Zuversicht - Louise Brown - E-Book

Zuversicht E-Book

Louise Brown

0,0
21,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Wir leben in schwierigen Zeiten. Was können wir tun, wenn uns die Unbeschwertheit abhandenkommt? Louise Brown weiß um die Flüchtigkeit des Glücks. Um ihm auf die Spur zu kommen, stellt sie sich eine Aufgabe: ein Jahr lang den Sinn zu schärfen für das Gute, das ihr in ihrem Alltag begegnet. Sie entdeckt, dass auch jeder noch so finstere Tag Momente der Freude und des Staunens birgt. Ihr Buch ist eine Anleitung in der Kunst der Zuversicht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Louise Brown

Zuversicht

Von den kleinen Wundern des Lebens

Diogenes

Für Verena

Beauty caught me and never let me go.

Andrea Gibson

Februar

Flussgold

Im Londoner Stadtteil Chiswick gleicht die Themse nicht dem metallgrauen Band, das durch die Innenstadt schneidet, sondern einer grünen und gemütlicheren Version davon. Hier rollt der Fluss an Hausbooten und kleinen Gärten vorbei, die bis ans Wasser reichen, und unter Weiden, die mit ihren Fingern die grüngrauen Wellen streifen. Trotz seiner Gemächlichkeit zieht der Fluss meinen Blick zum Horizont und damit zu einer stählernen Brücke, vor der sich eine Reihe schmaler Häuser dem Wasser zuwendet.

Ähnlich wie das Wasser sind meine Gedanken träge, doch eher schwerfällig als nur gemächlich. Meine Beine dagegen schreiten wie von selbst und verraten so meine angespannten Nerven.

Am Morgen konnten mein Sohn und ich nicht wie geplant zurück nach Deutschland reisen, weil die Fluggesellschaft den Pass meines Sohnes abgelehnt hat. Seit dem Brexit müsse dieser mindestens sechs Monate gültig sein, so das Bodenpersonal. Beschämt dachte ich an jene Sekunden zu Hause zurück, in denen ich vor unserer Abreise das Ablaufdatum geprüft und voller Naivität gedacht hatte: »Zwei Monate noch? Das reicht schon.«

Vom Flughafen fuhren wir mit der U-Bahn wieder in Richtung Innenstadt. Wir waren benommen, nicht weil uns etwas Dramatisches passiert wäre, sondern etwas Unerwartetes, das mich daran erinnerte, wie selbstverständlich das Fliegen für mich geworden war.

In Chiswick stiegen wir aus der U-Bahn; eine vertraute Ecke, in der ich einige prägende Jahre gelebt habe. In der Zeit habe ich einige journalistische Abenteuer erlebt und hatte dazu noch das Glück, das Haus von Freunden meiner Eltern hüten zu dürfen. Wie es nur möglich ist, wenn einem ein Ort vertraut ist und es einen auch dorthin zieht, wenn man nicht mehr dort lebt, buche ich uns in ebenjenem Viertel ein Zimmer in einem kleinen Hotel, das uns als Basis dienen soll, bis ich das Passdebakel gelöst habe.

Nachdem wir uns dort eingebunkert haben, merke ich, wie eine kleine heiße Scham in meiner Brust herumspringt, die daher kommt, dass ich mich nicht näher mit den Reisebedingungen der Fluglinie beschäftigt habe. Eine Nachlässigkeit, an die mich eine uniformierte Mitarbeiterin am Flughafen erinnerte. Die Scham scheint sich wohlzufühlen in mir, neben den anderen Emotionen, die mich dieser Tage dauerhaft begleiten, zu denen vor allem ein diffuses Angstgefühl gehört. Eine Angst, die daher zu rühren scheint, dass die Nachrichten nur noch von Schmerz zu berichten scheinen, als hätte das Schlechte in der Welt eine lautere Stimme als das Gute gewonnen, mit der es in meinen Gedanken immer mehr Raum einnimmt. Es ist nicht so, dass ich nicht wissen möchte, was in der Welt um mich herum alles geschieht. Doch wächst mit jeder Schlagzeile das Bedürfnis in mir, mich von ihr zurückzuziehen, wo sie doch jede Zuwendung braucht.

Wie immer in Momenten innerer Anspannung hilft es mir, rauszugehen und mich zu bewegen. Während mein Sohn sich auf unserem Zimmer ausruhen möchte, greife ich zur Jacke und laufe schnellen Schrittes dorthin, wo sich mein Puls immer beruhigt – ans Wasser.

Das Hausboot, das mich als Erstes am Fluss begrüßt, wenn man von der Unterführung hochkommt, ist vogeleiblau gestrichen und trägt den Namen Redemption, Erlösung. Auf dem schmalen Weg parallel zur Grünfläche, die sich den Fluss entlangzieht, passiere ich Spaziergänger mit Hunden und weiche Joggern aus. Ihr Windzug versetzt mir einen kleinen Schmerz, weil ich selbst einst zu diesen Läufern gehört habe, die bis zur Stahlbrücke und dann auf der anderen Seite zurücktrabten, wo eine weitere Brücke mit mächtigen grünen und goldenen Stelen den kalten Fluten trotzt.

Während die Jogger laufen und ich spaziere, türmen sich vor mir die Wolken wie zahlreiche, sich aufeinanderstapelnde Daunendecken auf. Wasser, Himmel und Stahlbrücke erscheinen in einem dumpfen Grau, als wäre die Welt allein in Grautönen gezeichnet. Die Aussicht passt gut zu meiner inneren Stimmung, als hätte sich auch in mir ein Himmel zugezogen. Bis ich das kleine Bootshaus erreiche, vor dem in wärmeren Monaten die Ruderboote kopfüber zum Trocknen aufgestellt werden und sich ein unsichtbarer Sonnenstrahl durch eine verborgene Lücke in den Wolken stiehlt, der die Häuserreihe auf der anderen Flussseite mit goldenem Licht übergießt.

Ich muss bei dem Anblick der Hausfronten anhalten, so sehr sehen sie aus, als wären sie mit Goldlack überzogen. Umgeben von all dem gewöhnlichen Trübsinn, strahlen sie geradezu königlich heiter, sodass sie mich alle Sorgen um unsere Rückreise vergessen lassen.

Ich weiß nicht, weshalb ich mich entscheide, das Bild vor mir nicht mit meiner Telefonkamera festzuhalten, wie ich es bei einer vergleichbaren Aussicht tun würde, sondern es aufzuschreiben. Ich weiß auch nicht, worin genau der Unterschied zwischen dem Effekt des Fotografierens und des Aufschreibens eines Erlebnisses liegt, außer, dass Letzteres zeitaufwendiger ist, selbst wenn das Notieren nur Minuten dauert und sich eine Erfahrung möglicherweise allein dadurch einprägt, dass die Worte den Weg von meinem Gehirn bis zu meinen tippenden Fingerspitzen wandern müssen.

Doch weiß ich eins: Wenn wir über etwas schreiben, dann schenken wir dem Gesehenen oder Gehörten automatisch mehr Aufmerksamkeit. Zumindest tue ich es in diesem Moment, indem ich nicht nur das festhalte, was ich sehe, sondern auch das, was ich rieche und höre, zu dem der moderige Duft des Flusses und das Rascheln der grazilen Blätter der Weiden gehören. Beim Tippen fühle ich, wie mich die Worte mit meinem Umfeld verbinden. Wie aus etwas Flüchtigem etwas Festes entsteht, das ich mit meinen Worten einfange und an dem ich mich später erfreuen kann. Ich spüre auch, wie dabei das Gedankenkarussell in meinem Kopf anhält und sich in der folgenden inneren Stille etwas in mir öffnet, in das sich eine kleine Zuversicht einschleicht, die sich selbst wie ein kleiner heller Strahl in mir ausbreitet.

Diese Zuversicht spüre ich auch dann, nachdem ich das Telefon weggelegt habe. Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, was passieren würde, wenn ich morgen wieder etwas notieren würde, das mich auf ähnliche Weise mit meiner Umwelt verbindet.

Ich muss dabei an die Lyrikerin Mary Oliver denken, die sagt: Wenn du plötzlich und unerwartet Freude empfindest, gib dich ihr hin. Denn vielleicht wehrt sich die Welt auf diese Weise gegen die Traurigkeit, indem etwas Besseres als alle Reichtümer oder Mächte der Welt passiert.

Ich frage mich, ob ich der Einladung Olivers folgen kann, täglich etwas Erhellendes, Verbindendes oder Wärmendes in meinem Alltag zu suchen und es zu würdigen, indem ich es aufschreibe. Ob ich es mir vornehmen kann, jenen Dingen meine Aufmerksamkeit zu schenken, die nährend und stärkend sind, und ich durch diese Übung wieder die Hoffnung finde, die mir die Kraft schenkt, sowohl die eigenen Lasten als auch die von anderen zu tragen. Noch bevor die Wolken sich wieder zusammenschieben, wende ich mich mit diesem Gedanken von der Themse ab und unseren Pass- und Reiseangelegenheiten wieder zu.

Reiseziel unbekannt

Der folgende Tag ist vom Besorgen und Ausfüllen von Formularen bestimmt. Das sieht so aus: Frühstücken, Formulare ausfüllen, Sandwich essen, Formulare ausfüllen, zur Botschaft fahren, Formulare ausfüllen; auch die, die ich schon einmal ausgefüllt habe. Im Inneren der Botschaft werden wir mit einer Nummer auf einem kleinen Stück Papier, vergleichbar mit einem Los, ausgestattet und gebeten zu warten, bis wir aufgerufen werden. Das Erlebnis, in einer deutschen Botschaft in London zu sitzen, ist nicht anders als im Bezirksamt in Hamburg, außer, dass die Beamten hier hinter einer Wand aus Panzerglas arbeiten. Auf Plastikstühlen warten wir, bis wir schließlich das Dokument in den Händen halten, mit dem mein Sohn nach Hause fliegen kann. Als wir spät am Nachmittag am Flughafen ankommen und auf der Anzeigetafel nach unserem Gate schauen, warte ich förmlich darauf, dass mir ein uniformierter Mitarbeiter auf die Schulter tippt und mich wie am Vortag ermahnt: »So, liebe Frau Brown, können Sie aber nicht fliegen!«

Doch diese Person erscheint nicht, und ohne großes Aufsehen erreichen wir den Abflugbereich. Dort haben wir genug Zeit, um uns vor dem Einsteigen zu entspannen. Dennoch liegt in meinem Bauch noch ein Knoten aus Sorgen, der sich aber, je länger ich mich auf meinem Hartschalensitz zurücklehne und dem Treiben um mich herum zusehe, langsam zu lösen beginnt. Oder vielleicht sollte ich besser sagen: Der Knoten löst sich, je länger ich den Passagieren lausche, die in einem nie aufhörenden Strom an den erleuchteten Geschäften vor mir vorbeiziehen und um uns herumsitzen. Da wären die Wortfetzen eines telefonierenden Geschäftsmannes (»Sie wird das schon tun!«), das Schnattern zweier älterer Damen (»Hoffentlich wird sie das Licht noch sehen«), dazu das Weinen eines Kleinkinds und die Lautsprecherdurchsagen des Flughafens. Auch höre ich die dumpfen Schritte von flachen Schuhen neben dem Klacken der hohen Hacken einer Flugbegleiterin, die einen ratternden Trolley-Koffer hinter sich herzieht. Je länger ich diesen verschiedenen Tönen lausche, desto mehr vermengen sie sich zu einem einzigen einlullenden Klanggemisch. Zu einer unaufdringlichen, vertrauten Melodie der Reisenden, die mich, wie mir jetzt auf‌fällt, an Flughäfen immer schon beruhigt hat.

Vielleicht besänftigen mich die Flughäfen aber auch deshalb, weil sie mir von klein auf vertraut sind. Schon als Sechsjährige flog ich als unaccompanied minor, als unbegleitete Minderjährige, in den Sommerferien von London zu meiner Großmutter nach Hamburg, erkennbar an der flachen orangefarbenen Plastiktasche um den Hals, in der meine Reiseunterlagen steckten. Sowohl das Fliegen ohne Eltern als auch das Tragen jener auf‌fälligen Plastiktasche machten mir in meiner Erinnerung erstaunlicherweise wenig aus, möglicherweise, weil sich etwas von der professionellen Lässigkeit der für die Kinder verantwortlichen Flugbegleiterinnen auch auf mich übertrug. Oder weil ich mich bei ihnen wohler als bei meiner deutschen Großmutter fühlte, mit der ich mich aufgrund meiner fehlenden deutschen und ihrer mangelnden englischen Sprachkenntnisse kaum verständigen konnte.

Dass ich mich an Flughäfen entspanne, könnte aber auch einen anderen Grund haben. Nämlich, dass ich mich an diesem Ort immer schon weniger einsam und mit meinen Herausforderungen weniger allein gefühlt habe. Denn so unterschiedlich wir Menschen auch sind und so offensichtlich diese Unterschiedlichkeit auch auf dem Flughafen wird, wo sich die Weltbevölkerung im Kleinen versammelt: Hier trägt jeder sein eigenes kleines Passdilemma mit sich. Jeder Passagier hat nicht nur sein Reiseziel, sondern auch ein persönliches Ziel vor Augen. Wenn wir es auf einer Anzeigetafel erblicken, tragen wir alle jenen winzigen Keim Hoffnung in uns, der stets an der Schwelle zu einer nächsten Reise- oder Lebensetappe aufgeht.

Taxi, Taxi

Spätabends landen wir auf dem Hamburger Flughafen, zu einer Zeit, da unser Körper gewöhnlich in den Ruhemodus geschaltet hätte, wie ein Verkäufer, der die Rollläden seines Geschäfts herunterlässt. Als wir nach dem verdunkelten Kokon des Flugzeugs die hellbeleuchtete Ankunftshalle des Flughafens betreten und sich unsere Glieder anfühlen, als hätten wir Gewichte an den Füßen, wende ich mich meinem Sohn zu und spreche das Wort aus, dem in dieser Situation eine magische Kraft innewohnt: »Taxi?«

Als Freiberuf‌lerin steige ich selten in Taxis. Nicht, dass meine Arbeit das Taxifahren ganz ausschließt, aber das Arbeiten in einem kreativen, sprich prekären Beruf wird nie dazu führen, dass ich an einem verregneten oder emotional schweren Tag, vor einem Termin, denken werde: »Dann rufe ich eben ein Taxi.«

Vielleicht gehören Taxifahrten deshalb zu den besonderen Autoreisen in meinem Leben, weil sie im Vergleich zu all den Bus- und Bahnfahrten selten vorkommen. Oder sie sind aus einem anderen Grund für mich einzigartig. Als jemand, der nach dem Tod der Eltern verstand, dass es sich nicht gehört, über ihr Sterben zu sprechen, muss ich heute erkennen: Mit keinen Fremden habe ich je so gut über den Tod sprechen können wie mit Taxifahrern.

So auch neulich in Hamburg. Aufgrund eines Streiks fuhr die einzige öffentliche Verkehrsverbindung nicht. Auf der Fahrt zum Flughafen fragte mich der Fahrer, ob meine geplante Reise privat oder geschäftlich sei, und ich antwortete, indem ich von meinem Buch Was bleibt, wenn wir sterben und den Lesungen damit erzählte. Er erzählte daraufhin von seiner eigenen Verlustgeschichte, wie sein Bruder in seinem Heimatland Afghanistan umgekommen war. Dass dieser Mann Vater eines erst jungen Kindes war und was für ein schwerer Schlag sein Verlust für seine Familie war.

Unterschiedlicher konnten unsere Welten und Geschichten nicht sein, aber als säßen wir nicht in einem Mercedes, sondern in einer Zeitmaschine, führte unser Gespräch uns mal in seine, mal in meine Vergangenheit. Am Flughafen verabschiedeten wir uns voneinander, als wäre gerade nicht nur eine Dienstleistung erbracht und bezahlt worden. Nur die Umarmung fehlte.

Doch vielleicht haben wir einander umarmt, bloß nicht physisch, sondern in Gedanken. Inzwischen scheint mir immer häufiger, dass wir Menschen dazu fähig sind, einander zumindest in Gedanken zu umarmen. »Ich kann in Ihren Augen sehen, dass da noch ein Schmerz ist, etwas Ungelöstes, vielleicht mit Ihren Eltern«, hatte der Fahrer zum Abschied zu mir gesagt. Für einen Moment hatte ich protestieren wollen, doch das ging nicht, weil er recht hatte. Es schmerzt tatsächlich etwas in mir, das ich für mich noch lösen muss, nur hat es nichts mit meinen Eltern zu tun.

Ich weiß nicht, woran es liegt, dass Taxifahrer uns so gut durchschauen, oder besser, in uns hineinschauen können. Vielleicht, weil sich die verschiedensten Menschen bei ihnen auf die Rückbank setzen und ihre Menschenkenntnis es deshalb, auch ohne Couch oder Ausbildung, mit der von Psychologen aufnehmen kann. Auch beherrschen sie scheinbar die Kunst, über wirklich jedes Thema diskutieren zu können. Der Autor Charles S. Cockell hat sich durch Unterhaltungen mit Fahrern zu seinem Buch Taxi from Another Planet inspirieren lassen. In Kapiteln wie »Sollte ich über eine Invasion der Marsianer besorgt sein?« beweist er, dass sie sogar eine Antwort auf die Frage wissen, ob Außerirdische existieren.

Als mein Sohn und ich vom Flughafen mit dem Taxi heimfahren und wie in einem Raumschiff durch die Nacht rauschen, erfreue ich mich nicht wie sonst an den erleuchteten Fenstern hinter den Scheiben. Schon als Kind, wenn wir im Dunkeln Auto gefahren sind, habe ich es geliebt, in Wohnungen wie in Puppenhäuser zu schauen. Doch stattdessen bleibt mein Blick am Rückspiegel haften, auf dem die Fahrtkosten auf‌leuchten. Wie die Zahlen auf einer tickenden Bombe in einem Hollywoodfilm flimmern sie auf der Anzeige, nur dass diese Ziffern nicht kleiner, sondern immer größer werden. Ich muss dann daran denken, was ich für unseren ungeplant verlängerten Aufenthalt in London ausgeben musste und welche Auf‌träge ich annehmen könnte, um diese Ausgaben wieder aufzufangen. Als der Fahrer dazu unsere Autobahnabfahrt verpasst, die vor lauter Baustellenlichtern kaum zu erkennen ist und die mehr einem beleuchteten Fahrgeschäft ähnelt als einer Straßeneinfahrt, murmle ich zu mir selbst, aber anscheinend so laut, dass er es hört: »Das wird aber teuer werden.« Woraufhin der Fahrer ruhig den Zähler ausschaltet.

Vor unserer Haustür stellt er den Motor aus und sagt leise, aber freundlich zur Frontscheibe: »Wenn Sie kein Geld haben, gebe ich Ihnen meine Nummer, und Sie rufen mich an, wenn Sie es haben.« So wie er das sagt, ohne mich anzuschauen, voller Ruhe, zweif‌le ich nicht daran, dass er es ernst meint. Tatsächlich habe ich genug Geld im Portemonnaie; einen gefalteten Fünfzigeuroschein für Ausgaben, die nicht notwendig, aber lebenserleichternd sind und die ich, wenn ich sie bar bezahle und deshalb nicht auf meinem Kontoauszug sehe, danach vergessen kann. Ich reiche dem Fahrer den Schein und bedanke mich aufrichtig für sein Angebot. Als ob er meine Gedanken lesen könnte, sagt er, in die Dunkelheit blickend: »Da, wo ich herkomme, ist das normal, dass man sich hilft, das könnte jedem passieren.«

Breaking News

In den grauen Tagen nach unserer Rückreise will mir das rote Band nicht aus dem Kopf gehen, das am Londoner Flughafen am unteren Rand eines Bildschirms erschien. Jenes rote Band mit der weißen Schrift verkündet in der Regel nichts Gutes. In diesem Falle die Breaking News vom Buckingham Palace, dass Prinz, nein, König Charles – ich werde mich nie an seinen Titel gewöhnen – an Krebs erkrankt ist. Ich weiß nicht, warum ich diese Tage so sehr an diese Nachricht denken muss, vielleicht, weil die Prominenten, mit denen wir aufwachsen, in unseren Gedanken unsterblich sind. Zumindest konkurrieren seitdem in meinem Kopf zwei unterschiedliche Erinnerungen miteinander, oder besser Erinnerungsbündel, als würde man in seinem Gehirn verschiedene Gedankendateien besitzen.

Die eine Datei beinhaltet Bewegtbilder davon, wie ich neben meiner Mutter am Pall Mall stehe, jener breiten, rötlich geteerten Straße, die wie ein Pfeil zum Buckingham-Palast führt. Im Film schwenke ich eine Plastikflagge, als eine goldene Kutsche an uns vorbeirauscht, in der zwei Köpfe zu erkennen sind, die dem damaligen Prinz Charles und seiner neuen Gemahlin Diana gehören. Es erstaunt mich, wie sehr sich uns die Mitglieder des Königshauses magisch einprägen. Immer wenn ich den Buckingham-Palast sehe, muss ich daran denken, wie ich dort an einer Garden Party teilnahm, zu der ich als in London für deutsche Medien tätige Journalistin eingeladen war. Unter den vielen gut betuchten Gästen fühlte ich mich dort wie das, was ich war: eine britische, aber eben auch deutsche Journalistin, die das unausgesprochene Memo missachtet hatte, mit Hut erscheinen zu müssen, und die der sie umgebenden Gesellschaft nicht angehörte.