen, anregen und ablenken, aber darauf will ich hier gerade nicht hinaus, vielleicht nie, eigentlich geht es mir um die rechtlichen und politischen Umstände meine Umstände, die mich als Schriftsteller in geschaffen haben, und damit meine ich zu großen Teilen niedrige Miete und somit Zeit, denn erstere bedingt letztere und wie man sie nutzt.

Es braucht dermaßen viel Zeit, um Schriftsteller in zu werden, und man muss in der Lage sein, in der Zeit selbst zu schwimmen, das sagt mir meine Erfahrung, so kommt es mir vor, wie ein Hund am Strand in toten Fischen schwelgt. Oder ein Hund (mein Hund) in dem Mist eines Stalls (zitternd) unter einem Pferdekörper steht und Ehrfurcht empfindet. Weil da so viel Mist ist und so viel Pferd. Aber wenn man ein Mensch ist, der das mit seinem Leben anstellen will, also seine Zeit Augenblick für Augenblick vergeuden, ist das doch toll dachte ich, ich werde sie an eine Existenz als Lyriker in vergeuden, ich warf den Fehdehandschuh hin und was danach passierte war nichts und nichts ist meine Baustelle.

Auf das Warum komme ich jetzt zu sprechen. Ich halte Literatur für Zeitverschwendung, ich glaube nicht, dass irgendwas Gutes daran ist. Literatur ist kein tugendhaftes Unterfangen außer in diesem profunden Aspekt der vergeudeten Zeit. Ich habe dieses Abenteuer auf all diese Arten erlebt. Es ist das große Abenteuer unserer Zeit.

Wahrscheinlich könnte man durch Wohlstand in diese Lage kommen, oder durch eine Beziehung mit einer reichen Person wobei ich nicht glaube dass man dann das Leben in dieser winzigen Domäne mit derselben verzweifelten Intensität empfindet wie wenn man arm ist und sich in einer Situation wiederfindet wie ich damals, in der Klasse, Geschichte und Kultur und auf persönlicher Ebene Lethargie, Angst und Prokrastination so zusammenliefen, dass man an einem Ort landete mit dem man arbeiten, mit dem man einfach leben konnte, und dann kam man einfach nicht mehr weg denn wo in der Welt war es noch so günstig wie in New York, wenn man sich mit der Klasse umgab die auf diese Weise lebte (wahrscheinlich spreche ich hier von negativer Ehrfurcht) und all das wurde gewissermaßen zum persönlichen Dekor bis einem das Gewebe des Armseins gegen den eigenen Willen behagt ich könnte euch endlos Witze darüber erzählen aber das werde ich jetzt nicht tun und ich war damit, meinen Umständen, nicht allein, es gab da auch ein Wir. Jetzt sind noch etwa drei übrig und wenn ich gehe werden es zwei sein.

Meine Wohnung ist ein Witz. Sie ist ein Horst von dem ich hinabschaue. In meinen knapp dreißig Quadratmetern kann ich von da wo das Bett steht wortwörtlich den New York Marble Cemetery erspähen, einen Friedhof aus dem 19. Jahrhundert, was irgendwie so war wie jung zu sein und dann nicht mehr ganz so jung, und als würde ich über all die Jahre hinweg einen Totenschädel in der Hand halten und in diesem zerbrechlichen und erhabenen Raum habe ich gelesen und geschrieben und Dinge irgendwie einfach sehr sehr langsam angeschaut.

Und mein eingebautes Bett klemmt direkt am Fenster und ich schlafe auf meiner rechten Seite, und egal wo auf der Welt ich bin, wenn ich nicht schlafen kann nicht mehr weiß was Schlaf ist oder wie er funktioniert denke ich einfach an dieses Fenster. Es ist das Original. Ich weiß dass ein Zuhause zu haben nicht sonderlich amerikanisch ist. Überhaupt so etwas für einen Ort zu empfinden. Aber in dieser Zeit befinde ich mich.

Hunde scheißen wie man nun weiß in Relation zu den magnetischen Erdpolen. Also was solls.

Ich bin 1985 zu den Ruinen in Mexiko gefahren und im Anthropologischen Museum habe ich einen Schriftsteller entdeckt, John L. Stephens, der ein Buch mit dem Titel Reiseerlebnisse in Centralamerika, Chiapas und Yucatan geschrieben hat. Es gab da eine ganze Reihe ähnlich lautender Bücher. Seinetwegen entwickelte ich eine Begeisterung für die Vorstellung, Reiseschriftsteller in zu werden, zu deren Vorreitern er gehörte. Später entdeckte ich Robert Smithson und seine Begebenheiten auf einer Spiegel-Reise in Yucatan. Offensichtlich antwortete er damit auf Stephens, auf Mexiko und auf seine eigenen Umstände als jemand, der aus den postindustriellen Vororten New Jerseys stammt. Er nahm was da war. Anfangs versuchte er sich als Schriftsteller, landete dann aber bei der Bildhauerei, der Konzeptkunst, der Land Art. Er machte große und kleine Sachen draußen und oft fotografierte er sie und installierte Versionen des Ganzen in Innenräumen. Seine Antwort auf die Maya-Antike bestand darin kleine Spiegel hineinzulegen. Also war er doch ein Dichter. Lange Zeit hatte ich keinen Zugang zu seinem Friedhof. Ich hatte nur den Ausblick.