Zwangsstörungen - David Althaus - E-Book

Zwangsstörungen E-Book

David Althaus

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Beschreibung

„Das Buch ist so geschrieben, dass jeder es lesen kann und gut informiert wird. Betroffene erfahren, worauf es in der Therapie ankommt und worauf sie bei der Suche nach einem geeigneten Psychotherapeuten zu achten haben. Angehörige lernen, was in Zwangskranken vorgeht und was sie mit ihnen tun und besser nicht tun sollten.“ Ulfried Geuter, Deutschlandradio Kultur Etwa 1,5 Millionen Menschen leiden allein in Deutschland unter den Symptomen einer Zwangsstörung. Täglich brauchen sie Stunden zur Ausübung ihrer aufwendigen Rituale. Bei der verzweifelten Suche nach Sicherheit ist für viele der Zwang zum gehassten, aber scheinbar unverzichtbaren Begleiter geworden. Verfasst von einem Psychologen, einem Facharzt und einer Journalistin, erläutert das Buch den aktuellen Forschungsstand und die erfolgreichsten Therapieansätze. Die anschauliche Schilderung individueller Bewältigungsstrategien macht Betroffenen Mut, sich auf die Suche nach Wegen aus der Zwangserkrankung zu begeben, statt weiterhin im vertrauten, aber starren System ihres Zwangs zu verharren.

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David Althaus | Nico Niedermeier | Svenja Niescken

ZWANGSSTÖRUNGEN

WENN DIE SUCHT NACH SICHERHEIT ZUR KRANKHEIT WIRD

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

Zum Buch

Etwa 1,5 Millionen Menschen leiden allein in Deutschland unter den Symptomen einer Zwangsstörung. Täglich brauchen sie Stunden zur Ausübung ihrer aufwändigen Rituale. Bei der verzweifelten Suche nach Sicherheit ist für viele der Zwang zum gehassten, aber scheinbar unverzichtbaren Begleiter geworden. Über die Jahre durchdringt die Krankheit alle Lebensbereiche. Sie beeinträchtigt dabei nicht nur das eigene Leben, sondern auch das der Angehörigen in teilweise unvorstellbarem Ausmaß. Dennoch scheuen viele Betroffene den Gang zum Arzt – nicht nur aus Scham, sondern auch weil sie sich ein Leben ohne Zwang einfach nicht vorstellen können.

Die Autoren zeigen, dass hinter jeder Bewältigung einer Zwangsstörung ein individuell gestalteter Therapieprozess liegt. Auch wenn viele standardisierte Vorgehensweisen vorliegen und einige Medikamente Besserung versprechen, so muss doch die richtige Therapie mit jedem einzelnen Betroffenen immer wieder neu gefunden werden. Die anschauliche Schilderung individueller Bewältigungswege macht Betroffenen Mut, sich auf die Suche nach Wegen aus der Zwangserkrankung zu begeben, statt weiterhin im vertrauten, aber starren System ihres Zwangs zu verharren.

Über die Autoren

David Althaus, Dr. hum. biol., geb. 1965, ist Diplom-Psychologe und niedergelassener Psychotherapeut in Dachau bei München. Im Jahr 2000 erhielt er den Wissenschaftspreis der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e. V. (DGZ). Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen (zus. mit Ulrich Hegerl und Holger Reiners): «Das Rätsel Depression. Eine Krankheit wird entschlüsselt» (22006) sowie «Zeig mir deine Wunde. Geschichten von Verlust und Trauer» (2015).

Nico Niedermeier, Dr. med., geb. 1963, ist niedergelassener Facharzt für Psychotherapeutische Medizin in München. Er arbeitet seit zwanzig Jahren schwerpunktmäßig mit Zwangspatienten. Im Rahmen dieser Tätigkeit hat er auch wissenschaftliche Untersuchungen zu Zwangsstörungen durchgeführt und zahlreiche Fachpublikationen erstellt.

Svenja Niescken, geb. 1972, Wissenschaftsjournalistin beim Informationsdienst Wissenschaft (idw), studierte Journalistik und Psychologie. War für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen zuständig und arbeitete für die Schweizerische Gesellschaft für Zwangsstörungen. Beschäftigt sich darüber hinaus mit dem Thema «Gesunde Führung» im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements.

INHALT

VorwortVon Antonia Peters, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen

Vorwort zur dritten Auflage

Michaels langer Weg zur Therapie

1. Was sind «Zwangsstörungen»?

1.1 Haben nicht alle Menschen Zwänge?

1.2 Die Symptome der Erkrankung

Zwangsgedanken («obsessions»)

Zwangshandlungen («compulsions»)

Der Brennstoff des Zwangs

1.3 Wer ist betroffen?

1.4 Die offiziellen Diagnosekriterien

1.5 Der Leidensdruck des Patienten

1.6 Die häufigsten Erscheinungsformen von Zwangsstörungen

Kontrollzwänge

Waschzwänge

Gedankenzwänge

Weitere Zwangsformen

1.7 Charakteristika zwangserkrankter Menschen

Die Einsicht in die Irrationalität der Zwänge

Die spezielle Beurteilung von Risiken

Magisches Denken und Aberglaube

Das Misstrauen in die eigene Wahrnehmung

Wenn der Zwang der beste Freund ist

2. Zwangssymptome bei anderen Erkrankungen

2.1 Somatoforme Störungen

Hypochondrische Störung

Körperdysmorphe Störungen

2.2 Essstörungen

2.3 Tic-Störungen

2.4 Störungen der Impulskontrolle

Trichotillomanie

2.5 Psychosen

2.6 Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung

3. Die häufigsten Begleiterkrankungen

3.1 Depressionen

3.2 Ängste und Phobien

3.3 Sucht und Abhängigkeit

3.4 Persönlichkeitsstörungen

4. Alltäglicher Aberglaube am Beispiel «Fußball»

5. Psychologische Ursachen für Zwangsstörungen

5.1 Das psychodynamische Konzept

Die Rolle von Erziehung und Familie

Der Zwang als Sicherheitsstifter

5.2 Die verhaltenstherapeutische Sicht: Der erlernte Zwang

Das verhaltenstherapeutische Entstehungsmodell der Zwangsstörung

Die Zwei-Faktoren-Theorie

Negative Verstärkung als Motor der Zwangsstörung

5.3 Welche Reize Zwänge auslösen können

5.4 Das kognitive Modell

Die Normalität aufdringlicher Gedanken

Die Entwicklung von aufdringlichen Gedanken zu Zwangsgedanken

5.5 Zusammenfassende Bewertung der verschiedenen Modelle

6. Alles genetisch oder Wie viel Biologie steckt im Zwang?

6.1 Neurobiologische Erklärungen der Zwangsstörung

6.2 Veränderungen im serotonergen System

7. Das Leben ist gefährlich

8. Die Therapie von Zwangsstörungen

8.1 Die Angst der Patienten vor einer Behandlung

8.2 Wer sollte eine Behandlung wahrnehmen?

8.3 Was bedeutet Psychotherapie?

8.4 Grundlagen der Verhaltenstherapie

Selbstmanagement

Das Transparenzprinzip

Die Bedeutung der therapeutischen Beziehung

Wie gut wirkt die Verhaltenstherapie?

Prognostische Faktoren

Ist die Krankheit vollständig heilbar?

8.5 Der Ablauf verhaltenstherapeutischer Behandlung

Vom Erstkontakt zur Therapie

Aufklärung über Krankheitsbild und Therapie

Den Zwang begreifen

Motivation und Zielsetzung

Den Zwang herausfordern

Erörterungen von Sinn und Unsinn

Das Fühlen üben

Die Vorbereitung des Reizkonfrontationstrainings

Die Durchführung der Reizüberflutung

Konfrontation mit Zwangsgedanken

Das Neuland behaupten

Rückfallprophylaxe und Therapieende

8.6 «Das Unvorstellbare tun» – ein Erlebnisbericht

8.7 Die medikamentöse Behandlung von Zwangsstörungen

Das erste wirksame Medikament

Wer sollte ein Medikament nehmen?

Was ändert sich durch Medikamente?

Die Angst vor Psychopharmaka

Die Suche nach dem geeigneten Medikament

Information zu verschiedenen Wirkstoffen

Wie lange sollte man ein Medikament nehmen?

8.8 Praktische Hinweise für eine erfolgreiche Therapie

Wie findet man einen guten Therapeuten?

Nicht jeder Therapeut behandelt Zwangsstörungen gerne

Die Strukturreform der psychotherapeutischen Versorgung

Ambulant, teilstationär oder stationär?

Was tun, wenn die Therapie nichts gebracht hat?

9. Die Situation der Angehörigen

9.1 Den Zwang ausreden, verbieten oder davon abhalten

9.2 Wenn der Angehörige zum Komplizen wird

9.3 Der Zwang als «Waffe»

9.4 Sollte man seinem Partner alles sagen?

9.5 Tipps für Angehörige

10. Wenn Kinder Zwänge entwickeln

10.1 Beginn und Häufigkeit von Zwangsstörungen bei Kindern

10.2 Verhaltenstherapie bei Kindern und Jugendlichen

10.3 Medikamentöse Behandlung von Zwängen bei Kindern

10.4 Was erfolgreiche Behandlung erleichtert

10.5 Die Rolle der Eltern und der Geschwister

10.6 Wie und wo Kinder mit Zwangsstörungen behandelt werden

10.7 Zwangssymptome bei Kindern nach der Therapie

11. Selbsthilfe

11.1 Sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen

11.2 Unterstützung im Rahmen von Selbsthilfegruppen

Was kann eine Selbsthilfegruppe leisten?

11.3 Die Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen

12. Welche Klinik ist die beste?

Danksagung

Literatur zum Weiterlesen

Register

VORWORTVON ANTONIA PETERS

Als ich dieses Buch las, war ich fasziniert von den Fragen, die dort beantwortet wurden. Waren es doch genau die, die ich mir als Betroffene auch immer gestellt hatte.

«Haben nicht alle Menschen Zwänge?», «Kann mir eine Therapie helfen?», «Wie finde ich den richtigen Therapeuten?» Erst nach 30 Leidensjahren mit Zwängen fand ich im Rahmen meiner ersten Verhaltenstherapie die Antworten auf diese Fragen. Die Leser dieses Buches haben schon jetzt die Gelegenheit, sich ausführlich über Zwangsstörungen zu informieren und das Wesen der Krankheit zu begreifen.

Die Autoren beschreiben verständlich und mit vielen Praxisbeispielen, welche Ursachen es für Zwangsstörungen gibt, wann Psychotherapie und Medikamente empfehlenswert sind und was Selbsthilfe leisten kann. Dabei wird nicht verheimlicht, dass die Auseinandersetzung mit der Krankheit für die Betroffenen anstrengend und mühevoll ist. Eine gute Therapie kann jedoch wesentlich dazu beitragen, die Krankheit langfristig zu bewältigen. Erfahrene Ärzte und Psychologen sind hilfreiche Begleiter auf der Suche nach einem selbstbestimmten Leben mit neuen Freiräumen. Es sind vor allem aber die Betroffenen selbst, deren Motivation und Ziele den Verlauf der Therapie wesentlich beeinflussen. In einem Kapitel gehen die Autoren zudem auf die besondere Situation der Angehörigen ein und geben Tipps, wie man eine Komplizenschaft beim Umgang mit den täglichen Ritualen vermeidet. Ich danke den Autoren David Althaus, Nico Niedermeier und Svenja Niescken deshalb für ihr wirklich interessantes und hilfreiches Buch, das sich in seiner klaren Gliederung auch hervorragend als Nachschlagewerk eignet. Mögen die Leser Kraft und Ermutigung finden, der Krankheit erfolgreich entgegenzutreten.

Antonia Peters

Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V.

Hamburg, im Frühjahr 2018

Vorwort zur dritten Auflage

Als wir 2008 gemeinsam mit dem Beck Verlag dieses Buch herausbrachten, freuten wir uns, ein profundes und auch für den Laien verständliches Buch zu Zwangsstörungen vorlegen zu können. Die vielen positiven Rückmeldungen von Betroffenen und Angehörigen, aber auch von zahlreichen Kollegen, waren uns ein wichtiger Ansporn und eine Bestätigung unserer therapeutischen Herangehensweise. Unser zentrales Anliegen besteht weiterhin darin, für diese Patientengruppe, die bei vielen noch immer als «schwer behandelbar» gilt, Wege aus der Erkrankung aufzuzeigen. Wer unter Zwängen leidet, ist keinem unabänderlichen Schicksal ausgeliefert, sondern es gibt wirksame Therapien, die die Lebensqualität der Betroffenen entscheidend verbessern können. Dass wir nun in eine dritte Auflage gehen können, erfüllt uns mit Stolz. Nach nochmaliger kritischer Durchsicht des Textes und unter Berücksichtigung aktueller wissenschaftlicher Ergebnisse zeigte sich, dass unser Werk nichts an Aktualität eingebüßt hat. Dennoch haben wir uns entschlossen, einige Daten zu aktualisieren und auf den neuesten Stand zu bringen. Wir freuen uns nun sehr, diese dritte, überarbeitete Fassung herauszubringen, und hoffen, damit auch zukünftig vielen Menschen mit Zwangserkrankungen einen wichtigen Impuls zur Überwindung ihrer Krankheit zu geben.

München, im Frühjahr 2018

David Althaus, Nico Niedermeier, Svenja Niescken

MICHAELS LANGER WEG ZUR THERAPIE

Seit 30 Minuten saß Michael S. im Wartezimmer einer psychotherapeutischen Praxis. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und betrachtete die Landschaftsfotos an den Wänden. Er war alleine im Raum, denn gewöhnlich kamen die Patienten erst wenige Minuten vor Sitzungsbeginn. Michael hatte sich vorsichtshalber einen Zeitpuffer von zwei Stunden eingeplant. In den vergangenen Monaten war es ihm kaum mehr gelungen, zu Terminen pünktlich zu erscheinen. Sosehr er sich auch bemühte, meist gelang es ihm nicht, an seinem Zeitplan festzuhalten. Immer kamen ihm Dinge dazwischen, die ihn ablenkten, seine gesamte Aufmerksamkeit erforderten und eine Vielzahl zeitraubender Kontrollen notwendig machten. Diesmal hatte er es wenigstens halbwegs geschafft. Er war nicht zu spät zum Erstgespräch gekommen, sondern sogar lange vor dem vereinbarten Termin erschienen. Er wollte nicht draußen in seinem Wagen warten, denn dort war das Risiko zu groß, dass ihn Zwänge doch noch daran hinderten, den 30 Meter langen Weg bis zur Praxis zurückzulegen. Jetzt saß er tatsächlich im Wartezimmer eines Psychotherapeuten. Michael fröstelte, er fühlte sich verspannt und aufgeregt. Er versuchte, sich auf eine Zeitschrift zu konzentrieren, um sich auf diese Weise ein wenig abzulenken, aber immer wieder schweiften seine Gedanken ab und erinnerten ihn daran, in welch unsicherer Situation er sich doch befand: in einer Psychotherapeutenpraxis, weit weg von zu Hause, ausgeliefert und hilflos. Vielleicht wäre es doch am besten, jetzt gleich wieder zu gehen. Er war unschlüssig, vor allem wollte er keinen Fehler machen. Vielleicht war es ein Fehler zu gehen? Er blieb.

Seine Frau Sabine hatte ihm morgens angeboten, ihn zu begleiten. Er hatte das abgelehnt; mit ihr zusammen wäre ihm der Termin noch peinlicher gewesen. Eigentlich brauchte er sie dringend, um wenigstens einigermaßen Herr seiner Zwänge zu werden; ohne ihre Rückversicherungen fühlte er sich oft hilflos. Auf der anderen Seite ertrug er die Abhängigkeit von ihr kaum mehr. Weder ihre mütterlich umsorgende Art noch ihren aggressiv fordernden Ton, wenn es darum ging, vom Zwang abzulassen.

Vergangene Woche waren sie gemeinsam beim Einkaufen gewesen. Er brauchte dringend ein neues Jackett für seine Arbeit, und Sabine begleitete ihn. Sie hatten sich ein Kaufhaus gewählt, in dem man alles anprobieren konnte, ohne auch nur einmal von einem Verkäufer behelligt zu werden. Als sie vor der Reihe der Jacketts standen, fühlte er sich erschlagen und überfordert. Es war schließlich seine Frau, die die Auswahl traf und ihn bat, das eine oder andere Stück anzuprobieren. «Hier, zieh das mal an, es könnte passen …» Er schaffte es nicht; es schien ihm unmöglich, einfach in das Jackett zu schlüpfen und es zuzuknöpfen. Er konnte es kaum beschreiben, aber er empfand es als so quälend und unerträglich, dass er nach wenigen Sekunden das Jackett wieder ausziehen musste. Er hatte versucht, sich zu konzentrieren, bloß keine falschen Dinge zu denken. Sie waren fast eine Stunde in dem Kaufhaus geblieben, und seine Frau hatte schließlich ein Jackett bezahlt, das er gar nicht hatte anprobieren können. Er hatte sich klein und nutzlos gefühlt. Jetzt war er froh, dass er es geschafft hatte, in die Praxis zu kommen. Es erschien ihm wie eine Voraussetzung, um überhaupt etwas an der ganzen Situation ändern zu können. Natürlich hätte es ihn jetzt beruhigt, sich von seiner Frau versichern zu lassen, dass alles in Ordnung sei und er keinen Fehler gemacht habe. Auf der anderen Seite spürte er, dass es ein großer Erfolg war, diesen Weg allein bewältigt zu haben. Vor zwei Jahren hatte er erstmals erwogen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Seit geraumer Zeit riet ihm sein Hausarzt zu diesem Schritt, aber es erschien ihm zu riskant. Er hatte lange versucht, sich über sein Leiden hinwegzutäuschen. Erst als die Zwänge sein Leben vollständig dominierten, hatte er in seiner verzweifelten Lage einer psychotherapeutischen Behandlung zugestimmt.

Michaels Zwänge waren nicht aus heiterem Himmel gekommen. Zwänge kannte er seit seiner Kindheit. Im Grundschulalter hatten seine Eltern eines Tages bemerkt, dass er jeden Abend seine Schultasche mehrmals kontrollierte. Dafür reichte es nicht aus, die Schultasche einfach nur zu öffnen und nachzusehen, ob die benötigten Bücher und Hefte darin waren. Stattdessen musste er jedes Buch und jedes Heft einzeln aus der Schultasche nehmen, aufschlagen und durchblättern, um es dann nach sorgfältiger Prüfung in die Schultasche zurückzulegen. Allein die Kontrolle seines Federmäppchens erforderte mehrere Minuten: Er öffnete es, verschloss es sofort wieder, öffnete es ein zweites Mal, verschloss es abermals, um es dann schließlich nach der dritten Öffnung sorgfältig zu untersuchen. Flink prüfte er jeden einzelnen Stift, ob er angespitzt war, an der richtigen Stelle saß und alles seine Ordnung hatte. Wenn er damit fertig war, gelang es ihm oft nicht, das Federmäppchen einfach zu schließen, sondern er musste es mehrmals auf- und zumachen, um es schließlich mit den Worten «So, jetzt ist alles gut, gut, gut» mit beiden Händen umklammert in die Schultasche zu legen. Er wusste selbst nicht genau, was ihn dazu veranlasste, und schämte sich vor seinen Eltern. Er sah ihre missbilligenden Blicke und bemühte sich mehr und mehr, die Kontrollen heimlich auszuführen. An guten Tagen hatte er seine Schultaschenkontrolle nach fünf Minuten geschafft. Es gab aber auch schlechte Tage, die ihn dazu zwangen, nach Beendigung der Kontrolle wieder von vorne zu beginnen. Sogar wenn er schon im Bett lag, hatte er manchmal so ein starkes Gefühl, dass etwas noch nicht in Ordnung sei und er dem nachgehen müsse. Er fühlte sich dann angespannt und unruhig, und nur wenn er dem Zwang nachgab und noch eine weitere Kontrolle folgen ließ, konnte er halbwegs beruhigt einschlafen.

Außer seinen Eltern hatte jahrelang niemand etwas von seinen Zwängen bemerkt. Er war ein Meister des Vertuschens. Brauchte er mehr Zeit, um irgendein Detail noch einmal zu kontrollieren, so war er sehr geübt darin, verschiedenste Ausreden zu finden. Mag sein, dass manche Mitschüler und Bekannte ihn schrullig fanden. Manche hätten vielleicht sogar gesagt, er habe da so ein paar Ticks. Alles in allem hatte aber sicherlich niemand eine Vorstellung davon, in welchem Ausmaß er sich stundenlang mit Dingen beschäftigte, die andere für verrückt gehalten hätten.

Jahrelang hatte er sich sein Leben so eingerichtet, dass ihm immer größere Zeitkontingente für fällige Kontrollen zu Verfügung standen. Viele Dinge vermied er einfach, weil er wusste, dass er ihnen nicht gewachsen war. Auf diese Weise war er während seines Studiums eigentlich ganz gut zurechtgekommen, auch wenn er sich eingestehen musste, dass sein Leben freudlos und leer war. Er hatte kaum Freunde und Bekannte, denn diese nur zu treffen hätte so viele unkalkulierbare Situationen mit sich gebracht, dass er sich einfach nicht imstande fühlte, dieses Risiko einzugehen. Er hatte Informatik studiert; dieses Fach schien ihm vergleichsweise kontrollierbar und beschwor nicht immer wieder neue Gefahren herauf. In seinem Leben hatte alles eine feste Ordnung: angefangen von der Morgentoilette, dem Anziehen (stets der rechte Strumpf vor dem linken), der Zubereitung und Einnahme des Frühstücks (er kalkulierte stets drei Minuten ein für die Beseitigung von Bröseln mit dem Tischstaubsauber) bis zu den Details, wie er Abends die Zähne zu putzen hatte. Fast alle Abläufe in seinem Leben schienen genau geregelt.

Umso erstaunlicher war es gewesen, dass er damals Sabine kennen gelernt hatte. Sie war Studentin im ersten Semester, und er war ihr als Tutor zur Seite gestellt worden. Er hatte ihr beim Einstieg ins Studium geholfen und ihr Skripte zu verschiedenen Fächern zur Verfügung gestellt. Es entwickelte sich eine Freundschaft zwischen ihnen, und er spürte schon bald, dass ihre ruhige, zurückhaltende und fürsorgliche Art für ihn etwas Entspannendes hatte, ihm Sicherheit vermittelte. Nie hatte sie auf unangenehme Weise nachgefragt oder sich über ihn lustig gemacht, wenn er beispielsweise vor dem Verlassen seiner Wohnung mehrere Male den Herd (der an diesem Tag noch gar nicht verwendet worden war) kontrollieren musste. Sie schien weder ungeduldig noch schockiert, sondern akzeptierte es einfach als Teil von ihm. Im Gegenteil schätzte sie sogar seine Genauigkeit und große Verlässlichkeit. Sabine nahm einige seiner «Marotten» zwar genau wahr, enthielt sich aber jeden Kommentars und blickte eher mitfühlend auf Michael, ohne ihn durch Fragen beschämen zu wollen.

Es lag nun zehn Jahre zurück, dass sie sich kennengelernt hatten. Für Michael war es völlig klar gewesen, dass nur Sabine seine Frau hatte werden können. War er im Allgemeinen scheu und unsicher gegenüber dem anderen Geschlecht gewesen, so vermittelte Sabine ihm das Gefühl, die Situation kontrollieren zu können. Die beiden schienen sich gut zu ergänzen. Er war der «rationale Denker», wie er sich selbst gern bezeichnete, und der Kopf in der Beziehung. Auf den ersten Blick wirkte er ausglichen, war in seiner Art überaus verlässlich und schien immer gleich gelaunt. Andererseits hätte man gar nicht sagen können, ob er nun fröhlich oder unglücklich war. Er selbst hätte das als «normal» bezeichnet. Andere hätten ihn wohl als «sachlich» beschrieben. Sabine war ganz anders. Man merkte ihr Stimmungen sofort an und sie neigte zu Ängstlichkeit. Sie bewunderte ihn für seine analytischen Fähigkeiten. Ihr selbst fiel es schwer, abstrakt und systematisch Zusammenhänge zu erfassen. Ihr Studium hatte sie deshalb nach wenigen Semestern entnervt abgebrochen. Michael war damals bereits am Ende seiner Ausbildung gewesen und sie hatte das Ausmaß seiner Zwänge noch nicht annähernd erfasst. Lange Zeit hatte sich Michael bemüht, seine Rituale und Kontrollen allein und für sich selbst durchzuführen. Erst nachdem die beiden zusammengezogen waren, wurde Sabine langsam deutlich, welch großen Raum der Zwang in seinem Leben einnahm. Anfangs reagierte sie geduldig und war der Auffassung, er müsse vielleicht nur ein wenig «lockerer» werden. Als sie dann bemerkte, wie stark Michael den absurdesten Verhaltensweisen widerstandslos ausgesetzt war, machte sie es sich zur Aufgabe, ihn davon zu befreien. Sie glaubte, dass ihre Liebe zu ihm stärker sein müsse als der Zwang. Er tat ihr leid, wenn er beispielsweise mehrmals zum Wagen zurückkehren musste, um zu kontrollieren, ob er auch wirklich verschlossen war. Sie drängte ihn dann sanft, Kontrollen abzukürzen, und versuchte, ihm unangenehme Tätigkeiten abzunehmen. Wenn sie seine Unruhe bemerkte, versicherte sie ihm auch ungefragt immer öfter, dass alles in Ordnung sei. Michael reagierte meist mit Erleichterung. «Was würde ich nur ohne dich machen!», lautete seine stete Äußerung. Sie war sein «Goldstück» und genoss dies. Andererseits sprachen sie nie direkt über seine Zwänge. Es war ein Tabu, und sie spürte, dass sie daran nicht rühren durfte. Es war eine stille Vereinbarung zwischen beiden, dass sie nicht nachfragte: weshalb eine Zeitung noch einmal sorgfältig Seite für Seite durchgeblättert werden musste, bevor sie zum Altpapier kam, warum das Auto fünfmal auf- und zugesperrt werden musste, bevor man den Parkplatz verlassen konnte, weshalb Michael häufig nach dem Tanken nach wenigen Kilometern Fahrt noch einmal anhielt, um zu prüfen, ob er tatsächlich den Tankdeckel fest zugeschraubt hatte. Über all dies sprachen sie nicht. Sie hoffte, dass es sich von selbst ändern würde, wenn sie ihm nur genug Sicherheit gäbe. Mit der Zeit jedoch musste sie feststellen, wie wenig ihre Freundlichkeit und Liebe gegen seinen Zwang ausrichten konnten, und war enttäuscht über sich selbst. Seine Kontrollen nahmen nicht ab,im Gegenteil, er schien immer neue Umstände zu finden, denen er sich zwanghaft widmen musste.

Nach äußeren Maßstäben führten Michael und Sabine dennoch ein geordnetes und glückliches Leben. Drei Jahre nach ihrer Hochzeit wurden sie Eltern eines entzückenden Mädchens. Dem Anschein nach hatten sie vieles erreicht: Er hatte eine gut bezahlte Stelle als Systemadministrator in einer Versicherung, sie hatten ein Häuschen gemietet, fuhren ein geräumiges Auto und waren jetzt eine richtige Familie. Alles wirkte auf den ersten Blick ganz normal, und kaum jemand wäre auf die Idee gekommen, wie sehr sich die Zwangserkrankung im Leben von Michael bis zu diesem Zeitpunkt ausgebreitet hatte.

Hatte Michael es über Jahre geschafft, trotz all der Zwänge, die ihm zu schaffen machten, ein relativ stabiles und erfolgreiches Leben zu führen, so nahmen die Symptome seiner Krankheit nun überhand. Der unerbittliche Drang nach exzessiver Kontrolle verfolgte ihn in seinem Arbeitsleben mehr und mehr. Dies hatte zur Folge, dass seine Arbeitsleistung zwangsläufig schrumpfte und er infolgedessen bis lange in die Nacht hinein im Büro bleiben musste, um auf diese Weise für etwas Ausgleich zu sorgen. War er in früheren Zeiten zwischen 18.00 und 19.00 Uhr nach Hause gekommen, so war es nun keine Seltenheit, dass er erst zwischen 21.00 und 22.00 Uhr seinen Arbeitsplatz verließ. Er tat dies keineswegs mit einem Gefühl der Genugtuung und Sicherheit. Es war pure Erschöpfung, die ihn dazu zwang aufzuhören. Hätte er die Möglichkeit gehabt, im Büro zu schlafen, er hätte sich auf der Stelle hingelegt. Resigniert und angeschlagen machte er sich auf den Nachhauseweg. Immer weniger Zeit teilte Michael mit seiner Familie. Sabine war mit der Tochter allein und unzufrieden. War ihr Mann da, so konnte sie mit ihm nichts anfangen. Er schien erschöpft, gereizt und abwesend. Sie konnte nicht verstehen, weshalb er nun so viel arbeiten müsse.

Es war vor rund zwei Jahren, als die beiden eines Abends fast zufällig beim gemeinsamen Fernsehen auf eine Reportage über zwangserkrankte Menschen stießen. Dort berichteten verschiedene Betroffene über ihr Leiden und darüber, was ihnen geholfen hatte, mit der Krankheit zurechtzukommen. In all den Jahren des Zusammenseins und der Ehe war dies der erste Augenblick, wo die beiden über die Zwangsstörung zu sprechen wagten. «Es kann so nicht weitergehen, ich schaffe es nicht mehr, ich schaffe es einfach nicht mehr.» An diesem Abend erfuhr Sabine vieles, was sie bereits geahnt hatte, und doch übertrafen die Schilderungen von Michael ihre Vorstellungen bei Weitem. Sie verstand nun, warum er immer so lange im Büro bleiben musste, welche Befürchtungen ihn ständig heimsuchten und was er alles tat, um ihnen zu entkommen. Sabine war schockiert und auf der anderen Seite auch erleichtert, denn durch dieses Gespräch schien ja ein Stein ins Rollen gekommen zu sein. Michael hatte also eine Zwangsstörung. Eine Krankheit, die behandelt werden konnte; das hatten die Ärzte im Fernsehen gesagt. Also bestand Hoffnung, dass auch Michael geheilt werden könnte. Bereits am nächsten Tag begann Sabine, Erkundigungen einzuholen und Bücher über Zwangserkrankungen zu kaufen. Sie verschlang diese Bücher und war voller Hoffnung auf eine Veränderung. Michael dagegen tat sich schwer, sich überhaupt auf die Lektüre einzulassen. Was dort stand, schien ihm alles so weit von seiner Realität entfernt zu sein. Was er selbst als unerbittliche innere Notwendigkeit empfand, nämlich bestimmten Handlungen nachzukommen, um seine schier unermessliche Anspannung zu mildern, wurde hier abstrakt abgehandelt. In den Büchern war die Rede von veränderten Botenstoffen im Gehirn, was mit Hilfe von Medikamenten ausgeglichen werden könne. Das erschien ihm in gleicher Weise suspekt wie die dort erwähnten psychologischen Theorien. Was, um Gottes willen, hatte all das mit ihm zu tun? Die Vorstellung, Psychopharmaka zu nehmen, die irgendetwas mit seiner Psyche machten, was er selbst nicht kontrollieren konnte, war für ihn überaus beängstigend. Auch gegenüber Psychiatern oder Psychotherapeuten verspürte er ein dumpfes Unbehagen. Hatte er selbst nicht alles versucht, um Herr seiner Zwänge zu werden? Was bitte schön sollte denn daran nützlich und gut sein, wenn er über seine Symptome mit einem Fremden spräche? War all das nicht bereits so peinlich genug? Hatte er nicht ausreichend Mühe mit den Kollegen, seinen Bekannten, seiner Frau? War es denn wirklich notwendig, eine völlig unbekannte Person zu involvieren? Die Bücher ärgerten ihn, ja sie machten ihn aggressiv. Dort war etwa die Rede davon, der «Königsweg der Behandlung» sei die «Konfrontation» mit «angstauslösenden Situationen». Er müsse beispielsweise lernen, beim Verlassen des Autos auf Kontrollen zu verzichten. Dieser Rat schien ihm trivial und fast schon zynisch. War dies nicht ohnehin sein ganzes Bestreben? Nichts wollte er lieber, als nicht von dem Zwang besessen zu sein. Er tat doch alles dafür, dass der Zwang ihn endlich in Ruhe ließe. Was sollte da der Hinweis, er müsse lernen, auf das Zwangsverhalten zu verzichten? Hatte der Mensch, der das schrieb, überhaupt die leiseste Ahnung davon, was es für ihn bedeuten würde, nicht nachzukontrollieren? Es war für ihn damals schlicht unvorstellbar, wie es möglich sein sollte, auf all die Kontrollen in seinem Leben zu verzichten. Je unermüdlicher ihn seine Frau immer wieder mit neuen Büchern traktierte, desto mehr zog er sich von ihr zurück und versank noch stärker in einem Leben aus Zwang. Gleichzeitig begann er, Sabine mehr und mehr in seine Krankheit «einzubauen». Immer öfter geschah es, dass er aus dem Büro anrief, um sie zu bitten, bestimmte Kontrollen im Haus durchzuführen. Hatte sich anfangs die Aufmerksamkeit dabei noch auf den Herd in der Küche gerichtet, so bat er sie nun um Kontrollgänge, um zu überprüfen, ob die Lichter in bestimmten Räumen ausgeschaltet, Fenster (die seit Wochen nicht mehr geöffnet worden waren) verschlossen und Wasserhähne nicht vielleicht aufgedreht seien. Seine Frau, die auf diese Weise hoffte, sich ihm wieder anzunähern und die Beziehung zu stärken, kam seinen Kontrollwünschen so gut entgegen, wie sie konnte. Immer wieder versicherte sie ihm, er brauche sich keine Sorgen zu machen, es bestehe keine Gefahr, und am Ende eines solchen Telefonats schien zwischen beiden fast ein liebevoller und vertrauter Plauderton zu herrschen.

Sabine hatte damit einen festen Platz: Sie war zur Mitstreiterin bei der Mission geworden, den Zwang zu besiegen. Eine Zeit lang tat sie alles, nur ja keine Situation aufkommen zu lassen, an der er hätte Anstoß nehmen können. Sie achtete noch penibler als sonst auf Ordentlichkeit und Sauberkeit im Haushalt. Sie vermied es, irgendwelche Veränderungen vorzunehmen, und sah zu, dass alles immer an seinem Platz war, so wie ihr Mann es zu wünschen schien. Zugleich spürte sie, wie sehr sie mit ihren Kräften am Ende war. Kontakte zu früheren Freundinnen bestanden kaum noch. Sabine litt unter der entstandenen Einsamkeit. Michael hatte ihr eingeschärft, nie mit irgendeinem Menschen über seine Krankheit zu sprechen. Ihrem fortwährenden Drängen, er solle endlich einen Arzt aufsuchen, hatte er sich bislang erfolgreich widersetzt. Sein Hausarzt empfahl eine fachärztliche Behandlung, aber die Vorstellung, zu einem Psychiater zu gehen, schreckte ihn über die Maßen. Er, der «Rationalist und Perfektionist», unternahm stattdessen verschiedene Selbstheilungsversuche. Mit Hilfe einer Ernährungsumstellung, von Bachblüten, Rescue-Tropfen, Baldrian und anderen pflanzlichen, verschreibungsfreien Medikamenten bemühte er sich um eine Linderung seiner Symptome. Nach einiger Zeit musste er jedoch einsehen, dass keine Veränderung eingetreten war: Die Zwänge hatten ihn fest im Griff und er war dagegen wehrlos.

Michael blickte auf die Uhr, in wenigen Minuten würde er in das Zimmer des Psychotherapeuten eintreten und ihm dann seine ganze Geschichte erzählen müssen. Ihm graute davor. Es entsprach nicht seiner Natur, sich einem anderen Menschen einfach so anzuvertrauen, und doch schien ihm keine andere Wahl mehr möglich. Er war an dem Punkt angelangt, an dem er sich eingestehen musste, dass es ohne eine Hilfe von außen nicht länger ging. Vor einigen Wochen hatte sich die Situation abermals dramatisch zugespitzt. Auslöser war die Begegnung mit einem Kollegen an einem Samstag im Büro gewesen. Dort galt es zwar als wünschenswert, viel und effizient zu arbeiten. Einem ungeschriebenen Gesetz zufolge hatte aber jeder Mitarbeiter so gut zu sein, dass Wochenendarbeit nicht notwendig wurde. Als sein Kollege im Büro eintraf, um einen vergessenen Geldbeutel zu holen, war dies für Michael eine höchst peinliche Begegnung. Er saß vor seinem Bildschirm inmitten von Bergen von Papier und stammelte etwas von «nur eine Kleinigkeit vergessen». Michaels Kollege reagierte irritiert. Er war zwar freundlich, aber offensichtlich misstrauisch. Transparenz galt innerhalb der Firmenphilosophie als ein besonderes wichtiges Prinzip und hier schien jemand sein ganz eigenes Ding zu machen. Es kam unvermeidlich zu einem Vorgesetztengespräch in der Woche darauf. Michael sollte sich erklären, wie seine Anwesenheit am Wochenende zu verstehen sei. Schon seit einiger Zeit stelle man fest, dass seine Verweilzeiten im Büro zunähmen, ohne dass sich sein Arbeits-Output vergrößert habe. Ob er nebenbei noch für jemand anderen arbeite usw. Michael tat sich extrem schwer, die auf ihn einprasselnden Fragen und Vorwürfe zu entkräften. Es schien ihm unmöglich, über seine Zwänge zu sprechen, und so antwortete er in einer Mischung aus Abstreiten und Beteuerungen, sich zu bessern.

So konnte es nicht weitergehen. Er war drauf und dran, seine berufliche Existenz aufs Spiel zu setzen. Abends besprach er sich mit Sabine und am Tag darauf telefonierte er mit der Deutschen Gesellschaft für Zwangserkrankungen in Osnabrück. Er fragte nach Informationen zu Behandlungseinrichtungen, Ärzten und Psychotherapeuten. Er erhielt ein halbes Dutzend Telefonnummern. Es wurde ihm gesagt, er habe Glück, denn in seinem Umkreis gebe es einige Spezialisten. Er telefonierte einfach die Liste ab und war von dem, was er dabei erfuhr, zunächst sehr ernüchtert. Nirgends konnte ihm kurzfristig ein Therapieplatz angeboten werden. Die Mindestwartezeit betrug acht Wochen. Acht Wochen erschienen ihm wie eine Ewigkeit. Tatsächlich waren sie nur winziger Augenblick, verglichen mit den 25 Jahren, die er bereits mit seinen Zwängen lebte. Also vereinbarte er einen Gesprächstermin. Wenigstens dieses eine Mal. Hülfe alles nichts, bliebe ihm immer noch die Möglichkeit, seinem Leben ein Ende zu setzen. Er war erleichtert bei dem Gedanken, dass es diesen letzten Ausweg gab.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Behandlungszimmers und eine junge Frau verließ den Raum. Sie grüßte ihn ungewohnt familiär, nahm ihren Mantel von der Garderobe und verließ die Praxis. Michael spürte, wie sein Herz klopfte, seine Finger waren feucht, seine Gedanken wanderten zum Auto. Er war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er es abgesperrt hatte. Er spürte einen großen Drang, zum Wagen zurückzukehren. Er versuchte noch einmal, ganz detailliert zu rekonstruieren,wo genau er ihn geparkt, wie er ihn abgeschlossen hatte und ob er sich dessen sicher sein konnte. Obwohl er daran denken musste, dass er extra noch einmal zum Auto zurückgegangen war, als er schon kurz vor der Praxistür gestanden hatte, fiel es ihm schwer, jetzt an die Verlässlichkeit dieser Erinnerung zu glauben. Hatte er sich nicht vielleicht getäuscht? Stand das Auto nicht offen? Die Unruhe in ihm war unerträglich.

In diesem Augenblick öffnete sich eine Tür. Ein Mann erschien, sah sich um und blickte ihn an. «Sie sind Herr Schmidt? Ich grüße Sie, bitte kommen Sie doch herein und nehmen Sie Platz.» Michael erhob sich, seine Hände waren feucht und kalt. Unsicher ergriff er die Hand des Therapeuten. Er spürte seine Aufregung und wäre am liebsten davongelaufen. Hatte er das Auto wirklich verschlossen? Nun war es zu spät. Er musste da jetzt durch …

1. WAS SIND «ZWANGSSTÖRUNGEN»?

Die Erforschung der Zwangserkrankung, ihrer Hintergründe und Behandlungsmöglichkeiten ist ein vergleichsweise junges Gebiet. Waren früher Zwangsstörungen ein nur innerhalb einer kleinen Fachgruppe von Ärzten und Psychologen beachtetes Phänomen, so tauchen heute Schilderungen von Patienten mit Zwangsstörung vermehrt in der öffentlichen Diskussion auf. Selbst amerikanische Spielfilme haben die Zwangsstörung als interessanten Filmstoff entdeckt. In der bekannten Komödie «Besser geht’s nicht» spielt Jack Nicholson einen zwangsgestörten «Stadtneurotiker». Er tritt nie auf Fugen von Pflastersteinen oder Fliesen, benutzt beim Händewaschen jedes Mal ein neues Stück Seife und isst im Restaurant nur mit Plastikbesteck. Doch Zwänge sind keineswegs nur ein Phänomen der Gegenwart. Auch in früheren Epochen gab es bereits Zwangserkrankungen. So finden sich beispielsweise bei Martin Luther eine Vielzahl von Erlebnis- und Verhaltensweisen, die man heute durchaus mit einer Zwangsstörung in Verbindung bringen würde. Als der junge Martin Luther in den strengen Orden der «Augustinischen Eremiten» eintrat, um Mönch zu werden, unterwarf er sich damit ganz besonders strikten christlichen Moralforderungen. Ein Mönch hatte sich vollkommen ins Gebet zu vertiefen, ausschweifende Gedanken zu besiegen, zu arbeiten, alle Sünden vollständig zu beichten und aufrichtig zu bereuen sowie unkeusche Gedanken zu überwinden. Der junge Luther verzweifelte daran. Er hatte den Eindruck, gar nicht vollständig beichten zu können, weil er immer wieder neue und weitere Verfehlungen bei sich vermutete. Auch schweifte er im Gebet (entgegen der Regel!) immer wieder ab, anstatt ganz in der Kontemplation zu versinken. Er zweifelte fortwährend an sich und hatte den Eindruck, den Ansprüchen nicht genügen zu können. Unkeusche Gedanken verfolgten ihn, ohne dass er sich dagegen wehren konnte. All das quälte Luther so sehr, dass er versuchte, noch exzessiver den strengen Regeln Folge zu leisten, um so seine unangenehmen und verbotenen Gedanken zu überwinden. Er bestrafte sich systematisch mit Selbstkasteiung und Schlafentzug. All dies trieb ihn aber nur tiefer in die Erfahrung eigener Unzulänglichkeit. Mit heutigen Augen betrachtet, erinnert der junge Luther an einen von Zwangsgedanken gepeinigten Menschen, der zunächst vergeblich versucht, seinen Zwängen durch immer strengere Verhaltensregeln Herr zu werden.